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LANTÂRIS – GARTEN DER SEHNSUCHT

 

Man sagt, in der Hölle gäbe es ein Schloss. Dieses Schloss habe einen Garten, den „Blauen Garten“, von dem aus man den Himmel sieht.

Was man nicht sagt, ist, dass die „Hölle“ nur als ein Teil von Toyankâé existiert. Dass dieses Schloss der Obsidianpalast von Sammaël, dem Beherrscher dieser Welt ist.

Dass dieser Garten seiner Tochter Shânaee, der Pringipisa, gehört.

~ * ~ * ~

 

Seit einer Ewigkeit geht er bereits auf und ab, ist ungeduldig… wartet. Er hat ein Anliegen an die Pringipisa, hofft, dass sie ihm dieses eher erfüllt als ihr Vater.

In seine Gedanken versunken hat er keinen Blick für die Schönheit seiner Umgebung, wie den kleinen Wasserfall, der vom zarten Lila der Wasserhyazinthen, blauem Hibiskus und leuchtendgelben Cymbidium-Orchideen umsäumt ist.

Vieles ist passiert, was die Pringipisa in einem Für und Wider abwägen wird, denn sie kann sich leicht vorstellen, was passieren wird, wenn man einen Thjavolos auf frische Seelen loslässt. Aber dieser hier ist der Einzige, der auf die Idee verfallen ist, die Pringipisa dafür um Erlaubnis zu bitten.

Was er ihr wohl im Gegenzug anbietet? Und warum interessiert mich der Junge überhaupt?

Erinnert er mich an mich selbst, als ich noch an der Seite der Pringipisa fremde Welten bereiste? An Zeiten, als mir das „Shânaee“ noch leichter über die Lippen kam als das „Pringipisa“ von heute?

Doch das ist lange her, selbst für die Maßstäbe Toyankâés, und aus dem Mädchen ist längst eine Frau geworden. Ich bedaure, dass ich sie nicht aufwachsen gesehen habe wie der Hikuni oder die blaugeflügelte Begleiterin – jedesmal, wenn ich einen von ihnen sehe, lassen sie mich diese einstige Nähe schmerzhaft vermissen.

Oh, ich hasse diesen Kerl, diesen Halbtoten, dieses Vieh – weder Mensch noch Dämon! Valerian, ha! Mit seinen langen, blauschwarzen Haaren, seinen tiefen, grünen Edelsteinaugen…! Diesen… diesen Hund…! Kein Wunder, dass Tetayes ihn „Waldi“ getauft hat!

„Deine Seele schreit ja geradezu nach Erlösung…“

Was? Wer hat da gesprochen?

Verwirrt blicke ich mich um, und erst jetzt sehe ich, dass der junge Thjavolos vor mir stehengeblieben ist. Prüfend starrt er mich an, leicht vornübergebeugt, so dass ihm die blauen Haarsträhnen aus der Stirn beinah in die Augen fallen. Farben wirbeln…

Gerade noch rechtzeitig gelingt es mir, den Bann zu lösen, denn ein Kuss dieser Geschöpfe kann tödliche oder zumindest äußerst schmerzhafte Folgen haben.

„Ich habe keine Seele mehr, die es zu verschenken gibt.“

Ich gehe auf eins der großen Fenster mit den gotischen Spitzbögen zu, deren Rosenornamente kennzeichnend für die Gemächer der Pringipisa sind. Der Junge folgt mir seltsam lächelnd, bleibt dann jedoch neben einem der beiden kunstvollen Wasserspiele in der Mitte des Wintergartens stehen.

„Aber sie ruft.“

Das klingt, als wäre es mehr als nur eine Feststellung. Aber ich bin jetzt nicht in der Stimmung, mir ein Gespräch aufdrängen zu lassen – und schon gar keine Diskussion über meine Seele. An diesem Ort.

Ich blicke aus dem Fenster in den Vorhof des Schlosses.

„Du kannst mir keine Erlösung schenken.“

Sein amüsiertes Lachen erfüllt den Raum, und im Fensterglas reflektiert erkenne ich sein Gesicht neben meinem eigenen.

Die Pringipisa mag Blau, das weiß ich. Vielleicht hat sie deshalb die kuppelförmige Decke dieses Wintergartens hellblau anstreichen lassen. Dass sie nun wie ein Sommerhimmel auf der Erde aussieht, erweckt den Eindruck von Freiheit.

„Man sagt, du hast viel mit ihr geteilt. Zu viel?“, reißt der Störenfried mich wieder aus meinen Gedanken. „Ich meine Shâza-Rukhs wie du bleiben doch eher unter sich… Warum eigentlich?“

„Es gibt immerhin Verrückte, die uns sammeln und aufspießen.“

Während ich mich umdrehe, fasst er sich nachdenklich ans Kinn.

„Das ist natürlich Scheiße.“

Wieder sieht dieses blauhaarige Balg mich mit diesem seltsamen Blick an, der meine Gedanken zu lesen scheint. Für eine Weile scheint der Junge wieder in seine eigenen Ideen versunken.

„Ich komm’ euch mal besuchen!“, erklärt er dann. „Ich liebe Schmetterlinge, egal wie groß.“

Das Ungeheuer lächelt abscheulich süß.

„Ich sage den Fleisch fressenden Pflanzen Bescheid.“

Er bricht wieder in Lachen aus.

„Haha, der Große Lantâris hat Liebeskummer wegen der Pringipisa!“ ruft er. „Deswegen wirst du so unausstehlich, wenn man dich auf sie anspricht!“

Wie ein Kreisel wirbelt er mit ausgestreckten Armen durch den Raum, Strähnen seines wasserblauen Haares flattern wie die weiten Ärmel seines weißen Oberteils. Er sieht aus wie ein Derwisch, doch derart aufgewühlt wird er beim Vortragen seines Anliegens keinen Erfolg haben. Da hält er abrupt inne.

„Du willst sie ganz für dich alleine. Wie egoistisch!“, beschwert er sich und funkelt mich böse an.

Natürlich. Wer teilt schon gern die Frau, die er liebt? Wenn diese scheinheiligen Intriganten auftauchen, die sie nur für ihre eigenen Ziele einnehmen wollen, wünsche ich mir, ich könnte in den Saal der 10.000 Kerzen gehen und ihre Lebenslichter mit einem Flügelschlag auslöschen.

„Ist sie wirklich so sagenhaft, so anders? Es gibt da Gerüchte…“

„Sei still.“

„Ihr Vater hat 999 Ehefrauen und einen Harem mit Tausenden von Geliebten. Irgendwas davon muss sich doch auch bei seiner Tochter…“

„Sei… still!“

„Oder hält Papa sein Töchterchen mit Absicht jungfräulich? Für sich vielleicht?“

Schneller als ich denken kann, schießt meine Hand unter meinem schwarzen Cape hervor und legt sich um den Hals des Verruchten. Wie von allein drückt sie zu, seine Gegenwehr merke ich kaum.

„Was erdreistest du dich?!“, brülle ich ihn an. „Du hast keine Ahnung! Shânaee kam hierher, weil es keinen Ort mehr gab, an den sie sonst noch hätte gehen können! Als ich sie das erste Mal traf, hatten durchgeknallte Menschen sie als Vestalin lebendig begraben! Weil irgendein… Tribun… seine Brunft nicht unter Kontrolle hatte! Ich grub sie mit bloßen Händen aus und fand sie völlig außer sich in eine Holzkiste eingesperrt!“

Nie werde ich ihr hysterisches Schluchzen vergessen, dieses seltsame Weinen, das nur noch aus den Lauten einer zerbrochenen Seele besteht. Doch der Junge weiß von alledem nichts.
Er sieht das anders.
„Verzweifelte Seelen sind unglaublich!“, krächzt er und ist immer noch frech. „Sie prickeln auf der Zunge…“

Meine Finger drücken immer weiter zu.

„Ich habe sie nur einmal von Nahem gesehen“, erzählt er mir dann verschwörerisch, nachdem er sich mühsam umgesehen hat. „In einem hellblauen Kleid, lang bis zum Boden. Mit einem Muster drauf aus vielen, vielen Tropfen...“

Er blickt so versonnen drein, dass ich noch wütender werde.

„Das waren Tränen.“

Meine Hand zittert, doch bevor ich ihn tatsächlich erwürge, lasse ich ihn los. Der Junge fällt zu Boden und kriecht hastig ein paar Schritte von mir weg.

Tse, als ob ihn das retten könnte.

Plötzlich öffnet sich die große Flügeltür zum privaten Salon, und die Pringipisa erscheint, an sie gekuschelt Schlosskätzchen Nôarée. Mein bisheriger Gesprächspartner verzieht angewidert das Gesicht. Nach allem, was er bisher preisgegeben hat, wünscht er sich an die Seite dieses sehr menschlich aussehenden Chan`thalls, und das Aufleuchten seiner vielfarbigen Augen erinnert an einen großen Hund, der sein Herrchen sieht. Es fehlt nur noch das Schwanzwedeln.

Sie schließt mich in die Arme, mit einem zärtlichen Lächeln, das mich innerlich mit Wärme überflutet und augenblicklich besänftigt. Durch die offene Tür sehe ich Nicîls riesige, weiße Flügel und goldblonden Schopf, an den Türrahmen gelehnt Tetayes, der stumm den Kopf schüttelt.

Die Pringipisa hat ihn sich als Ratgeber ausgesucht, beeindruckt von seiner Klugheit und hingerissen von seiner Schönheit wie jeder, der diesen Mann sieht.

Tetayes, der einzige Überlebende jener, die einst „gefallene Engel“ genannt wurden. In seinen weißen Haaren bricht sich das Licht in Blau- und Lilatönen, seine türkisgrünen Augen lassen an die Korallenbänke in der Menschenwelt denken.

Mir ist klar, dass ich übertreibe, denn Tetayes ist nicht wirklich ein reinrassiger Engel, wie Nicîl, Chûdi’yan Sammaël oder Luzifer. Seine Schönheit entspringt eher heidnischen Vorfahren: Die feinen Gesichtszüge spiegeln die der Elfen wider, sein – sorgsam hinter Zynismus verstecktes – Temperament das der Harpyien, seine sinnlich trunkenen Bewegungen gleichen denen der Fruchtbarkeitsgötter… Man erfährt viel, wenn man mit jemandem trinkt.

Mmh… und meine Liebste riecht nach Kirschblüten…

„Eure königliche Hoheit“, unterbricht die blauhaarige Nervensäge den perfekten Moment, in dem ich ganz ungehindert ihre Nähe genieße. „Ich lege Euch dies zu Füßen, für eine kleine Bitte, die Ihr mir in Eurem Großmut gewähren mögt.“

Der Bastard wagt es tatsächlich und kniet sich hin – dann fällt mir ein, dass es das Hofprotokoll ja von ihm verlangt – um uns eine schwarze Schatulle aus Zedernholz vor die Füße zu stellen. Ich werde nicht losgelassen nur lackschwarze Locken bewegen sich, als die Pringipisa den Kopf dreht. Sie mustert ihn aus blau-goldenen Augen und hebt fragend eine geschwungene Augenbraue.

„Was ist das, Nartûn?“

Da glotzt er wie ein Fisch im Glas! Die Pringipisa kennt jeden Namen in Toyankâé, genauso wie ihr Vater. Jeder weiß das.

„Ei-ein Präsent“, stammelt der Verblüffte und öffnet vorsichtig den Deckel.

Ein Collier aus tiefroten Steinen, in denen ein Feuer brennt, prangt auf dunkelblauem Samt. Ein legendärer Schatz, der in der unterirdischen Quelle der größten Oase der Sillmâri-Wüste versenkt wurde, weil es zu viele Kriege darum gegeben hat.

Wie ist der Mistkerl da rangekommen… ?! Nachts gefriert dort das Wasser zu dickem Eis und tagsüber brennen die drei Sonnen so sehr, dass selbst Feuerdrachen dieses Gebiet meiden! Ich verbrannte mir die Flügel, als ich versuchte, der Pringipisa jenes kostbare Collier zum Geburtstag zu holen, denn nun sind sie aller Farben beraubt und schwarz.

Was nützen da Schimmer und Flitter an den verkohlten Rändern? Ich bin ein Shâza-Rukh und weder ein Mädchen noch eine Blumenfee.

„Es muss dir wichtig sein, wenn du dich dafür in Lebensgefahr bringst“, sagt sie und klingt beeindruckt.

„Ich möchte in den Inneren Kreis Eurer Vasallen aufsteigen.“

„Ich habe Freunde, keine Vasallen“, stellt die Pringipisa mit verwundert gerunzelter Stirn richtig.

„Aber der Ehrwürdige Tetayes, der Hikuni und der Große Lantâris genauso wie Euer Schoßkätzchen Nôarée…“, zählt er auf.

Nicîl, das Geschenk aus dem Himmel, vergisst er.

Es maunzt zu meinen Füßen, und ich kraule den Chan’thall hinter seinen großen Katzenohren, bevor er auf die Idee kommt, mit seinen Krallen an meinen Flügeln zu zupfen.

„Wirkt das beruhigend, meine Öhrchen zu kraulen?“ fragt Nôarée und strahlt mich aus großen lila Augen an.

Ich schaue erst herunter zu ihm, dann hinüber zu Tetayes, der genervt das Gesicht zu Decke dreht.

„Ich möchte auch einer dieser Getreuen werden und Euch auf Euren zahlreichen Reisen begleiten!“ rückt der Junge endlich ganz mit der Sprache heraus. „Wie kann ich Euch noch von meiner Ernsthaftigkeit überzeugen?“

„Vielleicht wirst du irgendwann ein Freund, aber in die Menschenwelt kann ich dich nicht mitnehmen – und das ist doch dein eigentlicher Wunsch, oder? Du bist ein Thjavolos und lebst von den Seelen anderer.“

„Oh bitte, Pringipisa! Ich werde keinen Ärger machen, das schwöre ich bei jedem Eid, den Ihr verlangt!“

„Du musst nicht schwören. Ich kann dich nicht mitnehmen und bin weder so kaltherzig noch so ignorant, dich an einen gedeckten Tisch zu setzen und zu erwarten, dass du an voller Tafel verhungerst.“

„Aber ich…“

Jetzt wird sie böse: Ein feines, weißes Muster erscheint auf ihren hellbraunen Wangen, und die Luft im Raum wird zum Sturm.

„Dämonen schmeicheln und locken, aber sie lügen nicht, genau wie Fey. Beide halten ihr Wort. – Doch ihre Version der Wahrheit kann schlimmer sein als jeder Betrug… Und sie werden immer einen Weg finden, dich bereuen zu lassen, dass du sie jemals getroffen hast!“

Sie hat die Hände zu Fäusten geballt und zittert. Mit dem Muster auf ihrer Haut und dem Wind, der um sie herum tobt, obwohl wir in einem abgeschlossenen Raum sind, sieht sie aufregend gefährlich aus.

„Deshalb bedenke jedes deiner Worte, Nartûn aus Chrysallya, denn ich könnte dich auf etwas schwören lassen, das dich einen Eidbruch nicht überleben lässt!“

Ja, ja es ist schon ein gefährliches Spiel, dieses Spiel der Worte, Eide und Flüche. Vor allem, wenn allein schon das Wort an sich große Macht in sich birgt.

„Ich… ich könnte mich auch… auf andere Weise nützlich machen“, murmelt er hastig, nachdem er kurz erst zu mir, dann zu Tetayes und Nôarée gesehen hat. „Verfügt über mich, bis Ihr meint, dass ich Eurem Vertrauen würdig bin.“

Es ist der letzte Versuch, aber er ist dabei, sich sein eigenes Grab zu schaufeln. Nun schaut sie von einem zum anderen, seufzt dann leise. Traurig.

„Ich weiß, dass man meinen Blauen Salon auch den „Garten der Sehnsucht“ oder „Garten der Wünsche“ nennt. Deshalb kommen gern jene hierher, die ihre letzte Hoffnung auf der Zunge tragen und sich keine Gedanken über die Folgen ihres Wunsches machen.“

Sie packt den Knienden an den Schultern und zieht ihn sanft hoch. Dann klappt sie das Schmuckkästchen zu und gibt es ihm zurück. Mit erstaunt aufgerissenen Augen starrt er sie an.

„Dein Wunsch wird dich mehr kosten als ein Schmuckstück für einen leichtfertigen Schwur“, erklärt sie bitter.

Sie beißt sich in den Finger und presst einen Tropfen der weißen Flüssigkeit heraus, die auch ihre Wangen zeichnet und verstreicht sie auf seinen Lippen. Näher wird er ihrer „Seele“ niemals kommen…

Der Junge stöhnt plötzlich und sackt zusammen. In seinen fieberglänzenden Augen sehe ich das kleine schwarzgelockte Mädchen in Feuer, Qualm und Tod, sehe dasselbe Mädchen schreiend und weinend unter einem rhythmisch zuckenden Mann liegen, der ihr ins Gesicht schlägt und dann hastig ihre diamantenen Tränen aufklaubt. Ich sehe – und erinnere mich – an einen winzigen, halb verhungerten Nôarée und wie ein weiblicher Engel seine eisvogelfarbenen Flügel verliert…

So viele Gefühle in einem Tropfen Erinnerung. Nartûn krümmt sich noch einmal, dann übergibt er sich vor unsere Füße. Die Pringipisa blickt ihn an.

„Das ist der Preis“, sagt sie leise und sehr sanft. „Den zu zahlen kann man von niemandem verlangen.“

~ * ~ * ~

Sie ist schön. Edel. Gütig.

Ein bisschen doof. Liebenswert.

Vor allem aber ist sie jene ganz besondere Eine, die ich nicht vergessen kann.

Impressum

Texte: Cover copyright by Narumi Kakinouchi
Tag der Veröffentlichung: 29.01.2009

Alle Rechte vorbehalten

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