Hannas Mutter eine Kurzgeschichte
Als Hanna geboren wurde, war sie das Wunschkind ihrer Eltern. Doch ihr Vater verschwand bereits spurlos, da
war Hanna keine vier Jahre alt. Und so sorgte sich alleine ihre Mutter um sie.
Bis dahin liebte Hanna noch ihre Mutter. Halt so, wie das auch bei Kindern nur ganz normal und nichts
Besonderes ist.
Die Probleme begannen erst, da war Hanna 6 Jahre alt und kam zunächst in die Vorschule.
Ihre Mutter brachte sie jeden Schultag zur Schule, packte ihr das Pausenbrot in die Schultasche, drückte sie,
kneifte ihre kleinen Pausbäckchen und gab ihr einen festen Kuss auf die Wangen mit den Worten:
„Schatz, ich liebe Dich“ dazu, während sie in ihre wunderschönen Augen blickte.
Nachmittags stand sie dann wartend vor der Schule, um Hanna abzuholen. Es waren aber nie Hannas
Schulfreunde mit dabei, wenn Hanna ihrer Mutter entgegenkam.
Als die Mutter Hanna fragte, warum sie sie nie zusammen mit ihren Schulfreunden sähe, sagte Hanna zu ihrer
Mutter:
„weil Du so hässlich bist. Sie glauben Du bist ein Monster.“
Das Gesicht der Mutter war wirklich nicht schön, denn ihr fehlte ein Auge. Stattdessen war nur noch eine große
leere Höhle zu sehen.
Und Hanna begann mehr und mehr ihr Gesicht von der Mutter abzuwenden, wenn diese sie zu küssen versuchte.
Wenn Hannas Mutter sie in den Arm nehmen wollte, drückte sie sie weg und begann zu weinen.
Es kamen auch nie die Freundinnen von Hanna – und von denen hatte sie wirklich sehr viele – mal zu Besuch bei
ihr zu Hause vorbei. Auch nicht zu Hannas Geburtstag, den feierte mit anderen zusammen in deren Wohnungen.
Hanna begann mit dem älter werden mehr und mehr ihre Mutter zu verachten. Egal, wie sehr diese versuchte,
alles für Hanna zu tun oder ihr immer wieder zu sagen:
„ich liebe Dich, ich würde alles für Dich machen“.
Stattdessen sagte sie zu ihrer Mutter:
„lass mich in Ruhe, Du Missgeburt. Du bist eklig!“
So vergingen die Jahre, in denen sich nichts daran änderte.
Hanna wurde eine erfolgreiche Schülerin, bestand spielen am Ende mit 18 Jahren ihr Abitur. Aber der Hass auf
die „hässliche“ Mutter blieb.
Hanna verließ nach ihrem Studium die Stadt, brach den Kontakt zu ihrer Mutter ab und zog in die USA.
Dort begann sie eine beachtenswerte berufliche Karriere, lernte ihren späteren Ehemann kennen und kehrte
zusammen mit ihm zurück nach Deutschland, wo sie in dem kleinen Haus, das die beiden sich gekauft hatten,
selber ihre Tochter zu Welt brachte.
Als Hannas Tochter dann sechs Jahre alt wurde und in die Grundschule kam, fragten sie die anderen Kinder:
„wo ist denn Deine Oma?“
Diese Frage stellte sie ihrer Mutter Hanna, und Hanna wusste nicht, was sie ihr sagen solle, bis es eines Tages
an der Tür des Hauses klingelte. Denn Hannas Mutter hatte gehört, dass Hanna wieder zurück in Deutschland sei
und hat ihre Adresse ausfindig machen können.
Als Hanna die Tür öffnete und die Mutter Hanna sah, sagte sie:
„Hanna, Schatz, ich liebe Dich“.
Hanne, neben der ihre kleine Tochter stand, blickte in das Gesicht mit der leeren Augenhöhle ihrer Mutter und
keifte sie mit den Worten: VERSCHWINDEN SIE, SIE HÄSSLICHES MONSTER“an, bevor sie die Tür zuschlug.
Zu ihrer eigenen Tochter sagte sie nur, sie sollte reingehen, wegen der abstoßenden Kreatur vor der Tür.
Doch die Zeit kam, da quälte Hanna das schlechte Gewissen und sie begann, ihre Mutter zu einem Gespräch
besuchen zu wollen.
Sie fuhr zu der alten Adresse, unter der ihre Mutter immer noch gemeldet war und klingelte an der Tür. Aber
niemand machte auf, egal wie oft sie klingelte, klopfte oder „Mutter“ rief.
Schließlich öffnete sich die Tür des Nachbarn, eines alten Mannes, der ihre Rufe gehört hatte und sie fragte, ob
er helfen könne. Sie sagte, sie wolle nur ihre Mutter besuchen.
„Hanna?“ fragte der Nachbar und erstaunt fragte sie zurück, woher er ihren Namen wisse.
„Nun, Ihre Mutter hat mir und meiner Frau viel über Sie erzählt. Sie hat Sie sehr geliebt und ständig vermisst.
Sie wusste, dass Sie in den USA lebten, geheiratet haben und auch selber heute eine Tochter hätten. Jede
Information über Sie versuchte sie in Erfahrung zu bringen. Sie war sehr froh, dass Sie scheinbar glücklich
geworden sind?“ sagte er.
Hanna fragte ihn nun schüchtern:
„Ja, glücklich, dass bin ich geworden. Wissen Sie, wann
sie zurückkehrt?“
„Oh je“, sagte der alte Mann. „Sie wissen es noch nicht? Ihre Mutter ist leider vor 14 Tagen verstorben. Sie
wusste aber von ihrem bevorstehenden Tod und gab uns einen Brief mit der Bitte, ihn für Sie aufzubewahren.
Bitte warten Sie kurz, ich bringe ihn für Sie raus.“
Der Mann holte den Brief aus dem Haus und übergab in Hanna.
Mit zittrigen Händen stieg Hanna in ihren Wagen, öffnete den Brief und begann, ihn zu lesen:
Liebste Hanna, jetzt wo wir uns bald nie mehr sehen werden können, will ich Dir folgendes schreiben:
Seit Du ein kleines Kind warst, hast Du mich verachtet und verleugnet. Mich bespuckt und beschimpft, obwohl ich
Dich immer geliebt habe. Nie habe ich Dinge getan, die schlecht für Dich gewesen wären.
Nur in einer Sache, an die Du dich nicht erinnern kannst, habe ich Dir nicht die Wahrheit erzählt.
Weil ich zuerst dachte, Du wärst noch zu jung oder würdest die Wahrheit nicht verkraften.
Dein Vater und ich, wollten beide ein Kind. Du warst ein echtes Wunschkind. Doch in unserer Ehe gab es mehr
und mehr Streitigkeiten und wir beschlossen gemeinsam, uns Scheiden zu lassen. Aber wir liebten Dich beide, Du
warst unser größtes und schönstes Glück auf Erden. Keiner von uns wollte Dich nur „regelmäßig“ sehen können.
Nein. Jeder wollte sich von morgens bis abends um dich kümmern können.
Deshalb nahm Dich Dein Vater nachts, während Du schliefst, in sein Auto und fuhr los, damit er Dich für sich
alleine hätte. Das war im November, das Wetter war schlecht und verregnet.
Das Unglück geschah dann auf einer schlecht beleuchteten Landstraße. Ihr hattet einen sehr schweren
Verkehrsunfall!
Denn der Wagen kam von der Fahrbahn ab und fuhr gegen einen Baum.
Als mich die Polizei anrief, eilte ich sofort in das Krankenhaus, in das sie euch beide gebracht hatten.
Heulend saß ich vor dem OP.-Saal, in dem sie Deinen Vater operierten, bis sie mir sagen mussten, er sei seinen
Verletzungen erlegen. Deshalb wurdest Du ohne Vater groß.
Aber auch Du, erlittest schwerste Verletzungen am Körper und deinem Kopf, so dass die Ärzte dich in ein
künstliches Koma versetzten mussten.
Erst nach langen Operationen sagten sie mir, dass sie Dein Leben gerettet hätten.
Auch die schlimmen Schäden an Deinem Körper durch Euren schweren Unfall und in Deinem hübschen Gesicht,
hätten sie wieder beheben können. Bis auf Dein Augenlicht.
Denn bei dem Unfall wurde Dir ein Auge aus dem Gesicht gerissen.
Ich wollte aber nicht, dass meine Tochter mit nur einem Auge im Gesicht leben müsse. Ich wollte nicht, dass
später andere Menschen zu Dir sagen würden, Du wärst „hässlich“, ein „Monster“, eine „Missgeburt“, denn ich
liebte Dich.
Deswegen flehte ich die Ärzte an, mir ein Auge zu entnehmen und es DIR zu schenken. Es war ein harter
Kampf, die Ärzte zu überzeugen, bis sie die Operation vornahmen.
Hanna, ich möchte, dass Du weißt, dass Du diese Zeilen nun auch mit meinem Auge liest. Erinnere Dich bitte
immer an eines:
ICH LIEBE DICH!
Ende
© Marc-B. Schulmann
Urheber
Tag der Veröffentlichung: 27.07.2015
Alle Rechte vorbehalten