Nathalie Lina Winter
Soulmates
Time is on your side
1.Band
New Adult
Soulmates
Time is on your side
ஜღKindheitserinnerungen - sie begleiten uns ein Leben lang.
Versteckte Gefühle, tief verletzt im Herzen verankert.
Doch egal, was Dir dein Verstand sagt - dein Herz kennt den richtigen Weg.ღஜ
Als Karena ihre Sandkastenliebe Timo an der Uni wiedertrifft, fällt sie aus allen Wolken. Er, der sie damals hat eiskalt sitzen lassen!
Um nicht erneut verletzt zu werden, hält sie Abstand zu ihm.
Doch dann fährt ausgerechnet Timo bei einer gemeinsamen Studentenfahrt mit. Zunächst ist keiner der beiden begeistert von der Idee. Ohne es jedoch zu wollen, nähern sie sich zaghaft an.
Wird Karena Timo ein zweites Mal vertrauen können?
Soulmates – Time is on your Side – Band 1 gibt es selbstverständlich auch als Taschenbuch zu kaufen.
Ihr könnt den New Adult Roman über Amazon, in allen Onlineshops und in jeder Buchhandlung erwerben.
Ab dem 22.09.2023 wird es den 1. Band mit dem neuen Cover offiziell als Taschenbuch geben.
Die Taschenbuchgröße beträgt 13,5x21,5cm.
Soulmates –Time is on your Side – Band 1 hat 568 Taschenbuchseiten.
Der Preis liegt bei 17,50€.
Die ISBN Nummer lautet: 9783757830090
Der 1. Soulmates Band kann selbstverständlich, wie auch bereits die weiteren Bände der Reihe, von mir persönlich signiert gekauft werden.
Schreibt mir hierfür gerne eine E-Mail (nathi_lina_winter@gmx.de) mit dem Betreff »Signiertes Taschenbuch Soulmates Hexalogie (Band ...)«.
Zwischen 4 bis 7 Werktage dauert dann die Lieferung, bis ihr Euer signiertes Taschenbuch in der Hand halten dürft.
Impressum
© 2017, 29.September Nathalie Lina Winter
Illustration: Nadine Kapp (Booklover Coverdesign)
Bildverwendung des Covers: fotolia.de
Betaleserinnen: Testleserteam, Anna (Wattpad Autorin isolatet)
Quellenangabe »Gedicht«: © Mona We
Herstellung und Verlag: BookRix GmbH & Co. KG, Sonnenstraße 23, D - 80331 München
Alle Rechte vorbehalten! Ausdruck, auch auszugsweise nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin.
Personen und Handlungen sind frei erfunden, Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen sind nicht beabsichtigt. Orte existieren und stammen sowohl aus Deutschland, sowie Österreich.
Dieses Buch, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt und darf ohne Zustimmung der Autorin nicht vervielfältigt oder weiterverbreitet werden.
Für einen großartigen Menschen, ohne den ich dies hier niemals
geschafft hätte.
Danke, dass es Dich gibt.
Meckernd und mit äußerst schlechter Laune stieg ich von meinem Fahrrad vor den Fahrradständern der Heidelberger Universität ab.
Mein Morgen hatte schon vor dem Aufstehen einen ersten Knacks wegbekommen und dieser wurde leider nicht besser.
Doch viel Zeit, um darüber überhaupt nachzudenken, blieb mir nicht, denn ein Schrei empfing mich in diesem Moment, zusammen mit einer heftig-freudigen Umarmung von hinten.
Ich lachte los, obwohl meine Laune immer noch auf dem Nullpunkt war. Mich aus der Umarmung befreiend blickte ich nun einer meiner besten Freundinnen entgegen. Vor mir stand meine beste Freundin Jasmin, die gerade einmal ein Meter fünfzig maß. Doch trotz ihrer kleinen Größe war sie ein echtes Punk-Rock-Girl, welches stets ein freches Funkeln in den Augen hatte und mit ihren ausgefallenen Punk-Rock-Klamotten jedem Modetrend somit entgegen strotzte. Jasmin und ich kannten uns schon seit der Grundschule und waren beide ein Herz und eine Seele; konnten immer auf den anderen zählen. Manchmal gab es jedoch Zeiten, in denen ich sie beneidete. Denn im Gegensatz zu mir war sie Einzelkind und konnte die Vorzüge dessen voll und ganz auskosten.
Ich musste mich mit meinem zwei Jahre älteren Bruder herumschlagen, der immer noch zu Hause bei unseren Eltern wohnte. Immerhin studierte er, genauso wie ich, und würde wohl bald seinen Doktor machen.
Eigentlich hatte mein Vater gehofft, dass er die Klinikleitung seiner Schönheitsklinik, die er und unsere Mutter betrieben, eines Tages übernehmen würde, doch daraus wurde nichts. Simon entschied sich für ein Jurastudium. Ein ziemlich anstrengender Job, wie ich fand. In den Semesterferien verwandelte er sich jedoch in einen wirklich liebenswerten Bruder, der seine kleine Schwester oft besuchte und beschützte. In dieser Zeit pflegte er glücklicherweise keinen allzu großen Kontakt zu seinen überaus kindischen Freunden.
»Jassi«, lachte ich und schob meine beste Freundin etwas von mir weg, »du erdrückst mich ja fast.«
»Ach Mensch, ich freue mich einfach so, dich zu sehen! Du siehst wirklich gut aus. So richtig erholt. War bestimmt super schön in der Karibik, so braungebrannt, wie du bist«, lachte sie und sah neidisch auf meine von der Sonne gebräunte Haut. Ich nickte lächelnd.
»Oh ja, das war es wirklich. Wenn man mal davon absieht, dass man auch im Urlaub keine Ruhe vor seinem nervigen Bruder hat.« Gespielt verdrehte ich die Augen, doch im Grunde war der Urlaub alles andere als negativ gewesen. Zweieinhalb Monate herrlichste Semesterferien waren viel zu kurz. Der Sommerurlaub, den ich zusammen mit meiner Familie in der Karibik, nahe Florida, verbracht hatte, ist wunderschön gewesen.
Ein Urlaub bei meinen Großeltern an der Nordsee für drei Wochen ist anschließend ebenfalls noch drin gewesen.
»Du bist heute aber echt spät dran. Sonst bist du doch immer die Pünktlichkeit in Person, nur heute scheint bei dir der Wurm drin zu sein«, bemerkte Jasmin und runzelte die Stirn.
Ich seufzte genervt auf, während ich mein Fahrrad anschloss und meine Tasche nahm.
»Ja, wäre ich auch. Wenn Simon nicht so einen Affenaufstand gemacht hätte. Du glaubst es einfach nicht. Dieser Morgen, ach, was sag ich, dieser ganze Tag steht unter keinem guten Stern. Erst verschlaf ich halb; bin nur dank Simons Anruf wach und dann finde ich meine Unterlagen nicht mehr wieder. Die gesamte Hausarbeit, die ich über die Semesterferien fertig hatte, ist weg. Ich schwöre: Wenn Simon da irgendetwas dran gedreht hat mit seinen dummen Kumpels, dann kann er was erleben.«
Jasmin kicherte. Sie kannte die Zankereien zwischen mir und meinem älteren Bruder nur zu Genüge.
»Das heißt, du gehst heute Nachmittag dann zurück ins Wohnheim? Hast es wohl gestern verpennt, was?«
Sie zwinkerte mir zu und ich nickte.
»Ja, ich hab´s gestern irgendwie nicht mehr hinbekommen und meine Mutter meinte dann, ich könne ja auch noch eine Nacht daheim schlafen.« Hier verdrehte ich die Augen leicht. Wäre es gestern nicht noch so spät geworden, weil ich alle Sachen zusammensuchen musste und das auf den letzten Drücker, wäre ich gestern schon zu Kathi ins Wohnheim zurückgekehrt. So aber hatte ich noch eine weitere Nacht daheim verbracht und war dann heute Morgen eher unsanft von Simon geweckt worden.
Jasmins Eltern waren seit etwa sechs Jahren getrennt; sie lebte bei ihrer Mutter, doch ihren Vater, der im landwirtschaftlichen Betrieb arbeitete, sah sie regelmäßig. So hatte sie zumindest etwas von beiden Eltern. Woher sie jedoch ihre Neigung zum Punk-Rock hatte, wusste keiner so recht.
»Du armes, armes Ding«, bedauerte sie mich gespielt und tätschelte meinen Arm. »Während du in der Karibik warst, dich mit deinem Bruder und seinem nervigen Getue abgeben musstest, musste ich zu meinem Vater aufs Land. Meine Mutter hatte die erste Hälfte der Ferien mal wieder eine ihrer komischen Abende und glaub mir: Weihrauchstäbchen, Singsang und Meditieren würdest du nicht aushalten«, seufzte sie.
»Okay, okay. Du hast gewonnen. Auf deine Mutter hätte ich auch keine große Lust gehabt«, gab ich zu und sie hob den Daumen.
Jasmin ist nicht nur eine meiner besten Freundinnen, sondern auch noch jemand, der wenig bis gar nichts auf die Meinung anderer gab. Zumindest, was den Kleider- und Lebensstil anbelangt.
»Wenn ich dauernd darauf achten würde, was andere über mich denken, oder gar sagen, dann würde ich meine Selbstachtung vor mir verlieren und mich dann nur noch nach denen richten und das will ich nicht. Ich will so bleiben, wie ich bin«, waren ihre damaligen Worte, als sie anfing, sich für die Punk-Szene zu interessieren.
Für ihre Konsequenz bewunderte ich sie. Zwar verbog auch ich mich nicht und besaß meinen eigenen Kopf aber im Gegensatz zu ihr, gehörte ich keiner Szene an und lief oft den neusten Trends hinterher.
Ich war kein Modepüppchen, dafür gab es genug Weiber an der Uni, die dieses Klischee bereits ausführten, allen voran unsere Uni-Zicke Elena, die sich für etwas Besseres hielt. Vor allem für ihre aufgesetzte Schönheit war sie an der Uni bekannt, wie sich herausgestellt hat, ein Resultat von der Klinik ihrer Eltern.
Auch meine führten eine solche Schönheitsklinik, aus der ich mir jedoch nicht viel machte. Einzig und allein war mir bewusst, dass beide Kliniken gegeneinander konkurrierten.
»Ach, hier steckt ihr!«, ertönte eine weibliche Stimme hinter uns. Wir drehten uns um und sahen Kathi auf uns zulaufen.
Sie war die Dritte im Bunde und anders als Jasmin oder ich recht schüchtern und zurückhaltend.
Ich hatte, trotz meiner einundzwanzig Jahre, lange gebraucht, um mich überhaupt für das Studieren zu entscheiden. Letztendlich fiel meine Wahl auf das Fach Germanistik. Auch Kathi und Jasmin studierten genau das Gleiche, wie ich und fingen mit mir im selben Jahrgang an. Inzwischen waren wir seit knapp eineinhalb Jahren an der Uni und würden heute unser drittes Semester beginnen.
Während Kathi und ich im Studentenwohnheim etwas abseits des Uni-Geländes lebten, wohnte Jasmin daheim bei ihrer chaotischen Mutter.
Eigentlich hätte ich auch zu Hause wohnen können, doch zusammen mit meinem Bruder unter einem Dach zu leben, war mir nicht ganz geheuer, zumal er fast ständig seine Kumpels mit nach Hause brachte.
Da unsere Eltern sich so gut wie nie daheim blicken ließen, zog ich es irgendwann dann doch lieber vor, unabhängig zu leben, ohne meine geliebte Familie.
»Los, kommt. Die erste Vorlesung beginnt gleich«, rief Kathi hektisch und zog uns mit über den Hof und in das Gebäude hinein.
»Streberin«, kommentierte Jasmin ihr Verhalten und lachte.
»Das hab ich gehört!«, knurrte sie, während wir die überfüllten Gänge der Uni entlanggingen, ich den vertrauten Geruch einatmete und für einen kurzen Moment die Augen schloss.
Obwohl das Studentenleben oft anstrengend war, genoss ich jede freie Minute.
Ich bekam die Chance das zu studieren, wonach ich lange suchte, besaß wunderbare, manchmal durchgeknallte Freunde und doch ein sehr erfülltes Leben.
Wäre da nicht mein leidiges Single-Dasein. Während viele auf der Uni ihre Partner kennenlernten, sich nicht selten Hals über Kopf verlobten und wieder entlobten, verkroch ich mich lieber hinter meinen Arbeiten und Aufträgen. Es war nicht so, dass ich mich als prüde bezeichnen würde, was das Liebesleben anging, aber ich ließ mich nicht für einen billigen One-Night-Stand herhalten oder verliebte mich zu schnell. Meine letzte Beziehung lag fast ein Jahr zurück. Ob sie es wert war, hier erwähnt zu werden, wagte ich einmal stark zu bezweifeln. Denn sie artete in einem regelrechten Rosenkrieg aus, was man eigentlich nur von Promis her kannte. Ich hatte einige Zeit gebraucht, um mich davon wieder zu erholen und genoss seitdem meine Unabhängigkeit in vollen Zügen. Ein paar kleinere Flirts waren mir gerne willkommen, doch wenn es zu ernst wurde, ging ich auf Abstand.
Meine erste und bisher einzige große Liebe lag Jahre zurück. Um genau zu sein, konnte man wohl im Kindergartenalter noch nicht von Liebe reden, aber dennoch hatte auch ich schon einmal die Schwärmerei erlebt.
Damals war es mein bester Freund Timo Wittenberg gewesen. Wir hatten uns im Kindergarten kennengelernt und waren erst gar nicht gut aufeinander zu sprechen, so wie das in diesem Alter eben üblich war.
Ich hatte ihm nie erzählt, was ich damals von ihm hielt. Die Tatsache, dass ich mehr für ihn empfand, als es den Anschein machte, führte dazu, dass ich es als peinlich und unangenehm empfand.
Kaum besuchte ich die erste Klasse, musste ich feststellen, dass Jungs im Allgemeinen doof waren. Zumindest all die Jungs, die ich so im Laufe meiner Schullaufbahn kennenlernte. Sie ärgerten Mädchen pausenlos, weswegen ich mich schnell dazu entschied, einen großen Bogen um die männlichen Wesen zu machen und mich von ihnen fernzuhalten. Das galt jedoch nicht für meinen besten Freund Timo, auch wenn er ein Junge war. Mit ihm verstand ich mich blendend, was wohl daran lag, dass er der Einzige war, den ich an mich heranließ, dem ich sozusagen blind vertraute.
Mein bester Freund und ich sahen uns nach der Schule häufig und ich mochte der festen Überzeugung sein, dass unsere Freundschaft, auch wenn wir nicht in ein und dieselbe Klasse und auf die gleiche Schule gingen, ewig halten würde.
Leider änderte sich dies schlagartig.
Timo zog mit seinen Eltern überraschend weg und ich hatte nicht einmal die Gelegenheit, mich von ihm zu verabschieden. Alles, was mir von ihm blieb, waren Erinnerungen. Erinnerungen an eine schöne Kindheit mit ihm, die bis heute geblieben waren. Erst einige Wochen später meldete er sich wieder bei mir und obwohl ich erst gar nicht mit ihm reden wollte, siegte doch die Neugier darüber, wie es ihm erging. Unsere Freundschaft hielt gegen meine eigenen Erwartungen dennoch und trotz der Entfernung schafften wir es, uns in den Ferien immer zu sehen. Bis er sich eines Tages völlig von mir abkapselte und ich meinen besten Freund seit diesem Tag nie wieder sah oder gar sprach.
Auch wenn ich nicht gerne darüber sprach, tat es immer noch weh, dass sich mein damaliger bester Freund so einfach aus dem Staub gemacht hatte.
Simon, der genauso alt wie Timo war, machte sich über meinen Gemütszustand, nachdem mein bester Freund einfach weggezogen war, mehr als lustig.
Selbst mein Vater konnte nicht verstehen, weshalb ich fast ein halbes Jahr durchhing und in der Schule immer weiter absackte.
Nur meine Mutter zeigte Verständnis für mich und baute mich auf, was lange dauerte.
So verging die Zeit und als die Pubertätsphase auch vor mir nicht Halt machte, vergaß ich meine Trauer um den Verlust meines besten Freundes.
Meine Beziehungen, so wie das erste Mal mit einem Jungen, den ich heute sicherlich nicht mehr wiedererkennen würde, waren nur von kurzer Dauer.
Noch vor meinem Abitur begann ich mich zu verändern. Ich vergrub mich in der Literatur, versank regelrecht in Büchern und mein zweiter Heimatort wurde die Stadtbibliothek.
Wenn diese nicht irgendwann geschlossen hätte, wäre ich dort sogar über Nacht geblieben.
»Rena, jetzt komm endlich!«, drängelte Kathi und ich erwachte schlagartig aus meinen Gedanken, in denen versunken war.
Kurz schüttelte ich den Kopf, um diese loszuwerden, und folgte schließlich meinen Freundinnen, die schon zum Hörsaal vorgegangen waren.
Die Flure der Uni waren an diesem Montagmorgen nach den Semesterferien wie immer sehr überfüllt. Viele suchten ihre Hörsäle, die Unterrichtsräume oder einfach nur ein ruhiges Plätzchen zum Quatschen, auf. Ich hingegen hatte es heute nicht besonders eilig. Wozu auch? Der Stoff würde sicherlich nicht gleich am ersten Tag so hart dran genommen werden, wie viele sicherlich vermuteten.
Hin und wieder erwischte ich auch einige der männlichen Studenten dabei, wie sie mir im Vorbeigehen neugierig-schmachtende Blicke zuwarfen. Ich ignorierte diese jedoch. Mir war bewusst, dass mich viele von ihnen vielleicht als heiße Braut abstempelten, nur weil ich die Tochter einer Arztfamilie war, die noch dazu eine Schönheitsklinik betrieben. Ich hingegen fand an mir nichts Besonderes. Oftmals machten mich diese ganzen Blicke recht nervös, sodass ich mir meine braunen, langen Haare dann doch lieber ins Gesicht schob, anstatt aus diesem.
Doch jetzt hieß es für mich erst einmal: Hello and welcome back, University. Und genau darauf freute ich mich jetzt besonders.
ஜღ ღஜ
Wäre meine erste Vorlesung nur etwas spannender gewesen, hätte mein Kopf sicherlich nicht ständig Bekanntschaft mit dem Tisch gemacht. So fiel dieser unvorhergesehen mindestens viermal auf das harte Holz und hinterließ jedes Mal ein leises Plong, bevor ich wegdämmerte. Eigentlich hatte ich damit gerechnet, dass die ersten Stunden aufregend wären nach den Semesterferien, aber dem war nicht so. Stattdessen döste ich nach den ersten fünfzehn Minuten schon so gut wie halbwegs ein.
Um mich herum nahmen die Studenten dies gar nicht wahr und auch den Dozenten, der vorne am Rednerpult unbeeindruckt seine Rede hielt, interessierte es herzlich wenig.
Im Allgemeinen konnte das Leben eines Studenten recht entspannt sein. Man trug sich in jene Fächer ein, die relevant für das eigene Studium erschienen und entschied selbst ob man die Vorlesung besuchte, oder aber sausen ließ. Am Ende des jeweiligen Semesters musste man dennoch seine Hausarbeiten beim Professor abgeben.
Viele ließen sich Zeit, besuchten nur hin und wieder eine Vorlesung, andere waren kleine Streber, die durch ihre Anwesenheit versuchten, zu glänzen und wieder weitere konnten sich entspannt zurücklehnen und alles auf sich zukommen lassen.
Ich zählte zu denen, die nicht jede Vorlesung besuchten, dennoch den Stoff auch ohne viel Nachholbedarf in einigen Tagen meist beherrschten.
»Rena, Rena!« Ich grummelte leise, während jemand an meinem Arm rüttelte.
»Mensch, Rena, wach endlich auf, du Schlafmütze.« Langsam kam ich aus meinem Dämmerzustand und blinzelte leicht, ehe ich verschlafen den Kopf hob und Kathi vor mir stehen sah, die belustigt wirkte.
Ein kurzer Blick zur Seite genügte, um zu erkennen, dass Jasmin an mir gerüttelte hatte.
»Scheiße, bin ich eben ...« Ich fuhr mir aufgebracht übers Gesicht und verfluchte mich innerlich, während beide neben mir lachten.
»Das ist nicht lustig!«, tadelte ich meine besten Freundinnen und warf ihnen verärgerte Blicke zu. Seufzend klaubte ich meine Unterlagen von dem Tisch und verstaute sie in meiner Tasche.
»Doch, ist es. Vor allem, weil du so süß geschnarcht hast«, prustete Kathi los, für das ich bloß ein Augenrollen übrig hatte.
»Ich schnarche nicht!«, stellte ich klar und sah sie böse von der Seite her an. Das erbrachte aber nicht die gewollte Ruhe, sondern zu meinem Unglück weiteres lautes Lachen. Gemeinsam stiegen wir die Stufen herab, während ich umständlich an meiner Tasche fummelte. Der riesige Ordner wollte einfach nicht den benötigten Platz in dieser finden. »Scheiß Ding!«, grummelte ich, während ich versuchte, den Ordner mit aller Gewalt in die Tasche zu stopfen.
»Geht schon mal vor, ich komm gleich nach«, rief ich Jasmin und Kathi einige Stufen unter mir zu, welche mir zunickten und Richtung Ausgang schlenderten.
Schließlich nahm ich genervt die Tasche von der Schulter, kniete mich auf den Boden und presste den Ordner nun mit Gewalt hinein. Nach mehreren Versuchen gelang es mir dann doch, das eigentlich viel zu große Ding in die viel zu kleine Tasche zu packen. Erleichtert atmete ich auf.
Der Hörsaal hatte sich in der Zwischenzeit mit neuen Studenten gefüllt. Um mich herum drängelten sie sich vorbei und füllten die Sitze der vielen Reihen.
Gerade erhob ich mich, als ich ins Straucheln geriet, das Gleichgewicht verlor und einige Stufen übersprang, ehe ich mich wieder fangen konnte.
»Hoppla, nicht so stürmisch, junge Frau!«
Zwei Hände griffen nach mir und hielten mich so lange fest, bis ich die Balance wieder fand und im Gleichgewicht stand.
»Sorry, ich wollte Sie nicht ...« Ich hob meinen Blick und traf auf schokobraune Augen, die mir freundlich entgegen blickten.
So ein intensives Braun hatte ich noch nie gesehen. Mein Blick wanderte weiter und traf auf einen sinnlichen Mund, ausgeprägte leicht hervorstehende Wangenknochen und glatte Haut. Ich trat einen Schritt zurück, um meinen Retter nun auch ganz betrachten zu können.
Dieser verfolgte mein Handeln mit einem leichten Schmunzeln.
»Und? Genug gesehen, sodass Sie mir nun eine Entschuldigung entgegen bringen können?« Seine tiefe, zugleich aber samtweiche Stimme ließ mich kurz den Rest seines Körpers begutachten, welcher nicht schlecht aussah. Zumindest das, was man unter seiner schwarzen Anzughose, sowie dem weißen Hemd und dem dunklen Jackett vermuten konnte.
Ich wurde dunkelrot, was ich an meinen heiß werdenden Wangen spüren konnte und öffnete schon den Mund, um etwas zu sagen, doch vergeblich. Nicht ein kleiner Pieps konnte über meine Lippen gleiten, also schloss ich diese wieder.
Mir war diese Peinlichkeit mehr als nur ins Gesicht geschrieben, denn normalerweise war ich nicht so leicht aus dem Takt zu bringen, was wohl daran lag, dass ich einen älteren Bruder hatte, gegen den man sich oft zur Wehr setzen musste.
»Ähm, ja ... also ...«, fing ich an, verhaspelte mich, räusperte mich einmal und fing dann von vorne an. »Dankeschön fürs Aufhelfen. Ohne Sie wäre ich sicherlich die Treppen heruntergestürzt!«
Oh je, was für eine peinliche Situation. Aber gut, es passte scheinbar zu meinem Tag, der ja bereits morgens schon reichlich chaotisch begonnen hatte.
Der junge Mann grinste leicht, eher er mir meinen Ordner reichte, der aus meiner Tasche gefallen war.
»Das nächste Mal lieber etwas vorsichtiger, bevor noch mehr runter fliegt als nur Ihr Ordner«, gab er mir noch den Tipp, bevor er mich ebenfalls kurz musterte und ich unter seinen Blicken drohte erneut rot anzulaufen.
Himmel, was war nur mit mir los? So etwas Peinliches war mir bisher noch nie passiert.
Das eben war ja noch nicht einmal peinlich, sondern eher ein unvorhergesehenes Missgeschick.
»Ähm ... ja ...«, brachte ich zum zweiten Mal stotternd und verlegen hervor und wünschte mir nichts sehnlicher, als dass sich die Erde möglichst schnell unter mir auftat, was sie natürlich nicht vorhatte zu tun.
Rasch griff ich nach dem Ordner, den er mir immer noch entgegenhielt, murmelte ein »Dankeschön« und schlängelte mich dann an ihm vorbei, Richtung Ausgang.
Obwohl ich keinen weiteren Blick nach ihm werfen wollte, tat ich es, kurz bevor ich die Tür des Hörsaals hinter mir schloss, doch.
Der verdammt gutaussehende Typ setzte sich etwa zwei Reihen über den Sitzen, auf denen zuvor ich mit meinen Freundinnen verweilt hatte.
Bildete ich es mir ein oder saß mein Bruder zwei Sitze weiter neben dem jungen Mann, dem ich eben noch in die Arme gerannt war?
Kopfschüttelnd verließ ich mit einem letzten Blick den Hörsaal, die Tür fiel hinter mir ins Schloss und ich schulterte meine Tasche.
Was für ein verrückter Tag. Dass dieser jedoch noch verrückter werden sollte, hätte ich im Leben nicht geahnt.
Doch so manche Peinlichkeiten erwiesen sich auch als Glücksgriff, wie es sich in meinem Fall später erweisen sollte.
Nach drei weiteren Vorlesungen, einem entspannten Mittagessen mit meinen Freundinnen und einem rauchenden Kopf verließ ich am Abend die Stadtbibliothek in der Innenstadt.
Obwohl es noch warm war, zog ich meine dünne Strickjacke etwas enger um mich, schulterte meine Tasche und schritt Richtung Wohnheim. Mein Fahrrad schob ich neben mir her. Zwar hätte ich auch fahren können, um schneller zu sein, doch nach dem langen Sitzen in der Bibliothek wollte ich mir noch ein wenig die Beine vertreten und genoss daher den kleinen Spaziergang.
Leise vor mich hin pfeifend und in Gedanken schon an die wohltuende, warme Dusche denkend, ging ich zügig weiter.
Auf meinem Weg musste ich den Stadtpark durchqueren, der an diesem Sommerabend gut besucht war. Viele der Studenten nutzten diese Abende, um vom Alltag und Stress abzuschalten. Sie trafen sich mit Freunden, besuchten die ein oder andere Party und nicht selten kam es vor, dass so auch Alkohol getrunken wurde, welcher oft nicht zu knapp war.
Ich selbst besuchte keine Partys, vergrub mich lieber hinter meinen Büchern und paukte für die Arbeiten, die auf mich zu kamen.
Vielleicht war dies auch einer der Gründe, warum mich einige der Jungs aus meiner Clique oft als Streberin darstellten.
Auch wenn mir mein Studium sehr wichtig sein mochte, so wollte ich jedoch niemals in die Fußstapfen meiner Eltern treten. Für mich erschloss sich die Arbeit in einer Schönheitsklinik als nicht relevant. Ich konnte dem ganzen Schönheitswahnsinn nichts abgewinnen.
Während ich durch den Park lief, wehten vereinzelt Stimmen, Gelächter, so wie die Lautstärke der Bässe eines Ghettoblasters zu mir herüber.
Würden mein Kopf sowie mein Körper nicht nach einer heißen Dusche und einem warmen, gemütlichen Bett verlangen, hätte ich große Lust gehabt, mich einfach anzuschließen, um vielleicht dadurch ein wenig abschalten zu können. Doch der Drang nach meinem ruhigen Zimmer war stärker, sodass ich ihm schließlich nachgab und weiter festen Schrittes voran ging.
Den Park hatte ich bereits zur Hälfte durchquert, als mir eine größere Gruppe links von mir auffiel. Normalerweise achtete ich nicht sonderlich auf so etwas, doch heute war es anderes.
Die Gruppe verhielt sich nicht anders, als andere. Sie saßen zusammen, lachten, tranken wahrscheinlich Bier und unterhielten sich. Doch etwas oder besser gesagt jemand von ihnen, schien mir bekannt vorzukommen.
Ich beobachtete diese ein wenig. Und tatsächlich: Einer von ihnen war unmissverständlich mein großer Bruder Simon.
Ich schüttelte den Kopf. Typisch mein Bruder. An der Uni ein absoluter Streber und in der Freizeit ein Partygänger.
Genauso war er schon in seiner Pubertät gewesen.
Ich konnte mich noch gut daran erinnern, wie Simon mit gerade mal fünfzehn Jahren sturzbetrunken zu mir durchs Fenster ins Zimmer geklettert kam.
Unsere Eltern hatten ihm Hausarrest aufgebrummt, doch daran gehalten hatte sich Simon nicht. Er war gerade in der Pubertätsphase und rebellierte daher gerne und oft gegen unsere Eltern. Kurz nachdem diese zu einigen Freunden aufgebrochen waren, weil sie eingeladen wurden, war Simon einfach abgehauen. Als seine kleine Schwester machte ich mir natürlich Sorgen um ihn, aber ich wusste auch, dass mein Bruder auf sich aufpassen würde. Und ich wollte ihn auch nicht bei meinen Eltern verpetzen, denn dafür war unsere Geschwisterliebe doch zu groß.
Als er jedoch um halb eins morgens immer noch nicht auftauchte, machte ich mir Sorgen um ihn. Erst das Poltern an meinem Fenster ließ mich erahnen, dass mein lieber Bruder wohl endlich heimkam.
Sturzbetrunken wie er war, konnte er von Glück reden, dass ich ihn überhaupt hereingelassen hatte.
Das Einzige, was er noch zu Stande brachte, war ein gehauchter Kuss auf meine Wange, welcher nach Alkohol roch und ein »Ich hab dich lieb, Schwesterherz«, bevor er sich wankend aus meinem in sein Zimmer schlich.
Zu diesem Zeitpunkt waren Timo und ich schon mehr als drei Jahre voneinander getrennt gewesen.
An diesem Abend telefonierte ich wieder einmal mit meinem besten Freund.
Leise meckernd stieg ich zurück ins Bett und klemmte mir das Haustelefon unters Ohr.
»War das dein Bruder?« Timos leises Lachen am Ende der Leitung bescherte mir eine feine Gänsehaut.
Mit meinen gerade einmal sieben Jahren wusste ich ganz genau, dass ich meinen besten Freund niemals verlieren wollte. Er bedeutete mir einfach zu viel. Mit ihm konnte ich lachen, weinen, mich freuen, oder einfach nur die Stille genießen. Er verstand mich oft ohne Worte.
Manchmal hatte ich die Vermutung, wenn wir im Kindergarten zusammen spielten, er wüsste genau, wie ich mich fühlte. Ob beim Spielen, beim gemeinsamen Essen oder einfach nur beim Kuscheln.
Immer war er in meiner Nähe und wenn nicht, dann fühlte ich mich schnell einsam. Timo schien es ähnlich zu ergehen, denn immer wieder suchte der kleine Junge mit den wunderschönen, braunen Schokoaugen meine Nähe und wich mir kaum mehr von der Seite.
Wenn es abends jedoch Richtung nach Hause ging, fühlten wir uns, als wenn man uns trennte. Als wenn ein Teil des jeweils anderen weggerissen würde. Die Einsamkeit blieb und für mich fühlte es sich schrecklich an, doch ich sagte nichts. Ich blieb stumm, aus Angst, Timo könnte mich auslachen, was jedoch völliger Quatsch war, denn wir vertrauten einander. So wie jetzt … er fehlte mir und ich versuchte mit dieser Einsamkeit so gut es ging, fertig zu werden.
»Ja, das war mein blöder Bruder«, grummelte ich und unterdrückte ein Gähnen.
»Naja, sei froh, dass du nur einen Bruder hast. Meine Schwester Melanie ist viel anstrengender.«
Timos Schwester hatte ich fast nie zu Gesicht bekommen, denn sie lebte nicht bei ihm und seiner Mutter, sondern bei deren Vater.
Einer der Gründe vielleicht, warum sich Timo als Klein-und Schulkind so oft bei mir und meinen Eltern aufhielt, anstatt bei sich zu Hause. Er hatte schließlich nie miterlebt, wie es sich anfühlte in einer intakten Familie zu leben und aufzuwachsen.
Einen Moment herrschte Schweigen zwischen uns, in dem ich an die dunkle Zimmerdecke starrte und darauf wartete, dass Timo etwas sagte. Doch auch er schwieg.
»Rena …«, kam es nach einer längeren Pause und ich spürte, dass Timo etwas bedrückte.
»Ja …?«
»Wenn ich irgendwann einmal zu dir sagen würde, dass ich dich mehr als nur …«
Ich hielt den Atmen an und krallte meine linke Hand in die Bettdecke. Mein Herz begann wie wild zu pochen und alles in mir kribbelte.
Gerade, als ich dachte, er würde diesen Satz beenden wollen, klopfte es an meiner Zimmertür und ich zuckte zusammen. Genervt krabbelte ich aus dem Bett und ging zur Tür, um diese aufzuschließen, denn mein Bruder rief gerade ziemlich laut: »Rena, ich brauch das Telefon.«
»Warte mal kurz!«, bat ich Timo am Ende der Leitung, klemmte mir das Telefon unters Ohr und drehte den Schlüssel der Tür.
Kaum war dies geschehen, fiel Simon auch schon fast in mein Zimmer herein. Er schwankte bedrohlich, brachte aber trotzdem ein Grinsen zustande. Auffordernd streckte er die Hand nach dem schnurlosen Haustelefon aus.
»Du hast ein Handy«, murrte ich und funkelte ihn böse an. Er sollte schließlich merken, dass er mich gerade nervte. Immerhin bot sich für mich endlich mal wieder eine Gelegenheit, mit meinem besten Freund sprechen zu können. Denn in den letzten Tagen war es nicht möglich gewesen, da meine Eltern mich oft früh zu Bett geschickt hatten.
»Ich weiß. Aber mein Vertrag wurde gesperrt und Dad hat die Rechnung noch nicht bezahlt. Also gib schon her, Schwesterchen.« Die Worte verließen eher lallend als normal sprechend seinen Mund, was mich das Gesicht leicht verziehen ließ.
Ich seufzte ungehalten auf. Immer war es das Gleiche. Nie konnte man in dieser Familie seine Ruhe haben.
»Ich melde mich morgen wieder, okay?«, sagte ich genervt und es tat mir jetzt schon leid, dass ich meinen besten Freund etwas anmaulte.
Doch dieser nahm es gelassen, wie ich an seinem Lachen erkannte.
»Kein Problem. Melde dich einfach, wenn du wieder Zeit hast! Ich hab dich lieb.«
Damit reichte ich das Telefon Simon, der es an sich nahm und gleich mal Timo mit »Hey, Alter, was geht ab?«, begrüßte. Mit einem lässigen Handgruß und einem frechen Zwinkern an mich gewandt drehte er sich um und ging schwankend aus meinem Zimmer.
»Idiot!«, murmelte ich, weil ich ahnte, dass Simon genau wusste, dass ich mit meinem besten Freund telefonierte. Er hätte lieber ins Bett gehen sollen, anstatt zu telefonieren, so betrunken, wie er war.
Aber hier stellte ich mal wieder unmissverständlich fest, dass große Brüder wirklich ätzend waren und leider schien sich das seitdem nicht wirklich geändert zu haben.
ஜღ ღஜ
Gerade wollte ich weitergehen, als ich wohl offensichtlich von einem aus der kleinen Runde entdeckt wurde.
»Rena?! Rena, komm her.« Der junge Mann, welcher mich gerufen hatte, war Jonas Wesinger. Dieser studierte ebenfalls bei mir an der Uni, jedoch im Bereich der Medizin und war wirklich für jeden Spaß zu haben. Daher kam er auch in unserer Clique super gut an.
Mein Vater hatte Jonas unter anderem schon fast als zukünftigen Schwiegersohn gesehen, als ich ihn vor etwa zwei Jahren bat, mich zu einem dieser Ärztebälle zu begleiten, zu denen ich als Tochter nun einmal mitgemusst hatte. Zu dumm aber auch, dass ich Jonas zwar mochte, weil er nun einmal ein Komiker war, aber ansonsten keinerlei Interesse an ihm zeigte.
Also schlenderte ich auf die Gruppe zu, auch wenn es mich immer noch viel lieber in mein warmes Bett zog. Aber ein bisschen plaudern und vom Alltag abschalten schien ja nicht schaden zu können.
Kaum erreichte ich die Gruppe, wurde mir auch schon ein Platz von Jasmin, die links neben einem halbleeren Kasten Bier saß, angeboten. Somit lehnte ich das Fahrrad an einen nahegelegen Baum und setzte mich dann zwischen meinen beiden besten Freundinnen. Das ließ mich immerhin doch ein wenig Hoffnung aufkeimen, dass der Abend nicht ganz im Alkoholrausch endete.
»Ich hatte dir eine WhatsApp Nachricht geschrieben, aber die hast du bestimmt mal wieder nicht gelesen, stimmt´s?«, stichelte Kathi, grinste mich an und ich verdrehte leicht die Augen. Sie wusste, dass ich ihre Nachricht nicht gelesen hatte, da in der Bibliothek Handys verboten waren und bisher war ich auch noch nicht dazu gekommen, dies wieder einzuschalten.
Ich streifte meine Tasche von den Schultern, die wieder einmal eine Menge Bücher beherbergte und ließ mich auf der Decke im Schneidersitz nieder.
»Hier, zum Auflockern.« Stefan reichte mir eine Flasche Becks Green Lemon, die er wohl schon offen in der Hand gehalten hatte. Ich beäugte sie misstrauisch.
»Keine Sorge, ich hab nichts rein gemischt, sonst bringt mich Simon noch um, wenn ich seiner Kleinen auch nur ein Haar krümme«, brachte er mit einem Lachen hervor, welches alle anderen zum Kichern brachte und mir ein Schmunzeln entlockte.
Ich nahm sie entgegen und trank einen kleinen Schluck. So schlecht schmeckte es gar nicht.
Die anderen waren wieder ins Gespräch vertieft, sodass ich mich in aller Ruhe umsehen konnte, mit wem ich hier eigentlich genau saß.
Außer meinen besten Freundinnen waren noch mein Bruder und Jonas, Leon sowie Pascal anwesend. Die beiden kannten meinen Bruder noch vom Gymnasium. Während ihres Studiums verloren sich beide aus den Augen, trafen dann jedoch vor gut einem Jahr wieder aufeinander. Wie genau das aber alles damals zu Stande gekommen war, wusste ich nicht, denn ich hatte Simon nie danach gefragt. Leon und Pascal studierten ebenfalls, allerdings in einem ganz anderen Fachbereich. Dennoch schien die Freundschaft unter ihnen als Kumpels immer noch zu bestehen, wie ich jetzt sah. Ich bekam von dem ja nicht viel mit, was mein Bruder so mit seinen Kumpels trieb, da ich eigene Sorgen und Laster oftmals mit mir herumtrug. Der letzte im Bunde unserer Clique war Stefan und … mein Blick blieb an einer Person hängen, die ich bisher gar nicht wahrgenommen hatte.
Diese unterhielt sich leise mit meinem Bruder, sodass ich nicht erkennen konnte, wer genau es war. Dennoch weckte dies sofort mein Interesse.
Ich nippte hin und wieder an meiner Flasche und behielt die Person im Auge.
Da es noch recht hell war, konnte ich das Profil von dieser gut in Augenschein nehmen.
Dunkle Haare, ein gut durchtrainierter Oberkörper, welchen man unter dem sehr enganliegenden Shirt ausmachen konnte. Die Person saß zwar im Schneidersitz, dennoch ließ es mich erahnen, dass sie fast eineinhalb Köpfe größer sein musste als ich.
Dunkle Baggy-Hosen verhüllten die Beine, sodass ich nicht genau erkennen konnte, ob diese eher lang, oder kurz zu sein schienen.
Ich ließ meinen Blick einige Male an dem jungen Mann entlanggleiten, ehe ich mich seinem Gesicht widmete. Die ausgeprägten leicht hervorstehenden Wangenknochen sowie der sinnliche Mund kamen mir bekannt vor, doch konnte ich diese nicht zuordnen.
Erst, als ich meinen Blick weiterwandern ließ und geradewegs in warme, freundliche braune Augen blickte, die mich neugierig musterten, dämmerte es mir. Vor Schreck verschluckte ich mich an meinem Bier und bekam einen halben Hustenanfall. Halb röchelnd hob ich den Blick und blickte nun in ein grinsendes Gesicht. Ich verdrehte die Augen, während ich mich allmählich wieder erholte.
»Geht´s?«, fragte Jasmin und ich nickte.
»Ach, Rena. Das weißt du ja noch gar nicht. Rate mal, wer wieder hier ist?« Mein Bruder deutete auf den jungen Mann neben sich, schlug ihm freundschaftlich auf die Schulter und dieser feixte.
»Keine Ahnung. Der Papst oder Jesus scheint es nicht zu sein«, brachte ich immer noch mit leicht erstickter Stimme hervor.
Irgendetwas sagte mir, dass ich gleich den Schock meines Lebens präsentiert bekommen würde.
»Sag bloß, du erkennst Timo Wittenberg nicht mehr?! Jetzt bin ich ehrlich gesagt schockiert, Rena.«
Einen Moment lang war ich wirklich wie versteinert. Simon machte gerade Witze, oder?
Timo, mein Timo, meine erste große Liebe sollte dieser Typ neben meinem Bruder sein?
Niemals.
»Simon, wenn du mich verarschen willst, dann war das gerade ein sehr, sehr schlechter Scherz. Du weißt ganz genau, dass ich … dass ich …«
» … dass ich Timo geliebt habe, dass ich Gefühle für ihn hatte und ich ihm nie verzeihe, dass er irgendwann auf einmal wie vom Erdboden verschluckt schien, selbst als ich versuchte, ihn daheim zu erreichen«, beendete ich meinen Satz in Gedanken.
Doch Simon, sowie alle anderen, die ich der Reihe nach ansah, schienen nicht so, als wenn sie scherzen würden.
Okay, also entweder waren sie alle schon ein wenig zu betrunken, oder aber …
»Hey Rena, dein Bruder hat Recht. Ich bin es wirklich. Eigentlich muss ich ehrlich sagen, dass ich dich heute in der Uni gar nicht wiedererkannt hab. Simon und ich sind uns heute auch das erste Mal seit einigen Jahren wieder über den Weg gelaufen. Er hat mich am Namen erkannt, als ich mich heute Morgen in die Vorlesungen eintrug und im Sekretariat noch einiges klären musste. Wir konnten selbst nicht glauben, dass wir uns nach so vielen Jahren wiedersehen würden … Na ja, und wie das eben so ist, keimten dann wieder die alten Erinnerungen hoch. Erst, als Simon mir sagte, dass du …«
»Ja, das stimmt. Ich hab´s echt versäumt, dir zu sagen, Schwesterherz. Ich meine … ich musste Timo erst einmal die Uni zeigen und so … sorry, Rena.«
Wollte ich wirklich hören, was mein toller Bruder über mich beziehungsweise über das plötzliche Auftauchen Timos zu sagen hatte? Wollte ich wirklich wissen, warum meine erste große Liebe nach Jahren der Trennung so ganz plötzlich wieder in mein Leben geschneit kam?
Wenn ich ehrlich sein mochte, wollte ich es nicht, doch auf der anderen Seite war ich schon ein wenig neugierig, warum Timo nach all den Jahren wieder auftauchte. Ob es wirklich nur an der Uni lag oder ob noch etwas anderes dahinter steckte.
Kaum dachte ich daran, musste ich automatisch an unser allererstes Treffen damals denken. Ich wusste nicht, wieso … sie war einfach da, die Erinnerung an damals und sie wirkte so frisch, als wäre sie erst gestern gewesen.
Im Alter von gerade einmal fünf und drei Jahren waren Timo und ich uns das erste Mal im Kindergarten begegnet. In diesem Alter hatte ich natürlich noch nicht allzu viel zu sagen, geschweige denn zu tun gehabt.
Timo war damals der einzige Junge gewesen, der mich vom ersten Tag an seiner Seite haben wollte.
Er war es, der mir den Kindergarten gezeigt, der mit mir gespielt und mich getröstet hatte, wenn ich traurig war oder es mir schlecht ging.
Für mich galt Timo von da an wie ein Beschützer. Ohne Timo fühlte ich mich unausgeglichen und einsam.
Wie jedoch im Kleinkindalter üblich, gab es auch bei uns beiden Zeiten, in denen wir uns um Kleinigkeiten zankten. So hatte Timo mein Kuscheltier, eine weiße Katze, mit nach draußen zum Spielen genommen. Diese sah danach auch dementsprechend aus und meine Laune rutschte auf einen Tiefpunkt. Meine Eltern, so wie die damalige Erzieherin hatten alle Hände voll zu tun, um mich einigermaßen wieder zu beruhigen.
Timo bekam, weil er nach seiner Attacke auf mein Kuscheltier so ein dämliches und schadenfrohes Grinsen im Gesicht hatte, am nächsten Tag die Quittung von mir kassiert.
Nachdem ich ihn beim Radfahren ein wenig auf dem Hof des Kindergartens beobachtete, beschloss ich, ihn ebenfalls zu ärgern.
So kam es, dass Timo kurze Zeit später im hohen Bogen vom Rad flog und sich dabei zwei Milchzähne ausschlug.
Unschuldig und zugleich schadenfroh darüber, weil ich ihm einen Stock zwischen die Speichen seines Fahrrads geschmissen hatte, verzog ich mich in die Spielecke.
Konsequenzen gab es im Nachhinein dennoch für mich, was ich natürlich wiederum total doof und unfair fand.
Nachdem solche und noch weitere kleinere Missgeschicke zwischen uns passierten, begannen wir uns irgendwann besser zu verstehen.
Unsere Eltern konnten nach den zahlreichen Blessuren sowie Heulattacken im Kindergarten und bei uns daheim gar nicht glauben, dass wir auch ganz normal miteinander umgehen konnten.
Aus Hass wurde somit eine liebevolle und unzertrennliche Freundschaft.
Wäre Timos Umzug damals nicht dazwischen gekommen, wer wusste, was dann noch alles passiert und wie unsere Freundschaft weitergegangen wäre?
Hier saß ich nun und dachte über unsere allererste Begegnung nach, während um mich herum die anderen aus der Clique quatschten, tranken und einfach gut drauf waren.
»Hey!« Ich zuckte leicht zusammen, als ich auf einmal jemanden vor mir wahrnahm und aufblickte.
Vor mir hockte kein anderer als Timo höchstpersönlich und blickte mich an.
Es war ein Blick, der neugierig, aber dennoch frech wirkte.
Da ich zu keinem Wort fähig schien, sah ich ihn einfach stumm an.
Timo kaute auf seiner Unterlippe herum, schwenkte die halbvolle Bierflasche in seinen Händen und schwieg.
Was zur Hölle wollte er?
»Hey!«, brachte ich endlich mehr als trocken hervor, was ihn dazu veranlasste, den Blick zu heben und mich mit seinen braunen Augen anzusehen.
Seinen Blick konnte ich nicht deuten, doch ich hoffte, dass ihn meine, zugeben desinteressierte Stimme, dazu veranlasste, von mir Abstand zu halten. Immerhin hatte er mir damals das Herz gebrochen, auch wenn er davon nichts wusste. Dennoch … mit ein bisschen Verstand hätte er eigentlich merken müssen, dass ich in ihn verliebt war … sofern man das in unserem damaligen Alter als Verliebt sein ansehen konnte.
»Rena …«, begann er, doch ich ließ ihn nicht ausreden.
»Für dich, Timo Wittenberg, immer noch Karena, verstanden?«
Er seufzte, fuhr sich mit der freien Hand durchs Haar, welches ich nur zu gerne anfassen würde, und atmete tief durch.
»Ich weiß, dass das jetzt alles etwas viel für dich ist. Glaub mir, wenn du magst, kann ich dir alles in Ruhe erklären.«
War er jetzt vollkommen durchgedreht? Was wollte er mir in Ruhe erklären? Dass er, als mein bester Freund, mit dem ich damals alles teilte, einfach so weggezogen war? Dass er mich damit mehr als verletzte, als er sich aus heiterem Himmel dann plötzlich gar nicht mehr meldete, nachdem ich mehrfach in den Ferien bei ihm gewesen war? Dass er unsere Freundschaft und somit auch mein Herz aufs Spiel gesetzt hatte?
»Danke, nicht nötig«, erwiderte ich trocken und nahm einen Schluck von meinem Bier. Das aufkeimende Kribbeln in meinem Bauch versuchte ich dadurch zu ersticken.
»Karena bitte. Hör mir wenigstens zu. Ich hab oft, sogar sehr oft an dich denken müssen, als ich damals wegzog, aber es ging alles viel zu schnell und … können wir nicht noch einmal von vorne anfangen? Ich möchte dir gerne erklären, warum das alles so kam und wieso das jetzt so ist. Du hast ein Recht darauf, dies zu wissen, denn … ich …«
Ich ließ ihn jedoch nicht weiter zu Wort kommen, wollte jetzt hier vor allen und vor allem nicht von einem angetrunkenen Timo Wittenberg, eine Erklärung für sein Verschwinden, für sein jahrelanges Schweigen haben.
Und dass Timo angetrunken war, merkte ich. Ich roch es an seiner Bierfahne und rümpfte nur angewidert die Nase. Nichts gegen ein paar Bier, aber von einem Angetrunkenen eine Erklärung zu erhalten, war definitiv nicht das, was ich wollte. Wenn ich denn überhaupt eine Erklärung von ihm wollte, denn ganz sicher schien ich mir plötzlich auch nicht mehr zu sein. Ob ich diese Erklärung überhaupt verkraften würde …
Ich antwortete nicht, stand aber auf und wandte mich an die anderen. Timo beachtete ich nicht.
»Sorry, Leute. Ich werde mich mal auf den Heimweg machen, ist ja schon spät und morgen hab ich einen anstrengenden Tag vor mir«, verabschiedete ich mich von der Clique und wandte mich zum Gehen.
»Schwesterherz, denk dran, dass du morgen Schicht in Nicos Café hast«, erinnerte mich Simon und grinste verschmitzt. Im Gegensatz zu Simon, der mit seinem Geld offenbar wunderbar auskam, jobbte ich alle drei Abende in einem kleinen Café in der Innenstadt, um mir ein wenig was dazuzuverdienen.
»Jaja«, erwiderte ich nur und verdrehte leicht lachend die Augen.
Jasmin und Kathi erhoben sich, um mich noch zu verabschieden. Kathi versprach auch bald in die WG zu kommen, was ich nickend entgegen nahm.
Die Jungs verabschiedeten mich mit einem Handgruß und einigen gemurmelten Worte, welche ich mit einem Daumen nach oben erwiderte, damit sie sahen, dass ich sie verstanden hatte.
»Übertreibt´s nicht«, warnte ich sie alle noch lachend und musste mich wegducken, ehe eine leere Dose an mir vorbei segelte und im Gras dumpf aufschlug.
»Du konntest auch schon mal besser treffen, Stefan«, brachte ich belustigt hervor, ehe ein »Das nächste Mal treff ich dich, Rena!«, folgte.
Dann machte ich mich auf den Heimweg.
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Ich versuchte den gesamten Weg über nicht an Timo zu denken und wundersamer Weise klappte es auch.
Äußerst geschafft schloss ich, nachdem ich mein Fahrrad vor dem Hauseingang am Fahrradständer angeschlossen hatte, im Wohnheim angekommen, die Zimmertür auf und schaltete das Licht an.
Ich teilte mir mit Kathi ein Zimmer. Nicht, dass mich meine beste Freundin nervte, aber es war dennoch manchmal der Wunsch da, nach ein bisschen Freiheit. Denn hier musste immer jemand von uns beiden auf den jeweils anderen Rücksicht nehmen, was nicht weiter schlimm war, aber trotzdem … manchmal nervte es ganz schön.
Einen Moment blieb ich an der geschlossenen Tür angelehnt stehen, ehe ich meine Schuhe auszog und die Jacke an den Türhaken hängte. Meine Tasche schmiss ich, nachdem ich den breiten Schrank umrundet hatte, achtlos aufs Bett. Unser gemeinsames Zimmer war großzügig geschnitten, dennoch hatten wir während des Einzugs damals beschlossen, dies zu teilen. Eine breite Schrankwand trennte unsere Betten voneinander, was ganz praktisch war. So konnten wir beide zumindest ungestört schlafen oder nachts noch etwas lesen, ohne den anderen mit dem Licht der Nachttischlampe zu nerven.
Aus meinem Schrank holte ich neue Wäsche, meine Schlafpanty und mein Schlafshirt und begab mich über den Flur ins Gemeinschaftsbadezimmer. Nach einer wohltuenden, heißen Dusche und Zähneputzen lag ich zwanzig Minuten später in meinem gemütlichen Bett, doch an Schlaf konnte ich noch lange nicht denken.
Dafür schwirrten mir zu viele Gedanken im Kopf herum.
Gedanken, die sich um meine ehemalige Sandkastenliebe Timo Wittenberg drehten.
Warum war er gerade hier? An dieser Uni, an der Uni, an die auch ich ging? Hätte er sich nicht einfach eine andere aussuchen können?
Seufzend drehte ich mich auf die Seite, schob meine linke Hand unter das Kopfkissen und die andere locker daneben und starrte an die weiße Wand.
Doch so sehr ich mir auch wünschte, dass mich die Müdigkeit überrollte, nichts dergleichen geschah.
Stattdessen erblickte ich vor meinem inneren Auge Timo, der mich stumm anblickte.
»Hau ab!«, zischte ich, denn ich wollte ihn nicht in meine Gedanken und schon gar nicht in mein Herz lassen. Die Gefahr, dass er es vielleicht erneut in Stücke riss, war zu groß.
Doch etwas in mir war stärker und das Gefühl, ihm vielleicht doch Unrecht getan zu haben, kroch in mir hoch wie heiße Lava.
Meine Gedanken kamen nicht zur Ruhe, stattdessen dachte ich an jenen Abend zurück, an dem ich mir mit Timo damals das erste Mal ein Bett geteilt hatte. Vielleicht lag es daran, dass just in diesem Moment ein erstes Donnergrollen zu vernehmen war. Ein Gewitter zog auf; genau wie damals, genauso, wie ich es in Erinnerung hatte.
Es war Herbst gewesen und Timo hatte nach langem Betteln endlich bei mir daheim übernachten dürfen, nachdem unsere Eltern erst strickt dagegen gewesen waren. Eigentlich hatte Timo bei Simon in seinem Zimmer geschlafen. Doch nachdem das Gewitter immer schlimmer geworden war und ich vor Angst kein Auge zu bekommen hatte, war ich schließlich zu Simon ins Zimmer geschlichen. Dieser hatte ein Etagenbett, genau wie ich. Ich wusste, dass Simon unten lag und zuerst wollte ich auch in sein Bett schlüpfen. Doch nachdem ich merkte, dass dieser für mich in seinem Bett keinen Platz mehr hatte, weil er sich so breit machte, blieb ich unschlüssig an der Leiter stehen.
Timo, welcher offensichtlich noch wach lag oder durch das leise Quietschen der Zimmertür aufgewacht war, lugte nun über das Geländer zu mir herunter.
»Hast du Angst?«, fragte er in die Stille, die das Zimmer erfüllte. Er schien mich bereits eine ganze Weile beobachtet zu haben, denn ich stand seit geschlagenen zehn Minuten vor Simons Bett.
Ich blickte auf und erkannte Timo, wie er mich aufmerksam musterte.
Zumindest kam es mir so vor. »Nein. Du etwa?«, gab ich leise zurück und starrte an die dunkle Zimmerdecke. Es sollte tapfer klingen, doch es war gelogen. Warum sollte ich im Zimmer meines Bruders nachts stehen und vor Angst fast anfangen zu weinen? Das Grollen wurde lauter und allmählich wurden auch die Blitze sichtbar, denn sie erhellten für kurze Momente das Zimmer.
»Nein!«, kam es bestimmt zurück, doch uns war beiden klar, dass es gelogen war.
Wieder herrschte Stille und ich sah ihn unverwandt an, was er mir gleich tat.
Nach kurzem Zögern seinerseits meinte er leise: »Wenn wir uns ein Bett teilen, dann geht das Gewitter bestimmt bald weg.«
Ich überlegte einen Moment, ehe ich leicht nickte. Obwohl ich lieber bei meinem Bruder im Bett geschlafen hätte, aber dieser war einfach nicht wachzubekommen und da meine Angst zu groß war, blieb mir nichts anderes übrig.
Mit wenigen Sätzen war ich die Leiter zu ihm hochgeklettert und lag Sekunden später neben ihm, das Gesicht ihm zugewandt.
Keiner von uns sagte etwas, ich hielt sogar für einen Augenblick den Atem an.
So nah war ich dem besten Freund meines Bruders bis dahin noch nie gewesen. Zumindest nicht in einem Bett.
Als es wieder zu grollen anfing und die Blitze kräftiger denn je über uns zuckten, legte Timo, der mein Zusammenzucken gemerkt hatte, einen Arm um mich.
Ich schaute ihn mit großen, ängstlichen Augen an. Langsam, fast schon vorsichtig zog er mich fester in seine Arme und nach kurzem Zögern ließ ich meinen Kopf an seine Brust gleiten.
Ich wusste nicht, ob es sein gleichmäßiger Herzschlag sowie sein Atmen war, der mich ungemein beruhigte, oder ob es an der beschützenden Umarmung sowie dem Gefühl der Geborgenheit lag.
Jedenfalls legte sich meine Angst langsam und dank seines Streichelns über meinen Rücken übermannte mich langsam die Müdigkeit und ich schlief irgendwann ein.
Ich glaube, meine Eltern müssen einen Schock damals bekommen haben, als sie wieder heim gekommen waren, mich und Timo in ein und demselben Bett schlafen sahen. Und das, obwohl beide nur für wenige Stunden weg gewesen waren und mein Bruder die Aufsicht für mich hatte.
Doch glücklicherweise sprach dieses Thema am Morgen keiner an.
Immerhin waren wir noch Kinder und in diesem Alter schien es wohl durchaus normal zu sein, nebeneinander einzuschlafen.
Als ich über diese Kindheitserinnerung mit Timo so nachdachte, musste ich doch etwas schmunzeln und schlief irgendwann darüber hinaus ein.
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Das Schrillen meines Weckers holte mich morgens um Punkt neun Uhr aus meinen Träumen. Wobei ich hierzu sagen musste, dass ich nicht einmal wusste, ob diese schön waren. Generell konnte ich mich fast nie an einen Traum erinnern und wenn, dann nur schemenhaft.
Halb blind tastete ich im verdunkelten Zimmer, da die Vorhänger an den Fenstern zugezogen waren, nach dem Wecker. Diesen erwischte ich und schmiss ihn von meinem Nachtschränkchen.
»Scheiß Ding«, grummelte ich verschlafen und hätte mich am liebsten gleich wieder auf die Seite gedreht, um weiterzuschlafen.
Kathi schien nicht mehr da zu sein, denn ansonsten hätte ich sie im Zimmer gehört. Leise war für sie oft ein Fremdwort. Doch heute war es still. Offenbar hatte ihre Vorlesung bereits angefangen.
Lustlos schwang ich meine Beine aus dem Bett und stand auf.
Auch wenn das Studentenleben entspannt war, so gab es dennoch Tage, an denen ich mich am liebsten erst gar nicht in eine der Vorlesungen oder in die Bibliothek bewegt hätte. Doch ohne Fleiß kein Preis und so musste auch ich hin und wieder in die Vorlesungen. Genau wie an diesem Morgen. Denn später würde ich vor lauter Hausarbeiten gar nicht mehr wissen, ob ich überhaupt noch eine Vorlesung besuchen sollte, wenn ich mit dem Papierkram nicht hinterher kam.
Nach einer Dusche, die meine Lebensgeister ein wenig aufmunterte, zog ich mich an und verließ mit einigen Büchern, die ich in der Kantine noch schnell durchblättern wollte, und meiner Tasche auf den Schultern das Zimmer.
Die Kantine sollte noch offen haben, sodass ich mir ein Frühstück gönnen würde.
Ich hätte zwar auch in der Küche des Wohnheims Frühstück machen können, doch mein Kühlschrankfach war so gut wie leer und gab daher fast nichts Essbares mehr her.
So schritt ich den Flur des Wohnheims entlang, öffnete die Haustür und trat nach draußen.
Es war warm, weshalb ich nur eine hellblaue, kurzärmlige Bluse, eine dunkelblaue Dreiviertelhose und Ballerinas trug.
Meine braunen, langen Haare hatte ich zu einem lockeren Zopf gebunden, der lässig bei jedem Schritt hin und her wippte.
Mit zügigen Schritten machte ich mich auf den Weg zum Uni-Gelände, das nicht allzu weit vom Wohnheim entfernt war. Auf mein geliebtes Fahrrad hatte ich heute Morgen irgendwie keine große Lust.
Auf dem Weg schrieb ich Kathi und Jasmin eine WhatsApp Nachricht, in der ich beide zum Mittagessen in der Kantine einlud. Zum Weggehen abends war keine Zeit, da ich heute meine erste Schicht im Café nach den Semesterferien hatte.
Bepackt mit meinen Sachen machte ich mich auf den Weg.
Gerade hatte ich das Gelände erreicht, kamen mir unzählige Studenten, Referendare sowie Professoren entgegen. Ich ging in Gedanken meine heutigen Vorlesungen durch, als ich fast in
jemanden hineingelaufen wäre.
Gerade noch rechtzeitig konnte ich mich fangen, sonst wäre ich wohl der Länge nach hingeflogen.
»Hoppla!«, kam es von demjenigen und diese Stimme ließ mich erstarren.
Es war genau die gleiche Stimme, die ich vor fast vierundzwanzig Stunden das erste Mal seit Jahren wieder vernommen hatte und die mich in meinen Erinnerungen seit gestern verfolgte.
Es war die Stimme, die mich seit meinen Kindertagen begleitet hatte. Es war seine Stimme und es war sein Aftershave, welches mir in die Nase stieg und mich kurz meine Augen schließen ließ, um diesen herben-süßlichen Duft einzuatmen.
»Timo!« Alleine seinen Namen auszusprechen, auch wenn er eigentlich nur gehaucht schien, war für mich ein Fluch.
»Karena.« Sein Arm stützte mich, bevor ich wieder Halt fand und mich langsam aufrichtete, ehe ich in braune, warme Augen blickte.
»Ach, du hast dir meinen vollen Namen gemerkt? Ist ja nicht zu glauben, Herr Wittenberg.«
Mein Sarkasmus war nicht zu überhören.
Innerlich schüttelte ich meinen Kopf über mich selbst. Warum zeigte ich ihm bei unseren Begegnungen immer wieder die kalte Schulter? Wenn ich jedoch an unsere gemeinsame Vergangenheit, an unsere Kindheitserinnerungen dachte, musste ich fast immer lächeln und fühlte mich wohl bei dem, was ich von ihm hielt und dachte.
»Rena …«, begann er, doch ich verengte die Augen augenblicklich zu Schlitzen und er hob abwehrend die Hände.
» … Karena. Ich weiß wirklich nicht, was dein Problem ist, also was du für ein Problem mit mir hast, aber ich würde mich freuen, wenn wir das aus der Welt schaffen könnten. Ich hab mich nicht extra für diesen Weg entschieden, um dir Schaden zu wollen oder dich zu verunsichern. In meiner Vergangenheit sind Dinge passiert, die mich dazu veranlasst haben, die Uni zu wechseln und Heidelberg war nun einmal eine Möglichkeit davon. Dass ich Simon hier begegnete, hätte ich niemals für möglich gehalten und als er mir …«
»Weißt du was, Timo? Es interessiert mich nicht die Bohne, warum du hier bist oder warum du dich mit meinem Bruder verbündet hast. Ich möchte einfach meine …«, doch seine hochgezogene Augenbraue ließ mich nicht weiter reden. Ich verstummte, denn diese Geste von ihm erinnerte mich an die Grundschulzeit, wo er damit angefangen hatte. Immer, wenn er merkte, dass ich log, zog er nur ganz leicht, aber extrem gekonnt, die Augenbraue hoch, ohne etwas zu sagen. Und diese Geste brachte mich nicht nur in Verlegenheit, sondern zeigte mir auch ganz deutlich, wie gut er mich kannte. Dass diese Angewohnheit immer noch bei mir zog, überraschte selbst mich.
Ich seufzte frustriert auf, verdrehte die Augen und kniff die Lippen zusammen.
»Kaffee trinken in der Mensa? Ich denke, wir haben noch genügend Zeit, um unser kleines Missverständnis aus dem Weg zu räumen, oder was meinst du?«
Abwartend sah er mich an, ehe ich knapp nickte und ihm dann Richtung Mensa vorauslief.
Wenn er meinte, dass es mit einem Kaffeetrinken getan war, dann hatte er sich aber gewaltig geschnitten.
Kindheitserinnerungen hin oder her: Er hatte mich damals mehr als nur verletzt und das war mit nichts auf der Welt wieder gutzumachen.
Die Mensa der Uni war, bis auf einige Studenten, die an zusammengestellten Tischen saßen und ihr spätes Frühstück genossen, leer.
Ich ließ mich mit meiner vollen Tasche an einem Tisch an der breiten Fensterfront nieder. Dort stützte ich die Ellenbogen auf den Tisch, legte die Finger aneinander und bettete mein Kinn darauf ab. Timo beachtete ich nicht, auch wenn es mies von mir war.
Stattdessen ließ ich meinen Blick durchs Fenster schweifen. Ich beschloss, ihn noch ein wenig zappeln zu lassen, ehe ich das Eis zwischen uns langsam zum Auftauen bringen würde. Obwohl ... wenn ich es mir überlegte, so lag es ja nicht an mir, dass ich zum Eisklotz ihm gegenüber wurde. Immerhin war er es gewesen, der sich jahrelang nicht gemeldet hatte, dem unsere Freundschaft so gesehen am Arsch vorbeigegangen war. Zumindest kam mir sein Verhalten, sein Nicht-bei-mir-melden, so vor. Und ich hatte ihn nach mehreren Versuchen, ihn zu erreichen, einfach nicht mehr ans Telefon bekommen. Es war, als sei er wie vom Erdboden verschluckt gewesen.
Bei den Wittenbergs ging niemand ans Telefon und ein Handy besaß ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Irgendwann, als ich wieder einmal versucht hatte, ihn anzurufen, wurde mir gesagt, dass unter der gewählten Nummer kein Anschluss sei.
Dies kam mir sehr merkwürdig vor, denn ich konnte mir beim besten Willen nicht erklären, warum die Telefonnummer gewechselt worden war.
Von Tag zu Tag wurde ich unruhiger, versuchte es sogar per E-Mail bei ihm, nachdem ich meinen Bruder lange genug genervt hatte, damit er Timo eine Mail schrieb.
Simon verstand meine ganze Aufregung nicht so wirklich, weshalb er dies achselzuckend tat. Ich hingegen konnte das Ganze nicht einfach so hinnehmen und versuchte weiter meinen besten Freund zu erreichen.
Und irgendwann, nach unzähligen Fehlversuchen, klappte es. Nach einem, wie es mir schien, stundenlangen Tuten in der Leitung, wurde abgehoben.
Voller Freude war ich gewesen, als ich nach langer Zeit endlich wieder die vertraute Stimme meines besten Freundes am Telefon vernommen hatte.
Ich überhäufte ihn mit meinen Erlebnissen, die ich seitdem gehabt hatte, quatschte einfach so darauf los und freute mich jedes Mal wie ein kleines Kind, wenn von Timo ein vertrautes Wort kam. Selbst, wenn es nur ein Brummen, oder gar sein Atmen war.
Ich merkte gar nicht, wie schlecht es meinem besten Freund wohl ging, denn er wurde von Tag zu Tag einsilbiger, sagte an manchen Tagen kaum mehr ein Wort, schien schlichtweg einfach keine Lust zu haben, mit mir zu telefonieren. Doch aus Rücksicht meiner Gefühle und meiner Freude, die ich immer übers Telefon zu versprühen schien, sagte mein bester Freund nie etwas.
Irgendwann, nach mehreren Wochen des fast täglichen Telefonierens, musste ich der schrecklichen Wahrheit ins Gesicht blicken.
Ich hatte wieder einmal bei ihm angerufen und zu meinem Glück ging seine ältere Schwester Melanie ans Telefon. Mit ihr hatte ich mich wunderbar verstanden, allerdings auch erst, nachdem sie mit ihren Eltern und ihrem Bruder weggezogen war.
Sie war sozusagen der weibliche Ersatz für Timo, wenn ich ein kleines Frauenproblem hatte, über das ich mit meinem besten Freund nun einmal nicht sprechen konnte. Sie sagte mir, dass Timo gerade nicht daheim wäre, sie ihm aber ausrichten würde, dass ich angerufen hätte.
Leider musste ich feststellen, dass sie dies wohl offensichtlich nicht tat, denn nach diesem Telefonat bekam ich ihn erst recht nicht an den Hörer. Egal, wie oft ich es auch bei ihm versuchte, es hob keiner bei den Wittenbergs ab, oder man sagte mir jedes Mal, dass Timo nicht daheim wäre. Zu Melanie riss der Kontakt nach etwa einem Vierteljahr gänzlich ab, nachdem sie für ein Austauschjahr ins Ausland gezogen war.
Kurz darauf brach die jahrelange Freundschaft zu Timo endgültig, nachdem ich ihn für exakt zwei Minuten am Telefon hatte, jedoch nur zwei Sätze mit ihm wechseln konnte. Egal wie oft ich es danach mit einem Anruf probierte, es hob keiner ab.
Seine Eltern selbst bekam ich nicht ans Telefon, sondern immer nur eine ältere Dame, wie es mir schien. Wer sie war, wusste ich nicht und irgendwann gab ich es völlig auf. Besonders, nachdem die Telefonnummer nicht mehr existierte.
Doch nun hatte ich die Gelegenheit, auf diese quälenden Fragen, die ich all die Jahre nie beantwortet bekommen hatte, von meiner ehemaligen Sandkastenliebe eine Antwort zu erhalten.
Timo stand einen Moment verloren neben den Stühlen mir gegenüber, bevor er Platz nahm.
Die Unterarme stützte er auf dem Tisch ab und blickte nervös umher, ehe er mich schließlich ansah.
Seine warmen, braunen Augen bohrten sich in die meinen und einen Moment hatte ich das Gefühl mich in ihnen zu verlieren. Sie erinnerten mich jedes Mal an süße Schokolade. Wusste der Kuckuck, warum das so war. In meiner Kindheit hatte ich Timo oft wegen seinen braunen, weichen Haaren und seinen Augen bewundert, doch nie zuvor hatte ich mich so derart von ihnen faszinieren lassen, wie jetzt.
Um nicht weiter in seinen Bann gezogen zu werden, unterbrach ich den Blickkontakt zu ihm und starrte stattdessen wieder auf meine Finger.
»Wie ... wie geht es dir? Du hast dich ganz schön verändert, seit damals«, begann Timo das Gespräch.
Ich schwieg. Was hätte ich auch sagen sollen? Dass ich mich freute, ihn nach all diesen Jahren wiederzusehen? Dass ich so gerne alles wieder ungeschehen machen würde und am liebsten unsere Kindheit zurück wollte?
Stattdessen starrte ich nun die Tischplatte an und kaute auf meiner Unterlippe herum.
Timo ließ einen tiefen Seufzer von sich hören, was mich zum Schmunzeln brachte. Das hatte er früher auch immer getan, wenn er nicht weiter wusste oder wenn ihm etwas tierisch auf die Nerven ging.
»Ich weiß, dass vieles damals schief lief und ich möchte dir erklären, warum ich mich nie wieder bei dir gemeldet hab. Vielleicht verstehst du dann ja den Grund, warum ich gerne einen Neuanfang mit dir wagen möchte – als Freunde.«
Ich ließ mir seine Worte durch den Kopf gehen, ehe ich langsam nickte. Ich wollte ihm eine Chance geben, das war richtig, aber ob er die auch nutzen würde ...
»Vermassle es nicht!«, brachte ich leise hervor. Einen Moment stutzte Timo, ehe er eine Augenbraue hob und langsam nickte.
Am liebsten hätte ich jetzt süß gesagt, denn dieser Ausdruck auf seinem Gesicht verlieh ihm wirklich etwas niedliches, das fast zum Dahinschmelzen war.
Doch ich riss mich zusammen.
»Was magst du frühstücken?«, kam die nächste Frage von ihm und riss mich aus meiner Starre.
Ich wurde rot. Wollte er mich jetzt zum Frühstück in der Mensa einladen? Wozu bitte? Um sein schlechtes Gewissen, das er anscheinend hatte, zu beruhigen?
Einen kurzen Moment zögerte ich, ehe ich murmelte: »Nur einen Kaffee bitte. Schwarz, mit Zucker.« Als Frühstück reichte mir dieser heute aus. Außerdem befürchtete ich, dass ich nichts runterbringen würde. Die Neugier, weshalb sich Timo wohl mit mir treffen wollte, würde das Schlucken wohl erschweren. Himmel, war ich nervös und neugierig, auch wenn ich versuchte, mir dies nicht anmerken zu lassen.
Timo grinste, erhob sich und schlenderte zur Ausgabe, um das Gewünschte zu holen.
In meinem Kopf fuhren die Gedanken Achterbahn.
Ich saß hier mit ihm beim Frühstücken in der Mensa der Uni und wusste nicht genau, wie ich mich ihm nun gegenüber verhalten sollte.
Mein Kopf schrie mir zu, auf der Stelle zu verschwinden, doch mein Herz sagte mir, dass ich sitzen bleiben und ihm wenigstens eine Chance geben sollte.
Engel und Teufel waren noch nie gut auf mich zu sprechen
gewesen, weswegen ich oft nicht wusste, was denn nun die richtige Entscheidung war.
Total in Gedanken vertieft merkte ich nicht, dass Timo an den Tisch zurückgekehrt war. Erst, als er mir einen Becher mit dem heißen Kaffee vor die Nase setzte und mir der Geruch entgegen stieg, erwachte ich aus meiner Trance.
Mit einem zweiten Becher setzte er sich mir gegenüber.
»Warum, Timo? Warum jetzt? Warum nach all den ganzen Jahren?«, platzte ich mit meinen Fragen heraus, noch bevor er überhaupt etwas sagen konnte.
Ich hatte es nicht mehr ausgehalten, die Worte hatten meinen Mund schneller verlassen, als das mein Gehirn sagen konnte »Erst Denken, dann Reden!«
Der junge Student nahm den zweiten Becher Kaffee und drehte diesen in seinen Händen hin und her. Er schien zu überlegen.
»Du hast jedes Recht sauer auf mich zu sein, aber bevor du es bist oder sein wirst, gib mir bitte die Chance, dir das alles zu erklären und vielleicht auch zu zeigen. Rena, ich weiß, dass ich dein Vertrauen mehr als nur missbraucht hab. Ich hab dich tief verletzt. Aber bitte denke nicht, dass mir unsere damalige Freundschaft nichts bedeutet hat. Denn das stimmt nicht. Sie hat mir viel, sehr viel bedeutet.«
Eine Pause entstand, in der ich ihn skeptisch musterte und dann an meinem Kaffee nippte.
Timos Augen blickten mich fest an, fast als würde er wollen, dass ich seinen Worten Glauben schenkte.
Doch zwischen Glauben und Vertrauen lagen Welten ... Welten, die er mit seinem damaligen Umzug nur noch mehr auseinandergerissen hatte.
»Was machst du heute Nachmittag? Hast du da noch Vorlesungen?«, wechselte er nun das Thema. Eigentlich mochte ich es nicht, wenn man vom eigentlichen Problem, welches im Raum stand, abwich, aber da ich selbst immer noch nicht genau wusste, was ich von all dem hier halten sollte, ging ich darauf ein.
»Muss lernen und abends aushelfen«, murmelte ich eher zu mir selbst als zu ihm. Mit Kathi und Jasmin würde ich mich dennoch treffen.
Immerhin war es bis zum Nachmittag ja noch ein Weilchen hin.
»Aushelfen?«, wiederholte Timo neugierig. Ich nickte, denn sagen, wo und als was ich aushalf, wollte ich nicht unbedingt.
Er musste nicht wissen, dass ich neben meinem Studium etwas dazu verdiente.
Obwohl ... wenn er damals im Park richtig zugehört hatte, dann wüsste er, als was ich aushalf und vor allem auch wo.
Die Arbeit im Café war entspannt und neben dem Studium eine willkommene Abwechslung, zumal ich dort mit Nico, dem Chef des Cafés, eng befreundet war.
»Hm, okay. Wenn du magst ...«, doch er unterbrach sich, als sein Handy klingelte. Er zog es aus der Hosentasche seiner Jeans und nahm den Anruf entgegen.
»Ja? Okay, nein, kein Problem ... geht klar. Gut, dann bis später. Hauste rein!«
Mit einem leichten Grinsen auf den Lippen, was ihm etwas Verwegenes gab, beendete er sein Telefonat und drehte sich zu mir herum.
»Sorry, ich muss jetzt leider los. Aber vielleicht lässt sich unser Treffen ja bald wiederholen. Ich weiß, ich hatte dir versprochen, dass ich dir Fragen beantworten würde, aber im Moment ist alles noch etwas stressig hier an der Uni. Du weißt ja, dass ich erst kürzlich gewechselt habe und ... ich erkläre dir das alles, wenn es etwas ruhiger bei mir geworden ist. Muss jetzt auch wirklich los.« Ich nickte leicht und wusste nicht, ob ich nun erleichtert aufseufzen sollte, weil ich diesem sehr peinlichen Treffen entkommen war, oder ob ich genervt sein sollte, weil das Schicksal es offenbar nicht gut mit uns beiden meinte. Timo konnte von Glück reden, dass ich ihm für sein jahrelanges Schweigen nicht an die Gurgel gesprungen war. Ich hatte gehofft, bei diesem Treffen alle Antworten zu erhalten, deren Fragen mir auf der Zunge lagen, doch wieder wurde daraus nichts.
Timo wollte schon die Kaffeebecher nehmen, doch ich winkte ab.
»Lass, ich mach das. Geh du nur!« Einen Moment zögerte er, doch dann zuckte er mit den Schultern und lächelte mich leicht an.
»Danke. Das nächste Mal revanchiere ich mich dann dafür.« Leises Lachen war von ihm zu hören, was mir eine Gänsehaut bescherte und meine Schmetterlinge im Bauch zum Leben erweckte.
Verfluchter Mist, wo kamen die denn jetzt auf einmal her?
Mir nichts weiter anmerken lassend hob ich eine Augenbraue, genauso wie er es vorhin getan hatte und zuckte die Schultern.
»Du kennst viele Seiten an mir noch nicht«, sagte ich leise und schien wohl dabei unbeabsichtigt geheimnisvoll zu klingen, denn Timo schmunzelte, ehe er sich zu mir beugte und mir fest in die Augen sah.
»Es wird mir ein Vergnügen sein diese herauszufinden, Karena.
Immerhin haben wir uns einige Jahre lang nicht gesehen und es wäre wirklich interessant zu wissen, was aus meiner süßen, kleinen und ängstlichen Zuckerschnute geworden ist.«
Ich wurde rot und blickte verlegen zu Boden.
Zuckerschnute ... so hatte er mich damals nach einem Besuch auf der Kirmes mit unseren Eltern genannt. Es war kurz vor Beginn der Einschulung in die erste Klasse der Grundschule gewesen.
Timos und meine Eltern zogen zusammen mit Melanie und meinem Bruder Simon los.
Natürlich waren wir Kinder total aufgeregt, während die Eltern viel mehr damit beschäftigt waren, uns im Zaum zu halten, denn wir wollten am liebsten überall hinein. An einem Stand voller Süßigkeiten, an dem es Lebkuchenherzen, Zuckerperlen, Lakritz und sonstige Naschereien gab, zog ich Timo am Ärmel davor und grinste ihn an.
Er schien von der Vielfalt der Süßigkeiten gar nicht zu wissen, was er nehmen sollte.
Da wir beide noch zu klein waren, um selbst zu zahlen, mussten unsere Geschwister herhalten, denn unsere Eltern waren schon ein Stück vorgegangen.
Während Timo sich schnell für eine riesige Lakritzstange entschied, musste ich etwas länger überlegen.
Simon war deswegen schon leicht genervt.
»Schwesterchen, jetzt mach endlich. Ich will hier keine Wurzeln schlagen«, rief er und rollte mit den Augen, was ich nur halb beachtete.
»Ich will die da haben!«, forderte ich endlich und zeigte auf eine Trommel, in der die Masse für die Zuckerwatte hergestellt wurde.
Die freundliche Verkäuferin nickte und begann nach kurzer Zeit die rosa Zuckerwatte auf einen langen Holzstab aufzudrehen.
Wenig später hielt ich meine klebrige, süße und rosafarbende Zuckerwatte in den Händen. Ich strahlte begeistert und steckte mir die erste Ladung des süßen Zeugs in den Mund.
Die Watte zerging augenblicklich in meinem Mund und hinterließ einen süßen Geschmack.
»Ich will auch mal probieren.« Timo sah mich bittend an, während ich ihn misstrauisch beäugte. Bei Süßigkeiten war ich wirklich giftig, denn die teilte ich ungern.
Nach einigen Sekunden des Überlegens und meinen Kopf hin und her wiegend, nickte ich schließlich.
Mein bester Freund griff zur Watte und zog sich ein Stück heraus.
Währenddessen waren wir weiter geschlendert, mein Bruder und Timos Schwester liefen hinter uns.
»Schmeckt viel zu süß«, stellte Timo nach einigen Sekunden fest und ich zog eine Schnute, während ich weiter die rosa Watte in mich hineinstopfte.
»Stimmt ja gar nicht!«, widersprach ich ihm und funkelte ihn böse an, was aber nicht zu fruchten schien.
Stattdessen hatte ich, weil ich von meiner Watte einfach so abgebissen hatte, einige Fetzen der klebrigen, rosa Watte um meine Nasenspitze, sowie an einigen Haarsträhnen, die mir immer wieder ins Gesicht gefallen waren, kleben.
Timo, der mich beobachtet hatte, grinste jetzt leicht, ehe er mir nahe kam und die Zuckerwatte mit dem Finger von der Nasenspitze zog.
»Da, du hast die sogar auf der Nase gehabt, meine kleine, süße Zuckerschnute!«, lächelte er, ehe er mir einen kleinen Kuss auf die Wange drückte, dann verlegen zu Boden schaute und sich ganz schnell beeilte, unseren Geschwistern hinterher zu kommen, die weitergegangen waren, sich nun aber zu uns umdrehten und warteten.
Ich hingegen war etwas perplex, ehe ich ihm langsam folgte. Der Kuss, sowie seine Stimme, als er „meine kleine, süße Zuckerschnute" gesagt hatte, verursachten bei mir ein angenehmes Kribbeln. Damals konnte ich dies jedoch noch nicht deuten und Timo ließ sich seitdem auch nie etwas anmerken.
Gefühlsmäßig versteht sich. Jedoch nannte er mich noch ein paar Mal so, ehe mein neuer Kosename von ihm endgültig abgelegt wurde. Dies geschah einige Wochen bevor Timo für immer aus meinem Leben verschwunden war.
Und nun ... fast zwei Jahrzehnte später verwendete er ihn wieder.
Ich musste bei dem Gedanken daran, wie mein Kosename entstanden war, lächeln und ich glaubte, Timo tat das Gleiche, denn auch er feixte.
»Na ja, ich muss dann jetzt mal los. Wir sehen uns bald wieder, Karena. Und ... danke für das unvergessliche Wiedersehen mit dir!« Mit einem Zwinkern und einer lässigen Handbewegung verabschiedete sich Timo von mir und schlenderte Richtung Ausgang.
Ich sah ihm einen kurzen Moment nach, ehe ich mich erhob und die leeren Kaffeebecher zur Theke zurückbrachte. Dann nahm ich meine Tasche, schulterte diese und schritt ebenfalls hinaus.
Meine Freistunde war um und die erste Vorlesung würde in wenigen Minuten beginnen. Zügig spurtete ich durch die Gänge der, mal wieder völlig überfüllten, Uni und suchte meinen Hörsaal auf.
Zum Glück hatte ich heute nur zwei Vorlesungen, sodass ich den Nachmittag gut für mich nutzen konnte, bevor meine Schicht bei Nico anfangen würde.
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»Was haltet ihr davon, wenn wir zu unserer Lieblingseisdiele gehen und uns dort hinsetzen? Zeit genug wäre doch noch, bevor Renas Schicht beginnt, oder?«
Zusammen mit Jasmin und Kathi schlenderte ich durch die Heidelberger Innenstadt. Das Wetter war fantastisch, unsere Laune war super und nach einer ausgedehnten Shoppingtour hatten wir noch genügend Zeit, um uns ein sonniges Plätzchen zu suchen und einfach die Seele baumeln zu lassen.
»Oh ja, los kommt. Bei Luigi wird's sicher voll sein, aber probieren kann man's ja mal. Und wenn's gar nicht anders geht, nehmen wir eins auf die Hand und gehen zum Stadtpark.« Jasmin war sofort Feuer und Flamme und auch ich hatte nichts dagegen einzuwenden.
Mit unseren neusten Errungenschaften, die wir auf unserer Tour durch die Läden erworben hatten, machten wir uns auf zur Eisdiele.
Es schien vorauszusehen gewesen, dass es bei Luigi verdammt voll war. Wir drei ergatterten dennoch einen kleinen, runden Tisch draußen vor der Eisdiele und setzten uns.
Jasmin fiel durch ihre Punkkleidung zwischen den Leuten sehr auf, was sie jedoch nicht im Geringsten störte.
Kathi ließ sich mit einem »Puh, ist das heiß heute.« auf den nächstbesten Stuhl am Tisch fallen und schnappte sich die Eiskarte, die sie als Fächer umfunktionierte.
Ich schüttelte lachend meinen Kopf und Jasmin rollte die Augen.
»Ganz schön was los hier«, stellte Jasmin fest und ich sah mich um. Fast alle Tische waren draußen auf der Terrasse besetzt, was bei dem Wetter auch kein Wunder war.
Wenn ich daran dachte, dass meine Schicht heute sehr stressig werden würde, seufzte ich innerlich. Doch das Geld, was ich mir bei Nico dazu verdiente, konnte ich gut gebrauchen und so schlecht waren die Schichten ja auch nicht, denn der Umsatz war oft sehr gut.
»Was darf ich euch drei hübschen Damen denn bringen?« Luigi, der Eisdielenbesitzer höchstpersönlich, war zu uns an den Tisch getreten und sah uns freudestrahlend an.
Er war ein netter Herr von etwa fünfzig Jahren, die ergrauten Haare machten sich bereits bemerkbar. Ein leichter Bauch zeichnete sich unter seinem Arbeitshirt mit dem Logo der Eisdiele ab, doch ansonsten war dem Besitzer der beliebtesten Eisdiele mit seiner lustigen Art nicht anzumerken, dass er langsam immer älter wurde. Seitdem ich an der Uni studierte, war die Eisdiele eine Art Ruhepool für mich. Hier konnte ich bei den leckeren Eissorten, sowie dem köstlichen Cappuccino einfach mal meine Seele baumeln lassen, was ich leider viel zu selten tat.
Nachdem wir unsere Bestellungen aufgegeben hatten, lehnte ich mich entspannt zurück.
»Ich bin ja mal gespannt, wie die ersten Hausarbeiten aussehen werden für dieses Jahr. Bestimmt werden die super schwer werden«, jammerte Jasmin und ich rollte mit den Augen. Sie war so eine Jammertante, wenn es darum ging, die Hausarbeiten zu erledigen. Dabei hatten wir noch keinen ersten Auftrag, sowie das Thema dazu von unseren Dozenten erhalten.
»Du machst dir immer viel zu viele Sorgen. Letztes Jahr hast du eine grandiose Arbeit abgeliefert mit fast der besten Punktzahl und jetzt jammerst du schon herum, obwohl noch nichts angefangen hat. Ehrlich man, du brauchst endlich einen Typen an der Seite. Der bringt dich auf andere Gedanken«, stauchte Kathi sie zusammen und erntete von mir einen Daumen nach oben.
»Ha Ha!«, erwiderte sie trocken und zog eine Grimasse, was mich sehr an mich selbst erinnerte. Und schon wieder musste ich an die Kindheit mit mir und Timo denken, verscheuchte den Gedanken daran jedoch sofort.
Dummerweise schien das nicht lange anzuhalten, wie ich etwas später feststellen musste.
Nachdem wir gut zwei Stunden bei Luigi verbracht und es ein wenig kühler wurde, obwohl wir immer noch Sommer und um die achtundzwanzig Grad hatten, zogen wir drei es vor uns zurück zum Wohnheim zu begeben.
»Jasmin und ich haben nachher vor, noch zu kochen. Wenn du magst, heben wir dir was auf.«
Ich blickte meine besten Freundinnen skeptisch an, denn deren Kochkünste kannte ich zur Genüge. Vor nicht allzu langer Zeit hatten beide schon einmal versucht zu kochen und dabei fast die halbe Küche mit in Brand gesteckt. Und das nur, weil die beiden mehr auf die halbnackten Männer, die draußen auf dem Basketballfeld ihre verschwitzten und muskulösen Körper den schwärmenden und schmachteten Studentinnen vorführen mussten, achteten, als auf das, was in der Küche passierte.
Die Folge war, dass das Essen halb anbrannte, die Gemeinschaftsküche des Wohnheims auch nach zwei Tagen immer noch wie Hölle stank und beide von Glück reden konnten, dass sie nicht abgefackelt war.
Demnach verzichtete ich dann doch liebend gerne auf deren Essen.
Sie verstanden meinen Blick auch, ohne dass ich etwas sagen musste und verdrehten die Augen.
»Dann eben nicht. Aber du kannst ja Nico fragen, ob der dir das Kochen beibringen kann, damit du uns in Zukunft ...«, brachte Kathi leicht lachend hervor, wofür ich ihr einen Vogel zeigte.
So schlenderten wir drei gemütlich zurück Richtung Wohnheim und quatschten über Gott und die Welt.
»Schau mal: Ein Zuckerwattestand.« Kathi deutete nicht weit von uns entfernt auf einen kleinen, bunten Wagen, an dem eine rundliche Verkäuferin stand und in einer Trommel für zwei Kleinkinder die klebrig-süße Zuckerwatte auf einen Holzstab drehte.
Uns wunderte es, denn normalerweise waren diese Stände nur dort, wenn ein Jahrmarkt oder gar ein Straßenfest eröffnet hatte. Was jedoch gerade nicht der Fall war.
Dennoch fühlte ich mich sofort um Jahre zurückversetzt.
Wenn Timo das jetzt sehen könnte ... er würde sicherlich genauso denken wie ich. Vielleicht sollte ich ihn einfach anrufen, doch schnell fiel mir auf, dass ich seine Handynummer nicht hatte. Na ja, war wohl auch besser so. Mich wurmte es immer noch, dass er nach all den vielen Jahren wieder da war, dass er in meiner Nähe war.
»Irgendwie hab ich da jetzt Hunger drauf. Wer noch? Ich lad euch ein«, überkam mich die Euphorie. Und das lag ganz sicher an dem damaligen Rummelbesuch mit Timo und der Zuckerwatte mit ihm. Dieses leichte Kribbeln, welches sehr nahe an flatternde Schmetterlinge in meinem Bauch herankam, wollte einfach nicht mehr weichen. Und dabei wollte ein kleines Stückchen Kindheit wieder in mir aufkeimen. Also warum nicht die Gelegenheit beim Schopfe packen und es genießen?
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»Rena, du hast da ...« Kathi zeigte auf meine Nasenspitze und ich merkte erst jetzt, dass ich dort rosa Zuckerwatte kleben hatte.
Jasmin lachte. »Jetzt siehst du aus wie ein rosa Häschen aus der Werbung.«
Ich fand das nicht lustig, doch viel Zeit zum Diskutieren hatten wir sowieso nicht mehr, da just in diesem Moment mein Blick zur Uhr ging und ich mich fast verschluckte.
»Himmel, ich muss los. Nico steht schon seit fast einer Stunde alleine hinter der Theke. Sorry Mädels, aber ... und das Lernen hab´ ich auch vergessen.« Ich stöhnte auf. Das fing ja schon mal gut an. Ich musste wirklich aufpassen, dass ich meine Struktur, was das Lernen betraf, nicht völlig durcheinanderschmiss.
Doch meine beiden besten Freundinnen winkten lässig ab. Sie verstanden mich auch, ohne dass ich mich entschuldigen musste.
»Hau ab, Rena, bevor dir Nico den Kopf abreißt. Und vergiss nicht, mir die Nummer von ihm zu besorgen ...«
»Jasmin!« Kathi und ich sahen unsere Freundin vorwurfsvoll an, auch wenn wir wussten, dass es von ihr nur ein Scherz war.
Obwohl ... manchmal war ich mir nicht ganz so sicher, ob sie nicht doch heimlich in Nico verknallt war.
»Bis später«, verabschiedete ich mich von ihnen, warf beiden im Gehen noch ein paar Luftküsschen zu und spurtete dann los.
Etwa zwanzig Minuten später traf ich bei Nico’s Café ein. Durch den Hintereingang, den ich als Angestellte benutzen durfte, ging ich zügig ins Lager und zog mich um. Mehr als eine Schürze, sowie die Kellnerbörse brauchte ich nicht.
Mit einem »Hey Rena.« wurde ich fröhlich im Gastraum hinter der Theke, wo mein Arbeitsplatz war, von Nico begrüßt.
»Sorry Nico, dass ich zu spät bin. Ich hab mich mit Kathi und Jasmin verquatscht und dadurch völlig die Zeit vergessen. Noch nicht viel los hier, was? Ist die Außenterrasse auf?«, fragte ich, während ich das Becken zum Spülen für die Gläser mit neuem, heißen Wasser füllte.
»Jap. Das kommt schon noch. Tut mir leid, dass du heute einspringen musst. Eigentlich wollte ich dich nur im Notfall einplanen, wegen deinem Studium. Wäre der Wasserrohrbruch im Keller nicht dazwischen gekommen, wäre heute sicherlich mehr los. Viele wissen eben noch nicht, dass wir wieder geöffnet haben«, entschuldigte sich Nico im Vorbeigehen bei mir, während er eine Kiste mit Kaffeebohnen, die er aus dem Keller geholt hatte, in einer Ecke hinter dem Tresen abstellte und sich dann zu mir herumdrehte.
»Aber trotzdem schön, dass du immer noch hier arbeitest. Ohne dich wäre ich aufgeschmissen. Wenn du magst, kannst du die Tische eindecken. Ich erwarte heute eine große Gruppe von zehn Personen.«
Eifrig nickte ich und half Nico bei den Vorbereitungen. Die Zeit verging wie im Fluge. Am frühen Abend hatte ich aufgrund der großen Anzahl der Gäste alle Hände voll zu tun und hatte so vom Kellnern und den Aufgaben hinter dem Tresen einiges an Ablenkung. Und obwohl Nico’s Café keine Kneipe, sondern eher ein wirklich kleines Café sowie ein gemütliches Restaurant, in dem man auch einige Kleinigkeiten wie Suppen oder Baguette bestellen konnte, war, schien es doch wirklich recht beliebt zu sein.
Zumindest in den Abendstunden.
Während ich gedankenverloren die dreckigen Gläser, die ich zuvor von den Tischen abgeräumt hatte, im Becken am Tresen spülte, träumte ich vor mich hin, bis mich Nico von hinten in die Seite pikste und ich leise aufquieckte.
»Nicht träumen, oder hattest du vor das Bierglas noch weiter zu misshandeln? Die Aufschrift hast du jedenfalls schon erfolgreich abgeschrubbt.« Nico war keinesfalls böse mit mir, dafür kannte er mich zu gut. Ich schaute auf das Glas, welches wirklich schon fast kein Etikett der Firma mehr trug und seufzte gefrustet auf.
»Tut mir leid«, murmelte ich und stellte das Glas beiseite, ehe ich mir ein neues griff.
»Rena, ich kenne dich jetzt schon ziemlich lange, aber das du so in Gedanken bist, ist mir neu. Und sag mal ... was hast du da in den Haaren kleben? Das ist mir vorhin schon aufgefallen«, bemerkte er und deutete auf meine Haarspitzen.
Ich drehte meinen langen, geflochtenen Zopf, den ich mir vor der Schicht schnell gemacht hatte, nach vorne und begutachtete ihn genau, ehe ich rosa Restspuren der Zuckerwatte entdeckte und leicht lächelte.
»Ach das ... Nico, du bist zu neugierig«, beantwortete ich seine Frage mit einem Zwinkern und verschwand kurz nach hinten in die kleine Küche. Dort fummelte ich mit etwas heißem Wasser die Reste der Zuckerwatte aus den Haaren. Dann begab ich mich wieder hinter den Tresen, bevor ich einige Gäste bedienen musste.
Die gesamte Zeit über musste ich an die Zuckerwatte denken und das wiederum bedeutete, dass ich automatisch an Timo dachte. An seine braunen Augen, sein leichtes verschmitztes Lächeln und an unsere Kindheit. Es waren die einzigen Erinnerungen, die mir von ihm geblieben waren. Warum ich so oft daran dachte, wusste ich selbst nicht. Vielleicht, weil ich mir tief im Inneren wünschte, dass damals alles anders gekommen wäre. Doch ich wollte mich zusammenreißen, nicht mehr an meine ehemalige Sandkastenliebe denken, aber das war leichter gesagt, als getan.
Hätte ich geahnt, dass es zum Nachtisch Zuckerwatte geben würde, wäre ich niemals auf die Idee gekommen, zum Stand zu gehen und welche zu kaufen.
Doch auf der anderen Seite ... warum nicht doch wirklich herausfinden, was Timo in Heidelberg wollte.
Verfolgten ihn unsere gemeinsamen Kindheitserinnerungen genauso wie mich, seitdem er mich gesehen hatte?
Im Grunde konnte es mir egal sein, was mit ihm war, warum er hier war, ob er eine feste Freundin hatte, wie seine Kindheit, seine Jugend verlaufen war, nachdem der Kontakt zwischen uns zerbrach.
Doch etwas in mir wollte dies nicht zulassen. Etwas in mir bestand darauf herauszufinden, warum er zurückgekehrt war. Warum er wieder den Kontakt zu meinem Bruder aufgebaut hatte, seitdem er wieder in der Uni war. Ich hatte gedacht, dass ihm mein Bruder darüber hinaus am Arsch vorbeigegangen war, wie ich, seitdem er sich damals nie wieder bei uns gemeldet hatte. Und warum versuchte Timo so verbissen, mir vieles erklären zu wollen? Denn eigentlich wollte ich doch ganz gerne wissen, warum meine erste große Liebe wieder hier war. Und vielleicht ... ja, vielleicht versuchte mein Unterbewusstsein ja herauszufinden, ob ich nicht doch noch Gefühle für ihn hatte. Ob unsere Freundschaft von damals noch genauso intensiv sein würde, wenn wir uns wieder annähern würden. Doch ob mein Herz einen weiteren Vertrauensbruch und eine Trennung von meinem besten Freund oder eher gesagt ehemaligen besten Freund überstehen würde, wusste ich nicht.
Vielleicht sollte mein Schicksal diesbezüglich entscheiden, was passieren würde.
Schicksal ... ich hatte noch nie an so etwas geglaubt, doch wer wusste schon, ob es nicht doch einfach das Schicksal war, welches mich und Timo wieder aufeinandertreffen ließ.
Mit diesen Gedanken begann ich weiter in meiner Schicht zu arbeiten und bekam seltsamerweise richtig gute Laune.
Zuckerwatte und Shoppingtour mit meinen besten Freundinnen ... zwei Dinge, die auf jeden Fall meine Laune mehr als gehoben hatten. Und ich hoffte, dass meine Laune bis zum Schichtende so gut blieb.
»Komm gut heim, Rena. Und danke, dass du länger geblieben bist.«
»Ist doch kein Problem«, erwiderte ich und unterdrückte ein Gähnen. Meine Tasche schulternd ging ich auf den Hinterausgang des Cafés zu.
Die Schicht heute war doch stressiger geworden, als ich zunächst angenommen hatte. Umso mehr freute ich mich darauf, dass ich nun gegen halb zwölf endlich Feierabend hatte. Nico würde den Rest alleine schaffen, wie er meinte und hatte mich dann davongescheucht. Da ich erst am späten Nachmittag zwei Vorlesungen hatte, konnte ich also ausschlafen.
In Gedanken machte ich mich auf den Weg zurück zum Wohnheim. Ich hoffte, dass Kathi schon schlief, denn sicherlich würde sie mich ansonsten die halbe Nacht wachhalten und alles über meine erste Schicht nach den Semesterferien wissen wollen.
Im Wohnheim angekommen ging ich leise über den Flur zu unserem Zimmer. Leicht gähnend öffnete und schloss ich die Tür, vermied es aber, das Licht einzuschalten, um Kathi nicht zu wecken. Diese schnarchte leise vor sich hin, was mich zum Schmunzeln brachte.
Nach einer kurzen Katzenwäsche schlüpfte ich in meine Schlafsachen und legte mich hin.
Durch die erste Schicht war ich so geschafft, dass ich sofort ins Reich der Träume abdriftete. Und dieses Mal träumte ich nicht von einer Kindheitserinnerung mit Timo.
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»Wann bist du gestern gekommen? Ich habe dich gar nicht reinkommen gehört.« Kathi und ich packten gerade unsere Taschen, um ein wenig auf dem nahegelegenen Sportplatz zu gehen. Wir wollten unsere gemeinsame Freizeit dafür nutzen, um uns ein wenig in Form bringen.
Dass ich Timo davor getroffen hatte, behielt ich erst einmal lieber für mich. Die Begegnung mit ihm ließ mich immer noch nicht ganz los, zumal diese mein Herz ein bisschen schneller schlagen ließ und ich unwillkürlich lächeln musste, auch wenn ich das gar nicht wollte.
Es hatte mich heute erst später zum Frühstück in die Mensa gezogen. Ausschlafen war etwas, das ich liebte und tat dies, so oft es meine Freizeit zuließ. Ich hatte auf die Mensa zusteuern wollen, als ich stehen blieb, denn weiter vorne im Gang entdeckte ich ihn: Timo.
Er stopfte einige Unterlagen in seinen Rucksack, während er sein Handy zwischen Kopf und Schulter geklemmt festhielt und irgendwie verärgert schien.
Ich verstand zwar nicht, worum es bei dem Telefonat ging, denn dazu war ich viel zu weit weg, doch ich sah an seinem Gesichtsausdruck, dass er auf irgendetwas mächtig sauer war.
Langsam ging ich weiter, bedacht darauf, nicht zu interessiert zu wirken und lief so in seine Richtung.
Als ich nahe genug dran war, konnte ich einige Wortfetzten vernehmen.
»Das hab ich auch nie so gesagt. Jetzt komm mir doch nicht wieder mit der Tour. Du weißt ganz genau, dass ich nicht vorhabe, mein Studium zu schmeißen, nur weil Vater mal wieder der Meinung ist, sich in mein Privatleben einzumischen. Mama, jetzt halt mal den Ball flach, okay? Ich weiß, dass Mel und auch er sich nicht oft melden, aber versuch es bitte wenigstens, okay? Ich kann hier jetzt nicht einfach so weg und alles stehen und liegen lassen, nur weil du ... Ja, okay. Ich ...«
Ich runzelte die Stirn. Timo schien Stress mit seiner Mutter zu haben. Bisher war ich davon ausgegangen, dass Timo nach wie vor wenig bis gar keinen Kontakt mit seinem Vater und seiner älteren Schwester hatte. Doch dem schien nicht so zu sein. Ich hatte, als ich früher bei ihm ein oder zweimal übernachtete hatte, immer nur eine glückliche Familie kennengelernt, in der es offensichtlich nie Streit oder gar keine Konflikte gab.
Jetzt wurde mir allerdings bewusst, dass der Schein oft trog, denn bei ihm machte es eher den Anschein, als wenn in seiner Familie alles andere als Sonnenschein herrschte.
Langsam ging ich weiter, bedacht darauf, Timo nicht anzusehen, denn ich wollte nicht, dass er dachte, ich hätte ihn belauscht.
»Ja ... nein, ich ... Mama, ich ... Rena!« Ich zuckte zusammen, als Timo meinen Namen rief und blickte zu ihm auf. Er winkte mich zu sich, während er weiter ins Telefon sprach und dabei erheblich sauer wirkte.
»Ja, das war Karena. Ja, genau die. Ja, sie studiert hier auch und ... ich melde mich wirklich später, ja? Bye!«
Somit hatte er aufgelegt und blickte mir entgegen.
Ich kaute nervös auf meiner Unterlippe herum, da ich nicht wusste, was er nun von mir wollte.
»Wie ... wie geht's dir? Ich hatte gehofft, dass wir uns hier irgendwo die Tage über den Weg laufen würden. Ich muss mit dir reden, denn ... ich hab dich ... vermisst!«
Seine Stimme klang leise, sanft und jagte mir einen angenehmen Schauer über den Rücken. Doch ich verbot mir selbst, dies hier zu genießen, mich von seinen Worten einlullen zu lassen. Ihm wieder soweit zu vertrauen, mir vielleicht sogar selbst zu erlauben, mich irgendwann wieder einmal an ihn lehnen und genießen zu dürfen ... das würde noch einige Zeit in Anspruch nehmen. Dessen war ich mir sehr bewusst.
»Gut und ... dir?« Ich wagte kaum die Frage zu stellen, denn mir graute vor der Antwort. Gefühle waren das Letzte, was ich jetzt von ihm haben wollte, auch wenn ich es mir tief im Inneren gewünscht hätte.
Timo kam langsam auf mich zu und blieb dann nur wenige Zentimeter vor mir stehen.
Um uns herum liefen einige Studenten den Gang entlang.
Lachen und Wortfetzten waren zu hören, doch um mich herum blendete ich alles aus.
»Ich denke, das liegt auf der Hand, oder? Ich hab dich all die Jahre vermisst und jetzt zu wissen, dass du hier in meiner Nähe bist, das macht mich wahnsinnig. Rena, ich ...« Er drängte mich langsam gegen die Wand; ich war wie gefesselt von seinen braunen Augen, in denen ein eigenartiger Glanz lag.
Zu beiden Seiten an der Wand stützte er seine Hände ab, sodass ich zwischen ihm gefangen war. Ganz langsam beugte sich Timo zu mir herab.
Gegen meine Vernunft schlug mein Herz mit einem Mal schneller, viel schneller. Mir wurde langsam warm und ich hätte schwören können, dass meine Wangen buchstäblich glühten.
Langsam senkte er den Kopf, sah mir weiterhin in die Augen, die mich gefangen nahmen, mich in eine Tiefe ziehen wollten, aus der ich wahrscheinlich nicht wieder herauskam. Seine Lippen waren nur Zentimeter von meinen entfernt. Ich konnte seinen warmen Atem auf ihnen spüren, welcher leicht nach Pfefferminze und Zigarette roch.
Mit Erschrecken stellte ich fest, dass ich Timo so gesehen gar nicht kannte, denn an ein solches Verhalten von ihm konnte ich mich nicht erinnern.
»Rena ...«, hauchte er mir entgegen, während er eine Hand von der Wand nahm und sie sanft an meine Wange legte, mich zärtlich streichelte.
Wieder jagte ein Schauer meinen Rücken herunter, sendete kleinen Hitzewellen durch meinen Körper.
Langsam glitten seine Finger hauchzart meinen Hals hinab, während sein Mund meinem immer näher kam. Er hätte mich jeder Zeit küssen können. Ich rang nach Atem, mein Gehirn war wie leergefegt. Das Denken war zum Unmöglichen geworden.
»Vergiss das Atmen nicht, meine kleine süße Zuckerschnute, andernfalls muss ich dich Mund-zu-Mund beatmen, wenn du jetzt einen Atemstillstand bekommst.«
Seine gehauchten Worte und das leichte, fast freche Grinsen, welches um seine Mundwinkel zuckte, ließen mich augenblicklich in die Realität zurückgleiten.
Ich blinzelte einige Male, ehe ich zu Timo hinaufblickte. Zwei Sekunden sah ich ihm in die Augen, doch die reichten aus, um die Flucht zu ergreifen. Mit einem undefinierbaren Laut duckte ich mich unter Timos Armen hindurch, richtete mich auf und rannte den langen Flur entlang. Ja, ich floh und konnte noch nicht einmal sagen, warum.
Ich wollte nur noch weg. Weg von ihm, weg von diesem kribbelnden Gefühl, welches sich überall auf meinem Körper bemerkbar machte. Einfach nur weg, soweit es ging.
»Ziemlich spät. Du hast mal wieder geschnarcht, Kathi«, lachte ich, während wir das Zimmer verließen, die Tür schlossen und draußen auf dem Flur auf Jasmin warteten.
An den beinahe Kuss mit Timo wollte ich in diesem Moment lieber nicht denken. Es war so viel einfacher, das Unangenehme beiseite zu schieben, als das man daran dachte.
Obwohl ... war es denn wirklich so unangenehm gewesen, wie ich es mir versuchte einzureden? Eigentlich ... wenn ich überlegte, war es nicht unangenehm gewesen, sondern eher aufregend.
Aufregend, überraschend und auch beängstigend. Beängstigend deshalb, weil ich nie damit gerechnet hätte, dass ich mich so schnell auf ihn einlassen würde. Doch ich hatte es. Ich hatte mich fast auf diesen Kuss mit ihm eingelassen, mich fast fallengelassen und dann doch im letzten Moment die Flucht ergriffen.
Warum? Weil ich nicht wusste, was ich von seiner Annäherung halten sollte. Ich hatte Angst, dass Timo meine Schwäche, die ich eindeutig für ihn zu haben schien, ausnutzen würde.
»Verdammt!«, murmelte ich durch zusammengebissene Zähne und wünschte mir, dass ich ihm im Flur nicht begegnet wäre.
»Hast du was gesagt, Rena?«, fragte Kathi, die ihre rosa Sporttasche über die Schulter hängte und sich dann zwischen mir und Jasmin einhakte, die soeben zu uns dazu gestoßen war.
»Nein nein, alles gut«, winkte ich ab und versuchte eine fröhliche Miene aufzusetzen. Die freien Stunden würde ich hoffentlich nicht mit Grübeln verbringen. Ich hatte Kathi und Jasmin noch nichts über Timo erzählt, was auch vorerst so bleiben sollte. Sie waren zwar meine besten Freundinnen und wir teilten fast jedes Geheimnis miteinander, doch ich wollte zunächst einmal selbst herausfinden, was das nun zwischen ihm und mir war.
Somit hielt ich mich mit diesen Infos auch jetzt noch zurück.
»Na, dann würde ich sagen: Bewegen wir unsere galanten Ärsche und müden Knochen zum Sportplatz und schauen mal, was wir für unsere Figur tun können«, zwinkerte Jasmin fröhlich und brachte mich mit ihrem Spruch zum Lachen.
Kathi stimmte mit ein und gemeinsam begaben wir uns fröhlich quatschend zum Sportplatz.
Auf der großen Außenanlage der Uni begannen wir mit einigen lockeren Aufwärm- und Dehnübungen.
Ich trug eine kurze, schwarze Shorts, ein blaues enganliegendes Shirt und Turnschuhe.
Meine braunen Haare hatte ich zu einem lockeren Zopf nach oben gebunden.
Kathi trug fast das Gleiche wie ich. Nur das ihre kinnlangen, schwarzen Haare keinen Zopf benötigten.
Jasmin hingegen hatte sich für eine lockere schwarze Jogginghose, sowie ein graues, großes Shirt entschieden, auf dessen Brust das Logo einer bekannten Punk-Band zu sehen war. Ihre bunt-verfilzten Dreadlocks waren zusammengebunden, sahen jedoch immer noch super aus.
Zumindest für jeden, der sich mit der Punk-Rock-Szene auskannte.
Während Jasmin und Kathi nach gut zwanzig Minuten auch weiterhin ihre Übungen absolvierten und über irgendwelche Professoren sowie ihre Studiengänge unterhielten, hielt ich mich eher im Hintergrund.
Ich hatte mir meinen IPod geschnappt, hörte Skillet – Kill me, heal me und begann in lockerem Tempo um die Außenbahn des Platzes zu joggen.
Für mich war Sport, besonders das Joggen, eine Art Befreiung. Eine Befreiung, um den Kopf vom vielen Lernen, von Alltagssituationen und Problemen freizubekommen.
Ich dachte an nichts, ließ mich von der Musik, so wie den harten, rockigen Bässen begleiten und lief die Bahn entlang.
Meine Füße berührten leicht den harten Boden unter mir, während ich langsam begann mein Tempo nach einigen Runden zu steigern.
In einigem Abstand liefen nun auch Kathi und Jasmin auf der Bahn ihre Runden.
Sich beim Laufen zu unterhalten war sinnlos, weswegen ich es auch erst gar nicht versuchte, mit meinen besten Freundinnen ein Gespräch zu beginnen. Beim Laufen sollte man sich lieber auf seine Atmung, sowie den Pulsschlag konzentrieren.
Die ersten Runden waren bereits geschafft; mir lief der Schweiß in Sturzbächen den Körper hinunter, da die Sonne auf uns herab knallte und man merkte, dass der Sommer noch nicht vorbei war. Viel mehr schien es, als wollte der Sommer noch einmal alles geben.
Shorts und Shirt klebten schweißnass an meinem Körper.
Eigentlich hätte ich mir nun eine Pause gönnen sollen, doch gerade, als ich mich dazu entschloss diese zu tätigen, entschied ich mich um.
Auf der gegenüberliegenden Seite bemerkte ich einige Gestalten, die sich auf die Laufbahn zubewegten. Im ersten Moment dachte ich mir nichts dabei, doch als ich etwa ein Drittel der Strecke zurückgelegt hatte und nun erkennen konnte, um wen es sich dabei handelte, fluchte ich innerlich. Ich hoffte, dass sie nicht auf die Idee kamen, jetzt auch joggen zu wollen, weshalb ich unbeirrt weiterlief.
Das Letzte, was ich wollte, war die Gesellschaft von den beiden Oberzicken Elena und Maren.
Leider schien mein Gebet dem lieben Herrgott so gesehen recht egal zu sein, denn die beiden Zicken bewegten sich auf die Rennbahn zu, blieben jedoch davor stehen.
Elena war nicht nur meine persönliche Widersacherin, sondern auch noch in allem der Meinung, sie wäre etwas ganz besonderes. Und ihre Freundin Maren machte das Ganze nicht besser.
Manchmal fragte ich mich, ob sie nur mitzog, weil sonst keiner mit ihr befreundet sein wollte.
»Ach, sieh mal einer an, wen wir hier haben. Sag: Meinst du, dass das bei deinem dicken Hintern überhaupt was bringt, Karena? Wundert mich ja, dass du noch kein Fett hast absaugen lassen. Aber naja, wahrscheinlich kann dein Vater die Klink eh nicht mehr lange halten, wie ich das so mitbekommen hab.«
Ich versuchte ihre nervige Stimme, die trotz meiner Kopfhörer alles durchdrang, auszublenden, was leider nicht ging. Ich hätte die Musik vielleicht lauter stellen sollen, was mich nun ärgerte, denn dann hätte ich ihr Gequatsche sicherlich nicht mitbekommen.
Augenrollend joggte ich weiter, doch dieses Weib schien noch nicht fertig zu sein. Sie schloss zu mir auf und laberte mir weiter einen Scheiß ins Ohr, was ich nur halb mitbekam, weil ich die Musik wieder lauter gedreht hatte. Elena ließ keine Gelegenheit aus, um zu beweisen, dass sie die bessere Arzttochter von uns beiden war und das nur, weil ihre Eltern ebenfalls eine Schönheitsklinik besaßen und die Konkurrenz zu meinen waren.
Ihre Freundin Maren war nur einige Meter hinter uns, genau wie Kathi und Jasmin.
» ... naja, jedenfalls meinte meine Mutter, dass dein Vater ... oh mein Gott. Timo!«
Ihr spitzer, hoher Schrei und das hektische Wedeln ihrer Arme veranlassten mich dazu, mich umzudrehen.
Timo, mein Bruder Simon sowie die restliche Clique, die aus Jonas, Stefan, Pascal und Leon bestand, kamen zum Sportplatz geschlendert. Sie schienen sich prächtig zu amüsieren, machten Späße, schubsten sich freundschaftlich und flachsten locker. Sie schienen eben erst hergekommen zu sein, denn einige andere Studenten waren ebenfalls auf dem Sportplatz, schienen sich nun aber wieder zu entfernen.
Die Clique trug Sportkleidung und obwohl ich es nicht wollte, musste ich zugeben, dass mein Blick wie magisch an Timos Körper klebte.
Er trug eine graue Jogginghose, dessen Bund ziemlich tief saß und ein weißes Muskelshirt, welches seinen Bizeps betonte.
Das Haar hing ihm leicht in der Stirn, welches er sich nun mit einer gekonnten Bewegung nach hinten strich und dabei unglaublich sexy aussah.
Sein Lachen, sowie das der anderen, war bis hier her zu hören, denn ich war nicht weit von ihnen entfernt. Zudem hatte ich mir nun doch beide Ohrstöpsel rausgenommen und meinen IPod ausgeschaltet.
Die Jungs schienen mich sowie Kathi und Jasmin noch nicht wahrgenommen zu haben.
Elena störte das jedoch nicht, denn sie winkte ständig in deren Richtung, während sie weiter joggte. Als sie merkte, dass sie keine Aufmerksamkeit erhielt, stoppte sie kurzerhand und lief zu ihnen, gefolgt von Maren.
Dass Elena Timo bereits kannte, überraschte mich keineswegs. Da sie mehr oder weniger ebenfalls zu unserer Clique gehörte, hatte sie dadurch ja bereits erfahren, dass der hübsche, junge Student neu an der Uni war. Und dass er Simons bester Freund war und somit automatisch zu unserer Clique gehörte, schien für Elena kein Hindernis zu sein. Ich ahnte jetzt schon, dass das kleine Biest die Finger nicht von meinem ehemaligen besten Freund lassen würde. Aber mir konnte dies ja getrost egal sein, denn immer noch war ich einfach zu sehr gekränkt von Timo. Von damals.
Ich kümmerte mich also nicht weiter darum, ob Elena nun zu ihm lief oder nicht, sondern joggte einfach weiter.
Kathi und Jasmin schlossen wenig später zu mir auf. Kathi tippte mich an.
»Was wollte sie von dir?«, fragte sie mich neugierig und auch Jasmin sah mich fragend an. Ich zuckte die Achseln.
»Keine Ahnung; ich hab sie reden lassen. Ihrer Stimme alleine schon wegen. So schrill und hoch ...« Ich zog eine Grimasse und äffte sie nach, was uns drei zum Lachen brachte.
»Hey!«, schrie auf einmal Jonas zu uns herüber, sodass wir drei in seine Richtung blickten. Er winkte uns zu sich. Ich zog eine Augenbraue hoch, während Kathi und Jasmin kurz Blicke tauschten und mich dann fragend ansahen.
»Geht ruhig. Ich will noch zwei Runden drehen und dann komm ich auch hin«, ermutigte ich meine Freundinnen, die mich grinsend ansahen.
»Übertreib's nicht, Süße«, grinste Kathi und ich streckte ihr die Zunge raus.
Während beide langsamer wurden und schließlich zu den anderen gingen, drehte ich meine Runde weiter.
Völlig in Gedanken und im Einklang der Musik in meinen Ohren, ich hatte den IPod nun doch wieder eingeschaltet, merkte ich gar nicht, dass jemand neben mir joggte. Erst als eine Hand vor meinen Augen auf- und abwedelte, realisierte ich die Person.
Ich blickte zur Seite und wäre am liebsten gleich wieder umgedreht. Neben mir joggte ganz locker, als wenn es das Normalste von der Welt wäre, Timo.
Dieser bewegte die Lippen, doch durch die Musik verstand ich nichts, sodass ich genervt einen Stöpsel aus meinem Ohr zog, um ihm zuzuhören, auch wenn ich nicht gerade besonders viel Lust darauf hatte.
»Na endlich erhört sie mich. Gott, danke. Ich dachte schon, ich müsse mich einige Meter vor ihr auf den Boden schmeißen, um ihre Aufmerksamkeit zu erlangen.« Sein leises Lachen und die theatralische Geste seiner Hände ließen mich leicht schmunzeln, auch wenn ich es versuchte zu verbergen.
»Was willst du?«, fragte ich und klang leicht außer Atem, da ich versuchte, nicht aus meinem Schritttempo zu kommen.
»Wir, das heißt die Clique und ich, wollten ein Match spielen – Beach-Volleyball. Die Verlierer laden die Gewinner auf 'ne kleine Tour durch die Clubs ein. Was ist? Bist du dabei?«
Ich wog den Kopf leicht von einer Seite auf die andere, während ich immer langsamer wurde und dann stehen blieb. Timo tat es mir gleich.
Die Hände auf die Knie gestützt und leicht nach vorne gebeugt wartete ich darauf, dass sich mein Atmen langsam wieder normalisierte und mein Puls herunterfuhr.
Erst dann richtete ich mich auf und sah ihn an. Ich zog eine Augenbraue hoch und neigte meinen Kopf leicht zur Seite, um ihn eingehend zu mustern. Konnte ja sein, dass es ein Scherz war.
»Komm schon, Rena. Ist doch nichts dabei ... so ein bisschen den Ball hin- und herschmettern. Außerdem ...«, er lächelte mich nun verführerisch an, was bei mir sämtliche Alarmglocken schrillen ließ,
» ... schuldest du mir einen Gefallen. Du hast mich vorhin im Flur wie den letzten Deppen dastehen lassen, nur weil ich dich küssen wollte. Ich denke, da ist eine Revanche wohl mehr als nur angebracht. Wenn wir gewinnen, dann schuldest du mir einen Kuss. Wenn wir verlieren, dann verzichte ich auf ihn, okay, Hübsche?«
Eigentlich wäre dies alleine schon Grund genug abzulehnen, zu sagen, dass ich keine Zeit hatte, doch auf der anderen Seite konnte ich unsere gemeinsamen Freunde nicht im Stich lassen.
Zum anderen wollte ich es der dummen Ziege Elena zeigen, dass sie nicht mit allem durchkam und schon gar nicht mit ihrem lächerlichen Getue bei Timo punkten konnte.
Moment mal ... war das gerade der erste Anflug von Eifersucht gewesen? Scheiße, das war gar nicht gut. Überhaupt nicht. Ich hatte gar keinen Grund dazu auf jemanden eifersüchtig zu sein und trotzdem ... die Vorstellung, wie Elena mit Timo das Match gewann und sie ihm um den
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Nathalie Lina Winter
Bildmaterialien: Nadine Kapp (Booklover Coverdesign)
Cover: Nadine Kapp (Booklover Coverdesign)
Lektorat: Testleserteam, Anna (Wattpad Autorin isloatet)
Tag der Veröffentlichung: 21.01.2017
ISBN: 978-3-7438-3434-7
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für einen großartigen Menschen, ohne den ich dies hier niemals geschafft hätte.
Danke, dass es Dich gibt.