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Kapitel 1

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Ein atemberaubendes Gefühl ist es. Völlig frei und unbeschwert. Näher kann der Himmel doch gar nicht mehr sein. Der Wind streichelt ihre Arme und hebt sie immer höher, bis sie fast durch die Wolken sehen kann. Es ist so unglaublich friedlich.

„Blick nicht nach unten!“, hört sie eine Stimme rufen, „Da gehörst du nicht hin!“ 

Und der Nachthimmel hebt sich plötzlich in ein dunkles Schwarz.

„Was passiert hier?“, hört sie sich selber rufen, als eine fremde Macht sie immer weiter nach oben zu reißen scheint. Panik macht sich in ihr breit.

Sie kann noch kurz das goldene Kornfeld unter ihr erhaschen, dass schließlich von einer grauen Wolke umhüllt wird.

 

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Für einen Herbstmorgen war es ungewöhnlich still. Der Regen, der bereits in der Nacht begonnen hatte, tropfte immer noch sanft gegen das kleine Dachfenster. Kaja richtete sich langsam in ihrem Bett auf. Erst jetzt nahm sie das schrecklich grelle Piepen ihres Weckers wahr. Schwer seufzend griff sie nach dem grauen Klingelgrauen und schaltete ihn gähnend aus.

Langsam rieb sie sich die Augen. „Schon wieder so ein seltsamer Traum.“, murmelte sie leise und blickte nachdenklich aus dem Fenster. Der Himmel war in ein tiefes Grau gehüllt und sie stellte sich auf einen ausweglos grauen und verregneten Tag ein. Sie ließ sich noch einmal in ihr großes, weiches Bett zurückfallen und starrte an die Decke. Es waren Sommerferien und trotzdem wollte es einfach nicht schön werden. Doch so wichtig war die Sonne ihr sowieso nicht, vorallem nicht, wenn sie von morgens bis mittags ihrem derzeitigen Nebenjob in der Tankstelle nachgehen musste.

Wie gern würde Kaja nun einfach wieder einschlafen und weiter träumen können, auch, wenn der letzte Traum etwas irritierend enden musste.

„Kaja?“, hörte sie ihre Mutter von der Küche aus rufen, „Bist du wach?“

„Ja…“, antwortete das Mädchen, viel zu leise.

„Katharina!?“, ihre Mutter schien ungeduldig, „Nun wach endlich auf!“

„Jaa!!“, brüllte Kaja zurück.

„Ich muss zur Arbeit, mach dir bitte gleich etwas zu essen! Wir sehen uns später, ich liebe dich!“, und die Haustür fiel zu.

Seufzend richtete sich Kaja wieder auf und erhob sich aus ihrem Bett. Langsam schlurfte sie zu ihrer Kommode und suchte dem Wetter entsprechende Kleidung heraus. Sie hielt verschiedene T-Shirts, Hosen und Röcke vor sich, mal wieder fiel ihr die Entscheidung schwer. Unmotiviert war sie, als sie sich endlich für eine einfache Jeans und ein buntes T-Shirt entschied. Kaja war sehr schlank gebaut, doch wirklich sportlich sah sie auch nicht unbedingt aus. Ihre Arme waren viel zu dürr, weshalb ihre Mutter sie auch ständig darauf hinwies, doch bitte mehr zu essen. Wenn Kaja sich einmal komplett gerade aufrichtete, hatte sie einen sehr dünnen, langen Hals. Auch ihr Gesicht war schmal, die Augen dunkel, wie ihre langen Haare auch, die sie sich bloß rasch durchbürstete. 

Sie seufzte schwer, als ihr Blick auf die Wanduhr fiel. Schon so spät! Ein weiterer ereignisloser und öder Tag stand ihr bevor. Sie überlegte, was sie nach der Arbeit machen könnte. Vielleicht könnte sie ihre beste Freundin Sasha anrufen. Doch die war in letzter Zeit so viel beschäftigt. Kaja konnte sich nicht daran erinnern, wann sie das letzte Mal Kontakt mit ihren alten Schulkameraden hatte. 

Die Schule war schon für längere Zeit vorbei und ihr war klar, dass jetzt jeder seinen eigenen Weg gehen musste. Doch manchmal sorgt eine gewisse Distanz erst dafür, dass man erkennt, wie die Menschen wirklich sind.
„Du meldest dich ja nie!“, hieß es oft, „Komm doch mit uns feiern!!“
„Ich mag feiern aber nicht und das wisst ihr ganz genau.“
„Dann eben nicht.“

Es kam ihr vor, als würden manche von ihnen den Streit regelrecht suchen.

In Gedanken hörte sie sich selbst sprechen: „Wir könnten doch einfach mal was anderes machen. Wir könnten schwimmen gehen. Oder ins Kino gehen? Oder Kaffee trinken…?“
„Ja, auch eine gute Idee… ich frage mal den Rest.“ Und dann hörte man nie wieder was voneinander.

Kaja musste den Kopf schütteln, als ihr wieder einfiel, wie oft sie sich über ihre Mitmenschen ärgern musste. Sie duldete viel, doch manchmal ging es einfach zu weit.

Immerhin gab es ein paar Menschen auf der Welt, die sie verstanden, wie Sasha. Auch sie hatte oft nur dabei gestanden und wortlos zugesehen, wie man sich wieder nur über’s Saufen unterhielt.

Kajas Gedanken strichen weiter.

„Wir geh’n mal eine Rauchen.“, hatte die eine gesagt und die andere hatte ihr die Zigarettenpackung unter die Nase gehalten. „Ach. Du rauchst ja immer noch nicht.“

Immer noch nicht. Als ob es nur eine Frage der Zeit wäre.

Beim Frühstück, welches aus einem Tee und einem trockenen Brötchen bestand, fiel ihr Blick auf die Tageszeitung. „Seltsame Gestalt im Stadtpark gesichtet.“, las sie sich selbst vor, „Gestern Abend wurde gegen 9:30 Uhr im Stadtpark eine unbekannte Gestalt dabei unterbrochen, die Parkanlage zu verwüsten. Der oder die Unbekannte zerbrach Parkbänke und riss Pflanzen aus. Auch hat sie den Müll aus den umstehenden Abfalleimern auf dem Boden verteilt. Als sie die Zeugen bemerkte, rannte sie unter verrücktem Lachen Richtung Hauptstraße und konnte dann nicht mehr gefunden werden. Sie war etwa 160 cm groß und hielt sich gebückt. Zeugen wenden sich bitte an die Polizei… ach herrje, ein Verrückter im Dorf.“ Kaja rollte mit den Augen. „Diese Menschen heutzutage machen einen noch richtig krank.“ Und sie machte sich auf den Weg zur Tankstelle. 

Außer ein paar wenigen Geschäften, die kurz vor dem Bankrott standen, drei Tankstellen und einige Imbissrestaurants, die man besser nicht besuchen sollte, hatte Bransfort, das Dorf, indem Kaja lebte, nicht viel zu bieten. Ständig wurden Straßen erneuert, Gebäude abgerissen und neue erbaut, die kurz danach wieder leer standen. Trotz des geringen Angebots lungerten hier in jeder Ecke Jugendliche, die sich gegenseitig beweisen wollten, wie cool sie doch waren. Viele von ihnen kannte Kaja. Denn in Bransfort kannte jeder jeden, wenn auch nicht unbedingt freiwillig.

Die Tankstelle war nicht weit von Kajas eigenem Haus entfernt, weshalb sie zu Fuß bloß 20 Minuten brauchte, um ihren derzeitigen Arbeitsort zu erreichen. 

Ihr momentaner Kollege war Stuart, ein junger Mann in seinen 20ern. Er war recht groß, fast zwei Meter, sehr schmal, und er trug stets Kotletten und einen Bart um den Mund herum. 

„Kai! Guten Morgen!“, grüßte er sie freundlich. Er war immer hochmotiviert, wenn er wusste, dass er schon um 12 Uhr mittags gehen konnte, obwohl er bereits seit vier Uhr morgens in der Tankstelle herumstand. Kaja bewunderte ihn dafür. Generell war er aber ein feiner Kerl. Nicht umsonst hatte er das Privileg, sie mit ihrem Spitznamen anzusprechen. Dies durften nicht viele.

„Wie kannst du so munter sein?“, fragte sie grinsend, „Um 7 Uhr morgens!“

„Tjaa.“, lachte er, „Ich hatte eben bisher einen wunderbaren Tag.“

„Einen wunderbaren Tag? War etwa mal ausnahmsweise was los um 4 Uhr?“

Stuart schüttelte lächelnd den Kopf. „Deswegen ja.“ Er zwinkerte ihr zu. Kaja musste lachen.

Stuart war einer der wenigen Menschen, der, genau wie sie, Menschen nicht wirklich leiden konnte und sich vorallem von großen Menschenmassen fern halten wollte. „Aber eine junge Dame war doch schon hier, vor etwa einer Stunde. Bombenscharf. Mit langen, blonden Haaren und einer Figur… also! Wirklich!“

Und da war er wieder. Der kleine, feine Unterschied. Sie legte ihre Tasche hinter die Theke: „Wirklich?“

„Jaa, genau mein Typ. Und weißt du, was sie wollte?“

„Was?“

„Sie wollte einmal volltanken!“

„Nein, wirklich?!“, fragte Kaja ironisch begeistert, „Und dafür kommt sie hier hin? Das ist ja… unfassbar!“

„Und als sie gegangen ist, hat sie ‚Bis bald!‘ gesagt! Das heißt, dass sie wiederkommen wird!“

Kaja schüttelte verständnislos den Kopf. „Du verlierst dich viel zu schnell, Stuart. Bleib mal am Boden!“ 

Plötzlich war Stuart nicht mehr so motiviert. Genervt entgegnete er: „Ach, lass mich doch! Und jetzt mach dich mal lieber an die Arbeit! Da hinten sind ein paar neue Kästen angekommen, die sollte man ausleeren und sortieren. Machst du das?“

Grinsend machte sich Kaja schon auf den Weg zum Abstellraum: „Sicher. Das ist sowieso viel besser, als deinen illusionierten Geschichten zuzuhören.“ 


Es war ein Donnerstag und zu dieser Uhrzeit kamen meistens mehrere Kunden vorbei. Viele zum tanken, einige auch nur, um sich eine Kleinigkeit zu kaufen, wie einen Schokoriegel oder eine Flasche Cola. Manch einer beantragte sogar bereits zu dieser Uhrzeit ein Bier. Vor diesen Menschen ekelte sich Kaja immer ein bisschen.

Gegen elf Uhr, Stuarts Schicht endete in einer Stunde, betrat ein Junge mit Hoodie die Tankstelle. Er musste so 17 Jahre alt sein. Erst schlenderte er nur so durch die Getränkeabteilung, doch er schien nicht das richtige zu finden. Vor der Theke fragte er: „Jo, eh… könnt ich ne Packung Tabak haben?“

„Ja, sicher. Welche Marke denn?“, fragte Kaja lächelnd, denn auch sie konnte freundlich wirken.
Der Junge musterte das Regal hinter ihr genau: „Oh, ööhm… ich glaub, Sie haben den von Malubo nicht mehr, oder?“ 

„Malubo?“, Kaja drehte sich zum Regal um. „Oh… tatsächlich.“

Stuart war am Tankstelleneingang den Magazinständer herrichten und bemerkte das Geschehen: „Schau mal im Raum hinten nach, Kai, da sollte noch ein riesiger Karton voll davon sein!“

Der Junge nickte Kaja zu: „Ich hab Zeit, wär’ voll korrekt. Auf den and’ren Kram hab ich echt keinen Bock.“

Kaja lächelte beschämt, da sie nicht glaubte, dass Tabak von der einen Marke in irgendeiner Weise besser oder schlechter war, als Tabak von der anderen. Schließlich war Tabak, egal von wo und welcher Marke, immer schädlich und doch zogen sich tausende Menschen immer wieder diesen Blödsinn durch die Lunge. Wieder etwas, was Kaja einfach nicht verstehen konnte.

„Klar, mach ich. Einen Moment bitte.“, sie verabschiedete sich kurz und verschwand im Abstellraum. Stuart ging in der Zwischenzeit hinter die Theke und unterhielt sich ein wenig mit dem Jungen. 

Schnell fand Kaja auch schon den besagten Karton, der markiert war mit einem Aufkleber. Er war jedoch komplett mit dickem Klebeband verschlossen. Genervt suchte sie in dem Regal neben der Tür nach einem Messer, um das Klebeband zu öffnen. Endlich hatte sie ein recht scharfes gefunden, als sie plötzlich Schreie vernahm.

 

„Hey!!“, hörte sie Stuart rufen, „Komm hier ja nicht auf dumme Gedanken!!“

Kaja riss ihren Kopf herum und starrte aus der offenen Tür Richtung Theke. Stuart stand da wie angewurzelt mit erhobenen Händen.

„Ach du Scheiße.“, fluchte sie leise und schlich langsam zur Tür.

Auch der Junge hatte die Hände erhoben. Eine Frau, die eindeutig schwanger war, hatte die Tankstelle inzwischen betreten und befand sich ebenfalls in Nähe der Theke. Mit erhobenen Händen wimmerte sie vor sich hin: „Bitte nicht… bitte nicht schießen!“

HALT DIE KLAPPE!!“, eine männliche, drohende Stimme drang an Kajas Ohr, doch sie konnte die sprechende Gestalt noch nicht sehen. Dann trat der Fremde hinter einem Regal hervor. Ein ausgewachsener Mann, komplett in schwarz gekleidet und mit einer Gesichtsmaske, hatte die Pistole auf Stuart gerichtet und kam langsam auf die Theke zu. „Gib mir jetzt sofort das Geld!“

Stuart versuchte, so ruhig wie möglich zu bleiben. „Ja… ja, sofort. Ganz ruhig bleiben. Ruhig!“

In dem Moment versuchte der Junge zu fliehen. Ruckartig bewegte er sich von der Wand weg und rannte Richtung Ausgang.

„Halt!“, brüllte der Verbrecher. Zwei Schüsse ertönten. Kaja hielt erschrocken die Hände vor den Mund, um nicht zu schreien.
Der Junge stöhnte vor Schmerz, er war zu Boden gestürzt und hielt sich nun das Bein.

„Sind Sie wahnsinnig?!“, kreischte die Frau und wollte sich um den Jungen kümmern, als der Fremde die Pistole auf sie richtete.

„Eine falsche Bewegung und ich schieße Ihnen ein Loch in den Bauch!“, drohte er.

Die Frau fing schrecklich zu weinen an. Der Fremde richtete seine Waffe wieder auf Stuart.

„So. Und du wirst jetzt ganz einfach meinen Anweisungen folgen, ist das klar?!“, er kam näher auf Stuart zu.

Stuart schluckte schwer. Er versuchte, einen Ausweg aus der Situation zu finden. Der Alarmknopf war direkt unter der Theke, wo die Kasse stand, nur wenige Meter von ihm entfernt. Dieser Knopf würde sofort die Polizei benachrichtigen und alle retten können. Als er zur Seite sah, erblickte er Kaja hinter der Tür.

„Du gehst jetzt ganz langsam zur Kasse und öffnest sie!“, forderte der Fremde, „Und komm ja nicht auf dumme Ideen!“

Panisch überlegte Kaja, wie sie Stuart helfen könnte. Ihr Handy war in ihrer Handtasche, die direkt neben Stuart auf dem Boden lag. Warum war in diesem Abstellraum kein Telefon?

Stuart erkannte an ihrem Blick sofort, dass sie sich einmischen wollte. Er sah sie mahnend an.

 

Bleib wo du bist. Tu bloß nichts unüberlegtes. Bleib wo du bist!

 

Kaja konnte sehen, dass er sichtlich am zittern war. Er ging langsam, Schritt für Schritt, auf die Kasse zu. Ruhig ließ er die Hände runter, um sowohl die Kasse zu öffnen, als auch den Alarmknopf zu betätigen.

„Zeig mir deine Hände!“, befahl der Mann, während er die Pistole aggressiv auf Stuart lenkte , welcher seine Arme augenblicklich wieder in die Höhe riss.

„G-ganz ruhig!“, stotterte er. 

Der Mann lachte bedrohlich: „Als ob ich nichts von eurem kleinen Knopf wissen würde. So einen haben inzwischen doch alle hier!“ Auf Stuarts Stirn machten sich Schweißperlen breit. Er dachte nochmal an die junge Frau, die er heute Morgen bedienen durfte. Er sah seine Eltern, er sah seine Freunde. Er sah Kaja hinten in der Ecke hockend. 

„Du wirst jetzt ganz, gaaanz langsam deine Hände auf die Kasse legen.“, fuhr der Mann drohend fort, „Und wehe ich sehe deine Hand auch nur für eine Sekunde unter der Theke verschwinden!“
Stuart atmete laut und tief durch und öffnete die Kasse. Die Augen des Verbrechers wurden groß: „Wunderbar. Und nun holst du das Geld heraus und legst es hier hin, auf einen schönen Stapel, verstanden?!“

„Ja… ja!“, Stuart griff zaghaft nach den Geldscheinen und legte sie nach und nach auf die Theke.
Die Pistole war in der Zeit permanent auf ihn gerichtet, der Mann ließ ihn keine Sekunde aus den Augen.

 

Kaja umklammerte derzeit das Messer. „Ich muss doch irgendwas tun!“, dachte sie, „Der Junge dahinten verblutet vielleicht! Und was ist, wenn der Typ nochmal schießt…“

Ihr kam eine Idee. Eine sehr gefährliche, dumme Idee. Doch sie konnte nicht tatenlos zusehen, wie der Mann die Kasse ausraubte und eventuell noch jemanden dabei umlegte. Das Risiko war ihr zu hoch. Langsam stellte sie sich mit dem Rücken an die schräg-offen stehende Zwischentür.

„Schneller!“, befahl der Mann ungeduldig. Ruckartig trat er ebenfalls hinter die Theke und rammte Stuart seinen Pistolenlauf in den Rücken, sodass Stuart vor Schreck aufschreien musste.

Schnauze!!“, raunte der Mann. In dem Moment erblickte er Kaja. Als sich ihre Blicke trafen, sprang sie von der Tür weg und rannte auf ihn zu. Verblüfft stieß der Mann Stuart zu Boden und riss die Pistole wieder hoch, um sie auf Kaja zu richten. Panisch löste er ein paar Schüsse, doch dieses Mal traf er lediglich den Paketboden und ein Regal.

Mit einem Schrei stürzte sich Kaja auf ihn und rammte ihm das Messer in die Schulter. Vor Schmerz aufstöhnend lies der Verbrecher die Pistole fallen und fiel zu Boden. Kaja konnte sich noch auf ihn halten. Sie zog das Messer mit einem gewaltigen Ruck aus seinem Fleisch und stach noch einmal in die selbe Wunde. „Du mieses Schwein!“, brüllte sie ihn wütend an.

Der Mann schrie gequält auf und tastete nach ihrem Kopf. Schnell hatte er ihren ganzen Hals umschlungen und drückte zu. Kaja röchelte und schnappte vehement nach Luft. Als ihre Kraft nachließ, konnte der Fremde sie von sich stoßen.

Stuart, immer noch fassungslos, konnte sich endlich aufrichten und den Alarmknopf der Theke betätigen.
Fluchend und sich die klaffende Wunde haltend spurtete der Mann aus der Tankstelle.

„Haltet ihn!“, schrie Stuart, als er ein paar Menschen außerhalb der Tankstelle auf dem Gehweg erblickte. 

Kaja sprang auf. 

„Kaja!“, Stuart schien sichtlich erleichtert, „Das war große klasse, das war…“ 

Doch sie hörte ihm gar nicht zu. Stattdessen rannte sie dem Mann hinterher. „Stehengeblieben!!“, brüllte sie. Sie konnte und wollte ihn nicht entkommen lassen. Der Mann blickte kurz nach hinten und spurtete weiter. Er stieß einige Passanten weg und überquerte die Hauptstraße.

„Hey!!“, schrie Kaja aufgebracht und folgte ihm so schnell sie konnte. Sie lief an den Passanten vorbei und auf die Straße.

„Kaja, nicht!“, rief Stuart, doch sein Ruf kam zu spät und plötzlich war bloß das laute Dröhnen eines Lastwagens zu hören, welches durch die ganze Straße donnerte. Dann war es still.

 

 

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Eins.


Als das Mädchen erwachte, war es hell. Viel zu hell. Sie befand sich in einer Landschaft aus weißem Nichts, von Wolken durchzogen und weder ein Ende, noch ein Anfang war erkennbar. Als ob Kaja wüsste, was sie tun muss, erhob sie sich von dem kalten Boden und ging einige Schritte vorwärts.

 

Sie war tot. Normalerweise hätte dieser Gedanke ihr einen Schauer über den Rücken gezogen, doch aus irgendeinem Grund fühlte sie sich mit dieser Erkenntnis in diesem Moment wohl und erlöst. Ein vollkommen neues Gefühl der Freiheit machte sich in ihr breit. Keine Menschen mehr, die sie nerven konnten. Nie wieder Schlange stehen. Nie wieder über Kriege lesen. Nie wieder zusehen, wie jemand seine eigenen Fehler nicht einsehen konnte.
Auf einmal erschrak sie vor ihrer eigenen Gelassenheit, die sie zu scheinbar gegenüber ihrem eigenen Tod hatte. Erst dann umklammerte sie große Trauer. Auch ihre Familie und ihre Freunde würde sie nun nie wieder sehen. Nie wieder Musik hören. Nie wieder frische Luft schnuppern, spazieren im Regen. Nie wieder einen Hund streicheln … Alles war vorbei. Oder auch nicht? Vielleicht war dies erst der Anfang von einem neuen Leben, wer weiß. 

„Hallo?“, fragte sie mit fester Stimme in das Weiß hinein, „Halloho?“ Doch ihre eigene Stimme kam nur mit einem leisen Echo zurück.

„Tatsächlich.“, dachte sie, „Ich finde tatsächlich endlich heraus, was nach dem Tod passiert. Doch ist das hier wirklich alles…?“
Neugierig sah Kaja sich um und erst jetzt bemerkte sie, dass sich ihre Kleidung verändert hatte. Plötzlich trug sie eine schlichte weiße Hose und eine passende Bluse. Sie war barfuß.

So viele Fragen kamen in ihr auf. Gibt es Gott? Ist Gott hier? Werde ich Gott endlich kennen lernen? Gibt es keinen Gott, bin ich alleine hier, was und wo ist das hier eigentlich?
„Hallo?!“, diesmal rief Kaja lauter in das Nichts herein und wirbelte dabei sogar ein wenig weißen Nebel auf.
Angestrengt lauschte sie und auf einmal vernahm sie ein genervtes Stöhnen. „Ja…?“

„Ein Mensch!!“, der Gedanke durchzog Kaja wie ein Messer. „Ein Mensch mit Antworten!“

Gespannt versuchte sie, der Stimme zu folgen. „Hallo? Ist da wer?“, fragte sie nochmal.

„Ja! Wer ist denn da?“, schallte es zurück, es war eindeutig eine männliche Stimme. Fast schon freudig sprang Kaja durch den Nebel und dann erkannte sie einen Schatten hinter einer dichten Nebelwand. „Und… wo zum Teufel bin ich?!“

Als sie die Nebelwand durchbrach, fiel ihr Blick auf einen jungen Mann, der sich soeben aufrichtete und sie schockiert ansah. Ihre Augen trafen sich und eine Weile starrten sie sich fassungslos an.

Nach einer gefühlten Minute hielt er ihr die Hand hin: „Ehm… Collin.“

„Oh.“, verdattert schüttelte sie ihm die Hand, „Kaja.“
Collin schien etwa 24 Jahre alt zu sein und er hatte sehr weiche Gesichtszüge. Die Nase war lang und dünn, die Lippen schmal. Seine Haare gingen ihm etwas über die Ohren und waren sehr hell, fast so weiß wie der Nebel. Auch seine Haut war sehr blass, nur die Augen strahlten in einem satten Braun hervor. Er beäugte sie noch eine Zeit misstrauisch, bis er schließlich sagte:

„Okay… Kaja. Verrätst du mir also nun, wo ich hier bin, was ich hier mache und…“

„Das wollte ich dich gerade fragen!“

„Tja, die Antwort kann ich dir nicht geben.“ Collin sah sich um. „Scheint hier ja ganz schön langweilig zu sein…“ Er sah Kaja wieder an und zwang sich zu einem Lächeln. „Na komm!“, grinste er, „Lass uns ein paar Schritte gehen.“

 

Zwei.

 

Bis auf ihre Schritte konnte man absolut nichts hören. Nebelwolken strichen an ihnen vorbei und manchmal hatte Kaja den Eindruck, als würden einige von ihnen ihre Kleidung anfeuchten.

Nachdem sie ein ganzes Stück zurückgelegt hatten, wollte Kaja wissen: „Sag mal… du bist doch auch… gestorben, oder nicht? Also wir sind doch tot?“

Collin nickte enttäuscht: „Ich schätze mal. Das letzte, woran ich mich erinnere, ist, wie ich im Krankenhaus liege und auf den Tod warte.“
Kaja sah ihn interessiert an. Als Collin ihren Blick bemerkte, schüttelte er schmunzelnd den Kopf: „So toll ist diese Information nun auch nicht, aber ich hatte Krebs.“

Sie blieben stehen. „Das tut mir Leid.“, sagte Kaja leise.

„Schon gut.“, Collin winkte ab, „Mir ging es eh nur noch beschissen. Jetzt gerade fühle ich mich eigentlich recht gut, nur irgendwie so… leer.“

„Ja!“, Kaja nickte, „Leer, aber doch unbeschwert.“

Sie sahen sich noch einige Sekunden verkrampft an und als sie bemerkten, wie unangenehm die Situation wurde, wandten den Blick voneinander ab. Schweigend betrachteten sie die Wolken, als sie plötzlich ein Geräusch vernahmen, das wie eine Tür klang, die sich soeben geöffnet hatte.

„Da!“, Collin nahm erschrocken die Hand vor den Mund, „Da war was!“

Drei.

 

Collin rannte voraus und sah sich dabei immer wieder um. Kaja folgte aufgeregt. Vielleicht hatten sie bald die Antworten, die sie sich erhofften. Als Collin langsamer wurde, konnte Kaja eine riesige, hohe, weiße Treppe erblicken. Am Rande der Treppe befand sich eine große Tür, die einen Spalt breit geöffnet war. Hinter dem Spalt trat etwas zum Vorschein, was in dieser Gegend kaum zu erdenken war - tiefes Schwarz. Nicht mehr und nicht weniger.

„Halt!“, zischte Kaja, als Collin begann, die Treppenstufen hinaufzusteigen, „Was machst du?!“
Er blickte zurück: „Na was wohl? Durch die Tür da oben gehen!“

„Du weißt doch gar nicht, was sich dahinter verbirgt. Vielleicht… vielleicht ist sie gefährlich!“
Collin schüttelte verständnislos den Kopf: „Ist das dein Ernst? Sieh dich doch mal um. Was wollen wir denn noch hier?“

 

Vier.

 

Plötzlich spürte Kaja, wie der Boden erschütterte. „Huch!“, erschrocken sprang sie kurz in die Luft.
Collin runzelte die Stirn: „Was ist denn jetzt los?“

„Ha… hast du das nicht gemerkt?“, irritiert sah Kaja sich um, „Dieses Beben vorhin?“

Collin zuckte mit den Achseln: „Jetzt spinnst du wohl völlig, oder?“

„Nein, ich spinne nicht! Es hat definitiv gerade gebebt!“

„Wie auch immer.“, Collin wandte sich zum gehen, „Ich hau jetzt jedenfalls ab.“

„Warte…!“, Kaja zögerte. Sie sah ihn vorsichtig an und blickte noch einmal zurück in die weiße Welt.

Collin hatte wahrscheinlich Recht. Was sollte es hier noch zu sehen geben? Für immer wollte sie hier sicherlich nicht bleiben. Sie nahm tief Luft und trat auf die erste Treppenstufe.

„Na bitte.“, Collin lächelte sie an, „Komm!“

Mit jeder Treppenstufe wuchs Kajas Neugierde auf das, was sich hinter der Tür verbergen könnte. Vielleicht eine neue Welt, eine Art Himmel. Vielleicht Gott. Vielleicht…

Zu Beginn hatte Kaja die Treppenstufen noch gezählt, doch mittlerweile hatte sie die Lust daran verloren. Von unten sah sie jedenfalls nicht so hoch aus, wie sie es anscheinend war. Die Stufen wurden immer enger und steiler, sodass, wenn sie nicht schon tot gewesen wäre, sie sicher um ihr Leben hätte fürchten müssen. Als Kaja sich fragte, wie weit sie schon gekommen waren, warf sie kurz einen Blick zurück und bemerkte, dass die weiße Nebeldecke inzwischen so weit nach oben gestiegen war, dass ihre Sicht blockiert wurde und der Boden nicht mehr zu sehen war. Gerade wollte sie Collin fragen, wie weit es denn noch ist, als er einige Stufen vor ihr stehenblieb.

Unmittelbar vor der Tür befand sich eine größere und breitere Stufe, auf der beide von ihnen Platz finden konnten. Ein kräftiger Windzug stieß durch den offenen Türspalt, sodass Kajas Auge zu tränen begann. Ein letztes Mal noch blickten sie nach hinten. Der Nebel war ihnen gefolgt und befand sich nun direkt unter der letzten Stufe. Langsam türmte er sich hinter ihnen auf, als wollte er die beiden durch die Tür zwingen.

„Kaja.“, murmelte Collin, „Ich hab dich gar nicht gefragt, wie du gestorben bist.“

Kaja schüttelte den Kopf: „Das tut nun auch nichts mehr zur Sache, oder?“

„Vielleicht ja doch. Vielleicht hängt es von der Art und Weise ab, wie man gestorben ist, wo man nun landet. Vielleicht sehen wir uns nie wieder, wenn wir durch diese Tür gehen. Vielleicht bist du auch das letzte Gesicht, was ich überhaupt sehen werde.“

Sie musste kurz grinsen: „Ach, Blödsinn. Hast du jetzt etwa doch Angst?“

Er wandte den Blick ab: „Quatsch!“

 

Fünf.

 

„Na dann.“, sie nahm seine Hand, „Lass uns gehen.“ Mit einem sanften Stoß öffnete Kaja den rechten Türflügel, dann den linken. Das schwarze Licht, was zuvor durch den Spalt geschienen hatte, trug nicht, denn ihre Blicke trafen nun in einen komplett schwarzen Raum. Ein eisiger Wind lies Kaja erschaudern und sie musste sich daran erinnern, wie vor einigen Jahren im Winter eine ältere Frau auf der Straße zusammengebrochen ist. Alle hatten die Dame beäugt, fast schon angeekelt, als könnte sie die Pest verbreiten. Damals war Kaja noch ganz jung, gerade sechs Jahre alt geworden. Ihr Vater hatte ihre Hand gehalten und sie weitergezogen, doch Kaja hatte ihren Blick nicht von der Dame abwenden können. 

„Papi!“, hatte sie gesagt und versucht, ihn mit ihren dünnen Ärmchen zurück zu ziehen, „Papi, sieh doch mal! Papi!!“

 Kaja seufzte traurig. Sie hatte sich von dieser Tür mehr erhofft, als nur einen weiteren eintönigen Raum. Collin bückte sich durch die Tür, sodass er noch auf dem nebelbedeckten Boden halt finden konnte, und sah nach unten.

„Hier geht’s nicht weiter.“, musste er enttäuscht feststellen.

 

Sechs.

 

Der Boden erzitterte erneut heftig und ließ Kaja das Gleichgewicht verlieren. Sie schrie, doch es war zu spät und sie fiel kopfüber durch die Tür. Collin, der sie immer noch an der Hand hielt, wurde mitgerissen.

„Verdammt!“, fluchte Collin, als er bemerkte, dass dieses schwarze Nichts sie einfach nur nach unten riss. Dies war kein Raum, bloß tiefschwarze Leere.

„Collin!!“, kreischte Kaja verzweifelt, und sie versuchte panisch seine Hand im Fall zu finden.

„Keine Angst!“, rief er ihr zu und langsam kam er ihr näher. Zuerst berührten sich nur ihre Fingerspitzen, doch dann gelang es ihm, ihre Hand zu packen und sich etwas zu ihr zu ziehen.

Sie stürzten weiter, immer tiefer und tiefer. Kaja fragte sich ob sie nun die ganze Treppe wieder nach unten fielen, als auf einmal Stimmen ertönten.


››Was ist das? Zwei Menschen hier? Im endlosen Tunnel?‹‹

››Das ist schon Jahrzehnte nicht mehr geschehen.‹‹
››Ihr wisst, was das bedeutet.‹‹

 

Kaja zitterte am ganzen Leib. „Was passiert hier?!“, quietschte sie, doch Collin antwortete nicht. Er sah verdattert stur geradeaus, als wolle er eine Gestalt entziffern.

 

››Verdammte Erdlinge!!‹‹

››Einer für uns, einer für euch? Das wäre doch nur fair.‹‹

 

Sieben.

 

Der Körper des Mädchens wurde nach vorne gerissen, sodass Collin sie loslassen musste.


››Das Mädchen gehört uns. ‹‹

››Wagt es ja nicht, sie beweist mehr Stärke und Mut, als Ihr es vertragt!‹‹
››Abschaum…!‹‹

 

Mit einem kräftigen Ruck wurde Kaja wieder zurückgestoßen. Sie schnappte nach Luft.

„Kaja, was ist los!?“, Collins Stimme nahm sie nur noch verzerrt wahr.
Sie fühlte sich, als würde sie jeden Moment in Ohnmacht stürzen. Tausend Bilder rasten durch ihren Kopf. Sie musste daran denken, wie sie heute morgen aufgestanden ist und wie ihre Mutter tschüss gesagt hatte. Sie dachte an den Überfall in der Tankstelle heute morgen und an den Lastwagen.

„Kaja…!“

 

Acht.

 

Plötzlich nahm Kaja ihren Herzschlag viel lauter wahr, als alles andere. Immer noch stürzte sie durch das schwarze Nichts, endlos weiter. Ta-tumm. Ta-tumm. Ta-tumm. Ihr Körper kribbelte. Sie versuchte, bei Sinnen zu bleiben und sah sich nach Collin um.
Als sich ihre Blicke trafen, versuchte er, sie anzulächeln, doch auf einmal packte ihn etwas von hinten. Sie hörte ihn schreien.

 

››Gefundenes Fressen.‹‹

››Nein!!‹‹

 

Neun.

 

Das Beben war zurückgekehrt, viel lauter und stärker als zuvor, und durchzog Kaja von Kopf bis Fuß.

„C-Coll…“, sie brachte kaum noch einen Laut hervor.

Collin streckte die Arme nach ihr aus, doch er wurde von ihr weggezogen. Irgendetwas riss an ihm, seine Augen waren schrecklich verzerrt vor Angst und Sorge. Schreie und Gelächter drang an ihr Ohr.

 

››Jetzt zu dir, du verdammtes Miststück!‹‹

››Lasst sie! Lasst sie verdammt!!!‹‹

 

Ta-tumm. Kaja wurde hin und hergerissen, doch sie konnte sich nicht einmal wehren. Langsam bemerkte sie, wie ihr Bewusstsein daher schwand. Ta-tumm. Ta-tumm.


››Wir verlieren sie!!‹‹

››Ihr Drecksschweine! Das ist eure Schuld!!‹‹

 

Zehn.

 

 

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Kapitel 2

 

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„Katharina?“

 

Seid ihr jemals verkatert aufgewacht? Viele haben einen Kater mindestens schon einmal erlebt. Kaja kannte das Gefühl nicht, doch sie war sich sicher, dass das, was sie gerade durchmachte, um einiges schlimmer war. Benommen drehte sie ihren Kopf langsam nach links und rechts und blinzelte verwirrt. Richtig öffnen ließen sich ihre Augen noch nicht, trotzdem konnte sie einige Umrisse erkennen. Zwei große Gestalten waren über sie gebeugt.

 

„Katharina!“

 

Irgendjemand schüttelte sie.

„Sie kommt zu sich!“, hörte sie jemanden ganz aufgeregt rufen.

„Ein Glück!“, die Stimme ihrer Mutter, „Ich bin so erleichtert…!“

Man legte Kajas Körper wieder zurück. „Katharina, weißt du, wo du bist?“
Kaja versuchte zu sprechen, doch es gelang ihr noch nicht ganz. Inzwischen konnte sie wieder klar sehen. Aber sie war so müde, so unglaublich müde, dass sie am liebsten wieder die Augen schließen wollte. Vor ihr saßen zwei Menschen, ein Mann und eine Frau, beide in weißen Kitteln gehüllt. Die Frau war dezent geschminkt, drückte Kajas Hand und sah sie erleichtert an. Der Mann rückte seine Brille zurecht und seufzte zufrieden.

„Du bist im Bransforter Krankenhaus“, sagte er, um Kaja die Verwirrung zu nehmen, „und in besten Händen. Mach dir keine Sorgen, es wird dir sehr bald schon besser gehen!“

„Lasst mich zu ihr!“, ihre Mutter klang ganz weinerlich und kämpfte sich zwischen die beiden Ärzte.

Ganz schwach brachte Kaja ein Lächeln auf, als sie in das Gesicht ihrer Mutter sah. Ihre Mutter sah für ihr Alter schon immer recht jung aus, doch nun schienen sich die ersten Falten in ihrem Gesicht auszudehnen. Mit müden Augenringen beäugte sie ihre Tochter und eine Freudenträne rann über ihre Wange: „Kaja, mein Schatz. So ein Glück… ich war noch nie so froh, wie heute!“
„Ihre Tochter braucht nun viel Ruhe, Miss Hennryksen.“, sprach die Ärztin.
„Ja, natürlich.“, Kajas Mutter nickte, „Aber meinen Mann kann ich doch sicher noch kontaktieren, oder? Er würde bestimmt gerne noch vorbei kommen.“
Der Arzt, der immer noch neben Kajas Bett hockte, richtete sich auf: „Das wird kein Problem sein. Je wohler Katharina sich fühlt, desto besser. Sie können auch hier bei ihr bleiben und im Bett nebenan übernachten, wenn Sie das wünschen. Und die nächsten Tage schauen wir mal, wie es ihr geht.“ Er lächelte Miss Hennryksen aufheiternd an. „Ich würde vorschlagen, wir lassen Sie erstmal alleine. Wenn Sie irgendwas brauchen, betätigen sie den kleinen Knopf seitlich am Beistelltisch neben Katharinas Bett.“ Nun sah er Kaja an und nickte ihr zu: „Wir sehen später nochmal nach dir, um ein paar Tests durchzuführen. Alles klar?“
Kaja versuchte zu nicken. Sie wusste nicht, ob es ihr gelang, doch der Arzt verstand sie auch so.

„Gut…“, er schmunzelte, nickte noch einmal Kajas Mutter zu und verließ zusammen mit seiner Kollegin den Raum.

 

Überglücklich setzte sich Kajas Mutter auf den Sessel dicht neben dem Bett. Kaja folgte ihrer Mutter mit dem Kopf und legte ihn so, dass sie ihre Mutter sehen konnte.

„Kaja, ich bin ja so froh, dass du wieder wach bist!“, sanft legte die Mutter ihre Hände an Kajas Gesicht. „Ich rufe ganz kurz deinen Vater an!“

Schnell zückte sie ihr Mobiltelefon hervor und wählte aufgeregt.  Schwer atmend legte Kaja ihren Kopf wieder gerade und starrte an die weiße Decke. Das Weiß brannte in ihren Augen.

„Joshua!“, Kajas Mutter musste sich bemühen, um nicht in den Hörer zu brüllen, „Joshua, ich bin’s, Susan, etwas großartiges ist geschehen, Kaja ist wieder erwacht! Ja! Ruf sie ruhig an, klar. Ja, du kannst sofort vorbeikommen, die Ärzte haben gesagt, es sei okay. Alles klar… bis später!“

Susan strahlte Kaja an und steckte ihr Telefon wieder ein.

„Passiert…“, murmelte Kaja immer noch benommen, „Was… passiert…?“ Es war anstrengend, Worte zu formen.

Susan seufzte traurig. „Du erinnerst dich nicht mehr?“

Kaja musste überlegen, doch ihr Kopf war wie leergesaugt. Alles, woran sie sich erinnern konnte, war, dass sie schon wieder einen so seltsamen Traum gehabt hatte.

„Du hast doch wieder in der Tankstelle gearbeitet.“, ihre Mutter wurde ganz still und blickte zu Boden, „Da kam dieser Typ herein, der Stuart bedroht hat.“ Vorsichtig sah sie Kaja an, die Susan ratlos anstarrte. „Stuart? … Du weißt doch noch, wer Stuart ist?“

Langsam kamen die Erinnerungen wieder zurück. „Na klar!“, schoss es Kaja durch den Kopf und sie nickte, was ihr inzwischen schon besser gelang, als vor einigen Minuten noch.

Erleichtert lächelte Susan: „Genau. Er hat mir erzählt, was du geleistet hast… das war wirklich mutig von dir, doch du hast dich da in große Gefahr begeben, das weißt du, oder? Wenn du nicht diesen Unfall gehabt hättest, hätte ich dir vermutlich den Kopf abgerissen.“ Die Mutter musste traurig lachen. „Doch mit der Zeit wuchs nur mein Stolz, dass ich eine Tochter habe, die ihr Leben für andere riskiert. Ha… es ist doch irgendwie ironisch, dass nichtmal der Übeltäter dafür gesorgt hat, dass du jetzt hier bist, sondern der Lastwagen…“
„Wie…“, stotterte Kaja irritiert.

Susan blickte auf: „Du bist dem Typen über die Straße gefolgt, und dann kam ein LKW. Natürlich warst du da auch ganz schön unvorsichtig, einfach auf die Straße rennen… Und der LKW-Fahrer ist auch noch viel zu schnell gefahren… tja. Dem tat es natürlich aufrichtig Leid, er wird bestimmt auch bald vorbeikommen und sich bei dir entschuldigen…“

Kaja versuchte zu lächeln: „Schon oke…“
„Nein, das ist nicht oke!“, fast schon wütend erhob sich ihre Mutter aus dem Sessel, „Was meinst du, was wir uns für Sorgen gemacht haben!? Da ruft Stuart uns an, völlig verzweifelt, schickt uns ins Krankenhaus, und dann wird uns gesagt, dass unsere Tochter von einem Lastwagen erwischt worden ist und nun innere Blutung im Gehirn hat… du hättest sterben können!“

Schwer schluckend starrte Kaja wieder an die Decke.

„Du warst jetzt mehrere Tage im künstlichen Koma und glücklicherweise gelang es den Ärzten, deinen Zustand wieder zu stabilisieren. Doch es war eng! Verdammt eng sogar… wir hatten schon fast keine Hoffnung mehr. Aber…“, Susan beugte sich über ihre Tochter, „anscheinend hat dich jemand da oben sehr gerne.“ Sie streichelte Kaja durchs Haar. „Wie geht es dir denn, meine Kleine?“
Kaja schmunzelte: „Ja… nicht so.“

„Hm, kein Wunder.“, sagte Susan, „Die Ärzte haben auch gesagt, dass du die nächsten Tage ein wenig halluzinieren könntest. Und später geht’s dann los mit ein paar Tests, Hand-Augen-Koordination und Sprechen soll dann geübt werden. Nach so einem künstlichen Koma kann nämlich einiges Vergessen worden sein.“
Etwas besorgt sah Kaja ihre Mutter an, worauf Susan sie aufmunternd angrinsen musste: „Mach dir keine Sorgen! Du bist doch noch jung. Und so mutig, wie du bist kriegt dich sowas doch nicht unter!“

Kaja nickte vorsichtig.

„Hey!“, Susan packte ihre Tasche und ihren Mantel, „Ich werde kurz in die Kantine gehen, aber ich komme gleich wieder! Was hältst du davon, wenn morgen Sasha vorbeikommt? Dein Vater wollte sie gleich anrufen… und Stuart! Ein bisschen Gesellschaft wird dir sicher nicht schaden, oder?“
Erfreut lächelte Kaja: „Das wäre schön.“ Sie war überrascht, dass ihr dieser Satz einigermaßen schnell über die Lippen kam.

„Super!“, ihre Mutter strahlte, „Ich hole mir kurz einen Kaffee… die letzten Tage konnte ich nämlich echt nicht gut schlafen. Möchtest du irgendetwas, mein Schatz?“

Kopfschüttelnd schloss Kaja die Augen.

„Gut…“, schmunzelte Susan, „Dann bin ich gleich wieder da!“

 

✢  ✢  ✢

 

Völlig zeitlos lag Kaja in ihrem Krankenbett und blickte stumm aus dem Fenster. Ein großer Park bat sich ihr dar - hohe Bäume ragten empor und gaben den grünen Wiesen und Blumenbeten Schatten. Einige Parkbänke standen an dem Rande des Gehweges und aufgrund der Nähe zum Krankenhaus gingen viele Patienten, die in der Lage waren zu laufen, bei schönem Wetter spazieren. Zwei ältere Damen unterhielten sich auf einer Bank unter einem Baum und Kaja überlegte, über was die Frauen sich unterhalten könnten. Ob sie nur über Krankheiten sprachen? Das war schließlich in dem Alter ein vorgegebenes Thema in dem Alter, vorallem, wenn man sich in Krankenhausnähe aufhielt.
Kajas Blick schweifte ab und sie betrachtete ihr Zimmer. An der Wand hing ein großes Gemälde im schwarzen Rahmen, das ein Stillleben zeigte. Darunter war ein grauer Sessel mit einem Beistelltisch platziert. Auch neben ihrem Bett fanden sich ein solcher Sessel und ein Tisch, auf dem sich inzwischen eine Tasse Kräutertee befand. Der Boden und die Wände waren strahlend weiß.
So weiß wie in ihrem komischen Traum… Kaja musste schlucken. „Was war das nur…?“, fragte sie sich in Gedanken, „Was für ein seltsamer Traum… Ob er irgendwas zu bedeuteten hatte?“ Vielleicht könnte sie den Arzt darüber informieren.

„Kaja?“, die Stimme ihres Vaters zerbrach ihren Gedankenstrom, „Ist alles in Ordnung?“
Verwirrt sah Kaja ihren Vater an, der vor einer Stunde bereits vorbei gekommen war. Er hatte nur kurz eine Flasche Wasser aus der Kantine holen wollen und soeben das Krankenzimmer wieder betreten.  Anscheinend hatte er den gedankenverlorenen Blick seiner Tochter sofort bemerkt, denn er trat besorgt an ihr Bett und stellte die Wasserflasche auf den Beistelltisch. Seufzend setzte er sich auf die Bettkante und sah Kaja ratlos an.

„Alles in Ordnung.“, Kaja lächelte sanft, „Ich bin nur sehr erschöpft.“

Schweigend nickte ihr Vater. Er war ein Mann von großer Statur, sehr schmal und viele Menschen erschraken oft vor seiner Gestalt, jedoch nicht vor Angst. Er wirkte stets autoritär. Joshua hieß er. Joshua hatte schon viel durchmachen müssen. Er wuchs in sehr ärmlichen Verhältnissen auf, sein Vater ist vor langer Zeit an einem Tumor gestorben, als Joshua noch ganz klein war. Von seinen drei Geschwistern ist nur noch eines übrig, der ältere Bruder. Seine jüngere Schwester und sein Zwillingsbruder kamen noch in Kindesalter ums Leben, als sie eine schwere Lungenentzündung gepackt hatte. Auch seine Mutter konnte er heutzutage nur noch selten sehen und wenn er sie sah, fühlte es sich an, als würde jemand sein Herz durchdrücken - denn sie erkannte ihren Sohn nicht mehr.
Vor vielen Jahren gelang es ihm trotz der Strapazen, ein erfolgreicher Immobilienmakler zu werden, doch mittlerweile waren seine Haare schon so stark ergraut, dass er im Vergleich zu seiner Frau viel älter wirkte. Vor wenigen Stunden noch war auf einer kleinen Geschäftsreise auf Mallorca gewesen, dort sollte er ein Ferienhaus begutachten. Doch als der Anruf von Susan kam, brach er den Termin sofort ab und nahm den ersten Flieger zurück nach Hause. Denn auch als Geschäftsmann muss man gewisse Prioritäten setzen. In seiner Hand hielt er einen schwarzen Hut, passend zu seinem schwarzen Mantel, den er an den Kleiderständer neben der Tür gehängt hatte.
Kaja betrachtete ihren Vater stolz, als es plötzlich an der Tür klopfte und der Arzt in das Zimmer kam. Diesmal stellte er sich vor: „Guten Tag, Mister Hennryksen. Katharina.“ Er schüttelte Joshua die Hand, dann Kaja.

„Mein Name ist Mister Meerbott und ich bin dein persönlicher Arzt, sozusagen.“, er lächelte sie freundlich an und sie musste zurück schmunzeln.

„Du hattest wirklich Glück, Kleine.“, fuhr er dann fort, „Deine inneren Blutungen im Gehirn waren wirklich sehr gravierend… wir mussten dich künstlich beatmen, das Herz wieder richtig ans Laufen bringen… um genau zu sein, wir mussten dich wiederbeleben.“

Kaja stutzte: „Mir hat niemand gesagt, dass ich tatsächlich für einen Moment tot war…!“

Mister Meerbott blickte kurz beschämt zu Boden, als fürchtete er, man würde seine Kenntnisse als Arzt in Frage stellen. „Doch, in der Tat.“, setzte er an, „Für einen kleinen Moment warst du tot. Doch es gelang uns, deinen Herz-Kreislauf-Rhythmus wieder herzustellen und die inneren Blutungen zu stoppen. Trotz allem war das künstliche Koma, in das du dich für 8 Tage befandest, unausweichlich.“ Zögernd nickte Kaja.

Mister Meerbott trat näher und fragte: „Du bist ja nun schon einige Stunden wach. Darf ich fragen, wie es dir inzwischen geht?“

„Schon besser.“, sagte Kaja vorsichtig.

Der Arzt schmunzelte: „Gut. Dann wäre es nun an der Zeit, einige Tests durchzuführen, um zu sehen, ob irgendwelche Folgeschäden geblieben sind.“ Jetzt sah er Kajas Vater an. „Sie können natürlich gerne warten.“ Mister Hennryksen überlegte kurz, doch schüttelte dann den Kopf: „Eigentlich ist es Zeit für mich, zu gehen.“ Entschuldigend blickte er seine Tochter an. „Ich hoffe, du bist mir nicht böse, wenn ich gehe… ich habe noch einiges zu erledigen!“

Kaja schüttelte schnell den Kopf: „Quatsch, ich bin doch froh, dass du gekommen bist. Du kannst natürlich gehen, wer weiß, wie lange die Tests dauern.“

Joshua lächelte: „Alles klar.“ Er kam noch ein letztes Mal auf seine Tochter zu und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. „Ich komme morgen wieder vorbei. Und deine Mutter sieht bestimmt später nochmal nach dir. Werd schnell wieder gesund!“, sagte er leise. Dann setzte er sich den Hut auf, trat an den Kleiderständer und warf sich seinen Mantel um.

„Mister Meerbott.“, er verabschiedete sich mit einem Händeschütteln vom Arzt, nickte Kaja noch einmal zu und verließ den Raum.

Freundlich sah Mister Meerbott zu seiner Patientin. „Dann können wir ja nun beginnen.“

 

Die Tests verliefen schneller, als Kaja es sich gedacht hatte. Es mussten lediglich einige Sprechtests durchgeführt werden. Außerdem wurde die Hand-Augen-Koordination geprüft, wobei sie die Hände zu Fäusten ballen musste, sobald man ihr den Befehl gab. Sie musste Bälle fangen und werfen.
Sie fühlte sich ein wenig wie damals im Sportunterricht, der ihr immer viel Freude bereitet hatte. Deshalb fand sie auch diese harmlosen Tests recht spaßig und umso erfreulicher war für sie das Ergebnis: Sie war komplett gesund und trug keine Folgeschäden, die durch das künstliche Koma hätten auftreten können. Trotzdem sollte sie noch einige Tage im Krankenhaus verbringen.

Als Mister Meerbott Kaja wieder zurück in ihr Zimmer führte, fiel Kaja ihre Frage von vorhin wieder ein. „Ach, entschuldigen Sie“, sagte sie schnell und der Arzt sah sie interessiert an, „Ich erinnere mich noch an einen ganze seltsamen Traum, den ich gehabt habe… ist sowas normal?“

Der Arzt lachte kurz: „Diese Frage kommt sehr oft von Leuten, die ähnliches durchgemacht haben. Mach dir keine Sorgen! Viele Koma-Patienten haben Wahnvorstellungen oder Träume. Wenn die Narkose heruntergesetzt wird und der Körper langsam wach wird, vermischt er sehr oft die Wirklichkeit mit dem Traum. So kann es also gut sein, dass du Stimmen oder Umrisse unmittelbar aus deiner Umgebung aufgenommen und in deine Vorstellungen mit eingebaut hast.“

„Ach…“, Kaja stutzte, „Das ist ja interessant!“

Mister Meerbott schmunzelte: „Ja, das stimmt. Der menschliche Körper ist einzigartig und Medizin ist etwas Großartiges. Sehr interessant. Nicht ohne Grund bin ich heute Arzt. Es fasziniert mich immer wieder aufs Neue, wie alles zusammenhängt…“ Verträumt blickte er in die Leere, doch als er merkte, dass vor ihm immer noch eine junge Dame stand, lächelte er sie kurz an und sagte: „Nun, ich muss dann wieder meiner Routinearbeit nachgehen. Ruh dich schön aus und wenn du Besuch hast, geh ruhig mal an die frische Luft, das kurbelt den Kreislauf wieder an. Aber geh’ noch nicht alleine!“

„Ja. Danke schön, Herr Doktor.“, sagte Kaja schnell und winkte kurz, als der Mann bereits zügig durch den Flur ging und noch einmal kurz zurücksah. „Verrückt…“, murmelte sie noch und betrat wieder ihr Zimmer.


Der Rest des Tages, und Kaja wusste gar nicht, wie schnell die Zeit verging, verlief ruhig. Abends kam noch einmal ihre Mutter vorbei und sie quatschten ein wenig. Susan erzählte, dass auch Kajas sehr viel älterer Bruder Mike sie bald besuchen kommen wollte - derzeit studierte er in San Francisco.
Als die Nachtschwester das Zimmer betrat, verkündigte sie die Nachtruhe und dass die Besuchszeit längst vorbei war.
Kaja wunderte es, dass sie, obwohl sie so lange im Schlaf gelegen hatte, trotzdem so müde war. Es dauerte nicht lange, als ihre Augen auch bereits zufielen und sie in einen tiefen Schlaf sank.

 

✢  ✢  ✢

 

Es war bereits nach Mitternacht, als Kaja ein lautes Geräusch vernahm. Erst wurde sie nur kurz wach und dachte sich nichts weiter dabei, doch als sie sich umdrehte, um weiterzuschlafen, hörte sie es wieder. Ein lautes Scheppern. Dann klang es so, als ob jemand Papier zerriss und herumwirbelte.
Verwirrt setzte Kaja sich in ihrem Bett auf. Wer machte denn da so einen Lärm?
Langsam ging sie auf Zehenspitzen an die Tür, öffnete diese und streckte ihren Kopf durch den Türspalt. Auf dem Flur war keiner zu sehen. Das Licht war gedämmt und entfernt hörte sie einige Krankenschwestern lachen. Doch die Geräusche kamen nicht von hier.

Nachdenklich schloss Kaja die Tür wieder, als die Geräusche wieder lauter wurden. Sie trat ans Fenster und überflog schnell die Parkanlage. Und da sah sie es.
Eine kleine, bucklige Gestalt kauerte neben einer Parkbank. Kaja konnte die Gestalt genau erkennen, was sie selbst etwas ins Staunen brachte, da die Entfernung doch recht hoch war.
Sie blinzelte kurz, um ihren Blick zu fixieren. Das fremde Wesen lungerte auf dem Rasen und knabberte an irgendetwas, was wie eine Plastiktüte aussah. Um die Gestalt herum war Müll verteilt und der Abfalleimer lag weit vom eigentlichen Ursprungsstandpunkt entfernt. Kaja fiel auch auf, dass der Parkbank im Hintergrund zwei Beine fehlten. Der Schatten griff mit sehr dürren Armen nach einem dieser Holzbeine im Rasen und begann, die einzelnen Holzsplitter abzureißen und zu essen. „Das ist doch absurd!“, schoss es Kaja durch den Kopf. Sie schüttelte kurz den Kopf. Träumte sie etwa noch? Vielleicht hatte sie eine Halluzination, anscheinend sollte das ja mal vorkommen…

Die Gestalt hatte einen sehr seltsamen Hautton - nicht hell, nicht dunkel, sondern mehr grün-bräunlich. Sie sah wirklich krank aus und Kaja fragte sich, ob sie einen Arzt rufen sollte, als das Wesen plötzlich den Kopf hochriss und in ihr Fenster sah.

Kajas Körper erstarrte vor Schreck. Die Augen des fremden Wesens waren gelb und leuchteten bösartig hervor. Ängstlich trat Kaja einige Schritte zurück. „Was geht hier vor sich! Was ist das?!“, verzweifelt duckte sie sich, in der Hoffnung, das Wesen würde verschwunden sein, wenn sie sich wieder aufrichtete - und das war es auch.

Als Kaja wieder durch das Fenster blickte, konnte sie die Gestalt nicht mehr sehen. Sie war verschwunden. Erleichtert atmete Kaja auf.

„Mein Gott.“, flüsterte sie und musste kurz leise lachen, „Das war verdammt gruselig.“
Plötzlich vernahm sie ein höllisches Gelächter. Kaja zuckte zusammen. Das konnte doch nicht wahr sein. Sie durchforschte wieder den Park und erkannte, dass das Wesen sich immer noch in der Nähe befand. Ein weiterer Mülleimer flog durch die Luft und landete auf der Bank, auf der heute Mittag noch die zwei älteren Damen einen Plausch gehalten hatten.

Das Lachen wurde lauter. Es klang ein bisschen wie ein Kinderlachen, nur um einiges verzerrter und schräger.
Zitternd legte Kaja ihre Hände gegen das Fenster. „Ich muss Hilfe rufen!“, dachte sie, „Ich muss Hilfe rufen! Egal, ob ich oder der Verrückte da unten durchdreht - irgendwem muss geholfen werden…!“
Und mit diesem Gedanken sprang sie auch schon aus ihrem Zimmer.

„Hallo!!“, schrie sie, „Hilfe!!“
Sofort kamen zwei Krankenschwestern aus einem anderen Zimmer geeilt.

„Was ist passiert?“, fragte eine von ihnen.

„Da draußen…!“, Kaja schnappte nach Luft, „Da draußen verwüstet irgendeiner die ganze Parkanlage!“
Die zweite Schwester hielt sich besorgt die Hände vor den Mund und blickte die erste wissend an.

Die erste erwiderte den Blick, dann sah sie zu Boden. „Ja… ja, es war ja nur eine Frage der Zeit…“

Irritiert sah Kaja zwischen den beiden hin und her, bis die Schwester die andere bestimmend an der Schulter packte und ihr befahl, die Polizei zu rufen. Dann wandte sie sich wieder an Kaja: „So. Und Sie gehen jetzt wieder auf ihr Zimmer, alles klar?“

„Aber was ist denn los?!“, wollte Kaja wissen.

„Alles wird wieder gut, die Polizei wird sich in Kürze darum kümmern!“, sprach die Schwester und drängte Kaja wieder zu ihrer Zimmertür, „Bleiben Sie ganz ruhig, Sie können ungestört weiterschlafen.“ Mit diesen Worten machte die Schwester kehrt und eilte zum Treppenhaus.

Kaja schluckte schwer und öffnete ihre Zimmertür. „Das wird schon wieder…“, dachte sie und sie erinnerte sich an den Zeitungsartikel, den sie am Tage ihres Unfalles gelesen hatte, „Wahrscheinlich ist das der selbe Typ… vielleicht kriegt man ihn ja dieses Mal zu fassen…“ 

Stumm schloss Kaja die Tür hinter sich und wollte sich wieder in ihr Bett legen, als sie einen Schatten vor ihrem Fenster bemerkte. Sie hatte das Gefühl, als würde ihr Herz in ihre Hose rutschen.
Das Fenster war offen und auf dem Fensterbrett hockte nun die besagte Gestalt, die sie zuvor im Park beobachtet hatte. Die gelben Augen durchbohrten sie wie ein Messer.

„So…“, säuselte die Gestalt mit einer hohen, krächzenden Stimme, „Du hascht misch alsou verpfiffen, heeh?“

Kaja zitterte nun stärker, als sie jemals zuvor in ihrem Leben gezittert hatte. „W-w… wer bist du? Wa… was willst du von mir!?“, sie kreischte schon fast und wollte die Tür wieder öffnen, um der Gestalt zu entkommen, doch der Türriegel ließ sich nicht mehr nach unten drücken. „Was ist hier los?!“, fast schon weinend starrte sie wieder die Gestalt an.

Das Wesen kicherte höhnisch. „Du hascht misch beobachtet, nischt wahr?“

Kaja biss sich auf die Unterlippe und wagte es nicht, einen Ton hervorzubringen. Panisch drückte sie ihren Rücken an die Tür. „Lass mich sofort hier raus!!“, keifte sie.

„Oh, das kann isch leider nischt machen.“, säuselte die Gestalt weiter und sprang vom Fensterbrett auf den Fußboden. Erst jetzt fiel Kaja auf, dass das Wesen wirklich sehr klein war. Es humpelte kurz etwas auf zwei Beinen hin und her und stand dann auf vier Beinen, um Sicherheit zu gewinnen. Die Ohren waren seltsam spitz und lagen, fast wie bei manchen Hunderassen, seitlich an. Es hatte große Hände mit sehr langen Fingernägeln, fast schon wie Krallen, und die Zähne blinkten manchmal kurz und spitz hervor.

Das Wesen kam näher auf Kaja zu. „Weißt duu… isch habe mir schon vorhin gedacht: ‚Hey… das Mädschen da beobachtet dich! Lässt du sie gehen oder lässt du sie sterben?‘“
Die Worte des Wesens peitschten Kaja innerlich aus und sie sank langsam an der Tür hinunter. „Erst dachte ich, dass ich dich verschonen könnte… aber du hascht mich ja weiter beobachtet!“, sagte das Wesen und plötzlich sprang es Kaja an. 

Sie schrie auf, als die Gestalt sie zu Boden stürzte und sich bedrohlich auf ihrem Brustkorb hockte: „Deine Zeit endet hier…“

„Nein!!“, schrie Kaja und versuchte, das Wesen von sich zu werfen. Doch dieses war weitaus kräftiger, als es aussah. Mit einigen Hieben zerkratzte es Kajas Arme. Gequält stöhnte Kaja auf. Dann packte die Gestalt mit einer Klaue an ihre Kehle und drückte zu. „Tut mir Leid, meine Süße.“, kicherte es verstörend. Drohend hob es die zweite Klaue in die Luft. „Doch diese Krallen sehen nicht zum ersten Mal Blut!“, raunte es, als es plötzlich einen der Nägel in Kajas Brustkorb rammte.

Der Körper des Mädchens erhob sich reflexartig für einen Moment. Sie japste nach Luft. Zufrieden richtete sich das Wesen wieder auf und betrachtete Kaja, die sich röchelnd auf die Seite legte. Zitternd versuchte sie sich mit ihren Händen auf dem Boden von dem Wesen wegzuziehen.

Die eine Hand legte sie vorsichtig auf die klaffende Wunde in ihrer Brust. Genau da, wo das Herz lag.
Die Kralle des Wesens war so lang, dass Kaja bezweifelte, dass sie noch einmal mit dem Leben davonkommen würde.  Sie hustete aus und spuckte dabei ein bisschen Blut auf den Boden.

 

Genervt schlich die Gestalt um Kaja herum: „Was ischt denn los, heh? … Hab isch nischt getroffen? Das passiert mir aber nischt oft…“ Fast schon enttäuscht kauerte es sich neben Kaja und sah ihr beim Sterben zu. Schmerzgequält rollte Kaja sich auf den Bauch und dann wieder auf die Seite. Ihre Augen flimmerten unruhig. Sie versuchte, sich rein auf ihre Atmung zu konzentrieren und an was schönes zu denken, denn sie wollte wenigstens dieses Mal friedlich sterben. Nach wenigen Sekunden bemerkte sie jedoch zu ihrem eigenen Erstaunen, dass der Schmerz in ihrer Brust nachließ. Sie stellte fest, dass ihre Kräfte zurückkamen. Von sich selbst beeindruckt, rollte sie sich wieder auf den Bauch und stemmte sich langsam nach oben.

Die Augen des Wesens wurden zu verängstigten kleinen Schlitzen, als Kaja wieder aufrecht stehen konnte. „Nein…“, flüsterte es langsam. 

Kaja schüttelte sich kurz aus, so als hätte sie lediglich einige Dehnübungen gemacht und sah an sich herab. Die Blutung hatte nachgelassen. Doch warum? Kurz strich sie sich mit einem Finger über die Wunde. Doch die wirkte schon fast wieder verheilt. Lediglich ein kleiner Schlitz war noch zu erfühlen.

„Nein!“, fluchte das Wesen plötzlich, „Das kann nicht sein, nein!!“ Vorsichtig wich es vor Kaja zurück.

„Was?“, fragte Kaja verwirrt, „Was denn?“
Die Gestalt kroch ängstlich wieder zurück zum Fenster. „Isch gehe schon. Bitte. Verschone mich… isch … ich hatte ja keine Ahnung…!“

Sprachlos starrte Kaja das Wesen an, welches ihr noch einmal entschuldigend zunickte und dann nach draußen sprang und verschwand.

Erschöpft sank Kaja auf ihr Bett. „Was war denn das…“ Ihre Atmung war noch sehr laut und schnell. Kaja versuchte, sich zu beruhigen und lauschte angestrengt. Das Wesen schien wirklich verschwunden zu sein, denn sie konnte es nicht mehr hören. Sie hörte lediglich den Wind durch die Blätter der Bäume huschen. Manchmal krächzte ein Rabe. Die grauenvolle Situation war vorbei, der Schrecken vorüber. Der Friede war zurückgekehrt. Kaja seufzte erleichtert, als ein Rabe sich auf ihre Fensterbank setzte.

Kaja lächelte das Tier an: „Oh, hallo, du!“ Der Rabe legte den Kopf schief, als wollte er den Gruß zurückgeben. Das Mädchen musste lachen. „Du bist ja süß… aber was willst du denn von mir?“, fragte sie neugierig. 

 

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Völlig zeitlos lag Kaja in ihrem Krankenbett und blickte stumm aus dem Fenster. Ein großer Park bat sich ihr dar - hohe Bäume ragten empor und gaben den grünen Wiesen und Blumenbeten Schatten. Einige Parkbänke standen an dem Rande des Gehweges und aufgrund der Nähe zum Krankenhaus gingen viele Patienten, die in der Lage waren zu laufen, bei schönem Wetter spazieren. Zwei ältere Damen unterhielten sich auf einer Bank unter einem Baum und Kaja überlegte, über was die Frauen sich unterhalten könnten. Ob sie nur über Krankheiten sprachen? Das war schließlich in dem Alter ein vorgegebenes Thema in dem Alter, vorallem, wenn man sich in Krankenhausnähe aufhielt.
Kajas Blick schweifte ab und sie betrachtete ihr Zimmer. An der Wand hing ein großes Gemälde im schwarzen Rahmen, das ein Stillleben zeigte. Darunter war ein grauer Sessel mit einem Beistelltisch platziert. Auch neben ihrem Bett fanden sich ein solcher Sessel und ein Tisch, auf dem sich inzwischen eine Tasse Kräutertee befand. Der Boden und die Wände waren strahlend weiß.
So weiß wie in ihrem komischen Traum… Kaja musste schlucken. „Was war das nur…?“, fragte sie sich in Gedanken, „Was für ein seltsamer Traum… Ob er irgendwas zu bedeuteten hatte?“ Vielleicht könnte sie den Arzt darüber informieren.
„Kaja?“, die Stimme ihres Vaters zerbrach ihren Gedankenstrom, „Ist alles in Ordnung?“
Verwirrt sah Kaja ihren Vater an, der vor einer Stunde bereits vorbei gekommen war. Er hatte nur kurz eine Flasche Wasser aus der Kantine holen wollen und soeben das Krankenzimmer wieder betreten.  Anscheinend hatte er den gedankenverlorenen Blick seiner Tochter sofort bemerkt, denn er trat besorgt an ihr Bett und stellte die Wasserflasche auf den Beistelltisch. Seufzend setzte er sich auf die Bettkante und sah Kaja ratlos an.

„Alles in Ordnung.“, Kaja lächelte sanft, „Ich bin nur sehr erschöpft.“
Schweigend nickte ihr Vater. Er war ein Mann von großer Statur, sehr schmal und viele Menschen erschraken oft vor seiner Gestalt, jedoch nicht vor Angst. Er wirkte stets autoritär. Joshua hieß er. Joshua hatte schon viel durchmachen müssen. Er wuchs in sehr ärmlichen Verhältnissen auf, sein Vater ist vor langer Zeit an einem Tumor gestorben, als Joshua noch ganz klein war. Von seinen drei Geschwistern ist nur noch eines übrig, der ältere Bruder. Seine jüngere Schwester und sein Zwillingsbruder kamen noch in Kindesalter ums Leben, als sie eine schwere Lungenentzündung gepackt hatte. Auch seine Mutter konnte er heutzutage nur noch selten sehen und wenn er sie sah, fühlte es sich an, als würde jemand sein Herz durchdrücken - denn sie erkannte ihren Sohn nicht mehr.
Vor vielen Jahren gelang es ihm trotz der Strapazen, ein erfolgreicher Immobilienmakler zu werden, doch mittlerweile waren seine Haare schon so stark ergraut, dass er im Vergleich zu seiner Frau viel älter wirkte. Vor wenigen Stunden noch war auf einer kleinen Geschäftsreise auf Mallorca gewesen, dort sollte er ein Ferienhaus begutachten. Doch als der Anruf von Susan kam, brach er den Termin sofort ab und nahm den ersten Flieger zurück nach Hause. Denn auch als Geschäftsmann muss man gewisse Prioritäten setzen. In seiner Hand hielt er einen schwarzen Hut, passend zu seinem schwarzen Mantel, den er an den Kleiderständer neben der Tür gehängt hatte.
Kaja betrachtete ihren Vater stolz, als es plötzlich an der Tür klopfte und der Arzt in das Zimmer kam. Diesmal stellte er sich vor: „Guten Tag, Mister Hennryksen. Katharina.“ Er schüttelte Joshua die Hand, dann Kaja.
„Mein Name ist Mister Meerbott und ich bin dein persönlicher Arzt, sozusagen.“, er lächelte sie freundlich an und sie musste zurück schmunzeln.
„Du hattest wirklich Glück, Kleine.“, fuhr er dann fort, „Deine inneren Blutungen im Gehirn waren wirklich sehr gravierend… wir mussten dich künstlich beatmen, das Herz wieder richtig ans Laufen bringen… um genau zu sein, wir mussten dich wiederbeleben.“
Kaja stutzte: „Mir hat niemand gesagt, dass ich tatsächlich für einen Moment tot war…!“
Mister Meerbott blickte kurz beschämt zu Boden, als fürchtete er, man würde seine Kenntnisse als Arzt in Frage stellen. „Doch, in der Tat.“, setzte er an, „Für einen kleinen Moment warst du tot. Doch es gelang uns, deinen Herz-Kreislauf-Rhythmus wieder herzustellen und die inneren Blutungen zu stoppen. Trotz allem war das künstliche Koma, in das du dich für 8 Tage befandest, unausweichlich.“
Zögernd nickte Kaja.
Mister Meerbott trat näher und fragte: „Du bist ja nun schon einige Stunden wach. Darf ich fragen, wie es dir inzwischen geht?“
„Schon besser.“, sagte Kaja vorsichtig.
Der Arzt schmunzelte: „Gut. Dann wäre es nun an der Zeit, einige Tests durchzuführen, um zu sehen, ob irgendwelche Folgeschäden geblieben sind.“ Jetzt sah er Kajas Vater an. „Sie können natürlich gerne warten.“
Mister Hennryksen überlegte kurz, doch schüttelte dann den Kopf: „Eigentlich ist es Zeit für mich, zu gehen.“ Entschuldigend blickte er seine Tochter an. „Ich hoffe, du bist mir nicht böse, wenn ich gehe… ich habe noch einiges zu erledigen!“
Kaja schüttelte schnell den Kopf: „Quatsch, ich bin doch froh, dass du gekommen bist. Du kannst natürlich gehen, wer weiß, wie lange die Tests dauern.“
Joshua lächelte: „Alles klar.“ Er kam noch ein letztes Mal auf seine Tochter zu und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. „Ich komme morgen wieder vorbei. Und deine Mutter sieht bestimmt später nochmal nach dir. Werd schnell wieder gesund!“, sagte er leise. Dann setzte er sich den Hut auf, trat an den Kleiderständer und warf sich seinen Mantel um.

„Mister Meerbott.“, er verabschiedete sich mit einem Händeschütteln vom Arzt, nickte Kaja noch einmal zu und verließ den Raum.
Freundlich sah Mister Meerbott zu seiner Patientin. „Dann können wir ja nun beginnen.“

 

Die Tests verliefen schneller, als Kaja es sich gedacht hatte. Es mussten lediglich einige Sprechtests durchgeführt werden. Außerdem wurde die Hand-Augen-Koordination geprüft, wobei sie die Hände zu Fäusten ballen musste, sobald man ihr den Befehl gab. Sie musste Bälle fangen und werfen.
Sie fühlte sich ein wenig wie damals im Sportunterricht, der ihr immer viel Freude bereitet hatte. Deshalb fand sie auch diese harmlosen Tests recht spaßig und umso erfreulicher war für sie das Ergebnis: Sie war komplett gesund und trug keine Folgeschäden, die durch das künstliche Koma hätten auftreten können. Trotzdem sollte sie noch einige Tage im Krankenhaus verbringen.
Als Mister Meerbott Kaja wieder zurück in ihr Zimmer führte, fiel Kaja ihre Frage von vorhin wieder ein. „Ach, entschuldigen Sie“, sagte sie schnell und der Arzt sah sie interessiert an, „Ich erinnere mich noch an einen ganze seltsamen Traum, den ich gehabt habe… ist sowas normal?“
Der Arzt lachte kurz: „Diese Frage kommt sehr oft von Leuten, die ähnliches durchgemacht haben. Mach dir keine Sorgen! Viele Koma-Patienten haben Wahnvorstellungen oder Träume. Wenn die Narkose heruntergesetzt wird und der Körper langsam wach wird, vermischt er sehr oft die Wirklichkeit mit dem Traum. So kann es also gut sein, dass du Stimmen oder Umrisse unmittelbar aus deiner Umgebung aufgenommen und in deine Vorstellungen mit eingebaut hast.“

„Ach…“, Kaja stutzte, „Das ist ja interessant!“
Mister Meerbott schmunzelte: „Ja, das stimmt. Der menschliche Körper ist einzigartig und Medizin ist etwas Großartiges. Sehr interessant. Nicht ohne Grund bin ich heute Arzt. Es fasziniert mich immer wieder aufs Neue, wie alles zusammenhängt…“ Verträumt blickte er in die Leere, doch als er merkte, dass vor ihm immer noch eine junge Dame stand, lächelte er sie kurz an und sagte: „Nun, ich muss dann wieder meiner Routinearbeit nachgehen. Ruh dich schön aus und wenn du Besuch hast, geh ruhig mal an die frische Luft, das kurbelt den Kreislauf wieder an. Aber geh’ noch nicht alleine!“
„Ja. Danke schön, Herr Doktor.“, sagte Kaja schnell und winkte kurz, als der Mann bereits zügig durch den Flur ging und noch einmal kurz zurücksah.
„Verrückt…“, murmelte sie noch und betrat wieder ihr Zimmer.


Der Rest des Tages, und Kaja wusste gar nicht, wie schnell die Zeit verging, verlief ruhig. Abends kam noch einmal ihre Mutter vorbei und sie quatschten ein wenig. Susan erzählte, dass auch Kajas sehr viel älterer Bruder Mike sie bald besuchen kommen wollte - derzeit studierte er in San Francisco.
Als die Nachtschwester das Zimmer betrat, verkündigte sie die Nachtruhe und dass die Besuchszeit längst vorbei war.
Kaja wunderte es, dass sie, obwohl sie so lange im Schlaf gelegen hatte, trotzdem so müde war. Es dauerte nicht lange, als ihre Augen auch bereits zufielen und sie in einen tiefen Schlaf sank.

 

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Es war bereits nach Mitternacht, als Kaja ein lautes Geräusch vernahm. Erst wurde sie nur kurz wach und dachte sich nichts weiter dabei, doch als sie sich umdrehte, um weiterzuschlafen, hörte sie es wieder. Ein lautes Scheppern. Dann klang es so, als ob jemand Papier zerriss und herumwirbelte.
Verwirrt setzte Kaja sich in ihrem Bett auf. Wer machte denn da so einen Lärm?
Langsam ging sie auf Zehenspitzen an die Tür, öffnete diese und streckte ihren Kopf durch den Türspalt. Auf dem Flur war keiner zu sehen. Das Licht war gedämmt und entfernt hörte sie einige Krankenschwestern lachen. Doch die Geräusche kamen nicht von hier.
Nachdenklich schloss Kaja die Tür wieder, als die Geräusche wieder lauter wurden. Sie trat ans Fenster und überflog schnell die Parkanlage. Und da sah sie es.
Eine kleine, bucklige Gestalt kauerte neben einer Parkbank. Kaja konnte die Gestalt genau erkennen, was sie selbst etwas ins Staunen brachte, da die Entfernung doch recht hoch war.
Sie blinzelte kurz, um ihren Blick zu fixieren. Das fremde Wesen lungerte auf dem Rasen und knabberte an irgendetwas, was wie eine Plastiktüte aussah. Um die Gestalt herum war Müll verteilt und der Abfalleimer lag weit vom eigentlichen Ursprungsstandpunkt entfernt. Kaja fiel auch auf, dass der Parkbank im Hintergrund zwei Beine fehlten. Der Schatten griff mit sehr dürren Armen nach einem dieser Holzbeine im Rasen und begann, die einzelnen Holzsplitter abzureißen und zu essen. „Das ist doch absurd!“, schoss es Kaja durch den Kopf. Sie schüttelte kurz den Kopf. Träumte sie etwa noch? Vielleicht hatte sie eine Halluzination, anscheinend sollte das ja mal vorkommen…
Die Gestalt hatte einen sehr seltsamen Hautton - nicht hell, nicht dunkel, sondern mehr grün-bräunlich. Sie sah wirklich krank aus und Kaja fragte sich, ob sie einen Arzt rufen sollte, als das Wesen plötzlich den Kopf hochriss und in ihr Fenster sah.

Kajas Körper erstarrte vor Schreck. Die Augen des fremden Wesens waren gelb und leuchteten bösartig hervor. Ängstlich trat Kaja einige Schritte zurück. „Was geht hier vor sich! Was ist das?!“, verzweifelt duckte sie sich, in der Hoffnung, das Wesen würde verschwunden sein, wenn sie sich wieder aufrichtete - und das war es auch.

Als Kaja wieder durch das Fenster blickte, konnte sie die Gestalt nicht mehr sehen. Sie war verschwunden. Erleichtert atmete Kaja auf.
„Mein Gott.“, flüsterte sie und musste kurz leise lachen, „Das war verdammt gruselig.“
Plötzlich vernahm sie ein höllisches Gelächter. Kaja zuckte zusammen. Das konnte doch nicht wahr sein. Sie durchforschte wieder den Park und erkannte, dass das Wesen sich immer noch in der Nähe befand. Ein weiterer Mülleimer flog durch die Luft und landete auf der Bank, auf der heute Mittag noch die zwei älteren Damen einen Plausch gehalten hatten.
Das Lachen wurde lauter. Es klang ein bisschen wie ein Kinderlachen, nur um einiges verzerrter und schräger.
Zitternd legte Kaja ihre Hände gegen das Fenster. „Ich muss Hilfe rufen!“, dachte sie, „Ich muss Hilfe rufen! Egal, ob ich oder der Verrückte da unten durchdreht - irgendwem muss geholfen werden…!“
Und mit diesem Gedanken sprang sie auch schon aus ihrem Zimmer.
„Hallo!!“, schrie sie, „Hilfe!!“
Sofort kamen zwei Krankenschwestern aus einem anderen Zimmer geeilt.
„Was ist passiert?“, fragte eine von ihnen.
„Da draußen…!“, Kaja schnappte nach Luft, „Da draußen verwüstet irgendeiner die ganze Parkanlage!“
Die zweite Schwester hielt sich besorgt die Hände vor den Mund und blickte die erste wissend an.

Die erste erwiderte den Blick, dann sah sie zu Boden. „Ja… ja, es war ja nur eine Frage der Zeit…“
Irritiert sah Kaja zwischen den beiden hin und her, bis die Schwester die andere bestimmend an der Schulter packte und ihr befahl, die Polizei zu rufen. Dann wandte sie sich wieder an Kaja: „So. Und Sie gehen jetzt wieder auf ihr Zimmer, alles klar?“
„Aber was ist denn los?!“, wollte Kaja wissen.
„Alles wird wieder gut, die Polizei wird sich in Kürze darum kümmern!“, sprach die Schwester und drängte Kaja wieder zu ihrer Zimmertür, „Bleiben Sie ganz ruhig, Sie können ungestört weiterschlafen.“ Mit diesen Worten machte die Schwester kehrt und eilte zum Treppenhaus.

Kaja schluckte schwer und öffnete ihre Zimmertür. „Das wird schon wieder…“, dachte sie und sie erinnerte sich an den Zeitungsartikel, den sie am Tage ihres Unfalles gelesen hatte, „Wahrscheinlich ist das der selbe Typ… vielleicht kriegt man ihn ja dieses Mal zu fassen…“
Stumm schloss Kaja die Tür hinter sich und wollte sich wieder in ihr Bett legen, als sie einen Schatten vor ihrem Fenster bemerkte. Sie hatte das Gefühl, als würde ihr Herz in ihre Hose rutschen.
Das Fenster war offen und auf dem Fensterbrett hockte nun die besagte Gestalt, die sie zuvor im Park beobachtet hatte. Die gelben Augen durchbohrten sie wie ein Messer.

„So…“, säuselte die Gestalt mit einer hohen, krächzenden Stimme, „Du hascht misch alsou verpfiffen, heeh?“
Kaja zitterte nun stärker, als sie jemals zuvor in ihrem Leben gezittert hatte. „W-w… wer bist du? Wa… was willst du von mir!?“, sie kreischte schon fast und wollte die Tür wieder öffnen, um der Gestalt zu entkommen, doch der Türriegel ließ sich nicht mehr nach unten drücken. „Was ist hier los?!“, fast schon weinend starrte sie wieder die Gestalt an.
Das Wesen kicherte höhnisch. „Du hascht misch beobachtet, nischt wahr?“
Kaja biss sich auf die Unterlippe und wagte es nicht, einen Ton hervorzubringen. Panisch drückte sie ihren Rücken an die Tür. „Lass mich sofort hier raus!!“, keifte sie.
„Oh, das kann isch leider nischt machen.“, säuselte die Gestalt weiter und sprang vom Fensterbrett auf den Fußboden. Erst jetzt fiel Kaja auf, dass das Wesen wirklich sehr klein war. Es humpelte kurz etwas auf zwei Beinen hin und her und stand dann auf vier Beinen, um Sicherheit zu gewinnen. Die Ohren waren seltsam spitz und lagen, fast wie bei manchen Hunderassen, seitlich an. Es hatte große Hände mit sehr langen Fingernägeln, fast schon wie Krallen, und die Zähne blinkten manchmal kurz und spitz hervor.
Das Wesen kam näher auf Kaja zu. „Weißt duu… isch habe mir schon vorhin gedacht: ‚Hey… das Mädschen da beobachtet dich! Lässt du sie gehen oder lässt du sie sterben?‘“
Die Worte des Wesens peitschten Kaja innerlich aus und sie sank langsam an der Tür hinunter.
„Erst dachte ich, dass ich dich verschonen könnte… aber du hascht mich ja weiter beobachtet!“, sagte das Wesen und plötzlich sprang es Kaja an.
Sie schrie auf, als die Gestalt sie zu Boden stürzte und sich bedrohlich auf ihrem Brustkorb hockte: „Deine Zeit endet hier…“
„Nein!!“, schrie Kaja und versuchte, das Wesen von sich zu werfen. Doch dieses war weitaus kräftiger, als es aussah. Mit einigen Hieben zerkratzte es Kajas Arme. Gequält stöhnte Kaja auf. Dann packte die Gestalt mit einer Klaue an ihre Kehle und drückte zu. „Tut mir Leid, meine Süße.“, kicherte es verstörend. Drohend hob es die zweite Klaue in die Luft. „Doch diese Krallen sehen nicht zum ersten Mal Blut!“, raunte es, als es plötzlich einen der Nägel in Kajas Brustkorb rammte.
Der Körper des Mädchens erhob sich reflexartig für einen Moment. Sie japste nach Luft.
Zufrieden richtete sich das Wesen wieder auf und betrachtete Kaja, die sich röchelnd auf die Seite legte. Zitternd versuchte sie sich mit ihren Händen auf dem Boden von dem Wesen wegzuziehen.
Die eine Hand legte sie vorsichtig auf die klaffende Wunde in ihrer Brust. Genau da, wo das Herz lag.
Die Kralle des Wesens war so lang, dass Kaja bezweifelte, dass sie noch einmal mit dem Leben davonkommen würde.  Sie hustete aus und spuckte dabei ein bisschen Blut auf den Boden.
Genervt schlich die Gestalt um Kaja herum: „Was ischt denn los, heh? … Hab isch nischt getroffen? Das passiert mir aber nischt oft…“ Fast schon enttäuscht kauerte es sich neben Kaja und sah ihr beim Sterben zu. Schmerzgequält rollte Kaja sich auf den Bauch und dann wieder auf die Seite. Ihre Augen flimmerten unruhig. Sie versuchte, sich rein auf ihre Atmung zu konzentrieren und an was schönes zu denken, denn sie wollte wenigstens dieses Mal friedlich sterben. Nach wenigen Sekunden bemerkte sie jedoch zu ihrem eigenen Erstaunen, dass der Schmerz in ihrer Brust nachließ. Sie stellte fest, dass ihre Kräfte zurückkamen. Von sich selbst beeindruckt, rollte sie sich wieder auf den Bauch und stemmte sich langsam nach oben.
Die Augen des Wesens wurden zu verängstigten kleinen Schlitzen, als Kaja wieder aufrecht stehen konnte. „Nein…“, flüsterte es langsam.
Kaja schüttelte sich kurz aus, so als hätte sie lediglich einige Dehnübungen gemacht und sah an sich herab. Die Blutung hatte nachgelassen. Doch warum? Kurz strich sie sich mit einem Finger über die Wunde. Doch die wirkte schon fast wieder verheilt. Lediglich ein kleiner Schlitz war noch zu erfühlen.
„Nein!“, fluchte das Wesen plötzlich, „Das kann nicht sein, nein!!“ Vorsichtig wich es vor Kaja zurück.
„Was?“, fragte Kaja verwirrt, „Was denn?“
Die Gestalt kroch ängstlich wieder zurück zum Fenster. „Isch gehe schon. Bitte. Verschone mich… isch … ich hatte ja keine Ahnung…!“
Sprachlos starrte Kaja das Wesen an, welches ihr noch einmal entschuldigend zunickte und dann nach draußen sprang und verschwand.
Erschöpft sank Kaja auf ihr Bett. „Was war denn das…“ Ihre Atmung war noch sehr laut und schnell. Kaja versuchte, sich zu beruhigen und lauschte angestrengt. Das Wesen schien wirklich verschwunden zu sein, denn sie konnte es nicht mehr hören. Sie hörte lediglich den Wind durch die Blätter der Bäume huschen. Manchmal krächzte ein Rabe. Die grauenvolle Situation war vorbei, der Schrecken vorüber. Der Friede war zurückgekehrt. Kaja seufzte erleichtert, als ein Rabe sich auf ihre Fensterbank setzte.

Kaja lächelte das Tier an: „Oh, hallo, du!“ Der Rabe legte den Kopf schief, als wollte er den Gruß zurückgeben. Das Mädchen musste lachen. „Du bist ja süß… aber was willst du denn von mir?“, fragte sie neugierig.
Der Rabe krächzte sie an. Kaja runzelte die Stirn. „Was ist denn? … Komischer Vogel.“, sie schüttelte den Kopf. Warum passierten so viele seltsame Dinge? Sie hatte ja noch nicht einmal Zeit, den Schock von gerade zu verarbeiten und jetzt saß hier dieser Rabe und wollte nicht mehr verschwinden.
Erneut schnarrte der Rabe. Und wieder. Und wieder.
„Ey!“, keifte Kaja ihn an, sodass der Rabe auf der Bank einen Satz nach hinten sprang, „Verschwinde endlich, ich will einfach nur noch schlafen!“ Wütend erhob sie sich, um den Raben nach draußen zu scheuchen und das Fenster zu schließen. Ruckartig blieb sie stehen und sah aus dem Fenster.
Raben. Hunderte von Raben hockten in den Bäumen, auf den Wiesen und auf den Bänken. Sie krächzten und schnarrten laut, als Kaja ans Fenster trat. Verwirrt betrachtete Kaja die rabenübersähte Landschaft. Der Rabe, der immer noch auf der Fensterbank saß, sprang kurz in die Luft und setzte sich auf ihre Schulter. Freudig schnarrte er ihr ins Ohr. „Was soll das!“, schrie sie aufgebracht und scheuchte den Raben weg, „Geht weg! Haut ab, ich kann nicht mehr!!“

Kapitel 3

Mit einem lauten Atemzug wachte Kaja auf. Vor ihr zeigten sich die Umrisse eines Mädchens, die sich nach wenigen Sekunden als Sasha entpuppte. 

„Kai!“, erfreut sprang Sasha von der Bettkante auf und fiel ihrer Freundin um den Hals, „Du bist wach!“
Kaja erwiderte schwach die Umarmung: „Hey, Sasha!“ Sanft lächelnd begutachtete sie ihre Freundin.
Sasha war in ihrem Alter, einige Monate jünger, etwas größer als sie und hatte hellbraune, mittellange Locken, die ihr Gesicht charmant umspielten. Ihre Nase war klein und spitz und sie hatte wunderschöne grüne Augen. Sasha lächelte zufrieden, während sie sich auf der Bettkante wieder zurücklehnte: „Ich habe schon eine Ewigkeit hier gesessen und gewartet… aber ich wollte dich nicht stören, also habe ich dich nicht geweckt.“
Langsam strich sich Kaja über die Stelle, wo sie gestern noch stark geblutet hatte. Die Wunde war weg.„Das hättest du ruhig machen können.“, murmelte Kaja, setzte sich auf und sah sich um. Keinerlei Spuren von gestern Nacht. Ob sie das alles doch nur geträumt hatte?

„Nein, nein. Der Arzt meinte, ich sollte dich ruhen lassen.“, meinte Sasha fröhlich, „Aber, Kai…“ Ihr Blick wurde finster: „Du hast ganz schön komische Geräusche im Schlaf gemacht.“
Kaja hob eine Augenbraue.
„So richtig komisch gekrächzt hast du.“, fuhr Sasha düster fort, „War ein bisschen gruselig.“

Dann fiel das Mädchen in Gelächter. „Mein Gott, aber die Hauptsache ist ja, dass du gut schlafen konntest!“
Kaja stöhnte genervt. „Also von gutem Schlaf kann jetzt auch nicht die Rede sein…“, erschöpft grinste sie ihre Freundin an.

Sasha legte den Kopf schief: „Ach? Hattest du etwa Albträume?“

„Und wie.“, Kaja erhob sich aus dem Bett, „Ich glaub, ich muss erstmal was an die frische Luft… magst du mitkommen?“

Freudig erregt sprang Sasha auf: „Na klar! Nach 8 Tagen Dauersorge mache ich alles mit dir!“
Kaja errötete etwas und schloss Sasha noch einmal in eine feste Umarmung. „Ich bin wirklich heilfroh, dass du wohlauf bist!“, seufzte Sasha zufrieden, und auch Kaja musste lächeln. „Na komm!“, Sasha grinste, „Du hast mir sicherlich einiges zu erzählen.“ 

 

Graue Wolken bedeckten den Morgenhimmel. Nur ganz selten konnte sich ein Sonnenstrahl durch sie hindurch stehlen. Ein leichter Wind wehte und es war noch recht frisch. Kaja hatte eine leichte Jacke übergezogen, die ihre Mutter ihr gestern noch vorbei gebracht hatte und schlenderte mit Sasha durch das Treppenhaus Richtung Rezeption.
Sasha quatschte derweil von den Ereignissen der letzten Tage. Natürlich hatte Sasha selbst nicht zu viel vom Leben mitbekommen, denn auch sie hatte die meiste Zeit besorgt neben Kajas Bett gesessen und gehofft, dass alles gut gehen wird. Sie strahlte ihre Freundin immer wieder zufrieden an. Richtig erleichtert sah sie aus, als wäre sie gerade frisch aus dem Urlaub zurückgekehrt.

Sie umgingen das Gebäude auf dem kleinen Weg, der direkt in den Park hinter dem Krankenhaus führen sollte.
Kaja blieb kurz stehen. Ein Schauder rannte ihr über den Rücken, als ihr das Erlebnis von gestern Nacht wieder durch den Kopf schoss.

„Kai?“, Sasha sah sie verwundert an, „Ist alles in Ordnung? Wird dir schwindelig?“ Besorgt trat Sasha näher und legte ihr eine Hand auf die Schulter.

In dem Moment fühlte sich Kaja richtig mies. Alle machten sich Sorgen um ihren Gesundheit, obwohl Kaja sich eher um ihren Geisteszustand sorgte. Verlegen räusperte sie sich: „Ich muss dich da mal was fragen.“
Sasha nickte neugierig, während sie wieder den Pfad entlang wanderten.
„Bevor ich diesen Unfall hatte“, begann Kaja, „habe ich was in der Zeitung gesehen. Ich habe von einer Gestalt gelesen, die Parkanlagen verwüstet hatte. Gab es darüber noch einmal einen Artikel?“

Während Kaja sprach, musterte sie streng die Landschaft. Gestern Abend war die Polizei hier gewesen und hatte den Park durchsucht. Kaja hatte sie gehört. Sie erinnerte sich daran, wie sie wach geworden ist und die Polizisten gehört hatte. Mit Taschenlampen haben sie nach der unheimlichen Gestalt gesucht. Danach war Kaja wieder ins Bett gefallen. Der meiste Müll wurde scheinbar bereits entfernt.

„Dieser komische Typ…?“, Sasha musste kurz lachen, doch dann verfinsterte sich ihr Gesicht, „Ja, tatsächlich gab es über den noch ein paar Artikel. Zwei oder drei… zumindest tauchten immer mal wieder Artikel auf, die von Verwüstung und Zerstörung sprachen. Auch, wenn der Kerl nicht gesichtet wurde, stand er stark im Verdacht, dafür verantwortlich zu sein. Aber wieso… wieso interessiert dich das?“

Plötzlich stockte Kajas Atem und sie und hielt ihre Freundin fest. „Sieh doch!“

Vor ihnen im Schatten des Baumes lag eine zerstörte Holzbank. In der Mitte der Bank war das Holz rissig und kaputt, ihr fehlten drei Beine, die nicht mehr auffindbar waren. Um sie herum lag Müll. Konservendosen, leere Plastikflaschen und Glasscheiben, von Flüssigkeiten vollgesaugte Tüten und Verpackungen.

 

„Ach du Schreck!“, Sasha schrak auf, „Was ist denn hier passiert?“ Auf einmal bekam sie einen sehr wissenden Blick und sah Kaja an. „Deswegen also die Fragerei! Der Kerl war hier, oder nicht?“

Kaja nickte schnell. Sie hatte es sich nicht eingebildet, das Wesen war auf jeden Fall im Park gewesen. Doch hatte es sie auch in ihrem Zimmer angegriffen? Kurz überlegte sie, Sasha von dem Wesen in ihrem Zimmer zu erzählen, doch sie wagte es nicht, ihrer Freundin davon zu berichten.

„Man munkelt ja, dass die Gestalt mystische Kräfte hat.“, setzte Sasha fort, „Einmal hat man ihn noch gesehen, da hat er auch ganz gruselig ausgesehen. Mit gelben Augen, die geleuchtet haben.“
Sasha erschauderte kurz. Dann sagte sie: „Eins ist klar, ich will dem Ding nicht über den Weg laufen… auch wenn er ja scheinbar nur Sachen zerstört, und keine Menschen angreift. Bisher…“
Aufgesetzt kicherte Kaja kurz: „Ja… ja, ein Glück…“ Ihr Blick wurde düster.

„Wir nennen ihn inzwischen alle ‚den Dreckigen‘.“, Sasha blickte ins Leere, „Der dreckige Nachtalb. Nachtschrecken. Dreckschrecken.“ Sie schüttelte den Kopf.
Stumm betrachtete Kaja die zerstörte Bank. „Hast du den Kerl gesehen?!“, wollte Sasha dann aufgeregt wissen.

Zögernd nickte Kaja: „Ja, ich hab ihn vom Fenster aus sehen können.“
Sasha schüttelte sich, während sie gleichzeitig euphorisch quietschte: „Oh mein Gott!! Ist der wirklich so ekelig und gruselig, wie man immer sagt?“

Kaja verstand die Euphorie ihrer Freundin nicht, während sie leise murmelte: „Viel schlimmer…“

Der Vormittag verging für Kaja wie im Fluge. Sasha wollte jede Einzelheit des gestrigen Abends wissen und Kaja beschränkte sich auf das Wesentliche. Sie erwähnte nicht, dass der Dreckige in ihrem Zimmer gewesen war, aus Angst, Sasha würde ihr nicht glauben. Kaja war sich ja nicht einmal selber sicher, ob sie nicht nur Halluzinationen gehabt hat. Vielleicht hat sie Wirklichkeit mit Traum vermischt, so, wie der Arzt es ihr erklärt hat. Auch die Raben hielt Kaja für einen Traum, denn sie konnte sich nicht erinnern, danach wieder ins Bett gegangen zu sein, doch plötzlich ist sie im Bett wach geworden. Sie erzählte Sasha jedoch von ihrem Koma-Traum, von dem weißen Raum und von Collin. „Sehr gruselig“ fand Sasha das ganze.

Nach einigen Stunden mussten sie sich mit einer großen Umarmung verabschieden. Sasha hatte sich extra für Kaja frei genommen, doch morgen musste sie wieder ihrem gewohnten Arbeitstag nachgehen. Trotzdem versprach sie, am morgigen Abend noch einmal vorbeizuschauen.

Als Kaja wieder in ihrem Zimmer stand, ging sie kurz ins Bad und sah in den Spiegel. Sie hob ihr T-Shirt hoch, um nach der Wunde zu sehen. Nicht einmal eine Narbe war zu erkennen.
Erschöpft und verwirrt ließ sie sich wieder in ihr Bett fallen. Keine Blutspuren. Keine Narbe. Sie musste es geträumt haben.

Zu Kajas Zufriedenheit ging der Tag einigermaßen schnell rum. Zwischenzeitig kamen ihre Mutter und ihr Vater vorbei. Etwas später erschien sogar Stuart, mit dem sie sich mehrere Stunden unterhielt. Anscheinend hatte er inzwischen auch von der Verwüstung gestern Nacht mitbekommen. Der Dreckige wurde immer noch nicht erwischt. Die Ärzte sahen regelmäßig nach ihr und waren zufrieden mit ihrer vergleichsweise raschen Genesung. 

„Donnerwetter.“, staunte Mister Meerbott, „Du bist aber schnell wieder wohlauf. Mit etwas Glück kannst du ja bald schon nach Hause.“


Abends wurde Kaja jedoch ganz anders ums Herz. Kerzengerade saß sie in ihrem Bett und starrte aus dem offenen Fenster. Ein komisches Gefühl beschlich sie. Tatsächlich musste sie sich eingestehen, dass sie etwas Angst vor dem Einschlafen hatte. Sie hatte Angst vor den Träumen, die sie vielleicht erwarteten.
Es war Vollmond und die weiße Scheibe am Himmel leuchtete hell in ihr Zimmer hinein. Sie betrachtete den Mond noch eine ganze Weile und fühlte sich magisch angezogen.
Verträumt bewunderte sie ihn, als ein Krächzen sie aus ihren Gedanken riss. Erschrocken zuckte sie zusammen und stellte fest, dass erneut ein Rabe auf ihrem Fensterbrett Platz genommen hatte.

„Oh nein!“, verkündete sie laut, „Nicht noch einmal.“ Bestimmend legte sie sich sofort in ihr Bett und schloss krampfhaft die Augen.

„Nicht mit mir!“, sprach sie weiter. Doch der Rabe schien nicht zu verschwinden. Stattdessen schnarrte er sie noch einmal an.

Frustriert drehte Kaja sich mit dem Rücken zu ihm und drückte sich ihr Kissen um die Ohren. „Einschlafen.“, dachte sie immer wieder, „Einfach nur einschlafen! Vielleicht schläfst du ja schon! Wer weiß.“
Gedämpft konnte sie manchmal noch ein Krächzen wahrnehmen. Als sie das Gefühl hatte, der Rabe wäre verschwunden, öffnete sie die Augen. Das starke Mondlicht warf einen markanten Schatten des Fensters auf die Wand vor ihr. Auf dem Fensterbrett befand sich immer noch der Rabe. Sie seufzte genervt, als sich der Rabe plötzlich veränderte. Ihre Augen weiteten sich, als der Schatten des Vogels in eine menschenartige Gestalt wuchs.

„Ich träume.“, dachte Kaja und sie erinnerte sich daran, dass man im Traum nicht sterben kann. Sie könnte sich einfach umbringen, um diesem Traum zu entkommen.

Entschlossen richtete sie sich wieder auf und erst jetzt konnte sie die fremden Gestalt auf ihrem Fensterbrett komplett sehen. Ihr stockte der Atem, als die Person vom Fensterbrett stieg und an ihr Bett trat. Ein menschenartiger, langer und sehr schmaler Körper war in einen schwarzen Mantel gehüllt, der bis zum Boden ragte. Eine Kapuze verhüllte das Gesicht der Person komplett. Die Ärmel des Mantels wirkten viel zu lang, sodass man die Hände gar nicht richtig sehen konnte, doch in einer Hand hielt die Gestalt eine große und schwer wirkende Sense.

Mit einer sanften, jedoch düsteren Stimme begrüßte die Gestalt das Mädchen: „Hallo, Katharina.“

Fassungslos starrte Kaja die Gestalt an. Sie wollte etwas sagen, doch sie konnte keine Worte finden. Sie war regelrecht sprachlos.

„Du musst keine Angst haben.“, sagte die Gestalt, „Ich bin kein Sensenmann, falls du das denkst.“

Verärgert sprang Kaja vom Bett auf, genau vor die fremde Person. „Ich habe kein Interesse an dir oder deiner beschissenen Sense. Gib mir das Teil!“ Wütend versuchte sie, dem Fremden die Waffe aus der Hand zu reißen, um sich selbst damit zu erstechen. Doch als ihr Blick auf dessen Hand fiel, kamen lediglich Knochen kamen zum Vorschein. Der Fremde bestand nicht mehr aus Fleisch und Blut. Die Skeletthand schockierte Kaja so sehr, dass sie ruckartig zurück gegen ihr Bett stolperte.

„Aber Katharina!“, fast schon ermahnend schlug die Gestalt mit dem stumpfen Ende der Sense auf den Boden, „Was ist in dich gefahren!“
Hastig schüttelte Kaja den Kopf, in der Hoffnung, sie könnte sich selbst zu Vernunft bringen. Doch der Fremde verschwand nicht.

„Das ist ein Traum!“, sie richtete sich wieder auf, „Töte mich! Na los! Bitte, ich dreh sonst komplett durch!!“

Die Gestalt schwieg kurz, dann schüttelte sie langsam den Kopf: „Ich muss dich enttäuschen, aber dies ist kein Traum.“

Aggressiv schrie sie das Wesen an: „Woher kennst du dann meinen Namen?! Was soll das hier, wer bist du, woher kommst du, was willst du…“

„Pssht…!“, die Gestalt hielt einen knochigen Zeigefinger vor das Gesicht, welches immer noch in Schatten gehüllt war, „Ganz ruhig. Mein Name ist Naphanel und ich werde dir alles erklären.“ Freundlich hielt Naphanel ihr seine freie Hand hin.

Kaja zögerte und betrachtete die Knochenhand eine Weile. Ihr schien das alles sehr fragwürdig. Naphanel sah aus wie der Tod persönlich. Er schien zwar nicht unfreundlich, doch wollte sie wirklich mit ihm mitgehen?

Naphanel schien ihre Gedanken lesen zu können, denn nach einer kurzen Weile fuhr er fort: „Katharina, du siehst mich gerade nicht ohne Grund hier in deinem Zimmer stehen. Gestern bist du auf einen Dämonen gestoßen. Du erinnerst dich sicherlich.“

Schwer schluckend nickte Kaja.

„Er hat dich angegriffen und du hast überlebt.“, stellte Naphanel dann fest.

„A-aber… aber die Spuren. Sie sind weg! Ich…“, Kaja legte verzweifelt die Hände vor ihr Gesicht, als wolle sie jeden Moment zu weinen beginnen.

„Wenn du wirklich alles verstehen möchtest, musst du mir nun folgen.“, sprach Naphanel und Kaja hatte den Eindruck, als würde er sie anlächeln. Er hielt ihr wieder seinen Arm hin und nickte auffordernd.

Kaja war sich nicht sicher, in welche Gefahren sie sich begeben könnte, wenn sie dem Fremden trauen würde. Doch er schien zu wissen, was mit ihr passiert. Und wenn sie tatsächlich noch in einem Traum hing, dann konnte ihr im Grunde ja auch nichts passieren.
Sie gab sich einen Ruck und nahm Naphanels Hand.

„Keine Sorge.“, versuchte er sie zu beruhigen, „Du bist bei mir in sicheren Händen. Denn ich habe vor langer Zeit genau das selbe durchgemacht.“

Kapitel 4

Naphanels Hand war eisig. Die harten Knochen waren alles andere als angenehm, musste Kaja beklommen feststellen, als sie seine Hand umfasste. Dies wäre der seltsamste Freund, den sie sich vorstellen konnte: ‚Mutter, Vater, dies ist mein neuer Freund. Naphanel. Er hat übrigens keine Haut.‘

Das offene Fenster war im dritten Stockwerk und als Naphanel das Mädchen vorsichtig nach oben auf das Fensterbrett hob und Kaja nach unten starrte, wurde ihr ganz mulmig.
Konnte sie diesem Wesen tatsächlich trauen? Plötzlich bekam sie es mit der Angst zu tun und verlor ein wenig das Gleichgewicht. Schnell umklammerte Naphanel ihre Schultern und hielt sie feste, damit sie nicht hinunterfiel.

„Naphanel, was bist du eigentlich?“, fragte Kaja vorsichtig, als er sie sicher zum Stand brachte.

Schien er zu lächeln? Kaja war sich nicht sicher, doch der Fremde versprühte plötzlich eine ganz sanfte Energie. Ihr Herz wurde ganz warm, als er sie so ansah.

Leise seufzte er. „Ich bin genau wie du.“, sagte er schließlich. Mit diesen Worten umschlang er sie in eine tiefe Umarmung. Er presste ihren Kopf an seinen Oberkörper, tief in seinen schwarzen Umhang  hinein, sodass sie nichts mehr sehen konnte. Verzweifelt versuchte sie, seinem Griff zu entkommen, als sie merkte, wie der Boden unter ihren Füßen weggerissen wurde.
Kaja versuchte zu kreischen, doch ihr Schrei wurde in dem Stoff des Mantels erstickt. Verschiedene Geräusche drangen an ihr Ohr. Ein schneller Wind, ein Rauschen. Zischen und Dröhnen.

Dann war es still. Erst als Naphanel sie wieder losließ, bemerkte sie, dass sie sich wieder auf sicherem Boden befanden. Doch als sie vorsichtig von ihm wegtrat, bemerkte sie ein riesiges, schwarzes Flügelpaar, das auf einmal aus seinem Rücken weit über seinen Kopf hinausragte.

„W-Wow!!“, schrie sie verblüfft und schlug sich augenblicklich die Hände vor den Mund. Verdattert zeigte sie auf den geflügelten Mann. „Wa… wie kommen die dahin?!“, fragte sie ganz zittrig und plötzlich erschien ihr die Frage sehr blöd. Warum wunderte sie überhaupt noch irgendetwas?
Als ob Naphanel Gedanken lesen könnte, entgegnete er wohlwissend: „Warum wundert es dich denn noch?“
Kaja stutzte. Dann musste sie lächeln: „Ich hatte echt gedacht, du hättest mich fallen gelassen…!“
Enttäuscht schüttelte er den Kopf. „Nein, nein… Katharina, wir sind uns sehr ähnlich, du und ich.“
Kaja hörte ihm gar nicht zu. Stattdessen sah sie sich hastig um und erkannte, dass sie nicht mehr in der Nähe des Krankenhauses war. Tatsächlich schien sie nicht einmal annähernd in ihrer Heimat zu sein. Die Sonne schien vom klaren Himmel herab und sie befanden sich auf einer hellen, grünen Wiese mit langen Halmen und verschiedenen Blumen. Ein gewaltiger Baum, ganz in ihrer Nähe, warf einen weiten Schatten über das Feld. Ihr Blick wanderte weiter. Die Landschaft bestand aus verschiedenen Hügeln mit zahlreichen Korn- und Wiesenfeldern und erinnerte Kaja stark an mehrere Träume, die sie irgendwann mal gehabt hatte. Ganz aufgeregt fragte sie Naphanel: „Bist du ein Engel?!“

Er schüttelte wieder den Kopf: „Nein, ich bin kein Engel.“

„Aber… aber die Flügel!“, fast freudig ging sie einmal um Naphanel herum, „Was für wunderschöne Flügel…“

Verzaubert begutachtete sie die schwarzen Federn, die auf seinem Rücken die Sonne reflektierten und wunderbar glänzten. „Rabenfedern.“, musste Kaja feststellen und ihre Hand strich sanft über einen seiner Flügel.

Naphanel wich zurück und sah sie abwartend an. „Hier sieht es aus wie in einem wunderschönen Gemälde.“, Kaja errötete, als sie wieder in die Ferne sah und ihr ein sanftes Lächeln über die Lippen huschte. Ihr schienen plötzlich die ganzen Umstände der letzten Tage egal zu sein. Sie fühlte sich wohl und sicher. Am liebsten wäre sie für immer hier geblieben, doch als Naphanel sich räusperte, kehrte sie in die Realität zurück. Ihr Blick wurde finster. „Gut, ich bin hier. Nun erzähl mir endlich, was du bist und woher du kommst.“

 

„Im Grunde komme ich aus London.“, erinnerte sich Naphanel, „Mich zeichnete schon immer eine große Abneigung gegen die Menschheit aus… etwas, was dir vielleicht bekannt vorkommen wird. Ich habe sie so gehasst… wie sie sich belügen, wie sie sich alle etwas vorheuchelten. Diese Doppelmoral! Ich habe mich so oft alleine gefühlt.“ Fast schon angeekelt wandte er sich mit dem Blick von ihr ab. Für einen Moment starrte sein in Schatten gehülltes Gesicht ins Leere. Nach einer kurzen Weile fuhr er fort: „Ich hatte damals eine schwere Herzkrankheit und schon im frühen Alter habe ich viele Operationen mitmachen müssen. Teilweise verbrachte ich halbe Jahre im Krankenhaus… Die ersten paar Wochen besuchte man mich noch. Nach einem Monat ließ man mich von guten Freunden grüßen. Nach ein, zwei weiteren Monaten kam niemand mehr. An Feiertagen vielleicht eine Karte…“

Kaja schwieg.

„Manchmal, wenn ich die Kraft dazu hatte, war ich spazieren und sah dem Treiben auf den Straßen zu. Ich konnte Stunden auf einer einzigen Parkbank sitzen und den Menschen zusehen. Doch vieles von dem, was ich sah, gefiel mir nicht. Manchmal schämte ich mich so sehr dafür, ein Mensch zu sein.“, Naphanel seufzte leise. Das Mädchen nickte stumm. Dieses Gefühl kannte sie zu gut.

„Und als man mir sagte, ich hätte das Schlimmste überstanden und könnte endlich zu leben beginnen, habe ich es übertrieben. An meiner Lebensenergie wäre ich fast gestorben.“, erwähnte er dann und er stütze sich in Erinnerungen schwelgend gegen seine Waffe, „Doch die Ärzte konnten mich wiederbeleben. Als man mich zurückholte, war ich  jedoch weder Mensch, noch tot.“

„Also bist du doch ein Engel?“, Kaja legte verwirrt den Kopf schief.

„Nein… nein, leider nicht… jedenfalls nicht vollständig.“, traurig sah er zu Boden.

Langsam kam Kaja auf ihn zu. „Nicht vollständig…?“

„Erinnerst du dich noch an den endlosen Tunnel?“, ohne zu antworten sah er Kaja fragend an.

Kaja musste kurz überlegen, doch dann erinnerte sie sich an ihren seltsamen Traum vom weißen Raum und dem Sturz in das ewige schwarze Nichts. Stumm nickte sie.

„Dort war ich auch vor langer, langer Zeit. Weißt du, wenn der menschliche Körper sich zwischen Leben und Tod befindet, kann er dort landen. Aber nicht jeder landet im endlosen Tunnel. Doch diejenigen, die es tun, so wie du und ich, werden vor ein Orakel gestellt. Dieses besteht aus mächtigen Göttern. Einige von ihnen sind liebevolle, gute Wesen… andere sind wiederum sehr böse. Die Götter streiten sich um die Körper, die in jenen Tunnel geraten. Sie wollen diese Seelen für sich gewinnen. Normalerweise wird ein Körper dann entweder zu der einen, oder der anderen Seite gerissen - das ist abhängig davon, wie stark die Mächte der jeweiligen Götter gerade spielen. Aber sowohl die dunklen, als auch die hellen Götter versuchen, dem schwachen, willenlosen Körper ihre Kräfte zu verleihen und so zu einem ihrer Anhänger zu machen. Die Seite, die dem Körper ihre Kräfte schneller und stärker verleihen kann, gewinnt die Seele, sodass sich die andere beugen und den Vorgang abbrechen muss. Allerdings…“, Naphanel sah auf, „Allerdings gibt es seltene Situationen, in denen ein Körper wieder in das Leben zurückgerufen wird, so wie bei uns beiden. Wenn der Mensch erfolgreich wiederbelebt wird, gewinnt er teils die Kräfte der dunklen, teils auch die Kräfte der hellen Götter. Dadurch, dass keine der beiden Seiten den Menschen gewinnt, behält er trotzdem die ihm bereits gegebenen Kräfte. Er wird teils Engel, teils Dämon. Und teils verbleibt er als Mensch. Verstehst du?“

Kaja runzelte die Stirn. Sie war sich nicht sicher, ob sie wirklich verstand, was Naphanel ihr zu vermitteln versuchte.
Naphanel sah ihr die Verwirrung an und erklärte weiter: „Du bist alles und gleichzeitig nichts. Teils bist du ein Engel, teils ein Dämon… teils ein Mensch. Wesen wie uns nennt man hier Zwischenwesen.“

 

Eine Gänsehaut huschte über Kajas Rücken. Zwischenwesen. Sie versuchte, etwas zu sagen, doch die Überflutung an Informationen raubte ihr die Sprache.

Naphanels Blick ging wieder zu Boden: „Um das alles genauer zu verstehen, musst du wissen, was nach dem Tod mit den meisten Menschen geschieht… zur Zeit befinden wir uns im Jenseits. Jeder Tote endet hier. Wenn wir gleich weiter vorangehen wirst du Menschen erkennen, die hier ganz normal leben können. Sie haben alle nicht viel, doch sie leben in einer einzigartigen Harmonie. Jedem Menschen gehört eine kleine Hütte und man teilt sich die Felder mit den anderen. Wie Bauern leben sie. Sie sähen, sie ernten. Sie kochen. Sie pflegen Tiere. Ganz einfach.“

Verachtend schnaubte Kaja kurz auf. „Das haben Menschen doch gar nicht verdient!“, kam es aus ihr heraus und kurz dachte sie, sie wäre vielleicht zu vorlaut gewesen. Doch Naphanel nickte zustimmend: „Dieser Meinung war ich auch… doch hier können Menschen endlich zufrieden zusammen leben. Menschen, die jedoch im endlosen Tunnel waren und von der dunklen Seite geholt worden sind, enden auf der anderen Seite.“ Einer seiner langen, knochigen Zeigefinger zeigte weit über die Felder hinaus.
Kaja blinzelte kurz. Über einem weit entfernten Hügel verdüsterte sich der Himmel ein kleines bisschen.

„Dort“, fuhr Naphanel fort, „befindet sich das dämonische Reich. Alles Übel entspringt an diesem Ort. Auch solche Wesen, wie das, was du gestern im Park gesehen hast, leben da. Das war ein Goblin. Ein ganz harmloses Ding, eigentlich… Goblins wollen nur Unruhe stiften und andere Wesen verärgern.“

„Harmlos?!“, fuhr Kaja ihn fast an, „Das Viech ist mir ja sofort an die Kehle gesprungen!“

Naphanel nickte weise: „Im Vergleich zu dem Rest der Brut ist ein Goblin sehr harmlos.“

 

Schwerschluckend starrte Kaja auf den dunklen Bereich des Himmels. Um sich nicht zu schlimme Vorstellungen von der düsteren Seite zu machen, fragte sie stotternd: „Und… und was ist mit den Menschen, die im endlosen Tunnel auf die andere Seite gezogen werden?“

„Die landen hier.“, Naphanel lächelte - zumindest wirkte er so, „Aber nicht als normale Menschengestalt. Sie werden zu Engeln. Und sie landen auch nicht hier, wo wir jetzt gerade stehen. Nein, nein. Die Engel haben ihr Schloss ein Stück entfernt von dieser Gegend. Sie bewachen die Menschen und versuchen, den Frieden im Jenseits zu bewahren. Beide Seiten haben auch einen Anführer, einen König. Diese wirst du schnell genug kennenlernen…

Vor Jahrzehnten gab es auch eine Tafel der Zwischenwesen. Zwischenwesen sind sehr mächtig, musst du wissen. Denn sie besitzen sowohl dämonische- als auch engelsgleiche Fähigkeiten. Sie können in der Welt der Lebenden herumreisen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen, da sie sich menschlich verhalten können. Und sie können nicht sterben, anders als Dämonen oder Engel.“

„Engel können sterben?“, Kaja stockte der Atem. In ihrer Vorstellung waren Engel immer die mächtigsten Wesen im Universum gewesen.

Ohne zu antworten sagte Naphanel: „Zwischenwesen sind dadurch, dass sie weder gut noch schlecht sind, eigentlich unabhängig, doch vor Generationen schlossen sie sich alle zu einer Einheit zusammen, um die Welt im Gleichgewicht zu halten. Manchmal erschraken sie vor ihrer eignen Kraft und obwohl ihr Hass auf Menschen gewaltig war, versuchten sie stets zwischen der dunklen und der hellen Seite zu vermitteln. Jahrzehnte lang lebte das Jenseits in Harmonie mit der Welt. Keine Kriege zwischen Engeln und Dämonen. Doch dann kam der dunkle Lord, ein fremder Dämon, den man zuvor nie beachtet hatte. Er erschlug den Dämonenkönig und gewann das Oberhaupt. Seit jeher ist das Reich düsterer als je zuvor. Er wollte die Zwischenwesen auf seine Seite ziehen, doch als sie seiner Verführung widerstanden, wuchs sein Zorn. Er erschuf etwas, was keiner zuvor jemals gesehen hatte… er erschuf einen Gott, dessen Brut gezielt die Zwischenwesen verfolgte und verschlang. Die Kinder dieses Gottes nannten sie die Ameriten. Nach wenigen Wochen war die Tafel der Zwischenwesen ausgerottet, nur wenige konnten diesen unheimlichen Wesen entkommen. Mittlerweile vermuten die Engel, dass ich eventuell der einzige bin, der von der Tafel der Zwischenwesen noch übrig ist…“

Naphanels Knochenhand umklammerte schwächlich seinen Sensengriff. „Doch dann kamst du!“, er fasste sich wieder und betrachtete sie warmherzig, „Eines der letzten Zwischenwesen.“

Kaja versuchte zu lächeln, doch es gelang ihr nicht.

 

Abwartend sah Naphanel sie an: „Hast du Fragen?“

Verdattert musste Kaja losprusten. „Fragen!“, wiederholte sie spöttisch, „Ob ich Fragen hätte…“ Wie eine Wahnsinnige ging sie über der Wiese auf und ab und streckte die Arme aus. „Du erzählst mir minutenlang etwas vollkommen krankes und nun soll ich dir Fragen stellen… wo sind wir hier, in der Fahrschule?!“

„Die Fahrschule war für dich also etwas vollkommen krankes?“, Naphanels Ton verfinsterte sich.

Kaja stöhnte genervt auf. „Ich bin einfach nur… überfordert.“, erschöpft sank sie ins Gras und starrte ins Leere.

„Das verstehe ich.“, sagte Naphanel geduldig, „Deswegen gebe ich dir jetzt auch Zeit, das ganze zu verarbeiten.“ Er stellte sich behutsam neben sie und folgte ihrem Blick.

Eine Weile genossen sie die Ruhe und beobachteten, wie der Wind durch die Grashalme fuhr und Pusteblumen zerstreute.

„Also…“, begann Kaja plötzlich, „Bin ich unsterblich?“

„Ja.“

„Ich bin teils Dämon, teils Engel.“

„Ja.“

„Hab ich überhaupt irgendwelche Schwächen?“

„Oh ja.“

„Welche?“

„Diese gilt es herauszufinden. Doch in erster Linie ist deine Zerrissenheit deine Schwäche. Deine ständige Spaltung zwischen gut und böse. Dein menschliches Herz ist deine Schwäche.“, Naphanels Blick wandte sich gen Himmel, „Man kann sich nicht auf dich verlassen.“

„Hey!“, verärgert sah Kaja ihn an, „Das ist verletzend… auf mich kann man sich sehr wohl verlassen!“

Naphanel schwieg und Kaja überlegte weiter: „… Kann ich fliegen?“

„Wenn ich es dir beibringe, ja.“

„Was wirst du mir denn alles beibringen?“

„Katharina…“, begann Naphanel, doch Kaja winkte ab. „Du darfst mich Kaja nennen.“, lächelte sie ihn an.

Naphanel nickte langsam. „Nun…“, setzte er wieder an, „Kaja. Die Zeiten haben sich geändert. Die Tafelrunde der Zwischenwesen existiert nicht mehr, die Ameriten sind verschwunden und Dämonen haben längst aufgegeben, mich in ihren Bann zu ziehen. Doch mit dem dunklen Lord an der Front der dämonischen Brut musste ich mich entscheiden, zu wem ich gehören will und ich entschied mich für die Engel. Der Gedanke, die Menschheit zu beschützen, widerstrebte mir zwar lange, doch mittlerweile… ich weiß nicht, vielleicht haben die Engel mich mit ihrer Fürsorge angesteckt, doch ich weiß, dass ich bei ihnen richtig aufgehoben bin. Du musst diese Entscheidung auch bald treffen, denn die Dämonen wissen bereits von deiner Existenz. Sie werden versuchen, dich zu umgarnen und für sich zu gewinnen.“

„Du versuchst doch auch gerade, mich für dich zu gewinnen!“, entgegnete Kaja frech.

Ohne sie anzusehen schüttelte Naphanel den Kopf: „Ich will dich nicht für mich gewinnen. Du musst diese Entscheidung selber treffen. Doch solltest du dich tatsächlich für die andere Seite entscheiden, werde ich dich nicht trainieren. Unsere Wege werden sich trennen und nur noch auf dem Schlachtfeld wieder kreuzen.“

Kaja wandte den Blick ab. „Das will ich nicht.“, sagte sie fest, denn so langsam wurde ihr der unheimlich erscheinende Mann immer sympathischer. Sie fühlte sich schon viel wohler bei ihm.

Naphanel wandte sich zum gehen. „Wie ich bereits sagte.“, raunte er noch, „Du musst dich entscheiden. Was willst du sein? Ein Beschützer oder ein Mörder? Werden dich deine Gefühle zerfressen oder wirst du irgendwann keine mehr besitzen?“

 

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Tag der Veröffentlichung: 03.08.2015

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