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Titel

Alterserscheinungen

Mein Reisetagebuch in den (Un)ruhestand

 

 

Eine kurzweilige Wegbeschreibung

 

Roland Blümel

Alterserscheinungen

 

 

Alt werden ist wie Weihnachten. Es schleicht sich lange Zeit unbemerkt an und plötzlich ist es da. Man denkt: Jetzt schon? So geht es dem Autor eines Tages als er merkt, dass er nicht mehr zur jungen Generation gehört und der (Un-)ruhestand in greifbare Nähe rückt. Er nimmt den Leser auf unterhaltsame Weise mit auf die Reise und scheut dabei auch nicht vor Selbstironie zurück. Mit einem Augenzwinkern beleuchtet er die täglichen Erlebnisse und behandelt dabei auch Themen, über die man lieber nicht spricht. Oder wann haben Sie das letzte Mal über schwache Blasen und Stuhlgang diskutiert?

 

 

 

Impressum

 

Alterserscheinungen

© 2019 Roland Blümel
Grandweg 100
22529 Hamburg


 

 

Cremen für Anfänger


Alt werden ist wie Weihnachten. Es schleicht sich lange Zeit unbemerkt an und plötzlich ist es da. Man denkt: Jetzt schon? So ging es mir eines Tages als ich bei einer Onlineumfrage mitmachte und mein Alter eingeben sollte. Das war kurz nach meinem 50. Geburtstag. Zehn Jahre zuvor hatte ich meinen 40. groß gefeiert, um zu beweisen, dass mir mein Alter nichts ausmachte. Den 50. hatte ich wegen einer angeblichen Midlife-Crisis, die mir unterstellt wurde, nicht gefeiert. Ich war mir sicher, keine Midlife-Crisis zu haben, denn das fühlte sich anders an. Aber das will ich hier gar nicht weiter ausbreiten.

Doch mit nunmehr 50 Jahren hatte ich zum ersten Mal das Gefühl: Nun ist der Zenit überschritten, mehr als die Hälfte ist vorbei. »Alle wollen alt werden, aber keiner will alt sein.« Diesen Spruch hatte ich irgendwo mal gelesen und fand ihn einfach nur blöd. Aber plötzlich merkte ich: So ganz dumm ist das nicht.

Ich stellte mich vor den Spiegel und betrachtete mich eingehend. Waren das da alles graue Haare oder war ich eher aschblond? Schon immer aschblond gewesen? Waren diese Falten auf der Stirn wirklich so tief oder verzerrte der Spiegel? Und warum war die Haut an den Unterarmen so faltig? Hatte ich abgenommen?

Ich nahm mir ein Fotoalbum, das mich mit 20, 25 und 30 Jahren zeigte. Gut, das ist etwas unfair, mich mit damals zu vergleichen. Aber war das die gleiche Person? War ich das? Und was war in der Zwischenzeit geschehen, dass ich plötzlich so alt aussah? Das war der Stress, das waren die Herausforderungen, die ich zu bewältigen hatte.

»Du hast Dich zu wenig eingecremt«, fiel mir als ein anderer Grund ein.

Meine Frau war Creme-Weltmeisterin. Ohne eine Tube Gesichts- oder Handcreme verließ sie nie das Haus. Vielleicht sollte ich mich auch mal eincremen, dachte ich. Ich nahm ihre Creme zur Hand, machte einen Klacks auf meinen Zeigefinger und cremte meine Brust ein. Meine intensive Behaarung sorgte dafür, dass die Creme lokal auf einer Fläche von knapp zwei Quadratzentimetern auf meiner Brust haftete. Ein schmieriges, verklebtes Haarbüschel zeugte davon, wo die Creme sich ausgiebig mit meinen Haaren vereinigt hatte.

Okay, vielleicht cremst Du erst mal nur das Gesicht ein, machte ich einen zweiten Versuch. Als ich meinen Bart mit demselben Ergebnis verklebt hatte, spürte ich einen ersten Anflug von Verzweiflung. Wie bekomme ich diese blöde Creme nur unter die Haare, sodass sie auch tatsächlich die Haut erreicht? Rasieren? Bart abnehmen? Das kam nicht in Frage, schließlich trug ich den Bart schon seit dreißig Jahren, er war ein Teil von mir.

Dann erst mal nur die Stirn, um zu sehen, wie es sich anfühlt. Da bei den ersten beiden Cremeversuchen wenig auf der Haut angekommen war, nahm ich dieses Mal einen großen Klacks aus der Tube. Ich patschte ihn mir auf die Stirn und begann, das Ganze zu verreiben. Meine Stirn sah aus wie eine Toastscheibe mit Frischkäse. Mit zu viel Frischkäse, um genau zu sein. Wohin mit dem Rest? Ich erweiterte den Cremehorizont um die Nase. Doch auch wenn meine Nase zu den eher größeren Exemplaren gehörte: Trotz intensiven Einarbeitens blieb immer noch reichlich Creme über.

Was könnte ich noch eincremen? Wo hatte ich eigentlich keine Haare, die im Weg waren? Ich betrachtete mich intensiv im Spiegel. Mit beiden Händen voller Creme musterte ich mich und meinen Körper. War dieses Muttermal schon immer dort? Und diese Haare auf den Schultern? Gab es die schon immer? Wozu waren die eigentlich gut? Die Beine waren eigentlich ganz okay, muskulös, stramm. Nur diese Haare, extrem cremefeindlich.

Wie lange braucht so eine Creme eigentlich bis sie einzieht? Und wohin zieht sie eigentlich ein? Und ist es schlimm, wenn man sofort nachcremt? Verstopfen irgendwelche Poren? Ich beschloss, das sofort nachzuschauen. Als ich vor dem Laptop saß, fiel mir auf, dass bis auf meine Füße kein Körperteil in der Lage war, den Laptop anzuschalten, ohne ihn einzusauen. Die Hände waren nach wie vor voller Creme, die Nase glänzte wie eine Speckschwarte. Verzweiflung machte sich breit.

Ich stützte mein Gesicht in die Hände. Kurz danach kam meine Frau nach Hause.

»Was machst Du denn da?« fragte sie mich und schaute ungläubig.

»Ich hab mich eingecremt«, erwiderte ich kleinlaut.

»Bisschen viel genommen?« Ihr Schmunzeln ließ mich noch verzweifelter dreinschauen.

»Ja, ich bin halt nicht fürs Eincremen gemacht.«

»Ach Du«, meine Frau schaute mich mitleidvoll an. »Soll ich Dir was abnehmen?«

»Oh ja gern«, seufzte ich ergeben.

Sie verrieb die Creme, die auf meinem Gesicht immer noch zentimeterdick drauf saß. Anschließend nahm sie den Rest von meinen Händen und arbeitete es in ihr Gesicht und ihre Hände ein. Kaum Haare im Gesicht, nur die Augenbrauen, aber ganz viel davon auf dem Kopf, dachte ich bewundernd. Bei mir war das bis auf die Brauen genau umgekehrt.

»Und jetzt?« fragte ich, weitere Instruktionen abwartend.

»Also Du kannst jetzt mit den Händen den Rest in die Unterarme einreiben bis alles eingezogen ist. Oder … « Sie machte eine kunstvolle Pause.

»Oder was?« fragte ich erwartungsvoll.

»Man kann zu viel Creme auch einfach unter fließendem Wasser abwaschen. Das hättest Du auch gleich machen können.«

Frauen sind so furchtbar praktisch veranlagt. Ich hasse das. Aber ich liebe meine Frau, auch wenn sie mir überlegen ist. Zumindest was den Umgang mit Creme anbelangt.

Morgen besorge ich mir Männercreme und fange an zu üben, beschloss ich. Und heute, ca. 5 Jahre später, habe ich die Tube fast aufgebraucht. Männer und Creme passen einfach nicht zusammen.


Möchten Sie sich setzen?

 

Ich wurde also alt. Diese Tatsache fraß sich immer mehr in mein Bewusstsein. Täglich sah ich den Verfall, wenn ich in den Spiegel sah. Graue Haare, so weit das Auge reichte. Ein schwacher Trost, dass zumindest noch Haare zum Grau werden da waren. Nicht wie bei manchem Gleichaltrigen oder sogar Jüngerem, der nichts mehr zum grau werden auf dem Kopf hatte.

Und was sind das für Flecken auf meinem Handrücken. Ist das nur ein Ausschlag oder sind das am Ende Altersflecken? Wie schrecklich? Ich setzte mich an meinen Rechner und befragte Wikipedia:

„Altersflecken (lateinisch Lentigines seniles, Lentigines solares) sind Pigmentstörungen der Haut. Sie entstehen durch vermehrte, chronische Exposition gegenüber Ultraviolettstrahlung, z. B. Sonnenlicht. Bei den Flecken handelt es sich konkret um Anhäufungen des bräunlich-wachsartigen Pigments Lipofuszin (auch Alters- oder Abnutzungspigment), das als Endprodukt aus der Oxidation von ungesättigten Fettsäuren der Zellmembranen entsteht. Die Lysosomen sind nicht mehr imstande, den Stoff völlig abzubauen. So bleibt er als Fleck zurück.“

Hilfe! Mein Körper ist schutzlos diesen gemeinen Prozessen ausgeliefert. Ob da Eincremen half? Oder Abschmirgeln? Irgendwie musste ich meiner Haut doch beistehen, damit sie diesem Kampf nicht so hilflos ausgeliefert war!

Ein erneuter, intensiver Blick in den Spiegel zeigte mir, dass ich zumindest im Gesicht noch keine Flecken hatte.

Also so alt siehst Du noch gar nicht aus. Höchstens wie Ende 30. Oder Anfang 40. Also höchstens wie 45.

Aber diese Ringe um die Augen – ich muss unbedingt mehr schlafen. »Alte Leute brauchen nicht mehr so viel Schlaf!« Warum fiel mir dieser blöde Spruch ausgerechnet jetzt ein? Das gilt vielleicht ab 70, aber doch nicht mit Anfang 50, in der Blüte der Jahre. Kopfschüttelnd entfernte ich mich von meinem Spiegelbild.

Ich streifte meine Jeans über und machte mich fertig für die Arbeit. Wer Jeans trägt, kann gar nicht alt sein! Ich nahm meine Tasche und ging federnden Schrittes zum Bus. Nach etwa 200 Metern musste ich das Tempo rausnehmen. Ich war wohl doch etwas zu zügig gegangen. Deutlich langsamer schlich ich die restlichen Meter zum Bus. Dort angekommen sah ich die Menschen, die dort auf den Bus warteten. Die meisten schienen jünger zu sein als ich. Lediglich eine Dame war bereits älteren Datums. Der Bus kam und wir stiegen ein. Die alte Dame und ich nahmen den hinteren Eingang. Proppenvoll war der Bus wie fast jeden Morgen. Die alte Dame kletterte mühevoll in den Bus. Ein junges Mädchen stand auf und bot der alten Dame ihren Platz an.

Wie nett, dachte ich. Echt zuvorkommend. Das nennt man Respekt vor dem Alter. Das macht ja heute kaum noch jemand. Wenn einem jemand seinen Platz anbietet, dann ist man wirklich alt, ging es mir durch den Kopf. Zum Glück bin ich ja noch jung.

Fünf Minuten später stieg ich aus dem Bus und ging zur U-Bahn-Station. Mist, die Rolltreppe war mal wieder außer Betrieb. Ächzend stieg ich die Treppe hoch. Oben angekommen musste ich erst einmal Atem holen. Ich sollte doch ein wenig mehr Sport machen.

Die U-Bahn kam, und ich stieg ein. Auch so knallvoll. Wo wollen die bloß alle hin? Und an einen Sitzplatz war nicht zu denken. Na, toll! Manchmal ist es doch ganz praktisch, alt zu sein, dachte ich.

Ein junges Mädchen lächelte mich an. Sehr sympathisch die Kleine. Ich setzte mein strahlendes Lächeln auf.

»Möchten Sie sich vielleicht setzen?« fragte mich diese Person und stand auf. Was bildete diese Göre sich ein? Hatte ich das nötig? Sah ich schon so alt aus?

»Nein danke, ich stehe ganz gerne!« erwiderte ich gequält, vielleicht einen Ton zu scharf. Ich merkte, wie mein Lächeln zu Eis erstarrte. Ich schaute in eine andere Richtung, um meinen Gesichtsausdruck neu zu ordnen.

An der nächsten Station stiegen viele Menschen aus. Etwa 20 Sitzplätze wurden frei. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass die junge Frau noch immer da war.

Gib dir jetzt nur keine Blöße, sprach ich innerlich zu mir. Ich konnte mich kaum noch auf den Beinen halten, alles in mir schrie: Hinsetzen!

An der nächsten Station stieg ich aus. In fünf Minuten würde die nächste Bahn kommen. Vielleicht gab es da freie Sitzplätze, die nicht erst von so jungen Dingern für einen Mann in den besten Jahren freigemacht werden mussten.

Lohnt sich das noch?

 

Ich bin ein begeisterter Kalenderkäufer. Schon in der zweiten Jahreshälfte hielt ich Ausschau nach diesem Kalender, den ich seit Jahren einsetze. Sehr praktisch, mit viel Platz für Notizen.

Jeden Tag surfte ich im Internet und wartete darauf, dass es endlich die erwartete Vorankündigung gab. Der Juli war vorbei, auch der August ging ins Land. Langsam wurde die Zeit knapp. Andererseits blieben ja noch 4 Monate des alten Jahres und damit des alten Kalenders übrig. Dann endlich, Anfang Oktober, kam der erste Hinweis: Der Kalender konnte bestellt werden.

Leider ereilte mich genau zu diesem Zeitpunkt eine heftige Grippe, mit hohem Fieber (fast 38 Grad), Husten und Schnupfen. Ich fühlte mich hundeelend und litt vor mich hin. Meine Frau umsorgte mich liebevoll. Ich quälte mich täglich an meinen Laptop, um ein wenig zu arbeiten.

Nach einigen Tagen, ich fühlte mich immer noch nicht besser, fiel mir der Kalender wieder ein. Ich rief die Seite im Internet auf und füllte das Bestellformular aus.

Gerade als ich es abschicken wollte, kam mir ein furchtbarer Gedanke. Lohnte sich das eigentlich noch? Das Leben ist kurz, und ich plante hier gerade einfach so ein weiteres Jahr meines Lebens, das vielleicht schon morgen zu Ende wäre.

Ich fühlte mich immer elender. Ich löschte das Formular wieder.

Meine Frau kam ins Zimmer.

»Heute siehst du aber schon viel besser aus. Ich denke, du bist bald durch mit deiner Erkältung.«

Durch mit der Erkältung? Die hatte gut reden. Ich rang hier beinahe mit dem Tode und sie sprach von „Erkältung“.

»Übrigens, ich war vorhin im Reisebüro, um Ideen für unseren Urlaub im nächsten Jahr zu sammeln!« Sie schien sich ehrlich darauf zu freuen. Naja, sie könnte dann ja eine Freundin mitnehmen, wenn ich vorher den Löffel …

»Was ist, freust du dich gar nicht auf den Urlaub?« unterbrach ihre Frage meine Gedanken.

»Ach, wer weiß, was nächstes Jahr ist. Ob ich überhaupt …« Ich brachte den Satz nicht zu Ende.

»Hast du keine Lust mehr?« Sie sah mich ungläubig an.

»Doch, schon, aber mir geht es nicht gut und so lange im Voraus planen.« Ich druckste ein wenig herum.

»Weißt du was, mein Schatz? Ich glaube, es könnte dir nicht schaden, mal an die frische Luft zu gehen. Dann kommst du nicht auf so trübsinnige Gedanken.«

»Aber ich fühl mich so schlapp«, versuchte ich zu flüchten, doch es war schon zu spät.

»Komm mit, Liebster. Ich denke, ein wenig frische Luft wird dir helfen. Wir gehen mal eine Runde spazieren.«

Ich fügte mich in mein Schicksal. Als wir durch den Wald streiften, spürte ich die frische Luft und meine Lebensgeister erwachten neu. Meine Frau ist eine Zauberin.

Als wir wieder zuhause waren, ging ich sofort an meinen Laptop und bestellte gleich zwei Kalender. Den einen schenke ich einem Freund. Der ist ein unverbesserlicher Pessimist und Miesepeter. Dabei ist er nur neun Jahre älter als ich, und er tut so, als ob das Leben schon fast zu Ende ist. Komischer Kerl!

 

Beim Friseur

 

Es war mal wieder so weit. Ich musste zum Friseur. Ich habe da so ein Problem. Die Haare sind recht dünn, bedecken aber noch den größten Teil meines Kopfes bis auf wenige ausgedünnte Stellen am Hinterkopf. Die sieht man von vorn nicht, aber wenn ich mal Fotos von mir aus der entsprechenden Perspektive sehe. Das sieht nicht aus wie eine Tonsur. Aber das ist nicht mein Problem. Vielmehr ist es bei mir so, dass die Haare hinten am Kopf schneller wachsen als vorne. Dann stoßen sie zuerst auf den Kragen, um sich dann nach außen zu wölben. Meine Frau neckt mich dann und meinte, ich sähe aus wie Troubadix, der Barde aus den Asterix-Heften. Naja, zumindest singe ich besser.

Es war also mal wieder dran, dass ich zum Friseur gehen musste, um mir den Troubadix abschneiden zu lassen. Aus früheren Türkei-Besuchen hatte ich die Erfahrung gemacht, dass türkische Friseure cool und günstig sind. In der Türkei war ich mal bei einem mit einem Bandscheibenvorfall. Vor Schmerzen gebückt schnitt der mir mit einer Hand die Haare, und es kam eine sehr gute Frisur dabei heraus. Das hatte mich tief beeindruckt. Also ging ich zu einem türkischen Kuaför.

Vor mir war ein junger Mann dran, der sich die Haare schneiden ließ. Ruckzuck war rundherum alles bis auf die Kopfhaut abrasiert und oben am Kopf blieb nur noch eine kleine Insel stehen. Cooler Haarschnitt für einen jungen Mann.

Dann war ich an der Reihe. Ich setzte meine Brille ab und nahm auf dem Frisierstuhl Platz. Der Kuaför nahm seine Schneidemaschine in die Hand und dann ging es los. Schwupp und gefühlt 200 g Haare von meiner linken Kopfhälfte fielen zu Boden. Ohne Brille konnte ich nur schemenhaft erkennen, ob und wenn ja wieviel Haare noch an der entsprechenden Stelle verblieben. Auf jeden Fall hatte sich die Haarfarbe verändert. Wo ich vorher noch blond in Erinnerung hatte, schimmerte es plötzlich in Grautönen. Weiter schnurrte das Gerät durch meine ehemalige volle Pracht und unter mir stapelten sich die abgeschnittenen Haare zentimeterhoch. Es erinnerte mich an den Herbst, wenn das Laub zu Boden fällt und nur noch kahle Bäume übrigbleiben. Mir brach der Schweiß aus, und ich wollte nur noch weg.

Derweilen redete der Friseur auf mich ein. Antworten erwartete er anscheinend nicht. Der Schwall seiner Worte passte gut zu der Menge meiner Haare, die um mich herum zu Boden plumpsten.

Plötzlich aber brach eine Frage des Kuaförs in mein Bewusstsein:

»Bist du schon in Rente?«

Ich war schockiert und hörte sogar für einen Moment auf zu schwitzen.

Hä, was war das denn für eine bescheuerte Frage? Sah ich schon so alt aus? Das musste an dieser neuen Frisur liegen, die ich allerdings nur undeutlich erkennen konnte.

Ich überlegte kurz, was ich nun machen sollte. Sollte ich aufstehen, das Gemetzel beenden und ihm eine knallen? Oder so tun, als ob ich die Frage nicht verstanden hätte und sie einfach ignorieren?

Oder überlegen antworten: »Nein, da habe ich noch viele Jahre Zeit, aber mein stressiger Beruf hat mich eben deutlich reifen lassen.«

Ich entschied mich für eine Abwandlung von letzterem.

»Nein, noch nicht!« stotterte ich und setzte das Schwitzen fort.

Der Kuaför war von der Antwort augenscheinlich überrascht, setzte aber Rasur und Redeschwall ungebremst fort.

Als er fertig war, nahm er den Spiegel zur Hand, damit ich sein Werk auch von hinten betrachten konnte.

»Brauchst du Brille?« fragte er mich höflich.

»Nein, ich kann auch so gut sehen«, knurrte ich und kniff die Augen zusammen. Anscheinend waren wohl doch noch ein paar Haare an den Seiten übriggeblieben, vermutete ich oder hoffte es zumindest. Ich

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 22.07.2019
ISBN: 978-3-7487-1050-9

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