Das ist die Geschichte von N. Einem Mann mittleren Alters, seine Eltern sind islamisch geprägt, er selbst kann sich nicht so richtig in der Religion zurecht finden.
Er hat einen guten Job, viele Freunde und lebt sehr gewissenhaft in den Tag hinein. Um sich abzulenken, sucht er Zerstreuung in Bars und probiert Alkohol und Drogen aus. Seine Familie leidet darunter, er erlebt es aber nicht als störend.
Plötzlich gerät alles außer Kontrolle.
Es geht ums Überleben.
Überleben und Leben bedeutet Haschisch, Alkohol und Spaß mit Frauen. Es geht so weit bis ihn nur noch eine Therapie rettet.
Als er ganz langsam runter kommt und sein Leben wieder neu begreift, fängt er an zu lesen.
Zuerst nur mit der Absicht zu lesen, etwas später jedoch, tatsächlich den Quran und auch die Bibel.
Er findet Beschäftigung im Geist, Ruhe im Gebet und eine Richtung, die ihm genügt. Der Islam.
... er überlegte sich, wie er sein Buch nennen müsste, um das wieder zu geben, was es beinhaltete. Er überlegte lange. Doch fand er keinen passenden Ausdruck. Stattdessen fing er an zu schreiben. Er war sich sicher, dass ihm während des Schreibens etwas Gescheites einfallen würde. Vielleicht heute noch. Wer wusste es schon?
Er überlegte aber nicht lange, womit er am liebsten anfangen würde und müsste. Also begann er sein Buch zu schreiben:
Assalam alaikum,
es war sehr lange her, dass er das letzte Mal ein Buch in die Hände genommen hatte. Vielleicht eine Ewigkeit, vielleicht mehrere Ewigkeiten. Wer wusste es schon?
Ein Analphabet war er gerade nicht. Aber irgendwie lebte er all die Jahre wie ein Analphabet. Nur den Trieben nachjagend. Nun, wir wollen N., unseren Helden, nicht ganz schwarz malen. Ein junger Mann in den allerbesten Jahren. Irgendwo in der Fremde. Lebt wie der König in Frankreich. Gelegentlich macht er Übersetzungen und gibt Nachhilfeunterricht. Also dumm ist er nicht, der N. Lebt aber all die Jahre wie ein Dummer vor sich hin. Nur den Trieben nach jagend. N. ist verheiratet und hat drei Kinder. Eine bildhübsche Frau. N. hat in den letzten fünf Jahren keine einzige Minute vor dem Fernseher gesessen. Vor fünf Jahren verlor er den Glauben an die Unterhaltung im Fernsehen. Nun, N. geht es gut. N. verdient selber etwas, N. erhält Leistungen vom Staat und N. hat einen vermögenden Vater, der ihm hier und da den einen oder den anderen Wunsch erfüllt. Also hat N. keinen Grund, sich zu beklagen.
Die Tage, die Wochen, die Monate und die Jahreszeiten kamen und gingen. N. ging seinen Weg vor sich hin. Mit seiner Familie. Sein Weg?
Sein Weg ging jeden Samstagabend in die Kneipe. Er trank. Er trank. Er trank. Dann ließ er sich mit dem Taxi nach Hause fahren. Schon mehrmals erbrach er sich im Wagen und musste zu den Fahrtkosten noch die Reinigungskosten übernehmen. Manchmal ging er zu Fuß nach Hause. Schaukelnd und stolpernd. Damit hatte N. keinerlei Probleme. Selbst wenn er nach Hause kriechen müsste, glaubt der Autor nicht, dass es N. hätte etwas ausgemacht. N. war cool. Der Gang in die Kneipe war ein festes Programm in N.`s Leben. Manchmal musste er auf dem Weg von der Kneipe zurück nach Hause dringend pinkeln. Das war für N. kein Thema. Er fand immer einen passenden Platz. Glaubte er. Aber wer wusste es schon?
N. war ein Akademiker. Ein Mann mit einem Hochschulabschluss. Er genoss Anerkennung von diversen Kreisen. Er wurde in bestimmten Kreisen akzeptiert und sogar zum Teil auch respektiert. Er hatte ganz große Ziele. Mit 50 Jahren wollte er sich irgendwo in den Süden absetzen und dort unter der Sonne am Strand alt werden. Er war durchaus immer gepflegt. Die tägliche Rasur war wie eine Pflicht. Ohne sich nicht rasiert zu haben, war er nicht aus der Wohnung zu kriegen. Schwarze Socken und schwarze Schuhe. Immer. Haare hatte er nicht mehr viel. Aber selbst die wenigen Haare hatten eine Frisur. Trotz, dass er täglich mit Menschen zu tun hatte, die sich zum Islam bekennen, konnte er nicht nachvollziehen, warum man einen ganzen Monat hungern sollte. Oder warum man jeden Tag fünf mal beten musste. Jeden Tag. Er lebte ohne zu fasten und ohne zu beten. Und nach Mekka? Und etwas abgeben von seinem Gewinn? N. hatte einfach keine Zeit und keine Lust, sich mit etwas zu beschäftigen, woran er ohnehin zweifelte, ja, sogar nicht glaubte. Seine Eltern waren Muslime, und er? Wusste er es? Aber wer wusste es schon?
N. war in der Fremde politisch sehr aktiv. War Mitglied in diversen Vereinen und Institutionen. Er war in öffentlichen Veranstaltungen meistens anwesend. Hielt in dem und jenem Abend auch schon eine Rede, die immer gut ankam. N. wusste nicht, wie oft er bei solchen Veranstaltungen schon ein Glas Sekt oder ein Glas Wein getrunken hatte. Es waren einfach viel zu viele. Wein schmeckte ihm. Sekt und Bier dagegen nicht. Er trank in der Öffentlichkeit, er trank zu Hause, er trank in der Kneipe. Ein Alkoholiker war er nicht. Aber er war auf dem besten Weg dorthin. Seine Frau hatte es nicht so gern, wenn N. betrunken nach Hause kam. Immer wenn er betrunken nach Hause kam, musste er auf dem Sofa schlafen. Seine Frau ließ ihn einfach nicht ins Bett. So kam es, dass N. die meisten Nächte auf dem Sofa verbrachte, statt im Bett neben seiner Frau. Aber auch das war für N. kein Thema. Dann schläft er eben auf dem Sofa. Und?
Es kam des Öfteren vor, dass N. ausging. Ausgehen hieß für ihn im Übrigen in die Kneipe gehen. Er ging aus. Trank. Und noch einen. Und noch einen. Irgendwann in der Nacht wurde er entweder vom Wirt rausgeworfen oder er hatte kein Geld mehr. Also ging er wieder nach Hause. Er war so betrunken, dass er nicht merkte, dass er in die Hose gemacht hatte. Seine Hose war von der Gürtellinie an, bis zu den Fußgelenken voll mit Urin. So ging er nach Hause. Stürzend und stolpernd. Quer durch die Stadt. Der Autor versichert dem Leser, dass auch das N. nichts ausgemacht hat. Er ging nach Hause, legte sich auf das Sofa und schlief ein. Mitten unter seiner Familie.
Er verkehrte mit den wichtigsten Persönlichkeiten der Stadt, wo er lebte, in der Fremde. Politiker, Direktoren, Journalisten, Kommissare der Polizei, Lehrer, Geschäftsleute usw.
Der Autor würde nicht übertreiben, wenn er sagen würde, N. verkehrte mit der Elite der Stadt. Und man kann sogar sagen, er gehörte auch dazu. Man ging gemeinsam essen, gemeinsam trinken, gemeinsam etwas unternehmen. Alle Journalisten der Stadt hatten bereits etwas über N. berichtet. Auf der kommunalen Ebene war N. schon bekannt. Er verkehrte auch mit dem Bürgermeister der Stadt und mit dem Stadtdirektor. Er zählte in jeder Kneipe der Stadt zu den Stammkunden. Alle Wirte kannten N. Wie das so in der Fremde ist, sind auch Frauen in der Kneipe. Andere Länder andere Sitten. In der Fremde betranken sich Männer und Frauen gemeinsam. Das kam N. doch gelegen. So hatte er schon mehrmals in seiner Karrierezeit als Trinker, die eine oder die andere Frau auf die Toilette begleitet oder mit ihr einen einsamen und verlassenen Platz ausfindig gemacht. Auch das war okay. Gar kein Thema. Auch würde der Autor nicht übertreiben, wenn er sagen würde, diese Angelegenheiten waren ein Bestandteil jedes Ganges in die Kneipe. Entweder schleppte er eine Frau ab, oder eine Frau schleppte ihn ab. Das Übernachten in Betten fremder Frauen war für N. nichts Fremdes. Er hatte in den besten Betten der Stadt die Nacht verbracht. Und?
An die Frau zu Hause dachte er dabei nicht. Und dachte er mal an sie, sagte er: „Sie muss alles essen, aber nicht alles wissen.“
Woche für Woche und Monat für Monat ging es so weiter. Ein Jahr folgte den Anderen. N. ging mit seiner Familie auch schon mal essen oder ins Kino oder ins Schwimmbad oder sie machten Fahrradtouren. Oder sie gingen einfach mal so raus. Etwas herumgehen. Sich die Gegend ansehen. Ein Eis essen. In den Kletterwald, ins Phantasialand. Die Kinder wuchsen auf...Tag für Tag. N. wusste etwas über die Psychologie des Kindes. Glaubte er. Aber was wusste er schon? Wer wusste es schon?
N. war schon fast in jeder Kanzlei der Stadt und hatte dort für die Ausländer gedolmetscht. Auch bei den Notaren verkehrte er hier und da. Bei den meisten Anwälten der Stadt war er dadurch bekannt geworden. Sie kannten N. fast alle. Wenn N. eine Person in der Stadt nicht kannte, dann lag das daran, dass diese Person wirklich ein niemand war. Irgendwie bewegte er sich oder er verkehrte mit den wichtigsten Persönlichkeiten der Stadt. Der Autor glaubt, dass N. seinen schlechtesten Umgang mit dem Imam der Moschee hatte. Nur da ließ er sich nicht blicken. Nicht einmal zu den großen zwei Festen der Muslime war er bereit, die Moschee von innen zu betreten. Er fand nichts, was ihn mit dem Imam der Moschee verband. Nichts. Auch der Imam war ein studierter Mann von Welt. Er hatte schon in diversen Städten sein Amt als Imam oder Vorbeter angetreten. Konnte viel von den Kulturen dieser Länder erzählen, aber N. konnte ihm einfach keine Nähe zeigen. Es gab da etwas, was ihn davon abhielt, sich hinter dem Imam zu stellen, und vielleicht ein mal im Jahr ein Gebet mitzumachen. Nein, der Imam der Moschee war einfach wie ein Stiefbruder für ihn. N. war ein Muslim, aber wusste er es denn? Wer wusste es schon? Und überhaupt, kümmerte ihn das denn? Hatte die Tatsache, dass N. auch ein Muslim war, für ihn ein Gewicht? Interessierte der Islam ihn denn?
Soweit der Autor ihn kannte, war es ihm einfach egal, was er war. Es hätte ihm nichts ausgemacht, ein Buddhist zu sein, oder ein Schamane oder ein Christ oder ein Jude. Der Ausdruck, den N. am wenigsten aussprach war Islam oder Allah oder Muhammad. Eine fest eingefahrene Einstellung nistete in seinen Gedanken, dass das Übel der Erde nur eine einzige Ursache hatte, nämlich die Religion. Daher waren alle, die aus religiösen Gründen sich eine Enthaltsamkeit unterzogen, einfach Spielverderber und Spießer. Er hielt von Religionen nicht viel, wenn man die seine ihm überließ. Religionen kümmerten ihn nicht besonders, wenn er sein Leben leben durfte. Und überhaupt: Wer braucht schon eine Religion? Wozu?
Vor gar nicht lange her, vielleicht ein Jahr, vielleicht 18 Monate ließ er sich eine Tätowierung machen. Eine tolle Tätowierung. Er fand das Bild hervorragend. Nun, N. war einfach cool. Und coole Typen hatten nun mal eine Tätowierung. Ein Mann wie N. ohne eine gute Tätowierung. Nein, das war nicht in. Eine Tätowierung musste sein. Also ließ er sich bei dem Besten auf dem Markt eine Tätowierung machen. Einen Steppenwolf. Er fand das Bild echt cool. Ein Steppenwolf wie er halt in der Steppe lebt und jagt. Seine Frau fand das nicht gut. Aber N. hat doch zu Hause die Hose an. Oder? Aber wer wusste es schon? Nach der Tätowierung hatte er an der tätowierten Stelle starke Schmerzen. Tagelang und wochenlang. Aber jetzt ist es wieder okay. Er fand es riesig, dass auch er eine Tätowierung hatte. Immer wenn er Schwimmen ging, fand er es toll, seine Tätowierung zeigen zu können. Und wurde er darauf auch mal angesprochen, ja, so bekam N. vor Stolz ganz weiche Knie. Immer wenn er sich seine Tätowierung ansah, überkam ihn die Angst, sie könnte beim Duschen oder so wieder verschwinden. Sie musste lange bleiben. So lange wie es nur geht.
Er verkehrte ungern mit Arabern. Sein Dealer war der einzige Araber, mit dem er sich austauschte. Der Marokkaner Said, genauer gesagt der Berber Said, versorgte ihn schon seit mehreren Jahren mit dem allerbesten Haschisch aus Marokko. N. genoss die Augenblicke und die Momente mit Said. Said war schon fast sechzig Jahre alt und kannte sich mit Haschisch mindestens so gut aus wie Howard Marks aus Wales. Ein Mann vom Fach. Schon in den Riffgebirgen in Marokko handelte Said mit Haschisch. Dann ging er auch in die Fremde. Mit N. trafen sich ihre Wege irgendwo in Amsterdam. Sie saßen am selben Tisch und rauchten ihre Joints. Nach einer kurzen Unterhaltung stellte sich heraus, dass sie in der Fremde nur wenige Autominuten voneinander entfernt wohnten. Seit dem fährt N. nur noch ganz selten nach Amsterdam, sondern immer zu Said und besorgt sich seinen Stoff. Für N. war klar: Said hatte den besten Haschisch im Umkreis von 200 km. Sie trafen sich bei Said im Zimmer. Rauchten gemeinsam. Sowohl für Said, als auch für N. war das Recht auf Rausch ein Menschenrecht. Said war den Arabern auch nicht wohlgesinnt. Irgendwie konnte er sie nicht riechen. Erzählte sogar dann und wann von einem unabhängigen Berberstaat. Er war ein Mann der Unterhaltung. Sprach mit einem sehr starken arabischen Akzent. Oder war es doch eher berberisch? Aber wer wusste es schon?
In der Stadt, in der N. lebte gab es mehrere Friedhöfe. Eins von denen war ein jüdischer Friedhof. Umzäunt und abgeriegelt. Er konnte nicht verstehen, warum manche es für nötig halten, etwas zu umzäunen. Auch die israelische Botschaft in der Nähe war umzäunt. Das waren die einzigen Punkte in seinem Leben, wo er mit dem Jüdischen oder Israelitischen irgendwie in Berührung kam. Er ging selten an dem jüdischen Friedhof vorbei. Nicht weil er es nicht wollte, sondern weil er da so selten vorbei kam. Und außerdem: Ein Friedhof wie alle anderen Friedhöfe der Stadt. Nur abgeriegelt und umzäunt. Keine Rarität. In den zwischen Palästinensern und Israeliten anhaltenden Auseinandersetzungen war er eher in der Rolle des Zuschauers oder Betrachters. Er ergriff keine Partei. Israel, ein Staat wie alle anderen Staaten der Erde. Palästinenser, ein Volk wie alle anderen Völker der Erde. Und sie hassen sich gegenseitig. Sie wünschen sich gegenseitig den Tod. Sie verfluchen sich jeden Tag auf das Neue gegenseitig. Aber ja. Die Welt ist nicht immer fair. Dieser Konflikt beschäftigte ihn kaum. Ja überhaupt nicht. Irgendwo im Nahen Osten. Und er? Er ist in der Fremde. Irgendwo im Westen. Keine Zeit sich mit diesem Konflikt auseinander zu setzen. Dass die Amis und die Russen ihre Finger darin haben, ahnte er schon. Aber auch das war ihm egal. Und überhaupt, wozu? Da war ihm der Gang in die Kneipe am Wochenende doch wohl wichtiger. Null Lust auf Israel, null Bock auf die Palästinenser. Irgendwo gibt es immer Krieg. Und der zwischen Palästinensern und Israel scheint einfach nicht aufzuhören. Und er? Was bitte soll er machen?
Er hatte in all den Jahren in Fremde nur zwei Juden kennen gelernt. Der Levi und der Efraim. Er verstand sich gut mit ihnen. Mit beiden hatte er jahrelang zusammen gearbeitet. Es gab keine Differenzen. Bis beide aus der Gegend zogen. Auch Bekanntschaft mit Palästinensern hatte er bereits gemacht. Mit Mustafa hat er immer noch Kontakt. Guten Kontakt. Da beschäftigte ihn der letzte Fang in der Kneipe am Samstagabend doch mehr als der kein Ende nehmende Krieg im Nahen Osten. Wie hieß sie noch? Keine Ahnung. Wozu sich auch an den Namen erinnern?
Kein Tag verging, ohne das N. nicht geplant hätte. Alles lief in seinem Leben nach Plan. Die Kinder besuchten die Schule. Sie gingen in gute Schulen. N. half bei den Hausaufgaben und betreute sie tagtäglich. Aber sie sprachen nicht ihre Muttersprachen, sondern immer die Sprache der Fremde. Sie feierten keine Feste oder heilige Nächte. Die Kinder waren gut in der Schule, aber alles andere schien irgendwie nicht wichtig zu sein. Warum fasten die Muslime? Warum schlachten sie ein Opfer? Sie wuchsen heran in der Fremde und wurden selber zu Fremden. Fremd zu der eigenen Kultur und fremd zu der eigenen Sprache. Sie lernten in der Schule auch noch Englisch und Französisch und Latein. Aber was war denn mit der eigenen Muttersprache? Keinen einzigen Satz konnten sie bauen. Ihr Wortschatz beinhaltete vielleicht zwanzig Ausdrücke und ein paar Sätze, die sie auswendig gelernt hatten. N. fand das nicht schlimm. Ist doch alles in Ordnung. Schließlich brachten die Kinder nur gute Noten nach Hause. Die anderen Kinder, aus der Nachbarschaft, deren Eltern sich zum Islam bekannten, gingen in den Ferien in die Moschee und lernten ein paar Suren und ein paar Ayats. Und seine? N. erzog seine Kinder so, dass keine Interesse an dem Islam entstand. Er hatte ja auch keine Interesse. Und überhaupt, wozu brauchen sie in dem Alter schon eine Sure oder ein Ayat? Was sollen sie mit ihnen bloß anfangen? Er kannte auch keine einzige Sure auswendig.
Er kannte nur den Namen des Propheten und die Tatsache, dass er elf Frauen hatte. Irgendwie fand er das gut. Denn welcher Mann würde nicht gerne im Besitz eines Harems sein. Immer die gleiche Frau ist doch langweilig. Er liebte seine Kinder, wollte nicht, dass sie schon in den jungen Jahren mit finsteren Erzählungen durcheinander gebracht werden. Er erzog sie schon ganz gut. Es war alles in Ordnung, dachte und sagte sich N. Schließlich gingen von den vielen Klassenkameraden der Kinder auch beinahe kein einziger in die Kirche, um zu beten. Warum mussten denn seine Kinder in die Moschee gehen? Sie sollen nicht die düsteren Sprüche eines Arabers auswendig lernen. Brauchen sie nicht. Wenn sie aber alt genug sind, und dann aus eigener Initiative Interesse zeigen, wollte er sie daran nicht hindern. Aber jetzt, wo er das Kommando hatte, war Religionsunterricht nicht erforderlich. Sie sollten frei und unabhängig leben. Frei von allen Fesseln, frei von allen Handschellen, frei von allen religiösen Verpflichtungen. Seine Kinder sollten freidenkende Menschen sein. Sie sollten die Logik verstehen, sie sollten das Denken verstehen. Sie sollten aber nicht nach irgendwelchen Regeln leben, die vor 1500 Jahren von einem Mann aufgestellt wurden, der weder lesen noch schreiben konnte. Er sah in den Medien den Zustand der Muslime überall auf der Welt. Und er wollte nicht, dass seine Kinder das Gleiche durchmachen müssen. Nein, frei sollen sie aufwachsen. Frei von irgendwelchen Verpflichtungen. N. wusste schon was er tat. Er wusste schon, wie er seine Kinder großziehen musste. Wusste er es? Aber wer wusste es schon?
Er kannte zwei Systeme. Nämlich die des Heimatlandes und die des Gastlandes. In dem Heimatland hatte er schon als Kind viel Prügel von den Lehrern kassiert. Und hier wurde er wieder schon als Kind Zeuge, wie ein Schüler dem Lehrer ins Gesicht spuckt ohne dass er dafür verprügelt wird. So wuchs N. in einem Land auf, wo der Lehrer Angst vor dem Schüler hat. Er fand das so krass. So widersprüchlich. Er wuchs mit denen auf, ging zur Schule mit denen, studierte mit denen und färbte so ab, dass er einer von denen wurde. Schon nach ein paar Jahren fing er auch so oder so den Lehrern ins Gesicht zu spucken und hatte dabei keine Angst. Und er hatte in seiner schulischen Laufbahn einige Dutzende Lehrer und Lehrerinnen.
So ergaben sich mit diesen bedauerlichen Kreaturen Gründe dafür. Nun N. wuchs in einem Land auf, wo es einem Mädchen peinlich ist mit vierzehn immer noch eine Jungfrau zu sein. N. lernte schnell. Er saugte in dem Gastland alles wie ein Schwamm auf. So wurde er in all den Jahren ein Mann des Landes. Ein Mann des Systems. Begriffe wie Toleranz, Frieden, Menschenrechte, usw. prägte er sich gut ein. Der Autor möchte nicht viel von N. verraten. Auf jeden Fall nannte man Ausländer dieses Formats assimiliert. War er assimiliert oder gut integriert? Keine Ahnung. Fakt ist, dass N. seine Wurzeln schon längst vergessen hatte. Er war kein Einheimischer, lebte aber wie ein Einheimischer. Paradox. Dennoch war es so.
Da es inzwischen auch in war, einen Ohrring zu tragen, ließ N. sich die Ohrläppchen lochen und brachte dort die seltsamsten Ohrringe an. Die Haare ließ er gerne wachsen. Auch lange Haare waren in. Er sollte ja nicht so aussehen wie einer von gestern. Anpassen an die Sitten des Gastlandes war wichtigstes Prinzip. Bloß nicht aus der Reihe tanzen. Denn mit denen, die aus der Reihe tanzen machen sie einen ganz schnellen und schmerzfreien Prozess. In dem über all gelobten Gastland. Irgendwo im Westen. Auch wenn es am Ende der Welt ist. Hauptsache es ist Westen. Nicht anpassen war nicht gut. Er hatte schon einige Ausländer kennen gelernt, die aus der Reihe tanzten und früher oder später in der Gosse landeten.
So mussten die Ohrringe getragen werden. Es war einfach uncool hier keine Ohrringe zu tragen. Es herrschte die Meinung, das Ohrläppchen links zu lochen hieße, dass er schwul ist. Rechts dagegen auf Frauen steht. Ein paar Wochen später hörte er das Gleiche noch einmal, doch in verkehrter Richtungen. Rechts schwul, links auf Frauen. Er kam durcheinander und ließ sich beides lochen. Nach dreißig Jahren Aufenthalt im Gastland, irgendwo im Westen, glaubte er nicht mehr an die Sitten und Bräuche seiner Eltern. Sie nämlich waren gegen die Aktion mit den Ohrringen. Aber nein. N. glaubt inzwischen an die persönliche Freiheit mehr als an die Regeln seiner Eltern. Cool ist in. Und irgendwie wirkte N. auch mit seiner Art und Weise des Lebens und des Verhaltens cool. Seine Mitmenschen verhielten sich zu ihm eher wohlwollend. Er hatte ja irgendwie auch alles im Griff. Das sahen die Nachbarn, die eher Einheimische waren. Keinem von Ihnen kam es als peinlich vor, wenn N. in den Wochenenden betrunken stolpernd die Haustür versuchte minutenlang aufzuschließen. Bis das Licht anging und die Frau die Tür öffnete. Nur seine Eltern fanden das peinlich und beschämend. Manchmal verhielten sie sich wie Bauern aus dem tiefsten Orient.
Die Ohrringe mussten sein. Ohne die Ohrringe wäre N. nur ein halber N. Man sah er cool aus. War er denn cool? Aber wer wusste es schon?
Als er noch ein paar Jahre jünger war, fing er an Rockmusik zu hören. Alles andere war Schrott. Rock war die Krönung der Musik. Er hatte eine Sammlung mit mindestens 500 CD`s. Meist waren die CD`s gekauft oder vom Flohmarkt. Original. Es gab aber auch viele Raubkopien. Dass diese CD`s Raubkopien waren, störte ihn in nicht. Über die Musiker, die Popmusik machten, pflegte er Bastarde zu sagen. Bei klassischer Musik fielen ihm die Augen zu. Über Schlagermusik konnte er nur lachen. Rock. Er war, glaubte er, ein Rocker in feinen Klamotten. Mick Jagger war sein Traum. Gelegentlich setzte er seine Kopfhörer auf und machte lange Spaziergänge. Er bekam nicht genug vom Rock. Und tätowierte Männer, die etwas abgebrannt aussahen, waren die Männer, denen er alles zutraute. Selbst über Leichen gehen, wenn es die Situation erfordert. Dachte er auch so? Was dachte er? Wer weiß es schon? Auch hörte er, wenn er zur Ruhe kommen wollte, Cat Stevens, der später zum Islam konvertierte. Er hörte ihn gern, aber seine Entscheidung konnte N. nicht nachvollziehen. Wieso verlässt man den eigenen Glauben? Er hörte ihn gern. Hatte aber keine Zeit über Cat Stevens und seine Entscheidung etwas mehr in Erfahrung zu bringen. Auch kein Interesse. Oder Muhammad Ali. Er wusste sie waren zum Islam übergetreten, beschäftigte sich aber nicht damit. Er wusste nicht, was er davon halten sollte. Er dagegen als Muslim hatte nicht vor in eine andere Religion überzutreten, hatte aber auch schon den Islam verlassen. Er lebte in einem Land, wo die Menschen für Gott keine Zeit hatten. Gott ist out. Es lebe die Freiheit. Ein Mann des Landes, ein Mann des Staates, ein Mann des Volkes. Er entsprach in keiner Weise einem Mann mit anderen Wurzeln und Werten. Er lebte genauso wie die Menschen in diesem Land. Für die Musik der Heimat zeigte er wenig Interesse. Das war doch nichts. Blechmusik. Er war auch schon auf Konzerten von den Rolling Stones. Er fand sie einfach göttlich. Sie waren die Krönung der Rockgeschichte. Er hatte sich doch schon etwas von seinen Altersgenossen abgehoben. Eine ganz komische Figur, dieser N. Am liebsten hörte er Rockmusik, wenn er auf der Autobahn raste. Zündete sich dabei seinen Minijoint an und raste über die Fahrbahn. Richtung Amsterdam. Besuchte dort zuerst einen gemütlichen Coffeeshop und anschließend die Altstadt. Allen vor allem den Rotlichtbezirk. Vertrieb die Zeit mit den Kiffern und Nutten und fuhr am Abend wieder nach Hause. Er glaubte, ein guter Autofahrer zu sein. Alkohol nahm er nicht beim Fahren. Aber eine lange Fahrt mit dem Auto, im Hintergrund Rolling Stones und eine Jointtüte in der Hand. Und er drückte gerne auf den Gaspedal. Unfall? Er doch nicht. Unfall ist etwas für einen Amateur. Unfälle verursachen doch immer die Anderen. Er aber war ein Profi. Glaubte er. War er das? Er hatte viel Glück dabei und wurde kein einziges Mal von der Polizei angehalten. Überhaupt kam er wegen eines Delikts mit der Polizei noch nie in Berührung. War das Glück oder konnte er sich sehr gut tarnen?
N. konnte kein einziges Kartenspiel mit Regeln. Daher zockte er nicht. Ein Zocker war er nicht. Er konnte auch mit den Spielautomaten nicht umgehen. Also spielte er mit diesen auch nicht. Er fand aber die Atmosphäre und die Ambiente in den Zockerbuden und in den Spielhallen sehr reizend und ging daher in ihnen ein und aus. Trank meistens einen Kaffee und schaute zu wie den Zockern der Schweiß die Stirn herunter läuft. War N. ein Krimineller?
Irgendwie hatten wir alle unsere kriminelle Energie in uns. Nur vielleicht waren sie bei N. etwas geprägter als der Rest. Ein Gesetzloser war er nicht. Aber vor den meisten Gesetzen hatte er einfach keinen Respekt. Er hielt sie ein, um sich Ärger zu ersparen und nicht weil er zu ihnen stand. Überzeugung aus der Not heraus. Ein Liebhaber Deutschland war er gerade nicht und so richtig Respekt davor hatte er auch nicht. Er war aber auch kein Deutschlandhasser. Es gab Sachen, die fand er toll und es gab Sachen, die verachtete er. Er wäre gerne in Neuseeland oder Australien oder Schweden. Deutschland? Na ja, wenn es anders nicht geht. Gut. Er war schon fast in jeder Zockerbude in der Umgebung und in fast jeder Spielhalle. Ohne dabei auch ein einziges Mal gezockt zu haben. Er sah den Zockern gerne zu. Und sah ihre Nervosität. Sie waren alle beladen und gestresst. Manchmal setzte er sich einfach dazu, bestellte sich Kaffee und schaute stundenlang zu. Es hatte etwas, was ihn reizte. Es war aber nicht das Zocken. Vielleicht das Ganze drum herum. Die Blicke der Zocker, ihre Gesichtszüge, ihr Verhalten beim Gewinn und beim Verlust. Meistens ging er in die Zockerbuden von Ausländern. Arabern, Türken, Griechen, Albanern, Kurden.
Manchmal blieb er bis in den Morgenstunden dort und sah, wie in einer Nacht 300.000 Euro über den Tisch wanderten. Wie einer in einer Nacht sein Haus verlor. Oder sein Wagen.
Irgendwie machte ihm das auch Angst. In einer einzigen Nacht das Haus verlieren. Das war selbst für ihn zu krass. Er kannte Männer, die feuchte Hände bekamen, wenn sie in die Nähe eines Automaten kamen. Er verkehrte mit Zockern, die selbst in ihren Träumen am Automaten und am Tisch zockten. Ganz seltsame Geschöpfe, ganz komische Typen, üble Wesen. Das alles war überhaupt nicht schlimm. Wieso auch? Aber was war denn überhaupt für ihn schlimm? Nichts? Wusste er es denn? Aber wer wusste es schon?
Hatte N. auch Freunde? Einem Freund sollte man vertrauen können. Auf einen Freund muss man sich verlassen können? Einem Freund sollte man sich anvertrauen können. Gern mit ihm die Zeit verbringen. Gern mit ihm etwas unternehmen. Und N.? Gab es um ihn herum solche Menschen? Er vertraute keinem. Er verließ sich auf keinen. Alle, die ihm bekannt waren, nannte er Bekannte. Keinen seiner Bekannten betrachtete er als Freund. Viele viele Menschen in der Stadt waren ihm bekannt. Aber einen Freund hatte er doch nicht. Er hatte keine Beziehung, die nicht vom Geben und Nehmen gekennzeichnet war. Ihm was geben und von ihm was nehmen. Eine Beziehung, wo nicht gegeben und nicht genommen wurde, gab es in seinem Alltag nicht. Gab es denn überhaupt Beziehungen, wo nicht gegeben und nicht genommen wurde? N. kannte solche nicht. Nicht bei ihm und nicht um ihn herum. Kommerz und Profit waren die Begriffe in seinem Leben, die ihn tagtäglich begleiteten. Es gab welche, mit denen machte er das Geben und das Nehmen etwas lieber als mit manch anderen. Konnte er in ihnen Freunde sehen? Er war äußerst vorsichtig, ja ging sogar etwas zu geizig mit dem Begriff Freund um. Wieso hatte er keine Freunde? Begegnete er anderen Menschen nicht auf gleicher Augenhöhe? Eine ehrliche Antwort würde N. sehr belasten. Will der Autor denn seinen Helden N. wirklich belasten? Muss er auf diese Frage eine Antwort geben? Begegnete er anderen Menschen auf der gleichen Augenhöhe? Der Autor schüttelt ganz traurig seinen Kopf und verrät es dem Leser. Nein. N. glaubte, in vieler Hinsicht seinen Mitmenschen überlegen zu sein. Ein Pascha vielleicht? Jetzt nickt der Autor seinen Kopf. Aber nicht nur ein bisschen Pascha, sondern ein Pascha wie aus einem Groschenroman. Alle Männer, zu denen er Nähe empfand und diese auch zeigte, lebten wie die Paschas. Alles Pascha. Männer, die von der Gleichberechtigung der Geschlechter redeten waren irgendwie
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 06.03.2019
ISBN: 978-3-7438-9906-3
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