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Prolog

Lachend saßen wir im Sessellift und alberten ein bisschen rum. „Hör auf mich deswegen aufzuziehen!“, spielte mein Bruder einen auf beleidigt. Typisch Lukas. Immer wenn ich ihn ärgerte, schmollte er, aber wenn ich das tat, war ich wieder die Böse. „Tu ich doch gar nicht! Ich sagte nur, dass die auf dich steht!“, lachte ich und wollte ihn leicht boxen. Mein Bruder kannte mich so gut, dass er genau wusste, was ich vor hatte und deswegen schreckte er zur Seite gegen den Bügel. Dieser sollte ihn eigentlich halten, aber er ließ nach und brach ab. Geschockt darüber, dass es keine Gegenkraft da war, griff Lukas nach meiner Hand. Das nächste, was ich realisierte, war, dass Lukas halb aus dem Sessellift heraushing und versuchte wieder hinein zu klettern.

„Lukas! Halt dich fest!“, war das erste was ich schrie. Mein halber Körper lag auf dem Sitz, auf dem er vorher gesessen war und ich hielt krampfhaft seine Hand fest. „Lukas, bitte!“, rief ich und er versuchte mit der anderen Hand die Stange zu packen, aber er schaffte es nicht. Als er sie gepackt hatte, kam so ein bescheuerter Mast und der Sessellift begann zu wackeln. „Mary, ich kann nicht mehr!“, schrie Lukas und ich konnte in seinem Gesicht die Schmerzen sehen. Immer weiter rutschte seine Hand ein meiner entlang. „Lukas, du schaffst das!“, schrie ich und Tränen begannen mir über das Gesicht zu laufen. „Ich schaffe das nicht! Egal, wie das hier ausgeht, Mary. Ich liebe dich, kleine Schwester und ich werde immer bei dir sein!“, sagte er und der nächste Mast ruckelte wieder. Dieses Mal rutschte unsere Hand ab und ich sah meinen Bruder in die Tiefe fliegen. „NEIN! LUKAS! NEIN!“, schrie ich.


 

Kapitel 1

„Man Mary, das ist so unfair!“, jammerte Lea, meine beste Freundin rum. „Warum gehst du während der Schulzeit Skifahren und ich hocke hier beziehungsweise in der Schule?“ „Kommt davon, wenn man Sport eben nur zweistündig nimmt!“, grinste ich zurück und zog mir meine Schuhe an. Lea und ich wollten noch einkaufen gehen, damit ich für die Woche alles hatte. Zahncreme, Duschzeug und so weiter. Morgen würde ich mit meinem Sportkurs für eine Woche Skifahren gehen. Für mich war das Ganze richtig lässig, weil ich vor drei Jahren meine Skilehrerausbildung gemacht hatte und somit einen Teil unserer Gruppe mit betreute. Zwei meiner Lehrer würden mit dabei sein und noch ein Skilehrer aus dem Skigebiet. Das Skigebiet kannte ich wie meine Westentasche und den Skilehrer - zu meinem Leidwesen - vermutlich auch.

Am Abend ging ich früh schlafen und Lea fuhr nach Hause. Normalerweise übernachtete sie am Wochenende immer bei mir. Ich hatte trotz, dass ich erst 17 war, eine eigene Wohnung in der Kölner Innenstadt. Finanziert wurde diese durch meinen Cousin, der in London lebte, weil sein Job das so verlangte. Zu meiner Mutter hatte ich seit einem Jahr keinen Kontakt mehr und deswegen lag auch das Sorgerecht bei meinem gerade mal drei Jahre älteren Cousin, der alle zwei bis drei Monate einmal vorbeischaute.

Pünktlich um sieben weckte mich mein Wecker. Gegen ein Uhr würden wir an der Schule abfahren, aber ich musste noch meine Sachen zu Ende packen und meine Wohnung putzen. Schließlich wollte ich nicht in eine dreckige Wohnung kommen. Gegen halb elf würde auch noch Lea kommen und mir helfen. Die Woche über würde sie auch meine zwei Katzen versorgen, die ich seit gut zwei Jahren bei mir hatte, damit ich in dieser riesigen Wohnung nicht ganz so alleine war.

„Mary?“, rief meine beste Freundin und ließ die Wohnungstür ins Schloss fallen. Sie hatte seit einem Jahr einen Schlüssel, falls ich meinen vergessen hatte oder verlieren könnte. Es war ja sonst niemand in der Nähe, der mir helfen könnte. Liam könnte sich auch nicht immer in den nächsten Flieger zu mir setzen.

„Ich bin im Bad“, antwortete ich und putzte noch schnell das Waschbecken zu Ende, damit Lea mir beim Packen helfen konnte. Skier, Skihelm und Schuhe hatte ich schon aus dem Keller geholt und diese standen im Flur bereit. Nun musste ich nur noch meinen Koffer mit den restlichen Sachen füllen. Einen Pulli von Liam, meinem Cousin, ein Bild meines Bruders und das Lunchpaket, welches mir meine beste Freundin gemacht hatte, schmiss ich in den Rucksack meines Bruders, da meiner letzte Woche kaputt gegangen war. Zum Schluss zog ich mir eine bequeme Leggins und ein Top an. In meiner Wohnung war es warm, aber ich wusste, dass ich im Bus meinen Pulli brauchen würde, deswegen hatte ich Liams Pulli dabei.

„Ich werde dich vermissen!“, Lea drückte mich ganz fest, bevor sie ging. Ihre Familie war zum Essen eingeladen und ich musste warten bis Erkan kam und mich abholen würde. Zur Schule waren es eigentlich nur fünf Gehminuten, aber mit Koffer, Skiern und dem Rest war das ein bisschen unpraktisch. Eigentlich hatte mir eine Freundin angeboten mich mitzunehmen, aber das wäre nur ein Umweg gewesen.

Es klingelte an der Tür und ich öffnete Erkan und seinem Vater die Tür. „Hey“, begrüßte ich sie und zeigte ihnen, meine Skier und Schuhe. Gerade wollte ich mich umdrehen, da sagte der schwarzhaarige Junge: „Stop! Wenn du dich jetzt bewegst, dann tut das deiner Katze weh!“ Ich schaute auf den Boden und grinste: „Ach Maurice!“ Ich nahm ihn hoch und drückte ihm einen Kuss ins Fell, dann ging ich schnell in mein Zimmer und holte meinen Rucksack und Koffer. „Tschüss Fleur“, verabschiedete ich mich noch von meiner zweiten Katze und zog die Tür zu. Mit Lea hatte ich ausgemacht, dass ich zweimal abschloss, da ich Angst hatte, dass irgendetwas passieren könnte.

Die Busfahrt verlief relativ ruhig und ich hörte eigentlich nur Musik. Ich hatte mir einen Doppelsitz für mich ergattert und machte es mir bequem. Einfach die Augen schließen und an nichts denken. Prompt fiel ich in einen leichten Schlaf und wachte erst wieder auf, als mich Rebecca weckte. Sie war ebenfalls in meinem Sportkurs und wollte wissen, wie es mir ging und alles. Da wir nur noch eine Stunde fahren würden, beschloss ich die Augen offen zu lassen und einfach nur aus dem Fenster zu schauen. Wie sehr ich die Berge doch vermisst hatte.

„In fünf Minuten sind wir da! Ich bitte euch, bringt eure Skier in den Skiraum und kommt dann in den Aufenthaltsraum. Die Hotelbesitzer wollen uns einige Sachen erklären und wir wollen euch neben Mary-Ann noch euren zweiten Skilehrer vorstellen“, sagte Frau Müller und Erkan rief von hinten: „Na, wie geht’s dir Mary-Ann!“ Alle begannen zu lachen und ich schaute mit Absicht an mir vorbei und sagte: „Man Mary-Ann antworte doch!“ Ich hasste es, wenn man mich so nannte. Entweder nennt man mich Mary oder Ann, aber nicht Mary-Ann.

Als eine der ersten betrat ich den Aufenthaltsraum und dort saßen schon meine Lehrer, die Hotelbesitzer und der Skilehrer. „Mary-Ann, das ist Timo. Er meinte, ihr kennt euch bereits“, sagte Frau Müller und ich nickte. Warum konnte es nicht irgendein neuer Skilehrer sein? Warum ausgerechnet er? Timo stand auf und kam auf mich zu. Er nahm mich in den Arm und sagte: „Es tut mir so leid!“ Ich nickte und presste meine Lippen zusammen. Leider konnte ich nicht verhindern, dass eine Träne über meine Wangen lief und Timo wischte diese weg. „Lass uns einfach nicht darüber reden!“, sagte ich und setzte mich zu den Anderen.

Gelangweilt ließ ich das Ganze über mich ergehen, da ich alles schon kannte. In dem Jahr als ich meine Ausbildung gemacht hatte, hatte ich in den Winterferien und Faschingsferien Gruppen betreut und war auch in diesem Hotel untergebracht, deswegen kannte ich alles schon und hörte nur mit halbem Ohr zu.

Nach einer Stunde Besprechung, wie es morgen weiter gehen würde, konnten wir dann endlich auf die Zimmer. Dieses teilte ich mir mit Rebecca, Katharina und Julia, worüber ich sehr froh war, weil ich mich mit allen gut verstand. Wir waren nur zwanzig Leute, die gefahren sind, und im anderen Mädchenzimmer wollte ich nicht landen.

Bevor ich ins Bett ging, schrieb ich Lea noch eine SMS, dass wir gut angekommen waren und schaute in meine Emails. Alles war normal. Dann nahm ich aus meinem Rucksack das Bild meines Bruders und schaute es an. Blond, blaue Augen und ein riesen Lächeln im Gesicht. Das war mein Bruder. Wir hatten eine richtig enge Beziehung und erzählten uns einfach alles, aber wen wunderte es? Wir waren auch Zwillinge. Bis auf die Größe, das Geschlecht und die Augenfarbe unterschieden wir uns nicht wirklich. Viele sagten, dass wir genau gleich sind, aber an gewissen Stellen unterschiedlich reagierten. Ich rastete zum Beispiel viel zu schnell aus, wenn Lukas ruhig blieb und das versuchte diplomatisch zu klären. Das war immer so ein Streitpunkt zwischen uns, aber im Grunde war ein mein bester Freund, großer Bruder (wenn auch nicht viel) und Beschützer in einem.

„Wer ist das?“, fragte Rebecca. „Niemand“, antwortete ich tonlos und packte das Bild weg. Sie kannten Lukas alle nicht, da ich erst vor zwei Jahren die Schule gewechselt hatte. Dann legte ich mich hin und schaute nochmals auf mein Handy. Ich hatte eine SMS von meinem Cousin: Hey Kleines! Ich wünsche dir einen tollen Skiurlaub und hab total viel Spaß! Falls etwas ist, mein Handy ist auf laut, ruf einfach an! Hab dich lieb xx

 

 

 

Kapitel 2

Etwas müde saß ich mit den anderen am Frühstückstisch und stocherte etwas lustlos in meinem Joghurt herum. Ich hatte die Nacht nicht wirklich gut und viel geschlafen, weswegen meine Motivation, heute auf die Piste und einen auf Skilehrer zu machen, sank. Rebecca beäugte mich komisch, aber sagte nichts.

Timo kam während des Frühstücks zu mir und setzte sich neben mich. „Guten Morgen Mary! Wo ist deine gute Laune?“, grinste er und ich schaute ihn einfach nur gelangweilt an. „Nicht gut geschlafen?“, fragte er weiter und ich sagte nur: „Seh ich so aus?“ Verwirrt schaute er mich an, aber sagte nichts. „Ich glaube es ist besser, wenn du heute die Anfänger übernimmst und ich die Anderen“, schlug er vor und ich schüttelte den Kopf. „Timo, ich muss mich wieder einfahren! Da brauch ich ein bisschen.“ Schulterzuckend stand er auf und sagte: „Gut, ich hatte es dir angeboten. Wehe du verklagst mich später!“ Hä? Die Aussage musste man nicht verstehen oder?

Herr Schnell und ich würden heute gemeinsam mit den Anderen fahren und er hatte sich eine Tour mit relativ einfachen Pisten für den Anfang geben lassen. Ich ließ Timo da freie Hand, welche Pisten er auswählte, die wir fahren sollten.

Nachdem wir uns umgezogen hatten, gingen wir gemeinsam zu Skilift, der nur wenige Meter weg von unserem Hotel war. In jede Gondel passten acht Menschen rein und Rebecca, Erkan, Simon, ich und auch Timo stiegen in eine Gondel ein. Angespannt lehnte ich mich zurück und Timo sagte: „Entspann dich, Marylein!“ Boah dieser Junge… Kann er es nicht einfach lassen? „Ich soll mich entspannen? Wie soll ich mich denn ent…“, weiter kam ich nicht, denn ich erschreckte mich, weil unsere Gondel gerade durch eine dieser Halterungen fuhr.

„Hat da etwa jemand Angst?“, grinste Erkan und ich schickte ihm einen Killerblick. Ich hatte Gondeln und Sessellifte nun einmal nicht ausstehen, aber das war verständlich. Es wackelte und wackelte und einfach NUR dämlich!

Ich war heilfroh, als wir auf dem Berg angekommen waren und Frau Müller, sowie Timo sammelten die Anfänger ein und gingen mit ihnen auf die Anfängerpiste. Herr Schnell gab Anweisungen, wo wir hinfuhren und generell konnte jeder sein Tempo fahren. Es gab immer wieder Stationen an denen wir anhielten und warteten.

Nach der Mittagspause steuerte mein Lehrer einen Sessellift an, der mich ganz schön in Bedrängnis brachte. Von dort aus konnte man entweder zurück fahren oder eine andere Strecke. Etwas zitternd stieg ich in diesen Lift ein und hoffte, dass wir wieder zurück fahren würden.

„Alles in Ordnung bei dir? Du siehst nicht so gut aus!“, sagte Simon und ich winkte nur ab. Einfach auf den Sessellift schieben, dann wird das schon kein Problem sein. Eigentlich sollte ich mich eher auf den Ausblick konzentrieren und einer Unterhaltung von Rebecca und Erkan folgen. Natürlich wollte der Halbtürke ein Foto machen und hielt die Kamera schön hoch. Danach lachte er: „Seht mal, wie verkrampft Mary sich festhält!“ Alle begannen zu grinsen, nur ich verzog keine Miene. „Komm schon Mary das war lustig!“, versuchte es Simon wieder, doch ich ignorierte den Satz.

„So, sind alle da?“, rief unser Sportlehrer und zählte alle durch. Dann sagte er: „So wir fahren jetzt hier runter und stellen uns an den Sessellift an. Oben treffen wir uns dann!“ Mein Herz setzte kurz aus und ich ging zu Herr Schnell: „Ich bleibe hier! Ich fahr die Strecke nicht!“ „Doch! Wir fahren sie gemeinsam!“ „Nein!“, widersetzte ich mich und meine Hände fingen an zu zittern. Ich merkte, wie in mir wieder alles hochkam, was ich so gut verschlossen hatte. Meine Tränen versuchte ich zu unterdrücken, aber es half nichts. Meine Augen füllten sich und ich konnte ein schluchzendes: „Ich kann das nicht!“ nicht unterdrücken.

„Mary, wir sind eine Gruppe und fahren das gemeinsam!“, sagte er und dann war es bei mir zu Ende. Ich fing bitterlich an zu weinen und sank in die Knie. Warum musste ich auch mit hier her kommen? Langsam wurde mir klar, warum Timo mir angeboten hatte die Anfänger zu übernehmen. Wieso? Wieso konnte ich nicht einmal auf ihn hören?

Zwei Arme legten sich um mich und flüsternde beruhigende Worte. „Herr Schnell, lassen sie uns doch einfach heimfahren“, schlug dann auch irgendein Klassenkamerad vor und irgendwann willigte mein Sportlehrer ein und wir fuhren in die andere Richtung.

„Warum seid ihr denn schon zurück?“, kam Timo uns entgegen, als wir gerade aus dem Skiraum kamen. Ich schaute ihn nur an und ein leises „Oh scheiße“ entfuhr ihm. Wortlos ging ich an ihm vorbei die Treppen hinauf in mein Zimmer. Dort packte ich das Bild in meinem Rucksack und schloss mich ins Bad ein. Erst dann ließ ich meinen Gefühlen freien Lauf. Warum musste das ausgerechnet mir passieren?

Keine Minuten später klopfte es schon an der Tür und ich hörte Timos Stimme: „Mary, mach bitte die Tür auf! Es tut mir leid, aber ich hatte dich vorgewarnt!“ Es herrschte eine kurze Stille, in der ich nichts sagte und der junge Skilehrer auf einen Antwort wartete. „Bitte!“, bettelte er, doch ich ignorierte es. Irgendwann war dann Stille eingekehrt. Hoffentlich hatte er endlich aufgegeben.

„Mary, ich bitte dich ein letztes Mal! Mach diese Tür auf!“, ertönte Timos Stimme wieder auf der anderen Seite, doch ich tat wieder nichts. Still ließ ich meine Tränen über meine Wangen laufen. „Gut, du hast es nicht anders gewollt!“, man hörte das Schloss knacken und die Tür öffnete sich. Was fällt dem eigentlich ein? Ich wollte alleine sein!

„RAUS!“, schrie ich ihn an. „Ich will alleine sein! Verschwinde! Du bist schuld!“ Er kam mit zwei Schritten zu mir rüber und nahm mich einfach nur in den Arm. Mit Schlägen und Tritten versuchte ich mich aus dieser Umarmung zu befreien, doch ich hatte nicht genügend Kraft. Mit einer Leichtigkeit hob mich der Braunhaarige hoch und trug mich zu meinem Bett. Das Foto, welches ich immer noch umklammert hielt, nahm er aus meiner Hand und legte es verkehrt herum auf den Nachtisch.

„Könntet ihr uns kurz alleine lassen?“, fragte er meine Zimmergenossen. Diese nickten geschockt. Vermutlich waren sie überrascht, dass ich so reagierte. Niemand kannte mich so, außer Timo. Er hatte damals alles hautnah miterlebt. Er war derjenige gewesen, der mich aufgefangen hatte und Tag und Nacht an meinem Bett saß.

„Mary, hör zu! Es tut mir so leid! Ich wusste nicht, dass dich das immer noch so fertig macht. Du hast die letzten Jahre nichts von dir hören lassen und wir sind davon ausgegangen, dass es dir gut geht.“ Ich sagte dazu nichts. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt meine Tränen unter Kontrolle zu kriegen. „Du warst dabei, wie es mir ging… Meine Mutter hat deswegen den Kontakt zu mir abgebrochen! Weißt du wie das ist? Man fühlt sich wie eine Aussätzige. Niemand will Kontakt zu mir aus meiner Familie! Nur Liam…“, flüsterte ich nach einer Weile und begann wieder bitterlich zu weinen.

„Schht“, flüsterte Timo und nahm mich in den Arm. Er sagte nichts mehr bis ich mich einigermaßen beruhigt hatte. „Kopfschmerzen?“, fragte er, als ich das Gesicht verzog und ich nickte. Immer wenn ich geweint hatte, hatte ich Kopfschmerzen bekommen. Man merkte, dass Timo mich kannte, aber das war auch kein Wunder, als ich nach dem Vorfall zwei Wochen hier so gelegen hatte.

„Geh schlafen!“, flüsterte er und ich nickte. „Falls etwas ist. Ich hab euer Zimmer. Ich lass die Tür auf. Du kannst einfach reinkommen!“, sagte er noch, bevor er mich zudeckte und ich mich zum Schlafen hinlegte.

„Ihr könnt wieder rein, aber bitte lasst sie schlafen!“, sagte der Junge noch, bevor er das Zimmer verließ. Hoffentlich würde er jetzt nicht mit meinen Lehrern reden, aber im Grunde war mir das alles egal. Ich schloss die Augen und fiel in einen traumlosen Schlaf bis ich wieder geweckt wurde, weil es Essen gab. Wirklich Hunger hatte ich nicht, aber trotzdem zwang ich mich aufzustehen.

„Timo?“, fragte Finja aus meiner Sportklasse. Sie war eine derjenigen, die ich nicht leiden konnte, weil sie sich einfach nur an jeden ran machte und die Zicke überhaupt war. „Ja?“, fragte der Skilehrer, der sich zum Abendessen an meinen Tisch gesetzt hatte. Vermutlich aber nur, weil er ein schlechtes Gewissen hatte.

„Wie lange kennst du Mary schon?“, fragte sie ganz unschuldig und er antwortete: „Sie und ihr Br…“ Weiter kam er nicht, weil ich ihn unter dem Tisch getreten hatte. Er merkte sofort, was er falsch gemacht hatte und sagte dann lediglich, dass wir gemeinsam die Skilehrerausbildung gemacht hatten. „Also kennst du sie länger als wir!“, stellte Finja fest und Timo sagte nur, dass das gut sein kann. Besser so, wenn er jetzt den Mund hält.

Nach dem Essen kamen Herr Schnell und Frau Müller auf mich zu und sagten, dass sie gerne noch mit mir reden würden, bevor ich ins Bett ging. Etwas ängstlich schaute ich zu Timo, in der Hoffnung er würde mir sagen, ob er ihnen etwas gesagt hatte, aber dieser schien selbst überrascht.

„Mary-Ann“, begann Herr Schnell. „Es geht einfach darum, dass ich sehr erstaunt war, dass du dich meinen Anweisungen widersetzt.“ Na toll… Jetzt hatte ich Ärger am Hals… „Es war meine schuld! Ich wusste ganz genau, dass sie mit dieser Tour ein Problem hat und ich wollte auch eigentlich tauschen, aber Mary meinte, dass sie heute selbst erst mal fahren wollte“, sprang Timo sofort ein und ich sagte: „Nein Timo, ist schon in Ordnung. Es tut mir leid, aber ich habe meine Gründe.“ Damit ging ich aus dem Raum und sah Frau Müller mir nur noch kopfschüttelnd hinterher blicken.

 

 

 

Kapitel 3

 

Lachend saßen wir im Sessellift und alberten ein bisschen rum. „Hör auf mich deswegen aufzuziehen!“, spielte mein Bruder einen auf beleidigt. Typisch Lukas. Immer wenn ich ihn ärgerte, schmollte er, aber wenn ich das tat, war ich wieder die Böse. „Tu ich doch gar nicht! Ich sagte nur, dass die auf dich steht!“, lachte ich und wollte ihn leicht boxen. Mein Bruder kannte mich so gut, dass er genau wusste, was ich vor hatte und deswegen schreckte er zur Seite gegen den Bügel. Dieser sollte ihn eigentlich halten, aber er ließ nach und brach ab. Geschockt darüber, dass es keine Gegenkraft da war, griff Lukas nach meiner Hand. Das nächste, was ich realisierte, war, dass Lukas halb aus dem Sessellift heraushing und versuchte wieder hinein zu klettern.

„Lukas! Halt dich fest!“, war das erste was ich schrie. Mein halber Körper lag auf dem Sitz, auf dem er vorher gesessen war und ich hielt krampfhaft seine Hand fest. „Lukas, bitte!“, rief ich und er versuchte mit der anderen Hand die Stange zu packen, aber er schaffte es nicht. Als er sie gepackt hatte, kam so ein bescheuerter Mast und der Sessellift begann zu wackeln. „Mary, ich kann nicht mehr!“, schrie Lukas und ich konnte in seinem Gesicht die Schmerzen sehen. Immer weiter rutschte seine Hand ein meiner entlang. „Lukas, du schaffst das!“, schrie ich und Tränen begannen mir über das Gesicht zu laufen. „Ich schaffe das nicht! Egal, wie das hier ausgeht, Mary. Ich liebe dich, kleine Schwester und ich werde immer bei dir sein!“, sagte er und der nächste Mast ruckelte wieder. Dieses Mal rutschte unsere Hand ab und ich sah meinen Bruder in die Tiefe fliegen. „NEIN! LUKAS! NEIN!“, schrie ich.

Panisch riss ich die Augen auf und begann bitterlich zu weinen. Warum? Warum musste das mir passieren? „Mary, was ist los?“, Rebeccas Stimme ertönte neben mir und zwei Arme schlangen sich um mich. Kurz schaute ich auf und realisierte, dass ungefähr zehn Leute in dem Raum standen und mich komisch beäugten.

„Mary!“, Timo kam in Boxershorts und T-Shirt rein gerannt. Er kniete sich vor das Bett und flüsterte: „Es ist alles gut!“ „Ich bin schuld! Ich kann nicht mehr!“, war alles, was ich zustande brachte. „Hör mir bitte zu! Es ist vorbei! Wir können daran nichts ändern und du hast alles getan, was du tun konntest!“, Timo zwang mich ihn anzuschauen und dann nahm er mich in den Arm.

„Geht am besten wieder schlafen. Ich nehme sie mit zu mir. Wird ein bisschen komplizierter!“, sagte er zu den anderen und diese nickten. Die Jungs, die ins Zimmer gestürmt waren, hauten wieder ab und die drei Mädels gingen wieder in ihr Bett. Bevor ich aufstand, packte ich noch das Bild auf meinem Nachtisch und ging dann langsam mit Timo in sein Zimmer. Wirklich Kraft zum Laufen hatte ich keine, aber der Brünette schob mich vorsichtig vorwärts. In dem Moment war einfach alles zu viel.

„Ich muss Liam anrufen…“, flüsterte ich und Timo gab mir sein Handy. Wie von selbst wählten meine Finger die Nummer meines Cousins und kurze Zeit später vernahm ich ein verschlafenes: „Hello!“ „Die Träume sind zurück“, flüsterte ich nur, bevor ich begann zu schluchzen. „Scheiße! Mary! Ich bin morgen Mittag da! Bitte versprich mir, dass du dir nichts antust!“, sagte Liam und legte auf. Vermutlich würde er seine Sachen packen und mit dem nächsten Flugzeug hierherfliegen… Timo nahm mich in den Arm und strich mir beruhigend über den Rücken. Solange bis ich irgendwann eingeschlafen war.

Mithilfe von Cleo, einer weiteren Skilehrerin, hatte ich es geschafft meine Augenringe einigermaßen zu überschminken. Allerdings taten meine Augen noch so weh, dass ich keine Kontaktlinsen tragen konnte und somit ausnahmsweise mit Brille beim Frühstück saß. Timo saß wieder neben mir und sagte mir zum tausendsten Mal leise, dass ich bitte was essen sollte, aber ich hatte einfach keinen Hunger. Es war schon verdammt süß, wie es sich um mich kümmerte, aber vermutlich machte es das nicht besser.

„Leute, Leute! Frau Müller und ich haben noch eine Bitte an euch. Wir hatten doch eine Nachtruhe ausgemacht! Bitte lasst den Alkohol in euren Taschen und schlaft nachts! Ich will nicht wieder von einem Geschrei geweckt werden!“, sprach Herr Schnell uns alle an, aber ich wusste genau, wen er meinte, auch wenn er es vermutlich nicht wusste, dass ich es war. Ich musste hier raus. Irgendetwas schnürte mir die Luft ab, aber ich konnte einfach nicht hier weg. Ruhig versuchte ich zu atmen und den Kloß in meinem Hals zu unterdrücken, aber es ging nicht. Beruhigend legte sich eine Hand auf meine und ich schaute auf. Timo schaute mich besorgt an, aber sagte nichts.

„Timo?“, fragte Finja. Kann die nicht einmal ihre Klappe halten? Allein schon diese Stimme machte mich aggressiv. „Habt ihr was miteinander?“, fragte sie weiter und Timo schaute sie verwirrt an. „Wie kommst du darauf?“ „Nur so!“ „Ehm nein. Ich kenne sie einfach schon lang und ich weiß, wie es ihr geht. Ist das so falsch?“, stellte Timo die Gegenfrage und ich zwang mich zu einem Lächeln. Wenn mich nicht alles täuscht, dann hatte Finja Interesse an ihm und es passte ihr gar nicht in den Kram, dass er sich so gut mit mir verstand. Damit sollte ich auch Recht behalten.

Gott sei Dank übernahm ich heute die Anfänger. Somit musste ich keinen Sessellift fahren, weil ich glaubte, dass ich das auch nicht hinbekommen hätte. Es war einfach zu viel für mich. Als erstes gingen wir auf den Anfängerhang und als ich dann festgestellt hatte, dass wir schon eine schwierigere Strecke fahren konnten, nahm ich einen langen Schlepplift. „Immer schön Kurven fahren!“, rief ich nach hinten und fuhr in weiten Bögen den Berg hinunter bis zur Talstation. Das fand ich das schöne hier. Man konnte auch als Anfänger ganz nach unten fahren.

Ich bin gegen fünf Uhr am Hotel! Hab dich lieb xx

Diese SMS von Liam las ich, als ich im Zimmer war und mich umgezogen hatte. Gleich würden wir im Aufenthaltssaal die restliche Planung vom Tag und auch den nächsten besprechen. Ich hoffte einfach, dass das nicht zu lange dauern würde, da es schon halb fünf war.

„Am Donnerstag wollen wir dann mit euch Nachtrodeln gehen. Freitagmorgen ist dann schon wieder Rückfahrt angesagt, aber das liegt jetzt noch drei Tage hin“, ich hörte nur mit halbem Ohr zu. Warum brauchten sie so ewig. Auf meiner Armbanduhr sah ich, dass es schon zehn nach fünf war und kurz darauf spürte ich mein Handy vibrieren. Vorsichtig schaute ich drauf und sah eine SMS von Liam, dass er da war. Ohne weiter darauf zu achten, ging ich aus dem Raum. Ich brauchte jetzt dringend jemand, der mich einfach nur in den Arm nahm und verstand. Es hatte zwar keine das mitgemacht, was ich mitmachen musste, aber es gab Leute, die sehr gut wussten, wie es mir ging.

„Liam!“, sagte ich und rannte meinem Cousin in den Arm. Dort ließ ich meinen Tränen freien Lauf und er hielt mich einfach nur fest. „Hey, ich bin da! Alles ist gut!“, flüsterte er und ich nickte. „Mary, kommst du bitte wieder rein?“, Herr Schnell stand in der Tür und Liam sagte: „Wir sehen uns gleich! Alex und ich checken schnell ein und dann reden wir!“ Sanft drückte er mir einen Kuss in die Haare, wischte meine Tränen weg und lächelte leicht.

Ungeduldig rutschte ich auf meinem Stuhl hin und her und hörte noch weniger zu als vorher. Was müssen die auch so ewig brauchen? „Gibt es noch etwas zu besprechen?“, Frau Müller meinen Sportlehrer und dieser zuckte mit den Schultern. Das war mein Zeichen, dass ich aufstand.

„Mary-Ann, bleibst du bitte sitzen bis wir alle fertig sind? Du hast später noch genug Zeit mit deinem Freund!“, sagte Frau Müller spitz. Das war ein Satz zu viel. Ich war sowieso schon so geladen, weil ich ständig angemault werde und alles. „Erstens ist es nicht mein Freund, sondern mein Cousin. Zweitens wissen sie nicht was in mir vorgeht und drittens geht sie das auch nichts an!“ Normalerweise sprach ich nie so mit meinen Lehrern, aber es überrannte mich einfach alles. Dann rauschte ich aus dem Raum.

„WOW, nicht so stürmisch!“, grinste Alex, als ich aus dem Raum raus rannte. Er war mit Liam damals gemeinsam nach London gezogen und kannte die ganze Geschichte. Mein Cousin und er saßen Tag und Nacht an meinem Bett, als wir wieder in Köln waren, aber es wurde einfach nicht besser.

„Was ist denn los, Kleine?“, fragte Liam und setzte sich neben mich auf eine Bank im Flur. Stockend begann ich zu erzählen: „Wir waren unterwegs und dann… dann wollte Herr Schnell, dass ich den… den Sessellift fahre…“ „Er wollte was?“, begann Alex sich aufzuregen und lief unruhig hin und her. „Dem werde ich was erzählen!“

Kurze Zeit später kamen auch alle anderen aus dem Raum und schauten mich mitleidig an. Sie wussten einfach nicht, was in mir vorging. Keiner wusste das und entweder hatten sie Verständnis oder nicht…

„Mary-Ann, können wir kurz reden?“, Frau Müller trat aus dem Raum und schaute mich erwartungsvoll an. „Alex, ich mach das!“, sagte Liam zu Alex, der schon etwas sagen wollte. „Hallo, ich bin Liam, Marys Erziehungsberechtigter“, stellte sich der Einundwanzigjährige vor und Frau Müller trat ein verwirrter Gesichtsausdruck ins Gesicht. „Ich würde mich gerne mal mit Ihnen unterhalten und das Ganze hier aufklären“, sagte Liam und Frau Müller nickte.

„Es ist immer noch meine Sache, wem ich was erzähle, Liam und ich bitte dich das zu respektieren!“, sagte ich und der Brünette schaute mich an. „Ja genau und dann frisst du es in dich rein und ich darf dich wieder von der Brücke ziehen. Noch einmal mache ich das nicht mit! Also spielen wir ab jetzt mit offenen Karten!“ Na toll… Jetzt musste ich auch noch mit zu dem Gespräch. Alex begleitete uns ebenfalls.

„Herr …?“, meine Lehrerin wusste nicht, wie sie weiter machen sollte, da Liam sich nur mit seinem Vornamen vorgestellt hatte. „Einfach nur Liam bitte“, sagte er und Frau Müller fuhr fort. „Liam, ich bin etwas verwirrt, dass Sie so jung sind, auch wenn Mary-Anns Mutter mir mitgeteilt hat, dass Sie selbst nicht mehr zuständig ist,.“ „Das Ganze wird sich vermutlich gleich aufklären. Sagen wir es kurz so. Ich habe das Sorgerecht jetzt seit knappen zwei Jahren und ich musste auch erst in diese Aufgabe wachsen.“

„Willst du erzählen oder soll ich?“, wandte sich mein Cousin an mich und ich gab keine Reaktion von mir. Ich wollte darüber gar nicht reden. „Na gut, dann mach ich das…“, Liam zuckte mit den Schultern und begann zu erzählen. „Meine Cousine und ihr Zwillingsbruder sind mit ihrer Mutter seit Jahren hier Skifahren gewesen und hatten, wie Sie ja wissen, hier auch eine Skilehrerausbildung gemacht. Vor zwei Jahren passierte dann etwas sehr Schlimmes, was die Familie zerrissen hatte. Warum Mary sich geweigert hatte die eine Strecke zu fahren, hat einen einfachen Grund. Der Sessellift, der wieder nach oben führt…“ Liam wurde durch mein Schluchzen unterbrochen. Ich konnte das alles nicht hören… Alex strich mir beruhigend über den Rücken und Liam nahm eine Hand von mir. Für ihn war das auch nicht einfach.

„In diesem Sessellift ist ein Bügel locker gewesen und das wusste keiner. Lukas, Marys Bruder, hat sich dagegen gelehnt und ist aus dem Lift gefallen. Gut zehn Meter in die Tiefe. Er ist auf dem Weg ins Krankenhaus gestorben. Marys Mutter gibt ihr daran die Schuld, weil sie angeblich Lukas hätte festhalten sollen…“, erläuterte Liam die Situation und bis auf mein Schluchzen herrschte Stille in diesem Raum.

„Hätten wir das gewusst, hätten wir natürlich nie…“, versuchte sich Herr Schnell recht zu fertigen, doch Liam winkte ab. „Sie wussten es nicht und das ist alles vollkommen in Ordnung. Ich bin hier, damit sich das alles bessert, aber der Schmerz sitzt eben tief.“

 

 

Kapitel 4

„Na Mary? Wie geht es dir so?“, fragte Finja gehässig, als wir abends beim Essen saßen. Natürlich saß sie wieder am Nachbarstisch und konnte es nicht lassen. „Wo hast du denn deinen komischen Cousin gelassen oder hat der auch schon keine Lust mehr auf dich gehabt?“, fragte Eva grinsend. Was wollen die von mir? Einfach ignorieren war wohl das Beste.

„Wer will schon  mit jemand was zu tun haben, der seinen eigenen Bruder umbringt“, plauderte Finja grinsend neben mir weiter. Und das war zu viel. Warum tat sie das? Sie konnte mich nicht leiden. Na und? Ich sie auch nicht, aber deswegen muss man doch jemand so etwas nicht ins Gesicht klatschen! Tränen rannen mir wieder über die Wangen und ich stand auf. Warum wusste sie davon? Wie hatte sie davon erfahren?

„Wie dumm kann man eigentlich sein?“, hörte ich Timo noch schreien, aber dann war ich schon  die Treppen nach oben gesprintet und hatte die Tür vom Bad hinter mir geschlossen. Ich kann nicht mehr! Ich kann das alles einfach nicht mehr. Weinend brach ich zusammen… Ich wusste, dass ich ihn umgebracht hatte! Ich wusste, dass ich ihn hätte retten können, aber ich konnte nicht. War das nicht schon genug, welche Qualen ich ausstand, dass sich meine ganze Familie gegen mich gewendet hatte? Sogar meine Mutter? War das nicht alles schon genug?

„Mary! Mach die Tür auf!“, rief Timo und klopfte gegen die Tür. Zusammen gekauert saß ich auf dem Boden und reagierte einfach nicht. Egal, wie oft der Junge gegen die Tür klopfte, ich antwortete nicht. Auch als Rebecca oder Erkan ihr Glück versuchten, ich reagierte nicht. Wie von selbst lief ich zu meinem Kosmetikbeutel und zog den Reisverschluss der Innentasche auf. Ich wusste, dass ich sie irgendwann wieder brauchen werde. Zögernd krempelte ich meinen Pulli hoch und nahm die Armbänder ab, die das Grauen an meinem Arm verdeckten.

Die Rufe und Bitten der anderen hörte ich nicht mehr. Ich war in meiner eigenen Welt. Meine Augen starr auf die Klinge gerichtet, die ich an meinem Arm ansetzte. Sollte ich oder sollte ich nicht?

„Mary! NEIN!“, schrie jemand und schneller als ich schauen konnte, wurde mir die Klinge aus der Hand gerissen. Anscheinend hatte jemand die Tür aufgeschlossen. Erst als mich jemand umarmte, realisierte ich, was geschehen war. Ich wollte mich wieder ritzen. Ich wollte wieder dort anfangen, wo ich vor einem Jahr aufgehört hatte. Kraftlos lehnte ich mich gegen der Körper, der mich im Arm hielt und begann hemmungslos zu weinen. Was anderes konnte ich einfach nicht mehr.

Timo nahm mich hoch und setzte mich aufs Bett. „Hör mir bitte zu! Du bist nicht schuld! Du hast alles getan und bitte, bitte mach das nie wieder!“, flüsterte er und nahm mich in den Arm. Ich vergrub mein Gesicht in seinem T-Shirt und weinte einfach weiter.

„Na und schon den nächsten gekrallt, den du umbringen willst?“, ertönte Finjas Stimme von irgendwoher. Ich begann erneut zu schluchzen. Das alles konnte ich nicht mehr. Dieser Schmerz musste aufhören. „Sag mal hast du sie noch alle?“, schrie Timo sie plötzlich an. „Wie krank kann man im Kopf einfach nur sein? Siehst du nicht, wie es ihr geht?“

„Was ist denn hier los?“, Alex betrat das Zimmer und ich schaute auf. Er sah mich und ging sofort zu mir rüber. „Süße, was hast du denn?“, fragte er leise und kniete sich vor mich. Ich konnte einfach nicht aufhören zu schluchzen. Es tat alles so weh. „Ich hab ihn umgebracht“, flüsterte ich zwischen meinen Tränen. „Mary! Hör mir zu! Du kannst nichts dafür!“, Alex zwang mich ihn anzusehen und ich nickte, obwohl in meinem Kopf etwas ganz anderes vorging.

„Oh, haben wir jetzt schon zwei Freunde?“, fragte Finja grinsend, die immer noch im Raum stand. „Wie dumm kann man eigentlich sein?“, Alex dreht sich zu ihr um und stand auf. „Siehst du nicht, dass sie schon längst am Boden liegt? Und du musst grad noch weiter drauf rumtreten? Bist du eigentlich behindert?“, begann diesmal der junge Mann los zuschreien bis Liam kam und ihn unterbrach: „Alex! Halt die Klappe!“ Eine Menschenmenge hatte sich vor meinem Zimmer und schaute überrascht zu. Meine Lehrer und auch Liam betraten den Raum.

„Was ist hier los?“, fragte Frau Müller spitz und schaute mich wieder komisch an. Warum ich? Ich hatte doch nichts gemacht! „Finja kam in den Raum und hat ihr im Grunde gesagt, dass sie schuld ist, dass Lukas tot ist“, fasste Timo alles zusammen und brachte mich wieder zum Schluchzen. „Es tut mir leid, Liam“, setzte mein Sportlehrer an, doch Liam hob nur die Hand. „Wo ist sein Bild?“, fragte er mich, doch ich konnte nicht antworten. „Liegt in meinem Zimmer“, gab Timo zur Antwort. Dann nahm Liam mich hoch und sagte: „Alex, kannst du bitte das Bild holen?“ Dieser nickte und folgte Timo zu seinem Zimmer.

„Schlaf ein bisschen, dann reden wir weiter“, flüsterte Liam und legte mich auf seinem Bett ab. „Es ist das Beste“, sanft drückte er mir einen Kuss auf die Stirn und deckte mich zu. Ich fühlte mich wie ein kleines Kind, aber ich konnte auch nichts anderes machen. Es machte mich einfach so fertig. Ein bisschen mehr Kraft und es hätte alles verändern können.

„Guten Morgen“, flüsterte jemand neben meinem Ohr und ich schaute verschlafen auf. Liam hatte sich an die Bettkante gesetzt und lächelte mich an. „Morgen“, flüsterte ich und zwang mich zu einem Lächeln. „Du bist heute vom Skifahren befreit. Wir beide haben etwas anderes vor“, sagte mein Cousin und ich schaute ihn verwirrt an. Was hatte der Junge vor?

„Wo ist Alex?“, fragte ich und schaute mich im Zimmer um. Gestern Abend hatte ich mir noch mit beiden das Bett geteilt und jetzt lag ich alleine hier. Abgesehen von Liam. „Der hatte Hunger und ist schon zum Essen“, grinste Liam. Ja, das war typisch Alex. Er hatte eigentlich immer Hunger. Wenn ich da nur gewusst hätte, was Alex wirklich machen würde.

„Was machen wir denn?“, fragte ich, bevor ich in mein Zimmer gehen wollte, um mich fertig zu machen. Wenn ich mir Jogginghosen anziehen konnte, war ich ganz zufrieden, aber Liam meinte, dass wir nach draußen gingen und ich mir etwas Warmes anziehen sollte. Er würde schon mal frühstücken gehen.

Im Zimmer traf ich auf meine Klassenkameraden, die gerade dabei waren, sich ihre Skianzüge anzuziehen. Vermutlich würden sie gleich fahren gehen. „Guten Morgen“, grinste Rebecca mich an und ich grinste zurück. Mir ging es einigermaßen gut, also warum auch nicht grinsen. „Wir fahren heute mit beiden Gruppen zusammen. Gehst du nicht mit?“, fragte Katharina und ich schüttelte den Kopf. „Liam will irgendwas machen. Hat mir aber nichts gesagt.“ Schnell ging ich ins Bad und machte mich fertig, dann packte ich meine rote Skilehrerjacke und ging nach unten. Die Anderen warteten dort noch und Timo kam zu mir rüber.

„Na du?“, fragte er und blieb vor mir stehen. „Alles super und bei dir?“, fragte ich nach und lächelte schief. Er grinste zurück und sagte noch: „Hast du heute Nachmittag eine halbe Stunde für mich?“ Verwirrt schaute ich ihn, aber nickte. Was wollte er denn? Na ja, was solls. Darüber machte ich mir jetzt keine Gedanken, sondern  ging erstmal was essen. Der blonde Alex und Liam saßen mir gegenüber und schwiegen. Irgendwas war los, aber ich traute mich gar nicht nachzufragen. So schweigsam erlebt man die Beiden selten.

„Mary, kommst du?“, fragte Liam, als wir aufgegessen hatten und ich folgte den Beiden zum Skilift. Was wollen wir denn bitte am Skilift? Liam, Alex und ich stiegen in eine Gondel ein und ich fragte mich echt, was wir ohne Skier auf der Piste wollten, aber ich traute mich nicht zu fragen. Angespannt wartete ich, dass wir endlich oben waren und ich aussteigen konnte. Die Beiden führten mich zu einem Mann namens Joseph. Er war Pistenwart und würde mit uns irgendwohin fahren. Langsam bekam ich das Gefühl, dass das nicht sehr lustig werden könnte. Was wenn Liam vorhatte an diese Stelle zu fahren?

Kurze Zeit später bestätigten sich meine Befürchtungen und das Schneemobil hielt am Rand der Piste an. „NEIN! Liam ich kann das nicht!“, schrie ich ihn an, aber mein Cousin verzog keine Miene. „Irgendwann musst du es verarbeiten… Ich glaube, dass das die beste Möglichkeit ist…“ Auch er versteckte seine Emotionen hinter einem ausdruckslosen Gesicht, aber irgendwann konnte ich einfach nicht mehr. Keinen Schritt brachte ich aus diesem Schneemobil heraus bis Alex mich einfach hoch hob und ich wohl oder übel mit zu der Stelle gehen musste. Man hatte damals ein Holzkreuz aufgestellt und somit konnten wir die Stelle genau lokalisieren.

„NEIN! Ich will das nicht!“, begann ich zu schreien und wehrte mich gegen Alex, aber der Blonde ließ mich nicht los und trug mich einfach weiter. Neben dem Kreuz setzte er mich ab und ich sank einfach nur zusammen. Wieder rannen mir die Tränen unaufhörlich über die Wangen und keiner machte etwas. Liam hatte selbst zu kämpfen und Alex stand einfach nur da.

Warum bin ich nochmal hier her gekommen? Es tat alles so weh! In dem Moment kam alles hoch. Meine eigene Mutter, die mir, nachdem wir wussten Lukas ist tot, ins Gesicht geklatscht hatte, dass ich Schuld bin, dass ich meinen eigenen Bruder umgebracht hatte. Meine ganze Schule, die mir nicht geglaubt hatte, weswegen ich von der Privatschule runter bin und auf eine normale bin. Niemand kannte Lukas und ich konnte es einfach vergessen. Vergessen wäre gut, nein einfach in meinem Kopf einsperren, aber es ging nicht. Liam machte hiermit genau das Gegenteil.

„DU BIST SCHULD! DU hast ihn UMGEBACHT!“, hallte immer, immer wieder die Stimme meiner Mutter in meinem Kopf. Ich war schuld und daran konnte man nichts ändern… Lukas hätte alles getan, um mich festzuhalten, aber ich hatte nicht alles getan was ich konnte.

„Mary, wir gehen“, flüsterte Liam nach einer Weile und zog mich hoch. Kraftlos ließ ich mich mitziehen. Ich war so froh, endlich Distanz zwischen mich und den Ort des Grauens zu bringen. Warum hat Liam mir das angetan? Wieso hat er mich dort noch einmal hingebracht?

Als ich mich einigermaßen beruhigt hatte auf der Rückfahrt zur Talstation, wollte ich nur noch alleine sein. Liam fragte mich zwar, ob ich mit zu ihm aufs Zimmer kommen wollte, doch ich ging nur in mein Zimmer und duschte erst einmal. Meine Hosen waren nass, da ich über eine halbe Stunde im Schnee saß und bevor ich krank werden würde…

„Wo willst du hin?“, fragte mich Alex, nachdem ich aus meinem Zimmer ging und die Treppen runter lief. Ich zuckte mit den Schultern. Allein sein wollte ich und keiner sollte mich stören. In circa einer Stunde würden die Anderen wieder kommen und ich hielt es in diesem Zimmer einfach nicht mehr aus. Alex hielt mich am Arm fest und sagte: „Bitte versprich mir, dass du nichts Unüberlegtes tust. Liam würde ein zweites Mal nicht überleben, wenn er dich auf der Brücke sieht!“ Ich senkte meinen Blick, aber nickte. War damals keine Spontanaktion, aber wenn sie so dachten, dann sollten sie.

 

 

 

Kapitel 5

 

„Hier bist du“, flüstert eine Stimme neben mir und Timo setzte sich zu mir in die Bank. Seit gut zwei Stunden saß ich in der kleinen Kapelle und genoss einfach die Ruhe. Ich war öfter in der Kirche gewesen nach Lukas Tod und sie half mir einfach über alles wegzukommen, weil ich wusste, dass Lukas immer bei mir war. Super gläubig war ich auch nicht, aber es half einfach unglaublich.

„Ich hab dich gesucht und Liam wusste auch nicht wo du bist“, flüsterte er wieder zu mir. Wir waren zwar alleine in der Kapelle, aber jedes Wort, welches lauter gewesen wäre, würde die Ruhe zerstören. „Ich bin hier“, flüstere ich fast tonlos. „Was ist los?“, fragte Timo und nahm meine Hand, die in meinem Schoß lag. Er umschlang sie mit seiner und streichelte sanft meinen Handrücken. „Es ist einfach verdammt schwer“, sagte ich und setzte meine Maske auf. Ich wollte nicht mehr weinen und vor allem ich konnte einfach nicht. Es fühlte sich einfach nur leer an.

Timo sagte nichts, sondern nahm mich einfach nur in den Arm. Sein Kinn stellte er auf meinem Kopf ab und streichelte mir immer wieder über den Rücken. Ich weiß nicht, wie lange wir so da saßen, aber irgendwann meinte er, dass es besser ist, wenn wir ins Hotel zurückgingen. Die Anderen würden sich bestimmt Sorgen machen und es würde Essen geben. Timo nahm vor der Kapelle meine Hand und ließ sie nicht mehr los.

„Timo! Mary-Ann!“, rief Frau Müller, als wir zur Tür von der Lobby herein kamen. „Wir haben uns Sorgen gemacht! Ihr Cousin war außer sich vor Sorge.“ Ich zuckte nur mit den Schultern und lehnte mich gegen Timos Oberarm. Ich wollte mir jetzt nicht noch eine Moralpredigt anhören. Von Liam würde diese sowieso noch kommen.

„Wir gehen zu den anderen. In fünf Minuten gibt es sowieso essen und wir wollen noch morgen Abend besprechen!“, warf Frau Müller ein und Timo zog mich sanft an meiner Hand, die er nicht losgelassen hatte mit in den Saal zu unserem Standarttisch. Finja beäugte mich wieder komisch, aber sagte nichts. Sie wusste hoffentlich, dass sie gestern Abend zu weit gegangen war.

Das Essen wurde serviert, aber ich ließ meins unberührt. Ich hatte keinen Hunger. Schon allein bei dem Anblick wurde mir schlecht. „Iss bitte was“, sagte Timo leise zu mir, als er das bemerkte, doch ich schüttelte kaum wahrnehmbar den Kopf. „Bitte“, sagte er nochmal, aber ich zeigte keine Reaktion. Unter dem Tisch griff er nach meiner Hand und sagte nochmal leise: „Du brauchst die Kraft! Wenn es für dich einfacher ist, kannst du heute auch bei mir schlafen, aber bitte iss etwas!“

Ich zwang mich zu allem, nur damit Timo Ruhe gab. Sogar den Nachtisch aß ich auf, aber wirklich schmecken tat es nicht. Alles schmeckte einfach nur nach Papier und mein Blick lag leer auf meinem Essen. Die Gespräche der Anderen bekam ich nicht mit und ich hörte auch nicht zu, als wir besprachen, was wir morgen Abend machen würden. Es war der letzte Tag morgen. Ein letztes Mal in St. Anton Ski fahren.

„Tschuldigung, dass ich so reinplatze. Ist Mary zurück?“, hörte ich in meiner halben Abwesenheit Liam. Ich sah auf und in seinem Gesichtsausdruck lag Erleichterung. Warum Erleichterung? Dass ich mich doch nicht von der Brücke gestürzt habe.

Mit großen Schritten kam er zu mir rüber und nahm mich in den Arm. „Ich hab mir Sorgen gemacht“, flüsterte er und sofort kam wieder alles hoch. Die letzten zwei Jahre hatte sich niemand wirklich um mich gesorgt. Nur Liam, der ab und zu mal vorbei kam und alle zwei Tage mit mir telefonierte. „WAS? Dass ich wieder auf dieser Brücke stehe oder was?“, schrie ich ihn an. Ein Schluchzen danach konnte ich nicht und dann rannte ich raus. Liam ließ ich einfach so stehen. Was die Anderen dachten war mir egal, aber vermutlich würde Frau Müller nach dieser Aktion alles erzählen.

„Alles in Ordnung?“, Timo kam mir auf halbem Weg entgegen, der vorhin kurz aufs Klo gegangen ist und ich nickte nur. Dann rannte ich in mein Zimmer und schmiss mich auf mein Bett. Ich hatte einfach keine Kraft mehr.

„Liam, ich sehe wie fertig du bist. Du kannst nicht immer der Starke sein! Schlaf dich auf und ich pass auf sie auf heute Nacht“, hörte ich Timo leise sagen und Liam flüsterte nur: „Danke und lass sie nicht aus den Augen. Ich will sich nicht noch einmal vom Brückengeländer wegziehen!“ Dann stand er auf und ging aus dem Zimmer, nachdem er mir noch einen Kuss in die Haare gedrückt hatte. Anscheinend war er mit Timo kurz danach ins Zimmer gekommen.

„Komm, nimm ein paar Klamotten und wir gehen zu mir. Nur noch morgen und dann hast du es geschafft!“, flüsterte Timo und zog mich an meiner Hand auf die Beine. Suchend schaute ich mich im Zimmer um, was für Klamotten ich mitnehmen sollte. Irgendwie konnte ich mich nicht wirklich entscheiden, da griff Timo nach meinem Rucksack und füllte ihn mit meinen Schlafklamotten, die sorgfältig unter meinem Kopfkissen lagen. „Ist das deine Tasche?“, fragte er und zeigte auf den kleinen schwarzen Trolli, in dem ich meine Sachen verstaut hatte. Wortlos nickte ich und er suchte in der Tasche Klamotten für morgen, da ich wieder mit fahren sollte.

„Timo, was machst du an Marys Tasche?“, fragte Rebekka belustigt, die mit Simon, Katharina, Erkan und Julia ins Zimmer marschierten. Ich zuckte mit den Schultern und schaute wieder in die Leere. „Ich such Klamotten“, sagte Timo nur und packte einen meiner BHs in den Rucksack. „Muss man jetzt nicht verstehen oder?“, fragte Simon weiter und beäugte mich komisch von der Seite. Hatte Frau Müller doch nichts erzählt? Diese Frage stellte ich schlussendlich auch und die fünf schüttelten den Kopf. Ich nickte wissend.

„Darf ich fragen, was du vorhin mit Brücke gemeint hast?“, fragte Katharina vorsichtig, die sich neben mich gesetzt hatte und nahm die Frage sofort wieder zurück, nachdem sie Timos Blick gesehen hatte. „Es hat doch alles keinen Sinn…,“ flüsterte ich leise und schaute Timo traurig an. Dieser kam zu mir rüber und kniete sich vor mich. „Du bist ein starkes Mädchen und ich weiß du schaffst das!“ Sanft drückte er mir einen Kuss auf die Stirn.

„Wisst ihr noch, als Finja behauptet hatte, dass ich meinen Bruder umgebracht habe?“, fragte ich ohne auch nur irgendwie das Gesicht zu verziehen. Sie nickten sanft. „Das stimmt… Ich habe ihn umgebracht…“, flüsterte ich und senkte meinen Kopf. Man hatte mich in den letzten Tagen zu oft weinen sehen. „Nein!“, griff Timo ein und erzählte die Geschichte.

„Mary, du kannst dir doch nicht die Schuld an was geben, wofür du nichts kannst“, sagte Rebecca und ich schüttelte nur den Kopf. Ich hatte ihn nicht festgehalten und das hätte ich können, wenn ich richtig zugepackt hätte. Es war vorbei, ich hatte einfach keine Kraft mehr hier zu bleiben.

Timo sah die anderen entschuldigend an und zog mich an eine Hand hoch. Sanft schob er mich in Richtung seines Zimmers und ich ließ mich auf seinem Bett nieder. Leere. Das war alles was ich noch fühlte. Man hatte mir damals meine Person genommen, die ich am meisten brauchte. Ich wusste ja, dass meine Mutter Lukas immer mehr geliebt hatte als mich, aber ich dachte, dass man in solchen Situationen zusammen hielt. Aber ich wurde in meiner Gutgläubigkeit eines besseren belehrt. Und jetzt? Jetzt war ich ein nichts.

„Weißt du was? Ich lasse dir jetzt ein Bad ein und du entspannst dich ein bisschen, während die anderen Nachtrodeln sind. Dann wird’s dir wieder besser gehen!“, schlug Timo vor und ich zuckte mit den Schultern. Eigentlich wollte ich mich nur noch verkriechen gehen und nie wieder auftauchen. Alles zerrte einfach nur an meinen Nerven und ich musste mich ständig zurückhalten nicht auszurasten.

Nur noch morgen Mary! Versuchte ich mich selbst zu beruhigen. Morgen gegen elf Uhr würden wir dann wieder den Rücktritt zur Schule antreten. Dies war mir sogar ganz recht. Timo würde mit uns im Bus fahren, da er ebenfalls in Köln wohnte, allerdings hatte ich wie gesagt den Kontakt seit Lukas Tod zu ihm vermieden. Generell hatte ich jeden Kontakt, den ich mit dem Skiurlaub verband, vermieden.

Als ich nach dem heißen Bad zurück ins Zimmer kam, lag Timo schon im Bett und hatte sein Augen geschlossen. Wie friedlich er da lag. Da ich ihn nicht wecken wollte, legte ich mich auf die andere Seite des Doppelbettes und starrte an die Wand.

Was wäre, wenn ich ihn festgehalten hätte? Würde er dann neben mir liegen? Würde meine Mutter mich dann weniger hassen? Wahrscheinlich würden wir alle noch in unserer Wohnung in Köln leben. Ich wäre auf meiner alten Schule geblieben und alles wäre super…

„Sorry, ich bin wohl eingeschlafen“, flüsterte Timo und drehte sich zu mir. „Kein Problem“, antwortete ich und wischte mir unauffällig die Tränen aus dem Gesicht. Natürlich sah Timo es trotzdem und zog mich sanft zu sich. Meinen Kopf legte ich auf seiner Schulter ab. Immer wieder strich er mit seiner Hand über meinen Rücken. „Wir sollten schlafen“, unterbrach er irgendwann die Stille und ich nickte unmerklich. In gerade mal sieben Stunden mussten wir wieder aufstehen.

 

 

Kapitel 6

Durch ein Klopfen an der Tür wurde ich geweckt. Verwirrt schaute ich mich um. Irgendwie realisierte ich gerade nicht wo ich war. Im meinen Bauch war ein Arm gelegt, der mich hinderte aufzustehen und demjenigen zu öffnen der klopfte. Verwirrt drehte ich mich in dem Griff um. Daraufhin blickte ich in Timos Gesicht und mir fiel es wie Schuppen von den Augen. Ich hatte hier geschlafen. War es denn schon so spät?

„Timo“, etwas unsanft rüttelte ich den Brünetten neben mir, der sofort seine Augen aufriss. „Alles in Ordnung?“, fragte er erschrocken und ich nickte. Es klopfte erneut und er verstand. Schnell löste er den Arm um mich und stand auf. Währenddessen schaute ich auf die Uhr und sah, dass wir sowieso gleich aufstehen sollten. Sieben Uhr… Einfach viel zu früh.

Liam betrat das Zimmer und begrüßte mich mit einer Umarmung. Er sah viel besser aus als gestern. Anscheinend hatte ihm das Ganze hier mehr zu schaffen gemacht, als dass ihm lieb war. „Ich wollte eigentlich kurz mit Timo reden“, meinte er und ich nickte. „Ich wollte eh meine Sachen packen gehen“, flüsterte ich und zog meine Jogginghose über meine Schlafshorts. Dann nahm ich mir noch Liams Sweatshirt, welches auf dem Stuhl nebendran lag und packte alle meine Sachen, die bei Timo lagen.

„Wie geht es dir?“, Simon kam mir auf dem Flur entgegen und ich verdrehte einfach nur die Augen. Ohne ein Wort ging ich weiter. Ich wollte jetzt nicht reden. Jeder würde einfach nur dumme Fragen stellen. Weg, einfach nur weg wollte ich von diesem Ort. Hier hingen zu viele Erinnerungen dran.

Eine Stunde später traf sich die Klasse im Frühstücksraum, um nochmal gemeinsam zu frühstücken, bevor der Bus bald kommen würde. Liam und Alex hatte ich seit heute Morgen nicht mehr gesehen, aber ich denke, dass sie nach dem Frühstück nochmal zu mir kamen. Und wie ich es vorausgesehen hatte, warteten mein Cousin und sein  bester Freund vor dem Saal auf mich. „Hast du kurz Zeit, bevor ihr fahrt?“, fragte er und ich nickte.

„Ich habe gestern Abend einen wichtigen Anruf vom Geschäft bekommen. Alex und ich, wir müssen heute zurück nach London fliegen“, platzte es aus Liam heraus und man sah wie unwohl er sich dabei fühlte. Auch mir war das nicht recht. Ich brauchte ihn doch! „Es ist wirklich wichtig und wir können unseren Urlaub nicht verlängern. Da ich aber unbedingt will, dass du deinen Schulabschluss hier machst, kann ich dich nicht mitnehmen…“ Super, das heißt ich muss irgendwie alleine klar kommen? „Deshalb habe ich Timo gefragt, ob er vorerst bei dir Wohnen würde, damit du nicht alleine bist“, schlug Liam vor und ich schaute ihn mit großen Augen an. Das war jetzt nicht sein Ernst? „Du willst mir einen Babysitter in die Wohnung setzten?“, fragte ich leicht zornig. „Mir geht es beschissen und alles was dir einfällt ist, dass jemand anderes anstatt dir, derjenige, der am besten weiß wie es mir geht, zu mir ziehen kann? Manchmal frage ich mich echt, wo du dein Gehirn gelassen hast Liam, aber gut. Tu was du für richtig hälst!“, dann drehte ich mich um und ging in mein Zimmer, um meinen Koffer und alles zur Tür zu schleppen, damit der Busfahrer ihn einräumen konnte.

Auf der Rückfahrt hatten wir nur einen zwanzig Personen Bus mit Anhänger, weswegen ich mir keinen Doppelsitz alleine nehmen konnte. Ich hatte mich, auch wenn ich extrem sauer auf Liam war, trotzdem von ihm und Alex verabschiedet. Deshalb war ich auch die letzte, die in den Bus stieg. Natürlich konnte ich mir dann keinen Platz mehr heraussuchen und musste mich gezwungenermaßen neben Timo hinter meinen Lehrer setzen. Ohne ein Wort zu sagen, lauschte ich der Rede von Herr Schnell, wie er die Skifreizeit fand. Er bedankte sich auch nochmal bei mir für die Unterstützung und setzte sich dann wieder hin. Frau Müller war mit dem Auto schon vorgefahren, da sie pünktlich wegen ihren Kindern zuhause sein musste.

Als Herr Schnell endlich fertig war, nahm ich meine Kopfhörer und steckte mir diese ins Ohr. „It’s my life, it’s now or never“, dröhnte mir Bon Jovi entgegen und ich schaltete einfach ein Lied weiter. Nach Party war mir jetzt gar nicht. Dann schloss ich die Augen und versuchte einfach zu schlafen. Da ich am Gang saß, konnte ich mich schlecht am Fenster anlehnen, also legte ich meinen Kopf auf die Ablage vor uns, die es Gott sei Dank gab. Meinen dicken Pulli benutzte ich als Kissen und bettete meinen Kopf darauf, aber irgendwie erschien mir es unmöglich zu schlafen. Nach schon zehn Minuten setzte ich mich wieder gerade hin, da mein Rücken das nicht lange mitmachen würde. Ich wollte einfach nur noch Heim in mein Bett.

Um irgendwie eine gemütlichere Position zu finden, rutschte ich etwas tiefer in den Sitz, winkelte meine Knie an, die ich dann zwischen Tisch und meinen Körper klemmte. Auch das war nicht wirklich bequemer, dennoch legte ich meinen Kopf an meinen Oberschenkeln ab und schloss die Augen. Kurze Zeit später wurde ich wieder nach oben gezogen und zwei Arme schlangen sich um meinen Bauch. Mein Rücken lehnte an Timos Brust und es war einfach nur bequem. Zumindest was man im Bus bequem nennen konnte. Kurz öffnete ich meine Augen und sah Simon und Erkan, wie sie sich vermutlich mit Timo unterhielten, denn ab und zu spürte ich ein Vibrieren der Brust hinter mir.

„Mary?“, eine Stimme weckte mich und ich öffnete die Augen. Ich lehnte immer noch an Timo und der Bus sah relativ leer aus. Waren wir schon da? Hatte ich solange geschlafen. Der Brünette zog auch noch meinen zweiten Kopfhörer aus dem Ohr. „Ich müsste mal aufs Klo… Wir machen grad Pause“, erklärte mir der Köllner und ich nickte. Wortlos und verschlafen stand ich auf, zog meinen dicken Pulli, den ich als Decke benutzt hatte über und folgte ihm nach draußen. In meiner Hosentasche fand ich noch fünf Euro, die ich dazu benutzte mir eine heiße Schokolade und ein Twix zu holen. Langsam kroch der Hunger in mir hoch, da ich nicht wirklich gefrühstückt hatte.

„So viel heute zum Frühstück?“, fragte Timo und drückte mir noch ein belegtes Brötchen in der Hand. „Das isst du jetzt!“, befahl er mit fester Stimme. Wohl oder übel musste ich das Brötchen jetzt essen. Timo würde nicht eher Ruhe geben bis ich es gegessen hatte. Mit hängenden Schultern stieg ich wieder in den Bus und setzte mich aber diesmal ans Fenster. Der Brünette kam und schaute mich lange an, wie als wollte er sagen: „Das ist mein Platz! Geh weg!“ Gezwungenermaßen stand ich auf und ließ Timo auf seinen Platz. Kaum hatte ich mich wieder hingesetzt, zog der Brünette mich an sich. Na super, eigentlich wollte ich das jetzt verhindern…

„Mary, sollen wir dich wieder mit Heim nehmen von der Schule?“, fragte Erkan mich von der anderen Seite. Bevor ich antworten konnte, warf Timo schon ein, dass uns seine Schwester abholen würde. Na super… Jetzt konnte ich noch nicht einmal alleine Heim gehen.

Wir stiegen drei Stunden später aus dem Bus aus und Timo ging schnurrstracks auf eine junge Brünette zu. Sie war circa achtzehn und somit ein bisschen älter als ich. Lachend nahm sie ihn in den Arm und drückte ihn sanft. Der Brünette schaute mich um, und wank mich zu sich. „Elisa, das ist Mary. Bei ihr werde ich jetzt eine Weile wohnen“, stellte er mich vor. Ich nickte Elisa zu, sagte aber nichts. Freundlich ging sie auf mich zu und nahm mich in den Arm. Etwas perplex und überrascht erwiderte ich die Umarmung und hörte ein leises: „Freut mich, dass mein Bruder wieder ein Mädchen kennen gelernt hat.“ Bitte was?

„Ich bin aber nicht seine Freundin“, erwiderte ich leise, so dass Timo es nicht hören konnte. „Ich weiß, aber was nicht ist, kann ja noch werden!“, lachte sie und ging ihrem Bruder helfen, der seine Skier in ihr Auto laden sollte. Oder sollte ich besser sagen: Timos Auto, welches er ihr für die zwei  Monate gegeben hatte, während er in St. Anton war und Schulklassen unterrichtete.

„Du sagst mir, wie ich fahren muss?“, fragte Timo mich, als ich mich auf den Beifahrersitz gleiten lies. Elisa hatte sich nach hinten gesetzt und fragte Timo dann während der Fahrt über die zwei Monate aus. Man merkte, dass die Beiden sich super verstanden. So ein hoher Altersunterschied war es zwischen den Beiden ja wohl nicht.

„Wir sind da“, sagte ich leise und Timo fuhr in die Tiefgarage runter, die ich ihm zeigte. Trotz, dass ich kein Auto hatte, mietete Liam diesen Platz trotzdem, damit er dann dort parken konnte, wenn er mal in Köln war. Meine Skier und Skischuhe trug ich in den kleinen Abstellraum, der zum Stellplatz gehörte und stellte sie dort ins Regal. Wie aus Gewohnheit strich ich noch einmal über Lukas alte Ski. Ich konnte mich einfach nicht dazu durchringen diese wegzuwerfen.

„Mary? Kommst du?“, fragte Timo und ich nickte. Seine Schwester würde seine Skisachen jetzt heimfahren und ihm dann später das Auto bringen, erklärten mir die Beiden und ich nickte. Elisa zog mich überraschenderweise noch in eine Umarmung und stieg dann ins Auto. Etwas perplex nahm ich meine Tasche und schloss die Tür zum Treppenhaus auf.

„Du bist wieder da!“, schrie eine Person und rannte mir entgegen, als ich gerade die Wohnungstür geöffnet hatte. Lea zog mich in eine feste Umarmung und flüsterte: „Liam hat mich angerufen und mir alles erzählt. Es tut mir so leid…“ Tränen stiegen mir in die Augen und ich konnte mich einfach nicht beherrschen. Die ersten Tränen rollten über meine Wangen, was Lea dazu veranlasste mich noch fester zu drücken. Meinen Kopf vergrub ich in ihrem Schal und versuchte mich darauf zu konzentrieren nicht mit dem Schluchzen anzufangen. Ich wollte nicht, dass Timo mich schon wieder weinen sah.

Kaum hatte ich mich beruhigt, zog ich Lea einen Schritt von der Tür weg und ließ Timo, der immer noch im Türrahmen stand in die Wohnung. „Und wer bist du?“, fragte Lea etwas verwirrt. Anscheinend hatte Liam ihr doch nicht alles erzählt. „Timo“, stellte er sich vor und Lea sagte ebenfalls ihren Namen. „Ich erzähl das dir gleich“, meinte ich leise und fragte, ob sie was gekocht hatte. Die Schwarzhaarige nickte und sagte, dass die Pizza im Ofen war. So kannte ich meine Lea.

„Soll ich deine Sachen später mitwaschen Timo?“, fragte ich den Brünetten und er meinte nur, dass er diese auch selbst waschen könnte, doch ich schüttelte nur den Kopf. Wie ein Packesel schleppte ich beide Taschen ins große Bad und ließ diese erstmal darin stehen. Kurz schaute ich noch in mein Gästezimmer und stellte fest, dass Bett und alles noch bezogen werden musste. Bevor ich Timo das Zimmer zeigte, machte ich das noch schnell und gesellte mich dann zu Lea und ihm ins Wohnzimmer. Allerdings blieb ich am Türrahmen stehen und lauschte, was die Beiden erzählten. Keiner der beiden schien mich bemerkt zu haben.

„Liam hatte mich dann gefragt, ob ich solange hier bleibe, weil er sie nicht alleine lassen wollte“, sagte Timo und Lea nickte: „Ging es ihr wirklich so schlecht?“ „Sie kam mir vor wie vor zwei Jahren. Ich war derjenige, der sie damals aufgefangen hatte. Es gab Stunden da war es besser, aber es gab auch Stunden, die waren einfach nur die Hölle. Glaub mir, es tut mir so verdammt weh sie so zu sehen.“ Lea seufzte: „Gerade dachte ich es wird besser….“ Es war an der Zeit das Gespräch zu unterbrechen. Ich konnte mir das nicht länger anhören. „Ich bin auch noch hier. Ihr braucht nicht über mich zu sprechen, als wäre ich nicht da“, räusperte ich mich und meine beste Freundin warf mir einen entschuldigenden Blick zu.

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 03.01.2016

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