Für BENU,
meinen kleinen Abenteurer.
"Der Zauber dieser Welt liegt in allem, was dich umgibt.“
Die verschollene Prophezeiung
Der Tag der Tage wird kommen, an dem sich die Pforte zur Anderswelt auftut, um Heerscharen niederträchtiger Kreaturen in eine unwissende Welt zu entlassen.
Unaussprechliches wird über die Menschen kommen, so schrecklich, dass niemand es sich vorstellen kann. Städte werden brennen, ganze Landstriche dem Erdboden gleichgemacht werden. Armeen und Waffen können diesen Dämonen nichts anhaben.
Am Morgen des längsten Tages, wenn die sieben Schwestern aufsteigen und das siebente Siegel gebrochen wird, wird die große Drangsal über die Menschheit hereinbrechen.
Poseidonios (griech. Gelehrter, von 135 v.Chr. - 55 v.Chr.)
Schatten der Vergangenheit

PROLOG
Mein Name ist Oliver Bain und ich bin Vollwaise.
Meine Eltern starben bei einem schrecklichen Autounfall, den ich selbst nur durch ein Wunder knapp überlebt habe.
Wahrscheinlich habt ihr jetzt Mitleid mit mir. Tut es nicht, denn ich bin schuld an ihrem Tod.
Alles begann am 21. Dezember 2008.
Meine Eltern und ich waren an diesem Tag zur Geburtstagsfeier meines besten Freundes Jeremy Foster eingeladen. An die Party selbst erinnere ich mich nicht mehr. Ich weiß nur noch, dass meine Mutter irgendwann sagte, wir müssten jetzt gehen. Ich glaube, ich habe gar nicht gemerkt, dass all die anderen Kinder mit ihren Eltern schon weg waren. Das Spielen mit Jeremy hat mich immer alles andere vergessen lassen.
Wir wollten gerade das Haus verlassen, als mein Freund auf die dumme Idee kam, ich könnte doch bei ihm übernachten. Was mir heute dumm vorkommt, war damals die beste Idee aller Zeiten. Flehend schaute ich meine Eltern mit meinen großen blauen Augen an, wie ich es immer tat, wenn ich etwas unbedingt wollte. Der Trick funktionierte fast jedes Mal, denn sie konnten dem kleinen, süßen Fünfjährigen, der ich damals war, einfach nichts abschlagen. Aber bevor meine Mutter oder mein Vater auch nur die Chance hatten, auf mein Betteln zu reagieren, kam Mrs. Foster, Jeremys Mutter, wie eine wild gewordene Bisamratte aus der Küche gerannt, mit einer tropfnassen Schürze und fuchtelte wild mit ihren Spülhandschuhen herum.
»Nein! Beim besten Willen nicht. Ihr Sohn kann heute nicht bei uns übernachten. Beim besten Willen nicht. Das geht wirklich nicht. Ich habe noch so viel zu tun und ... nein, an jedem anderen Tag, aber nicht heute«, fuhr sie meine Eltern mit weit aufgerissenen Augen gestresst an.
Um ehrlich zu sein, kannte ich Frau Foster nicht anders. Sie war immer nervös, unausgeglichen und mit allem gnadenlos überfordert.
Ich hatte ein wenig gehofft, dass meine Mutter versuchen würde, sie zu überreden, aber stattdessen kniete sie sich vor mich auf den Boden und schaute mir liebevoll in die Augen. Ich hatte das Gefühl, dass es ihr in diesem Moment ein wenig leid tat, mir diesen Wunsch abschlagen zu müssen.
»Du hast sie gehört, Oli. Ein andermal klappt es bestimmt. Außerdem ist es schon spät, aber vielleicht schaffen wir es noch rechtzeitig nach Hause, damit du vor dem Schlafengehen noch eine Folge Spongebob sehen kannst.«
Ich wollte mich gerade damit abfinden, als Jeremy plötzlich völlig ausrastete. Er tobte und schrie seine Mutter an, dass er Geburtstag habe und ich bei ihm übernachten solle. Mrs. Foster versuchte es meiner Mutter gleichzutun und kniete sich vor ihren Sohn.
»Hör zu, Jeremy! Oliver kann heute nicht hier schlafen. Mama hat so viel zu tun, und dein Papa hilft mir nicht. Ich kann nicht auch noch auf euch beide aufpassen, dass ihr keinen Blödsinn macht. Aber du kannst ja Spongebob gucken, wenn du willst.«
Damals konnte ich es nicht verstehen, aber heute weiß ich, dass es ein beispiellos kläglicher Versuch war, ihren Sohn zu beruhigen. Was Jeremy sie sofort spüren ließ - er holte aus und schlug ihr mit der Hand mitten ins Gesicht. Erschrocken stand ich da und konnte nicht glauben, was sich gerade vor meinen Augen abgespielt hatte.
»Ich will Spongebob nicht sehen, ich hasse Spongebob. Ich will, dass mein Freund bei mir schläft, du blöde Ziege. Ich hasse dich, ich hasse euch alle«, schrie er sie an und rannte die Treppe hinauf in den ersten Stock, wo sein Zimmer war.
Mrs. Foster saß auf dem Boden, rieb sich die Wange und weinte. Ich wollte Jeremy hinterherlaufen, weil er mir irgendwie leid tat, aber Mama griff nach meinem Arm und hielt mich auf.
»Was soll das Geschrei? Hast du deinen Jungen wieder nicht im Griff, du blöde Ziege?«, kam ein wütend stampfender Mr. Foster aus dem Nebenzimmer, der sich während der ganzen Feier nicht hatte blicken lassen, nur mit einem fleckigen Unterhemd und einer ausgebleichten Boxershorts bekleidet.
Zuerst entdeckte er seine wimmernde Frau auf dem Boden, dann bemerkte er, dass da noch jemand war. Verächtlich sah er meine Eltern und mich an.
»Seid ihr immer noch da?«, fragte er gereizt und nahm mit zusammengekniffenen Augen einen tiefen Zug aus seiner Zigarette.
»Ich glaube, es ist Zeit für uns zu gehen. Vielen Dank für die Einladung, Mrs. Foster und Mr. Foster«, sagte meine Mutter und wandte sich, ohne eine Reaktion abzuwarten, von dem nach Alkohol stinkenden Mann ab. Mein Vater öffnete schnell die Haustür und ich wurde am Ärmel nach draußen gezogen. Mit einem lauten Knall fiel die Tür hinter uns ins Schloss und Mama zuckte erschrocken zusammen. Ich war erst fünf Jahre alt, aber ich spürte, dass sie große Angst vor Mr. Foster hatte. Sie schloss die Augen, atmete ein paar Mal tief die eisige Luft durch die Nase ein und strich mir dann liebevoll über mein braunes Haar.
»Ich bin so froh, dass du nicht so bist wie dein Freund Jeremy«, sagte sie lächelnd. »Du bist ein guter Junge, Oli.«
»Ich mag Jeremy«, erwiderte ich mürrisch. »Und ich schlafe auch gern bei ihm.«
»Das geht nicht, Schatz«, antwortete sie mir mit ruhiger Stimme.
»Warum nicht?«, wollte ich trotzig wissen.
»Weil es so ist«, antwortete sie, was mich überhaupt nicht zufrieden stellte.
»Unser Auto ist ganz eingeschneit«, warf mein Vater ein und zeigte auf den großen Schneehaufen in der Einfahrt.
»Toll!«, entgegnete meine Mutter. »Bis wir hier fertig sind, ist es schon dunkel und dann muss ich wieder fahren.«
Sobald die Dämmerung einsetzte und die Autofahrer ihre Scheinwerfer einschalteten, konnte mein Vater nicht mehr hinterm Steuer sitzen. Das Licht der entgegenkommenden Fahrzeuge verursachte ihm so starke Kopfschmerzen, dass er keinen klaren Gedanken fassen, geschweige denn sich auf das Fahren konzentrieren konnte.
Meine Mutter hatte Recht. Als das Auto vom Schnee befreit war, war es schon dunkel. Sie saß auf dem Fahrersitz und trommelte nervös auf dem Lenkrad herum.
»Alles wird gut! Du schaffst das!«, sagte mein Vater und strich ihr liebevoll über den Oberschenkel.
»Ja«, seufzte sie. Sie schaute erst zu mir und dann zu meinem Vater. »Alle bereit?«
»Bereit!«, rief ich.
»Ich bin auch bereit«, antwortete mein Vater und setzte seine stark verdunkelte Brille auf.
»Dann kann es ja losgehen«, sagte sie und drehte zögernd den Zündschlüssel um.
»Der Motor ist nicht explodiert, das ist doch schon mal ein gutes Zeichen«, scherzte mein Vater und bekam dafür einen leichten Schlag in die Seite.
»Mach dich nicht über mich lustig«, fuhr sie ihn halb scherzend an.
»Das würde ich nie tun«, antwortete er frech.
Bevor mein Vater diese Probleme hatte, war er der Einzige, der Auto fuhr. Ich weiß nicht einmal, ob Mama vor seiner Krankheit überhaupt einen Führerschein hatte. Schon als ich fünf Jahre alt war, wusste ich, dass sie es hasste, hinterm Steuer zu sitzen. Und zu allem Überfluss schneite es auch noch wie verrückt.
Auf dem Weg von den Fosters nach Perth, wo wir in einem schicken Häuschen wohnten, mussten wir durch den Kinnoll Hill Woodland Park fahren. Eigentlich keine große Sache, aber bei diesen Wetterkapriolen wurde die dreizehnminütige Fahrt für meine Mutter wahrscheinlich zum Albtraum.
Ich habe von all dem nicht viel mitbekommen. Ich saß brav auf dem Rücksitz und schaute aus dem Seitenfenster. Ich weiß noch, wie ich mir vorstellte, dass all die Schneeflocken, die an der Scheibe vorbeizogen, unzählige Sterne waren und ich der Captain unseres Raumschiffs - wie der glatzköpfige Mann in der Fernsehserie, die mein Vater immer so gerne sah. Aber die bloße Vorstellung hielt mich nicht lange bei Laune. Es war nur ein Gedanke und einfach nicht dasselbe, wie es im Spiel mit meinem besten Freund zu erleben. Wieder kam diese Traurigkeit und Enttäuschung in mir hoch, dass ich nicht bei ihm übernachten durfte.
»Fahr bitte nicht so schnell, mein Schatz. Da vorne kommt gleich eine ziemlich scharfe Rechtskurve«, unterbrach mein Vater die Stille und riss mich aus meinen Gedanken. Meine Mutter reagierte nur mit einem genervten Brummen.
»Warum durfte ich nicht bei Jeremy übernachten? Magst du meinen Freund nicht?«, fragte ich.
»Oh doch, mein Schatz. Aber ... verdammt!«
Ein heftiger Ruck ging durch das Auto.
»Lass mich das machen, Eva, konzentrier dich lieber aufs Fahren«, sagte mein Vater und drehte sich zu mir um. Ich weiß noch, dass ich sehr erleichtert war, als er seine Brille abnahm, denn seit Jeremy mir heimlich diesen Film mit den grauen Wesen mit den großen schwarzen Augen gezeigt hatte, machte mir der Anblick meines Vaters mit den schwarzen Brillengläsern Angst.
»Es liegt nicht an Jeremy. Dein Freund kann nichts dafür, dass er ist, wie er ist. Seine Eltern sind schuld. Findest du nicht auch, dass sein Vater total gruselig ist, mit all den Guacamole-Flecken auf seinem Unterhemd und dem ekelhaften Mundgeruch?«
Ich musste lachen, aber meiner Mutter gefiel es gar nicht, was mein Vater gerade machte.
»Und Jeremys Mutter? Die ist so ...«
»Harry, lass gut sein. Wir machen uns nicht über die Probleme anderer Leute lustig«, unterbrach sie ihn verärgert.
»Warum nicht?«, fragte er und wandte sich wieder meiner Mutter zu. »Du musst doch zugeben, dass sie sehr eigen sind...« Mitten im Satz brach er ab und schrie aus voller Kehle: »Pass auf, Eva!«
Verängstigt, aber auch neugierig beugte ich mich zur Seite, um durch die Windschutzscheibe zwischen den Vordersitzen hindurch zu schauen. Mitten auf der schneebedeckten Straße stand eine Frau. Ihr langes schwarzes Kleid bewegte sich seltsam, als wäre sie unter Wasser, genau wie ihr langes dunkles Haar. Es ist merkwürdig, aber wenn ich mich daran erinnere, ist es, als würde dieser eine Moment, in dem ich sie sah, in Zeitlupe ablaufen. Wäre ich ein begabter Maler, hätte ich dir ein Bild von ihr gemalt, so gut erinnere ich mich an sie. Ihre Haut war totenbleich und ihre Augen schwarz unterlaufen.
Meine Mutter schrie wie am Spieß und versuchte zu bremsen, damit wir nicht in sie hineinrasten. Aber der Schnee auf der Straße ließ uns ins Rutschen kommen. Mein Vater gab keinen Laut von sich - dachte ich zumindest, aber wenn ich mich in der Erinnerung auf ihn konzentriere, höre ich ihn etwas murmeln, ganz leise, in einer Sprache, die ich nicht kannte. Plötzlich schossen gewaltige Schwingen aus Feuer und Rauch aus der dunklen Frau hervor. Der ohrenbetäubende, dämonische Schrei, den sie ausstieß, verfolgt mich noch heute in meinen Träumen.
Papa tat, wozu Mama nicht mehr fähig war. Er riss das Lenkrad scharf nach rechts und es kam, wie es kommen musste. Unser Volvo geriet ins Schlingern und überschlug sich mehrmals, bevor er mit einem donnernden Krachen auf dem Dach liegend an einem Baum zum Stehen kam.
Ich hing kopfüber in meinem Sicherheitsgurt. Mir drehte sich der Kopf und ich glaubte, mich jeden Moment übergeben zu müssen. Auch als ich wieder zu mir kam, konnte ich nicht begreifen, was da gerade passiert war. Ich wusste nur, dass alles auf dem Kopf stand und dass ich durch den Gurt, der sich um meine Brust schnürte, kaum Luft bekam. Ich hatte unsagbare Angst.
Atemlos rief ich nach Mama und Papa, aber sie antworteten nicht, und ich verstand nicht, warum. Tränen perlten von meinen Augenbrauen und meiner Stirn und fielen auf den hellen Stoff des Dachhimmels unter mir.
Je länger ich dort hing, desto schwummeriger wurde es mir im Kopf. Ich begriff, dass ich den Gurt irgendwie lösen musste, was gar nicht so einfach war. Ich weiß nicht mehr wie, aber ich schaffte es und plumpste nach unten. Überall lagen kleine Glassplitter von den zerbrochenen Fensterscheiben herum, aber es gelang mir, aus dem völlig demolierten Volvo herauszuklettern, ohne mich zu verletzen.
»Mama? Papa?«, rief ich noch einmal.
Ich hatte die leise Hoffnung, dass, wenn ich es aus dem Auto schaffte, meine Eltern dort freudestrahlend auf mich warten würden - aber dem war nicht so.
Inzwischen hatte es aufgehört zu schneien, aber es war noch kälter als zu dem Zeitpunkt, als wir bei den Fosters losgefahren waren. So eisig, dass man die Luft, die aus meinem Mund kam, deutlich sehen konnte. Aber es war nicht nur die Kälte, die mich am ganzen Körper zittern ließ, sondern auch die Angst, dass dieses schreckliche Monster in Frauengestalt immer noch da sein könnte. Im Verborgenen lauernd, nur auf eine Gelegenheit wartend, mich zu schnappen. Das schummrige Mondlicht und die Scheinwerfer unseres Volvos konnten dem angrenzenden Wald nichts von seinem Schrecken nehmen.
Ich versuchte, die Beifahrertür zu erreichen, wo ich immer noch meinen Vater vermutete, aber der Baum hatte sich geradezu in die Seite gefressen. Ich konnte nicht glauben, dass dieser Schrotthaufen tatsächlich unser Auto war.
Als mir klar wurde, dass ich keine Chance hatte, an meinen Vater heranzukommen, lief ich um das Wrack herum und beugte mich zum Fenster der Fahrerseite.
»Mama?«, fragte ich mit ängstlicher Stimme. »Mama, bist du da drin?«
In meiner Erinnerung war es innen stockdunkel. Ich weiß nicht, ob es wirklich so war oder ob mein Verstand mich nur vor allzu schrecklichen Bildern bewahrte.
Ich griff hinein und fühlte eine Hand. Ich wusste, dass es Mamas Hand war. Nur ihre Haut war so weich und zart, aber anders als sonst war sie eiskalt. Aber ich dachte keinen Augenblick daran, sie deshalb nicht fest an mein Gesicht zu drücken. Ich war fünf Jahre alt und verstand nicht im Geringsten, was passiert war - aber tief in mir spürte ich, dass etwas ganz und gar nicht stimmte.
»Mama, bitte! Sag doch was!«, schluchzte ich, während mir heiße Tränen über das Gesicht liefen und ich ihre Hand noch fester an mich drückte. »Bitte, Mama! Es tut mir leid, ich will auch nicht mehr bei Jeremy schlafen. Sei nicht mehr böse auf mich, okay? Ich bin jetzt brav, versprochen. Und Spongebob will ich auch nicht mehr sehen. Bitte, Mama, steh auf. Mir ist kalt, ich will nach Hause. Sag doch was. Bitte!«
Ich weiß nicht mehr, wie lange ich vor dem zerbrochenen Fenster saß. Ich weiß nur noch, dass ich mich unzählige Male bei meiner Mutter entschuldigt und sie angefleht habe, nicht mehr böse auf mich zu sein.
Hier endet meine Erinnerung - beherrscht von der Überzeugung, dass ich am Tod meiner Eltern schuld bin.
Das erste Siegel
Wer vor nichts Angst hat,
wird durch die Gefahr überrascht.
- Konfuzius, chin. Philosoph (551-479 v. Chr.)
Der fliegende Koloss

OLIVER
Der Kies des schmalen Weges knirschte unter den Sohlen meiner löchrigen Chucks. Warum musste ausgerechnet ich den Neuen in die Gruppe bringen? Martine, die Heimleiterin, hatte wieder einmal bewiesen, dass sie mich ganz besonders gern hatte. Nicht, dass ich etwas gegen den Neuen gehabt hätte, aber er sah aus wie ein Affe mit Brille und sein Seitenscheitel ließ mich vermuten, dass er an diesem Morgen von einer Kuh wachgeleckt worden sein musste. Er trug sogar eine Fliege zu seinem kackbraunen Cordanzug - noch offensichtlicherer Streber konnte man wirklich nicht sein.
Und als wäre das alles nicht schon Strafe genug, quatschte er mich seit dem Verlassen des Hauptgebäudes ununterbrochen voll, obwohl ich ihn seine zwei schweren Koffer absichtlich alleine schleppen ließ.
»Es ist wirklich toll hier. Kannst du mir etwas über die ganzen Gebäude erzählen? Oder vielleicht sogar über die Entstehung von Brydon? Ich hatte leider keine Zeit, im Internet darüber zu recherchieren. Weißt du, ich liebe Geschichte. Aber noch mehr begeistert mich die Mythologie. Die ganzen Fabelwesen sind einfach der Hammer«, plapperte er großspurig.
»Nein!«, entgegnete ich ihm. Dieser Neuling konnte nicht älter als zehn Jahre sein und erzählte mir etwas von Recherchen. Lächerlich!
»Nein zu was? Dass du mir nichts über die Gebäude und über Brydons Geschichte erzählen kannst oder dass du dich nicht für Mythologie interessierst?«
»Beides«, antwortete ich genervt.
Ich dachte noch, dass ich verdammtes Glück hatte, dass nach dem Abendessen kaum jemand auf dem Gelände war und die Gefahr, mit dem Affen im Schlepptau gesehen zu werden, äußerst gering war, als plötzlich in der Ferne die Tochter der Heimleitung auftauchte. Ich schickte Stoßgebete zu dem alten Mann da oben, dass sie mich bitte nicht sehen sollte, aber der Mann mit dem Rauschebart schien mich auch nicht besonders zu mögen, denn sie kam schnurstracks auf uns zu gerannt.
»Scheibenkleister!«, sagte ich und ging einen Schritt schneller, als der Kofferschlepper hinter mir auch schon zu meckern begann.
»Hey Mann! Ich kann nicht so schnell, die Dinger sind echt schwer.«
»Nicht mein Problem«, antwortete ich.
Ich hatte meinen Blick nur kurz vom Weg abgewandt, um nach hinten zu dem Idioten zu schauen, als die Tochter der Heimleiterin, Martine, plötzlich direkt vor mir stand. Hätte ich nicht abrupt gebremst, wäre ich mit ihr zusammengestoßen.
Wie alle Kinder im Heim trug sie die traditionelle dunkelblaue Brydon-Jacke mit dem roten Wappen auf der Brust und der dämlichen feuerhydrantenroten Krawatte um den Hals. Dazu ein schlichtes weißes Hemd. Aber im Gegensatz zu den Jungs, die graue Bundfaltenhosen tragen mussten, trug sie einen knielangen Rock in derselben Farbe. Mit ihren orangeroten, schulterlangen Haaren und ihren 1,59 m Körpergröße wirkte sie wie ein Zwerg, dessen Kopf in Flammen stand.
Okay, ich muss zugeben, dass sie eigentlich ganz gut aussah, aber sie hatte von ihrer Mutter das seltene Talent geerbt, mir unglaublich auf die Nerven zu gehen.
»Oh, Oli«, sagte sie und sah mich lächelnd an. »Du glaubst immer noch, dass du mir aus dem Weg gehen kannst, oder? Hättest du dem armen Kerl mit den Koffern geholfen, wäre es vielleicht diesmal gelungen.«
Sie ging an mir vorbei zu dem Kleinen, der die Pause nutzte, um seine Arme auszuruhen.
»Hallo. Du bist neu hier, nicht wahr? Ich heiße Zoe«, sagte sie und reichte ihm die Hand.
»Ja, das stimmt. Ich heiße Caleb, Caleb Sinclair«, antwortete er etwas zögerlich.
»Es ist schön, dich kennenzulernen, Caleb. Ich nenne dich einfach Cal, und mach dir keine Sorgen wegen Oliver Bain. Er tut nur immer so abgebrüht, in Wirklichkeit ist er ein richtiger Softie.«
»Hast du gerade Oliver Bain gesagt? Der Oliver Bain, der als Fünfjähriger mit seinen toten Eltern stundenlang allein in der Eiseskälte im Kinnoll Hill Woodland Park stand? Das glaube ich nicht. In meiner alten Schule ist er eine lebende Legende«, plapperte der schleimige Affe voller Begeisterung über den Autounfall, der mein Leben zerstört hatte.
»Äh! Ja, das stimmt«, antwortete Zoe und sah mich für einen kurzen Moment mit ihren traurigen, moosgrünen Augen an. »Aber ich glaube nicht, dass Oli dieses Ereignis als legendär bezeichnen würde. Deshalb halte ich deine Begeisterung für etwas unangebracht.«
»Oh! Ja! Das tut mir leid. Ich wollte nicht ...«, entgegnete er und sah mich verunsichert an. »Also ... manchmal kann ich meine Reaktionen nicht kontrollieren, was gelegentlich dazu führt, dass ich auf andere unsensibel wirke. Das tut mir leid!«
»Hätte ich nicht gemerkt«, antwortete ich patzig.
»Wie alt bist du?«, fragte Zoe interessiert. Wahrscheinlich wollte sie die Situation etwas entschärfen, denn eigentlich stellte sie solche banalen Fragen nicht.
»Äh! Ich bin zwölf«, antwortete Caleb schüchtern, als wäre es ihm unangenehm. »Aber ich gehe in dieselbe Klasse wie Oliver«, fuhr er selbstbewusster fort.
»Zwölf? Ich hätte dich höchstens auf zehn geschätzt«, sagte ich, und das war nicht einmal gelogen. Caleb machte ein beleidigtes Gesicht und rückte seine Brille zurecht.
»Ich bin letzte Woche fünfzehn geworden und damit offiziell genauso alt wie Oli«, klärte sie den Neuling auf.
»Letzte Woche? Dann wünsche ich dir nachträglich alles Gute«, schleimte er sich bei ihr ein.
»Gut. Jetzt wissen wir alle, wie wir heißen und wie alt wir sind. Wenn du nicht noch eine Runde Flaschendrehen spielen willst, um die tiefsten Abgründe unserer Seelen zu erforschen, würde ich Caleb gerne in der Gruppe abliefern.«
Zoe schaute mich mit großen Augen an.
»Du hast noch nie Flaschendrehen gespielt, oder? Sonst wüsstest du, dass man bei diesem Spiel keine dunklen Geheimnisse erfährt. Dafür benutzt man ›Wahrheit oder Pflicht‹«, erwiderte sie und sah mich schnippisch an.
»Von mir aus. Mir ist kein dümmeres Spiel eingefallen, aber du kennst dich ja besser aus als ich.«
»Charmant wie immer, der Oli«, sagte sie grinsend, wandte sich von mir ab und griff nach einem Koffer.
»Oh Mann, Cal. Der ist aber schwer. Was hast du denn da drin? Ziegelsteine?«
»Fast richtig geraten, Bücher. Ich liebe Bücher, das musst du wissen. Ich habe alle Bände vom Zauberlehrling und unsagbar viele Werke über mythologische Wesen aus aller Welt«, antwortete er freudestrahlend.
»Freak!«, murmelte ich vor mich hin, was Zoes feinem Gehör allerdings nicht entging.
»Nicht jeder kann sich für die staubigen Seiten von Fachbüchern begeistern. Fast jeder liest hier ab und zu ein schönes Fantasybuch, außer dir natürlich, Oli. Deshalb darfst du jetzt den Koffer tragen«, sagt sie keck und stellt mir das schwere Ding fast auf den Fuß.
»Das kannst du vergessen! Ich bin nicht der Butler von diesem Traumtänzer«, sagte ich, als die beiden schon an mir vorbei waren.
»Bist du sicher? Es würde mich sehr interessieren, was meine Mutter sagen würde, wenn sie mich mit diesem schweren Koffer sehen würde, während du tatenlos neben mir herläufst«.
Der Ich-bin-die-Tochter-der-Heimleiterin-Joker - hatte ich schon erwähnt, dass ich sie auf den Tod nicht ausstehen konnte? Sie hatte immer dieses Mauerblümchen-Grinsen im Gesicht, war nett zu allen und jedem. Sogar die schlimmsten Lehrer mochten sie, und auch wenn ich es ungern zugebe, lag es nicht daran, dass sie eine Martine war. Sogar mir fiel es manchmal schwer, sie nicht zu mögen, und ich mag eigentlich niemanden, nicht einmal mich selbst. Sie sah in jedem nur das Beste - was ich auch an ihr absolut nervig fand.
Murrend schnappte ich mir den Koffer und lief den beiden hinterher. Und nur damit ihr es wisst, ich tat es nicht, weil Zoe es sonst ihrer Mama erzählt hätte.
»Kennst du schon die Geschichte von Brydon?«, wollte Zoe von Caleb wissen.
Er schüttelte den Kopf.
»Nein! Oliver hat gesagt, er kennt sie nicht«, antwortete er.
»Das habe ich nie gesagt«, verteidigte ich mich. »Er hat mich gefragt, ob ich ihm etwas darüber erzählen kann und ich habe Nein gesagt.«
»Also wirklich, Oli. So wirst du nie Freunde finden.«
»Wer sagt denn, dass ich welche will?«, murmelte ich vor mich hin.
»Wir alle tragen die Geschichte von Brydon mit Stolz in uns. Es ist sozusagen die Pflicht eines jeden, sie zu lernen und weiterzugeben. Ich werde dir einen kleinen Vorsprung geben. Das Brydon wurde 1878 von Dorothea Brydon gegründet, einer reichen Witwe, die ein Herz für heimatlose und vagabundierende Jugendliche hatte. Sie kaufte einem armen Bauern ein großes Stück Land ab und ließ darauf die ersten Gebäude errichten, die noch heute Teil der Anlage sind. Durch die vielen Kinder, die auf der Suche nach Schutz und Unterkunft aus dem ganzen Land hierher strömten, wuchs Brydon sehr schnell. Als Dorothea 1932 starb, drohte dem Kinderdorf trotz des großen Erbes die Schließung, da niemand hier arbeiten wollte. Der deutsche Schwesternorden der Franziskanerinnen von der ewigen Anbetung, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, sich um bedürftige Kinder zu kümmern, erfuhr von der Not der fast hundert Waisenkinder. So übernahmen die Franziskanerinnen die Leitung von Brydon und führten es im Sinne der Gründerin weiter. Neben dem Haupthaus, in dem sich auch heute noch die Schule, die Krankenstation und die Verwaltung befinden, entstanden eine Kirche, ein Schwesternheim und zwanzig kleinere Gruppenhäuser, die durch schmale Kieswege wie diesen, auf dem wir gerade unterwegs sind, miteinander verbunden sind. Zur Zeit leben hier etwa 250 Waisenkinder jeden Alters und Geschlechts, dich eingeschlossen«.
»Das stimmt nicht ganz«, sage ich. »Kinder unter drei Jahren gibt es hier kaum. Wenn sie gesund sind, werden sie sofort adoptiert. Ab sechs Jahren ist das eher selten. Manche haben das unbeschreibliche Glück, fünf Jahre lang von einer zerrütteten Familie zur nächsten gereicht zu werden, bis sie schließlich wieder im Brydon landen, dem Heim für die Ausgestoßenen, die keiner will. Und wenn sich die Türen erst einmal hinter dir geschlossen haben, kommst du so schnell nicht mehr raus. Erst wenn du volljährig bist, darfst du das Dorf durch die großen Eisentore verlassen. Und soll ich dir etwas sagen, Caleb? In etwas mehr als einem Monat werde ich sechzehn, und das bedeutet, dass ich hier schneller raus bin, als du Haggis sagen kannst.«
»Oh! Ich kann ziemlich schnell Haggis sagen, aber ich bekomme das Zeug nicht runter«, entgegnete der Frischling.
Jeder andere Dorfbewohner wäre jetzt sauer auf mich gewesen, denn sie liebten das Brydon und das Leben hier - aber nicht Zoe. Sie warf mir nur einen kurzen, skeptischen Blick zu und wandte sich wieder Caleb zu.
»Die Einstellung von Oli ist eher selten. Du wirst schon sehen. Aber wo du gerade von Haggis sprichst. Ich habe ganz vergessen, dir von unserer Mensa zu erzählen. Sie liegt zwischen dem Hauptgebäude und unserer Kirche. Dort bekommst du das beste Essen des Landes und das, obwohl Oli dort viel Zeit in der Küche verbringt.«
»Warum macht er das?«, will Caleb wissen.
»Meine Mutter hat ihn immer zur Küchenarbeit verdonnert, wenn er etwas angestellt hat. Bis ihr eines Tages aufgefallen ist, dass er eigentlich nur Quatsch macht, um in der Küche sein zu können«, erklärte Zoe ihm.
»Okay, aber warum? Wegen des Essens?«, hakte er nach.
»Nein. Er verbringt gern Zeit mit unserer Köchin Heriet Collins. Sie ist neben meiner Mutter die einzige weibliche Angestellte, die nicht dem Schwesternorden angehört. Er scheint sie sehr zu mögen, obwohl Oli niemanden mag.«
»Das geht niemanden etwas an, schon gar nicht diesen Frischling«, sagte ich.
»Ach, Oli! Du nimmst immer alles viel zu ernst«, erwiderte Zoe und grinste mich an. Ich hasste es, wenn sie das tat.
Ich war erleichtert, als ich hinter der Kurve das alte Backsteinhaus sah. Normalerweise kam mir der Weg vom Hauptgebäude bis hierher nicht so weit vor, aber an diesem Tag zog er sich wie Kaugummi. Zoe begleitete uns bis vor die Tür.
»Hier sind wir, Cal. Das ist dein neues Zuhause, das Haus Modred. Ich würde dich gerne hineinführen, aber leider dürfen Mädchen nicht in die Jungenhäuser und umgekehrt. Eine Regel der Franziskanerinnen.
»Eine blöde Regel, wenn du mich fragst. Aber was kann man von diesen Pinguinen auch anderes erwarten«, murmelte ich leise vor mich hin.
»Sagt der Möchtegern-Schürzenjäger. Wären alle Jungs so brav wie Oli, gäbe es diese Regel wahrscheinlich gar nicht«, erwiderte Zoe lachend.
»Ach übrigens, Oli«, fährt sie fort. »Dein Zimmergenosse, dieser Rugbyspieler, ist ins Lanzelothaus umgezogen. Vor dir steht dein neuer Stubenkamerad, das hat meine Mutter vergessen, dir zu sagen. Ich wünsche euch beiden viel Spaß«.
Ich verspürte den unbändigen Drang, Calebs Koffer nach ihr zu werfen. Aber wahrscheinlich hätte ich mir dabei nur die Schulter ausgekugelt, also verzichtete ich darauf und warf ihr stattdessen einen bitterbösen Blick hinterher.
Wortlos bedeutete ich dem Frischling, mir zu folgen.
Als ich die Haustür öffnete, stieg der Geräuschpegel schlagartig von null auf hundert. Im Hause Modred war immer etwas los. Die Jüngeren kannten keine bessere Beschäftigung, als den ganzen Tag durch die Zimmer zu rennen und beim Fangen spielen alles und jeden umzurennen. Im offenen Gemeinschaftsraum saßen die Streber und diskutierten lautstark, wer in ihrem bescheuerten Fantasy-Rollenspiel die mächtigere Figur sei, der Elfenkönig oder der schwarze Troll, während sich die Sportler grölend eine Schlacht am Kicker lieferten. Für mich war das ein alltägliches Bild, aber Caleb schien davon fasziniert zu sein. Seine Aufmerksamkeit galt vor allem der kleinen Gruppe von Fantasy-Rollenspiel-Freaks.
»Komm schon. Ich will endlich deinen Koffer loswerden«, forderte ich ihn auf und stieg die knarrenden Stufen der Holztreppe hinauf.
Auf halbem Weg nach oben kamen uns die Hall-Zwillinge entgegen.
Eines vorweg: Obwohl die eineiigen Brüder mit ihren blonden Haaren und blauen Augen unverschämt gut aussahen, gaben sie mir immer wieder Anlass zu der Vermutung, dass sie sich ein Gehirn teilen müssten.
»Ey, guck mal, Hunter. Bain arbeitet jetzt als Kofferträger«, sagt Aidan lachend zu seinem Bruder. Früher hätte ich die beiden nie auseinanderhalten können, aber vor ein paar Wochen hat Hunter einen Basketball voll ins Gesicht bekommen. Seit diesem Tag ziert eine eineinhalb Zentimeter lange Narbe seine rechte Augenbraue. Dass ich es war, der den Ball geworfen hat, wusste er bis heute nicht.
»Der voll krasse Packesel«, entgegnete sein Bruder. Ich blieb stehen und sah ihnen nach, wie sie lachend die Treppe hinuntergingen, und wieder verspürte ich den Drang, Calebs Koffer als Wurfgeschoss zu benutzen. Stattdessen grinste ich nur, voller Vorfreude auf den Spruch, der mir durch den Kopf schoss.
»Hey, ihr beiden Pappnasen«, rief ich ihnen hinterher, woraufhin sie stehen blieben und zu mir aufblickten.
»Wenn ihr euch den Körper eines Esels teilen würdet, sähe das verdammt komisch aus.«
»Warum?«, wollte Hunter wissen.
»Weil ihr dann das einzige Maultier in Schottland wärt, das zwei Ärsche hätte, darum!«, antwortete ich.
Die Hall-Zwillinge sahen sich verdutzt um, denn plötzlich standen alle Hausbewohner, die in der Nähe waren, um sie herum. Für einen kurzen Moment herrschte Totenstille, bis einer der Streber laut auflachte, und keine zwei Sekunden vergingen, da lachten plötzlich alle. Wirklich jeder zeigte mit dem Finger auf die Zwillinge und sie riefen im Chor immer wieder ›ein Maultier mit zwei Hintern‹.
Aidans Gesicht verzerrte sich. Kaum hatte ich die Frage in meinem Kopf zu Ende formuliert, was dieser seltsame Geschichtsausdruck zu bedeuten hatte, fing er auch schon an, laut los zu flennen. Und als Aidans Reaktion die Gemüter noch mehr erhitzte, stürmte der mobile Feueralarm aus dem Haus. Hunter blieb wie angewurzelt stehen. Im Gegensatz zu seinem fünf Minuten jüngeren Bruder stand ihm die Wut ins Gesicht geschrieben.
»Das wirst du noch bereuen, Oliver Bain!«, sagte er mit rachsüchtiger Stimme und folgte seinem Bruder.
Einer der Sportler zeigte mit dem Finger auf mich, zwinkerte mir zu, lächelte und drehte sich mit den anderen kommentarlos von mir weg. Das sollte so viel heißen wie: ›Bist 'ne coole Socke, Bain‹, und einer der Streber sagte zu seinen Streberfreunden: »Ein Maultier mit zwei Hintern! Das ist echt cool, das muss ich in meinen Blog schreiben«.
Ja, hin und wieder erfreute ich mich großer Beliebtheit, was ich meiner großen Klappe zu verdanken hatte, wie Madame Martine zu sagen pflegte. Trotzdem fühlte ich mich zu keiner Gruppe zugehörig. Der ständige Wettkampf der Sportler, höher, besser, weiter, war mir zu anstrengend. Die Freaks waren zwar nett, aber viel zu abgedreht mit ihrem Fantasiekram. Ich konnte kein Instrument spielen, also passte ich auch nicht zu den Musikern, und die fehlende Begeisterung für das Theater trennte mich von den Theaterfreaks. Dann waren da noch die Skateboarder, bei denen es an ein Wunder grenzte, dass sie nicht auf den Brettern mit Rollen schliefen. Dann waren da die Jesuskinder, die von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang nichts anderes taten, als über Gott zu reden, und dann waren da noch die traurigen Gestalten mit den schwarz geschminkten Augen, die keine Freude am Leben zu haben schienen. Wie auch immer man Normalität definiert, ich war nichts von alledem - ich war nicht wie die anderen und die anderen waren nicht wie ich.
»Da schläfst du!«, sagte ich und donnerte den Koffer in die kahle Zimmerhälfte, dass er gegen das unbezogene Bett knallte und schließlich krachend umfiel. Der Rugbyspieler war wirklich weg. Nicht, dass ich seine stinkenden Füße und die Socken, die an der Wand kleben blieben, wenn man sie gegen sie warf, vermissen würde. Aber wir hatten etwas gemeinsam: Wir waren beide nicht besonders gesprächig. Und jetzt hatte ich diese zwölfjährige Trantüte an der Backe.
»Hey, Vorsicht! In dem Koffer sind sehr wertvolle und alte Bücher, die schon zu Großvaters Zeiten im Familienbesitz waren«, beschwerte sich Caleb und stellte ihn vorsichtig auf sein Bett, als wäre es chinesisches Porzellan.
»Ich brauche Zeit für mich«, sagte ich und ging zur Zimmertür.
»Wann kommst du wieder?«, wollte Caleb wissen, woraufhin ich ihn genervt ansah.
»Hör zu! Ich bin weder dein Kindermädchen noch dein Freund, also gewöhn dich besser an den Gedanken, dass wir nicht mehr viel miteinander zu tun haben werden. Hast du verstanden?«
Der Kleine sah mich an, als würde er gleich anfangen zu weinen.
»Aber Madame Martine hat gesagt, du sollst mich herumführen und mir alles zeigen.«
»Unten ist die Küche. Frühstück und Abendessen gibt es immer in den Gruppen und das Mittagessen in der großen Mensa, an der wir vorhin vorbeigekommen sind. Den Gemeinschaftsraum hast du auch schon gesehen. Hier im ersten Stock sind die Schlafräume der Mittel- und Oberstufenschüler, und ein Stockwerk höher sind die Zimmer der Betreuer und die von ein paar Jungs, die schon über 16 sind, aber noch nicht den Mut hatten, in die reale Welt zu flüchten. Auf jeder Etage gibt es einen Waschraum. Da du auf dieser Etage wohnst, benutzt du auch nur dieses Gemeinschaftsbad. Und eine Regel solltest du dir gut einprägen: Geh niemals in ein fremdes Zimmer, es sei denn, du willst jung sterben. Ansonsten wünsche ich dir viel Spaß bei deiner Erkundungstour, ich bin dann mal weg.«
Mit diesen Worten verließ ich meinen neuen Zimmergenossen und das Haus Modred. Ich musste so schnell wie möglich in die Küche der Mensa, zu meiner einzigen Vertrauten, Heriet Collins.
Die Küche war riesig und Heriet war die Chefin dieses Reiches. Aber jeden Mittag für 250 Kinder zu kochen, war keine Aufgabe für eine Frau. Ihr zur Seite standen fünf Ordensschwestern, die jeden Tag schnippelten, hobelten und alles andere taten, damit Heriet das Essen fast im Alleingang zubereiten konnte. Sie hießen Deotilla, Basina, Aloysia, Gilda und die älteste der Franziskanerinnen, Schwester Rosaria. Ich hatte allerdings nie viel mit ihnen zu tun, da sie meist nur wie kleine singende Pinguin-Drohnen ihre Arbeit verrichteten und dann wieder verschwanden. Bei Festen oder größeren Veranstaltungen wurden zusätzlich Kinder als Küchenhilfe eingesetzt, was für Heriet und ihr eingespieltes Küchenteam meist eine nervliche Zerreißprobe war.
Aus der hintersten Ecke der auf Hochglanz polierten Edelstahlküche war ein tumultartiges Klappern zu hören. Es klang, als würde jemand mit Kochtöpfen die Schlacht von Gettysburg nachspielen. Doch Heriet war nirgends zu sehen.
»Wo steckst du?«, rief ich und folgte dem Geräusch, bis ich neben einem der vielen Küchenschränke stand, aus dem nur ein nicht gerade kleiner Hintern herausragte.
»Was machst du da?«, fragte ich, woraufhin ein dröhnendes Rumpeln ertönte.
Heriet kam aus dem Schrank gekrochen und rieb sich mit schmerzverzerrtem Gesicht den Hinterkopf.
»Alles in Ordnung?«, wollte ich wissen.
Überrascht blickte sie zu mir auf.
»Oh, Oliver! Du bist es! Ich dachte schon, ein Brownie hätte sich wieder einen Scherz mit mir erlaubt.«
Das sagte sie immer, wenn in der Küche etwas schief ging, was nicht selten vorkam. Und wenn du jetzt denkst, dass ein Brownie ein Schokoladenkuchen ist, dann irrst du dich gewaltig. Aber was oder besser wer ein Brownie ist, erfährst du noch früh genug.
Um Heriet zu beschreiben, braucht es nicht viel. Stell dir einfach den nettesten und gleichzeitig tollpatschigsten Menschen vor, der dir einfällt. Gib ihr ein leicht gerötetes Gesicht, eine lustige Knollennase, zerzauste Haare, die unter einem Haarnetz hervorlugen, und einen sehr korpulenten Körper in einer geblümten Kittelschürze.
»Was machst du denn da im Schrank?«, fragte ich sie neugierig.
»Ich suche schon seit einer guten Stunde meine Lieblingspfanne und kann sie einfach nicht finden. Ich bin mir sicher, dass ich sie gestern benutzt habe, aber ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern, wo ich sie hingestellt habe«, antwortete sie entmutigt und kam schwerfällig auf die Beine. Kaum hatte sie sich aufgerichtet, ertönte ein lauter Gong. Mit voller Wucht schlug sie gegen eine Pfanne, die unglücklicherweise direkt über ihr an einem Gitter über der Arbeitsplatte hing.
»Diese Pfanne?«, fragte ich sie, als sie sich wieder den schmerzenden Kopf rieb.
Auf meine Frage blickte sie auf und strahlte über das ganze Gesicht.
»Oh ja! Da ist sie ja. Wie konnte ich sie nur übersehen?«, rief sie erfreut und nahm die Edelstahlpfanne vom Haken. Gut gelaunt ging Heriet die wenigen Schritte zum Gasherd, wischte mit dem Tuch, das sie sich über die Schulter gelegt hatte, den Staub von der Pfanne, bevor sie sie auf die blaue Flamme stellte. Unversehens rutschte ihr das Tuch von der Schulter und landete direkt auf der Pfanne.
»Was hast du auf dem Herzen, mein Schatz? Ich sehe dir an, dass wieder etwas passiert ist, was dir nicht passt. Also erzähl schon, Heriet hört dir zu«, sagte sie und verschwand in der Speisekammer.
»Äh! Also!«, stammelte ich vor mich hin, denn das Tuch in der Pfanne irritierte mich ungemein.
»Was ist denn? Sag schon!«, forderte mich Heriet aus der Speisekammer heraus auf.
Plötzlich passierte das, was passiert, wenn man ein trockenes Baumwolltuch auf eine offene Flamme legt. Eilig rannte ich zum Herd, schnappte mir eine Grillzange, die glücklicherweise griffbereit lag, und beförderte das lichterloh brennende Tuch auf den Boden, um es sogleich in irischer Volkstanzmanier zu zertreten. Als Heriet aus der Speisekammer zurückkam, war das Unheil bereits abgewendet und einer meiner Chucks um ein Brandloch reicher.
Verwundert stand sie vor dem Herd und betrachtete die Aschereste in der Pfanne.
»Habe ich die Pfanne nicht gerade ausgewischt?«, fragte sie, zuckte mit den Schultern und wollte nach ihrem Geschirrtuch greifen, als sie bemerkte, dass es nicht mehr über ihrer Schulter hing. »Um Himmels willen. Wo ist mein Geschirrtuch schon wieder hin?«
Fragend sah sie mich an. Ich konnte förmlich sehen, wie ihr langsam der Kronleuchter aufging. Abwechselnd blickte sie auf den Aschehaufen zu meinen Füßen, auf die Grillzange in meiner Hand und auf mein verschwitztes Gesicht.
»Gehe ich recht in der Annahme, dass ich ein neues Küchentuch brauche?«
Ich nickte kommentarlos.
Wie ich schon dem Frischling erzählt habe, wurde ich drei Jahre lang von einer zerrütteten Familie zur nächsten weitergereicht, bis ich schließlich im Brydon landete, einem Heim für Waisenkinder, die niemand haben wollte. Heriet kam nur drei Monate nach mir ins Brydon und ersetzte Gunther, einen Mönch, der ein unchristliches Regiment geführt hatte. Wegen meiner rebellischen Natur verbrachte ich schon damals mehr Zeit in der Küche als anderswo. Stundenlang kniete ich auf dem Boden und schrubbte die Küchenfliesen oder schälte Kartoffeln, bis meine Hände voller Blasen waren. Kinderarbeit ist verboten, oder? Sicher, aber wenn es darum geht, einen widerspenstigen Charakter zu züchtigen, ist alles erlaubt, und Bruder Gunther war unerbittlich. Voller Zuversicht, mich mit dieser Arbeit wieder auf den rechten Weg zu bringen.
Alle waren überrascht, als plötzlich die Kündigung von Bruder Gunther kam. Immerhin hatte er sein halbes Leben im Dienst des Brydon verbracht. Er nannte keine Gründe, wie ich später erfuhr, und tauchte nie wieder bei uns auf. Ich brauche wohl nicht zu erwähnen, dass ich froh war, diesen Tyrannen in der Mönchskutte endlich loszuwerden, als mir plötzlich Heriet vor die Nase gesetzt wurde. Zuerst war ich skeptisch, weil ich aufgrund meiner Erfahrungen nur das Schlechteste in den Menschen sah. Aber sie überraschte mich. Obwohl sich an meiner Arbeit in der Küche nicht viel änderte, gab sie mir das Gefühl, kein Sklave zu sein, sondern ein unentbehrlicher Mitarbeiter, ohne den ihre Arbeit nicht möglich wäre. Am Anfang sprach nur sie und ich hörte zu, aber nach zwei Monaten war das Eis gebrochen und ich begann, mich ihr anzuvertrauen. Heriet Collins wurde zum wichtigsten Menschen in meinem Leben, dem ich alles erzählen konnte.
»Oliver Bain. Ich erinnere mich an den Tag, an dem ein kleiner, schüchterner Junge mit Schwielen an den Händen vor einem riesigen Berg Kartoffeln saß und vor Schmerzen so sehr weinte, dass die Tränen das Salz im Kochwasser überflüssig gemacht hätten«, sagte sie, nachdem ich ihr von meinem neuen Zimmergenossen erzählt hatte.
»Die Kartoffeln waren zum Braten gedacht«, antwortete ich.
»Darum geht es gar nicht. Ich habe mich am ersten Tag zu dir gesetzt und wir haben zusammen Kartoffeln geschält. Dieser Junge ... Caleb, fühlt sich jetzt vielleicht genauso einsam wie du damals. Du magst Madame Martine nicht besonders, aber ihre Entscheidungen sind von einer Weitsicht geprägt, die du auf den ersten Blick vielleicht nicht verstehst. Gib dem Jungen eine Chance, so wie ich dir eine gegeben habe. Vielleicht ist er ganz anders, als er dir im Moment erscheint. Hätte ich an meinem ersten Eindruck von dir festgehalten, wäre es mir unmöglich gewesen, den wahren Oliver kennen zu lernen, während alle anderen noch den rebellischen Rotzlöffel in dir sahen. Wie viele schöne Momente, in denen wir gelacht und Spaß gehabt hätten, wären uns entgangen.«
Ich schaute Heriet an und wusste, dass sie Recht hatte. Sie hatte es sogar geschafft, mir ein schlechtes Gewissen zu machen ... aber nur ein bisschen. Ich hatte das Bedürfnis, mit Caleb zu sprechen. Auch wenn ich ihm gegenüber nie zugeben würde, dass ich mich gemein verhalten hatte.
»Ich gehe jetzt«, sagte ich und Heriet streichelte mir über die Wange.
»Mach das, mein Junge. Ich glaube, ich gehe jetzt auch. Morgen gibt es wieder viele hungrige Mäuler zu stopfen.«
Als ich das Hauptgebäude verließ, stand die Sonne schon tief am Horizont und ich wusste, dass ich wieder von Thomas, unserem Gruppenleiter, etwas zu hören bekommen würde. Hätte ich gewusst, welchen Ärger mir diese einfache Abkürzung einbringen würde, wäre ich den längeren Weg gegangen. Aber wer konnte schon ahnen, dass Hunters Drohung so weitreichende Folgen haben würde.
»Da ist er!«, hörte ich eine Stimme aus der Richtung des Lanzelot-Hauses.
Ich überlegte gerade, welche Ausrede ich Thomas heute präsentieren könnte, als plötzlich drei Jungen wie eine Horde wild gewordener Hunnen auf mich zustürmten. Es waren die Hall-Zwillinge und ihnen voran Isaac Munro.
Niemand wusste genau, wie alt dieser Riese war. Man munkelte, er müsse schon über achtzehn sein. Mit seinen fast zwei Metern überragte er selbst die Betreuer des Heims, und seine geschätzten hundertfünfzig Kilo machten ihn zum gefürchtetsten Menschen überhaupt. Niemand wagte es, sich mit ihm anzulegen - außer mir natürlich. Aber sein Intellekt entsprach auch dem eines Grundschülers.
»Bleib stehen, Bain!«, rief Isaak. »Sonst schicke ich dich mit einem spear zu Boden.«
Damit meinte er natürlich keinen echten Speer, wie ihn zum Beispiel die Soldaten im Römischen Reich benutzten, sondern eine Aktion aus dem Football oder auch dem Pro Wrestling. Bei dieser Aktion rennt der Gegner auf dich zu, taucht vor dir ab und rammt dir Schulter und Oberarm in den Bauch, so dass du mit voller Wucht zu Boden gehst. Da es nicht die erste Wrestling-Aktion war, die dieser Idiot durchführte, blieb ich stehen. Außerdem war ich noch nie vor etwas oder jemandem weggelaufen. Mein zweiter Fehler an diesem Abend.
Er packte mich an der Krawatte und zog mich ganz dicht an sein stinkendes Wabbelgesicht.
»Was habe ich gehört? Hast du zu meinen Kumpels Eselärsche gesagt?«, knurrte er mich an und ich schüttelte den Kopf.
»Nein! Ich habe nie Eselärsche gesagt. Ich habe nur gesagt, wenn sie sich den Körper eines Esels teilen würden, wären sie das einzige Maultier in Schottland, das zwei Ärsche hätte.«
»Da! Er hat es schon wieder gesagt!«, sagte Aidan mit weinerlicher Stimme.
Isaac sah mich mit wütend funkelnden Augen an.
»Ist das alles ein Witz für dich?«, fragte er mich und kam noch ein Stückchen näher, so dass mir der dicke Pickel auf seiner Nase wie ein Vulkan vorkam.
»Nein!«, antwortete ich grinsend. »Ihr seid vieles, aber bestimmt nicht lustig.«
Isaac stieß mich von sich und ich landete mit dem Hosenboden im Gras.
»Heute ist der Tag, an dem du den Schmerz kennenlernen wirst. Ich habe ihn dir zu lange erspart. Jetzt bekommst du deine Abreibung«, zischte er diabolisch und wandte sich seinen Freunden zu. »Haltet ihn fest!«
Ich hätte weglaufen können, aber ich tat es nicht, weil ich ihnen diesen Triumph nicht gönnen wollte. Aber zum ersten Mal wünschte ich mir, ich hätte meine Prinzipien über Bord geworfen.
Aidan und Hunter packten mich unter den Armen, zogen mich hoch und hielten mich fest, während Isaac voller Vorfreude seine Ärmel hochkrempelte.
»Darauf habe ich so lange gewartet«, sagte er und rammte mir ohne zu zögern seine Faust in die Magengrube. Reflexartig entwich mir die ganze Luft aus den Lungen. Ich wollte sofort wieder einatmen, aber es ging nicht. Ich ging in die Knie, so dass die Hall-Zwillinge Mühe hatten, mich weiter festzuhalten. Ich rang nach Luft und dachte, ich müsste sterben.
»Auf die Beine mit ihm, los!«, befahl Isaac seinen Lakaien und sie zogen mich wieder nach oben.
»Ist das alles?«, keuchte ich. »Madame Martine schlägt härter zu!«
Der nächste Schlag kam so schnell, dass ich ihn gar nicht kommen sah, und diesmal traf mich Isaacs Faust mitten ins Gesicht. Die Wucht war so groß, dass die Zwillinge keine Chance hatten, mich festzuhalten. Ich fiel wie ein lebloses Stück Fleisch auf den Rasen. Das Knacken in meinem Jochbein, als er mich traf, erfüllte mich ein wenig mit Sorge. Zumal es höllisch wehtat und ich glaubte zu bluten.
»Los! Noch einmal!«, brüllte der Riese wie im Rausch.
»Glaubst du nicht, dass er jetzt genug hat?«, fragte Aidan, dem das Ganze wohl zu brutal wurde.
»Nein! Ich sagte noch einmal ... Also auf die Beine mit ihm. Sonst bist du der Nächste, du kleines Weichei!«
Aidan und Hunter gaben keine Widerworte mehr und hievten mich wieder auf die Beine, als plötzlich aus der Ferne eine weibliche Stimme zu hören war.
»Hey, Jungs. Was macht ihr denn da?«
Das war zweifellos Schwester Brigitta, der neueste Zuwachs bei den Pinguinen. Sie war erst vor ein paar Wochen aus Deutschland zu uns gekommen. Man erkannte sie an ihrem Akzent und die junge Nonne trug im Gegensatz zu den anderen Schwestern eine dunkelgraue Ordenstracht statt der üblichen schwarzen.
»Nichts! Wir spielen nur ein bisschen«, antwortete Isaac. Ich weiß nicht, ob sie aus der Entfernung im Dämmerlicht tatsächlich nicht erkennen konnte, was die drei Jungs mit mir trieben, oder ob ihr der Mut fehlte, sich einzumischen. Jedenfalls ging sie wieder ihrer Wege.
Isaac drückte mein Kinn nach oben und warf mir einen verächtlichen Blick zu.
»Jetzt bist du nicht mehr so cool, was, Bain?«
Noch einmal holte er zum Schlag in Höhe meines Gesichts aus. Aber ich hatte absolut keine Lust, noch einmal so einen Treffer einzustecken. Ich war schon vorher wütend, aber in diesem Moment erwachte etwas in mir, das ich bis dahin nicht kannte. Ein Gefühl, das sich nur schwer in Worte fassen lässt, als wäre etwas in mir entfesselt worden. Ich wehrte mich gegen die Zwillinge, die mich immer noch festhielten, und warf sie zu Boden. Der Riese kam auf mich zu, und ich streckte Isaac meine Hände entgegen, mit dem Gedanken, ihn von mir wegzustoßen, während ich laut »Seo-cron« schrie.
Ich hatte keine Ahnung, was dieses Wort bedeutete oder warum ich es sagte, aber kaum hatte ich es ausgesprochen, geschah etwas Unvorstellbares.
Der einhundertfünfzig Kilo schwere Koloss flog wie von einer gewaltigen Druckwelle erfasst drei Meter rückwärts durch die Luft und schlug mit einem lauten Schrei auf dem Rasen auf. Mit weit aufgerissenen Mündern starrten mich Hunter und Aidan fassungslos an. Aber ich war nicht weniger überrascht über das, was gerade passiert war. Noch nie war es jemandem gelungen, Isaac Munro umzuwerfen, geschweige denn, ihn wie eine Puppe durch die Luft segeln zu lassen. Was ich gerade getan hatte, war für mich in diesem Moment nicht zu begreifen.
Eilig stürzten die Zwillinge zu ihrem Anführer, als plötzlich auch Schwester Brigitta wie aus dem Nichts wieder auftauchte.
»Ich habe einen Schrei gehört. Was ist passiert?«, fragte die deutsche Nonne und kniete sich zu dem stöhnenden und sich windenden Isaac auf den Boden.
»Das war Bain!«, sagte Aidan und zeigte mit dem Finger auf mich.
Schwester Brigitta schaute mich ungläubig an.
»Oliver soll das getan haben? Das kann ich mir nicht vorstellen!«
»Doch! Bain hat ihm eine verpasst!«, log Hunter. Die Zwillinge wussten genau, dass ich Isaac nicht einmal berührt hatte, aber der Blick der Erzieherin veränderte sich und ich sah, dass sie anfing, die Behauptung zu glauben. Ich war noch nie um Worte verlegen gewesen und Lügengeschichten über mich, wenn sie überhaupt jemand in die Welt zu setzen wagte, wurden von mir sofort im Keim erstickt. Aber mein Kopf war völlig leer. Ich stand nur da, starrte auf den am Boden liegenden Fleischberg und fragte mich immer noch, was zum Teufel gerade passiert war.
»Oliver! Hast du mir zugehört?«, riss mich die junge Ordensschwester aus meinen Gedanken. »Du sollst in deine Gruppe gehen. Madame Martine wird nach meinem Bericht sicher mit dir über den Vorfall sprechen wollen. Die Jungs und ich bringen Isaac jetzt zu Schwester Brunhilda auf die Krankenstation und du kannst nur hoffen und beten, dass dir vergeben wird und es ihm morgen besser geht.«
Ich drehte mich um und lief weg, ohne ein Wort zu erwidern.
Normalerweise hätte ich heimlich ein paar Sachen aus meinem Zimmer geholt und wäre abgehauen, aber ich war nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. In einer Endlosschleife sah ich, wie der Koloss rückwärts durch die Luft katapultiert wurde, und fragte mich, wie das möglich war. Irgendwann war ich mir nicht einmal mehr sicher, ob ich ihn nicht doch gestoßen hatte. Aber welche Kraft war nötig, um diesen hundertfünfzig Kilo schweren Riesen so weit fliegen zu lassen? Keine noch so verrückte Theorie, die mir in den Sinn kam, konnte mir das Unerklärliche erklären. Und was waren das für Worte, die ich sprach? Was bedeuteten sie und woher kannte ich sie?
Ich tat nicht, was Schwester Brigitta mir sagte, und irrte stattdessen ziellos über das Brydon-Anwesen, bis auch das letzte Fenster der Gruppenhäuser erloschen war. Nur der silberne Schein des Mondes, der sich im feuchten Kies spiegelte, wies mir den Weg.
Angezogen wie eine Motte vom Licht, starrte ich zu den drei hell erleuchteten Rundbogenfenstern hinauf. Unwillkürlich war ich auf das vierstöckige Hauptgebäude zugelaufen. An einem der bodentiefen Fenster zeichnete sich ein Schatten auf dem beigen Vorhang ab. Ich erkannte die Silhouette einer schlanken Frau mit einem Häubchen auf dem Kopf. Das war zweifellos Schwester Brunhilda, die hauseigene Krankenschwester des Brydon's. Und da ich mir ziemlich sicher war, dass sich gerade kein anderer auf der Krankenstation befand, konnte es nur Isaacs Bett sein, vor dem sie stand.
Ich spielte mit dem Gedanken, nach oben zu gehen. Nicht etwa, weil ich Gewissensbisse hatte und mich nach dem Gesundheitszustand des Schlägers erkundigen wollte. Meine Motive waren viel egoistischer. Der Schmerz, der früher nur vom Jochbein ausging, hatte sich inzwischen auf die ganze Gesichtshälfte ausgebreitet. Die Standpauke von Madame Martine war mir gewiss. Nun musste ich mich entscheiden, ob die Linderung der Schmerzen es wert war, auch noch Schwester Brunhildas belehrende Worte über mich ergehen zu lassen.
Je länger ich darüber nachdachte, desto stärker pochte meine linke Seite und brachte mich fast um den Verstand. Ich war kurz davor, alles hinzunehmen, als der Schatten der Schwester aus dem Fenster verschwand und das Licht gedämpft wurde.
›Zu spät‹, dachte ich und überlegte, was ich stattdessen tun könnte. Mir fiel ein, dass im Medizinschrank im Haus Modred noch Schmerztabletten sein mussten. Ich wollte gerade den Heimweg antreten, als wieder ein Schatten durchs Fenster fiel. Dieser unterschied sich jedoch sehr von dem der Nonne. Der Körper war schlanker und auf dem Kopf bewegte sich etwas, als ob mindestens ein Dutzend Schlangen darauf säßen. Dieser Anblick verursachte mir augenblicklich eine gewaltige Gänsehaut am ganzen Körper. Die Gestalt beugte sich in die Richtung, in der ich Isaacs Krankenbett vermutete. Nur für einen Moment wandte ich den Blick ab, weil ich glaubte, im Gebüsch neben mir etwas zu hören, da war der Schatten schon wieder verschwunden. Ich stand noch eine ganze Weile da und beobachtete das schwach erleuchtete Rundbogenfenster. Doch als nichts mehr zu sehen war, beschloss ich, endlich etwas gegen meine Schmerzen zu unternehmen, die, wie ich vermutete, für diese Wahnvorstellung verantwortlich waren.
Alles steht still

OLIVER
Am nächsten Morgen wurde ich unsanft aus dem Schlaf gerissen.
»Aufstehen, Oliver, und schnurstracks zur Heimleiterin Martine«, brüllte mich Thomas an und riss den Vorhang auf, so dass das einfallende Sonnenlicht mich zwang, die eben erst geöffneten Augen wieder zu schließen.
»Aber ratzfatz«, fügte er hinzu und knallte die Tür hinter sich zu.
Bevor ich einschlief, hatte ich mir vorgestellt, dass, wenn ich am nächsten Morgen aufwachen würde, alles nur ein böser Traum gewesen wäre - mein Wunsch hatte sich nicht erfüllt. Mein Gesicht tat immer noch weh und Thomas, der ohnehin einer der strengsten Betreuer war, war an diesem schönen Tag noch liebenswerter. Wenigstens schlief ich dank der Schmerztablette schnell ein.
Ich setzte mich auf die Bettkante und bemerkte, dass Caleb mich von der anderen Seite des Zimmers anstarrte.
»Was hast du für ein Problem? Warum starrst du mich an?«, fragte ich ihn genervt.
»Weil deine linke Gesichtshälfte geschwollen und blau ist«, antwortete er ohne Umschweife.
Ich sprang auf und rannte zu dem kleinen Spiegel, der direkt neben der Zimmertür an der Wand hing, und warf einen Blick hinein. Der Frischling hatte recht, die eine Seite war tatsächlich dicker als die andere und ich hatte ein schönes, dickes Veilchen.
»Hast du dich geprügelt? Oder bist du gegen eine Kühlschranktür gelaufen? Das ist mir nämlich mal passiert, als ich jünger war.«
Ich reagierte nicht auf seine Frage. Wer ist schon so dumm, gegen eine Kühlschranktür zu laufen und sich dabei auch noch ein blaues Auge zu holen? Ich ging an die oberste Schublade meines Nachtschränkchens und holte eine alte Sonnenbrille heraus.
»Eine tolle Idee«, bemerkte Caleb. »So kann man dein Veilchen wenigstens nicht mehr sehen. Die Schwellung wird es wahrscheinlich nicht verdecken.«
»Vielen Dank für deine aufmunternden Worte«, erwiderte ich, ging zurück zum Spiegel und setzte mir die Brille auf die Nase, während ich hineinschaute. Zu meinem Leidwesen hatte Caleb recht, aber es war besser als nichts.
Wenig später klopfte ich an die Bürotür der Heimleitung, die ich nach einem freundlichen »Ja, bitte« öffnete. Madame Martine saß an einem antiken Schreibtisch, an dem angeblich schon die Gründerin von Brydon gesessen haben soll, und tippte hektisch auf ihrer Computertastatur herum, während ihr Blick auf dem Monitor klebte. Ihr rotbraunes Haar war, wie ich es von ihr kannte, streng zu einem Knoten gebunden. Wie immer trug sie einen dunkelblauen Zweiteiler, bestehend aus einem engen, knielangen Rock und einem Blazer, auf dessen Revers das rote Brydon-Logo aufgestickt war.
»Guten Morgen, Madame. Ich soll mich bei Ihnen melden«, sprach ich sie an.
»Monsieur Bain«, antwortete sie mit starkem französischen Akzent, ohne mich anzusehen. »Setzen sie sich sisch. Isch habe gleich Zeit für sie.«
Madleen Martine übernahm vor fünf Jahren die Leitung von Brydon. Zuvor leitete sie ein Mädcheninternat in der Nähe von Leon in Frankreich. Viele Erzieher und einige Lehrer verließen damals das Dorf, weil sie mit ihren modernen Erziehungsmethoden nicht einverstanden waren. Sie war bekannt für ihre Strenge, aber auch für ihren Gerechtigkeitssinn. Ihr entging nichts und sie wusste über fast alles Bescheid. Im Grunde war sie kein schlechter Mensch.
Ich setzte mich und zog ihren Blick für einen kurzen Moment auf mich.
»Monsieur Bain. Ich habe die Sonne nach draußen verbannt. In meinem Büro ist es also nicht nötig, eine Sonnenbrille zu tragen«, sagte sie streng.
»Ja, Madame«, entgegnete ich und nahm langsam die Brille ab, während sie mit der Maus klickte, was das typische Geräusch einer gesendeten E-Mail verursachte.
»So! Jetzt habe ich Zeit für disch«, sagte Madame Martine und sah mich an. »Mon Dieu, was ist mit deinem Gesicht passiert?«, reagierte sie entsetzt.
»Sie wissen es nicht? Ich dachte, Schwester Brigitte hätte ihnen alles erzählt, deshalb bin ich doch hier, oder?«
»Sicher, aber sie hat mit keinem Wort erwähnt, dass du auch verletzt wurdest.«
»Wieso auch verletzt?«, wollte ich wissen. »Was fehlt Isaac?«
»Immer alles der Reihe nach. Jetzt will isch erst einmal von dir wissen, was letzte Nacht passiert ist.«
»Na, da gibt es nicht viel zu erzählen. Ich war bei Heriet in der Küche und als ich merkte, dass ich viel zu spät bin, hab ich eine Abkürzung genommen ...«
»Was disch am Haus Lancelot vorbeiführte«, vervollständigte Madame Martine meinen Satz und ich nickte. »Gut, weiter!«
»Dort lauerten mir Hunter und Aidan Hall mit Isaac Munro auf, um sich an mir zu rächen.«
»Wegen der Sache mit dem Esel und den zwei Hintern.«
»Genau! Die Zwillinge hielten mich fest, während Isaac mir einmal in den Magen und einmal ins Gesicht schlug. Ich glaube, zwischen dem Schlag in den Magen und dem auf mein Jochbein kam Schwester Brigitta und fragte, was wir da täten. Die Jungs sagten ihr, dass wir nur spielen würden, worauf sie wieder verschwand. Erst als Isaak am Boden lag, kam sie wieder.«
»Stopp!«, unterbricht sie mich. »Warum lag Isaac auf dem Boden? Die Hall-Zwillinge haben disch doch eben noch festgehalten? Was ist nach dem Schlag ins Gesicht passiert?«
»Isaac wollte mir wieder ins Gesicht schlagen und dann ...«
»Ja? Was ist dann passiert?«, fragte sie und sah mich mit weit aufgerissenen Augen an. Ich hatte keine Ahnung, was ich sagen sollte, denn ich wusste selbst noch nicht genau, was passiert war. Ich streckte meine Hand nach ihm aus, sagte etwas in einer Sprache, die ich nicht kannte, und der Koloss flog wie eine Feder davon, ohne dass ich ihn berührte? - Das hätte mir nicht einmal der größte Trottel abgekauft. Und Madame Martine war bestimmt keiner.
Ich sprang auf und griff nach meiner Sonnenbrille.
»Warum sollte ich ihnen das sagen? Sie haben sich doch schon ihre Meinung gebildet. Ich bin der Bösewicht in diesem Spiel«, schrie ich sie an, drehte ihr den Rücken zu und wollte gerade das Büro verlassen.
»Das ist alles andere als ein Spiel. Isaac Munro liegt im Koma. Nach unserem Gespräch werde ich mit dem Arzt sprechen. Wenn isch disch schon verurteilt hätte, würden wir dieses Gespräch gar nicht führen. Und jetzt setz disch wieder hin, denn wir sind noch nicht fertig, Monsieur Bain.«
Wütend setzte ich mich wieder auf den antiken, bordeauxfarbenen Ledersessel.
»Die Brille«, ermahnte sie mich und ich nahm sie widerwillig ab.
»Also bitte«, sagte sie und sah mich wieder aufmerksam an.
»Sie wollen wissen, warum der Idiot durch die Luft geflogen ist? Das kann ich Ihnen auch nicht sagen. Als er wieder zuschlug, riss ich mich von den Zwillingen los. Ich wollte nicht noch einen Schlag abkriegen, denn die ersten beiden taten schon höllisch weh. Ich streckte meine Hände nach ihm aus, um ihn abzuwehren, und sagte etwas, woraufhin er, ohne dass ich ihn berührte, drei Meter von mir entfernt zu Boden ging. Sie werden mich jetzt für völlig verrückt halten, aber genau so ist es passiert.«
Ich habe wirklich mit allem gerechnet. Dass sie mich auslacht, mich einen Lügner nennt oder mich sogar einweisen lässt - doch Madame Martine sah mich nur ausdruckslos an.
»Und was hast du gesagt?«, fragte sie mich nach einer langen Pause.
Ich zuckte mit den Schultern.
»Ich weiß es nicht mehr«, gab ich unumwunden zu.
Es klopfte an der Tür und Schwester Holly, die jüngste und zierlichste der Schwestern, lugte durch einen Spalt herein.
»Ich soll Ihnen Bescheid geben, wenn der Doktor hier ist, Madame. Soll ich ihm sagen, dass er noch etwas warten muss?«, hauchte sie schüchtern.
»Nein!«, antwortete sie. »Schicken Sie ihn herein. Wir haben noch einen Patienten für ihn.«
Doktor Johann Taus betrat das Zimmer. Er war Mitte fünfzig, hatte grau meliertes Haar und buschige Augenbrauen. Neben seiner Tätigkeit als Biologielehrer an unserer Schule war er seit über zwanzig Jahren auch der Hausarzt der Brydons. Wie immer trug er eine braune Tweedjacke, in deren Brusttasche eine Pfeife steckte.
»Guten Tag, Madame«, grüßte er und lüftete ganz gentlemanlike seine Schirmmütze.
»Ihnen auch einen guten Morgen, Herr Doktor«, erwiderte sie.
Er stellte seine Arzttasche neben den zweiten Ledersessel und sah mich an. Schockiert zog er beide Augenbrauen hoch, was fast einer Kontinentalverschiebung gleichkam.
»Was ist mit uns denn passiert? Das sieht gar nicht gut aus«, sagte er und hatte seine Hände schon in meinem Gesicht, bevor ich etwas erwidern konnte. Er drückte auf mein Jochbein, als wäre es ein lebloses Stück Fleisch. Ich hätte vor Schmerz schreien können, tat es aber nicht. Was ich nicht unterdrücken konnte, waren Tränen.
»Tut es weh?«, fragte er allen Ernstes, als hätte er die Feuchtigkeit nicht bemerkt, die mir aus den Augen trat.
»Im Moment mehr als vorher«, antwortete ich vorwurfsvoll.
»Soweit ich das sagen kann, gibt es keinen Bruch. Aber um ganz sicher zu gehen, sollten wir das genauer untersuchen. Da ich morgen früh sowieso nach Paisley in die Praxis meines Bruders fahren wollte, nehme ich Mr. Bain mit. Dort können wir sein Jochbein einmal röntgen. Denn wie heißt es so schön: ›Vorsicht ist besser als Nachsicht‹.«
Er griff nach seiner Tasche, legte sie auf den Sessel und fing an, darin herumzuwühlen.
»Ich gebe dir jetzt eine Creme, die du bitte gleich, dann noch einmal heute Abend vor dem Schlafengehen und morgen früh gleich nach dem Aufstehen auf die schmerzende Stelle aufträgst. Das wird dir etwas Linderung verschaffen«, sagte er und drückte mir eine kleine Dose in die Hand. »Und das nächste Mal weichst du aus. Ich kann dir Boxunterricht geben, wenn du willst.«
»Das lassen wir lieber«, erwiderte Madame Martine, worauf Dr. Taus lachte.
»Du kannst jetzt gehen, Monsieur Bain«, sagte sie, worauf ich meine Sonnenbrille aufsetzte und das Zimmer verließ.
Schwester Holly saß nicht auf ihrem Platz, so dass ich das Gespräch zwischen Madame Martine und dem Arzt belauschen konnte. Ich griff nach einem der Gläser, die auf einem Beistelltischchen standen, setzte es vorsichtig an die Tür und drückte mein Ohr an den Glasboden.
»Es sieht nicht gut aus für Mr. Munro. Ich habe keine Erklärung für das hohe Fieber oder warum er nicht bei Bewusstsein ist«, erklärte der Arzt. »Ich habe ihm Blut abgenommen, das ich im Labor genau untersuchen werde. Vielleicht lässt sich etwas herausfinden. Von einem Sturz stammen die Symptome jedenfalls nicht. Eine Gehirnerschütterung kann man zwar nicht ganz ausschließen, aber nach meiner Erfahrung sieht es nicht danach aus. Ich habe auch seinen Schädel untersucht und keine äußeren Verletzungen festgestellt. Aber ich habe etwas sehr Ungewöhnliches entdeckt. In den Haaren von Herrn Munro fand ich eine schleimige Substanz. Woher sie stammt, ist mir ein Rätsel. Ich habe auch davon eine Probe genommen und werde sie im Labor genauer untersuchen.«
»Können Sie ausschließen, dass Oliver Bain für seinen Zustand verantwortlisch ist?«, wollte Madame Martine wissen.
»Sie haben den Jungen gesehen. Er hat viel mehr einstecken müssen als Mr. Munro. Was immer diesen Zustand verursacht hat, muss in dieser Nacht geschehen sein. Es gibt nichts, was Mr. Bain getan haben könnte, das den gegenwärtigen körperlichen Zustand des Patienten erklären würde.«
»Was machst du da?«, hörte ich plötzlich die sanfte Stimme von Schwester Holly hinter mir.
Sofort stellte ich meine Spionagetätigkeit ein und drehte mich zu ihr um.
»Doktor Taus hat Durst. Ich wollte ihm nur ein Glas Wasser bringen.«
»Aber da ist nichts drin?«, wunderte sie sich.
Ich blickte auf das Glas, als wäre es mir erst in diesem Moment bewusst geworden.
»Sie haben recht! Ihr Job ist schwerer, als man denkt«, sagte ich und drückte ihr grinsend das Glas in die Hand.
Schwester Holly schaute erstaunt auf das Glas, während ich zum Ausgang ging. Ich blieb noch einen Moment in der Tür stehen und beobachtete, wie sie Wasser aus einer Karaffe in das Trinkglas goss, bevor ich die Tür zu Madame Martines Zimmer öffnete.
»Doktor Taus? Sie wollten ein Glas Wasser?«, fragte sie unsicher.
»Oh nein, mein liebes Kind, danke«, antwortete er freundlich. Madame Martine war jedoch alles andere als erfreut, dass sie ungebeten in ihr Büro kam. Aber ich fühlte mich ein wenig besser.
Mein Magen knurrte wie verrückt. Aber an Frühstück war nicht zu denken. Im Flur vor dem Sekretariat war inzwischen die Hölle los. Einige Schüler standen herum und unterhielten sich, andere holten Bücher aus ihren Fächern oder waren auf dem Weg in ihre Klassen. Ich beschloss, erst einmal auf die Toilette zu gehen, da ich selbst dazu noch keine Zeit hatte. Als ich so durch den Flur ging, hatte ich das Gefühl, dass alle Augen auf mich gerichtet waren. Einige tuschelten sogar, und diejenigen, die mich nicht bemerkten, wurden von anderen auf mich aufmerksam gemacht.
Eigentlich hätte ich nicht überrascht sein dürfen, dass sich dieses Ereignis schnell herumsprechen würde. Ich konnte nur nicht einschätzen, wie meine Mitschülerinnen und Mitschüler auf mich reagierten, was mir eigentlich egal war, da ich auf die Meinung anderer sowieso keinen großen Wert legte. Aber ihr Gesichtsausdruck verriet, dass sie mich verachteten, was nicht ohne Ironie war, denn Isaac Munro war einer der unbeliebtesten Schüler am Brydon.
Als ich die Toilette betrat, stand Aidan Hall an einem der Waschbecken und wusch sich die Hände. Er zuckte zusammen, als er mich sah. Hastig drehte er das Wasser ab und eilte zum Papierspender. Wahrscheinlich hoffte er, ich würde an ihm vorbei in eine der Kabinen verschwinden. Doch weit gefehlt, ich stellte mich direkt hinter ihn, so dass er fast in mich hineinlief, als er sich umdrehte.
»Oliver!«, sagte er und sah mich nervös an.
»Seit wann nennst du mich Oliver?«, fragte ich ihn.
»Bain, ich meine... Hallo Bain«, stotterte er.
»Kann es sein, dass du und dein Bruder Exkremente über mich erzählt habt, die gerade in der Schule die Runde machen?«
»Wir haben Exkremente erzählt?«, fragte Aidan erstaunt.
Ich schlug mit der flachen Hand gegen den Papierspender, was einen ziemlich lauten Knall verursachte. Aidan riss erschrocken die Arme hoch, um sein Gesicht zu schützen.
»Willst du mich verschaukeln?«, schrie ich ihn wütend an, woraufhin er einen Moment nachdachte.
»Ah! Du meinst, warum wir Scheiße über dich erzählen Ich vergesse immer, dass du dieses Wort nicht benutzt. Warum eigentlich?«
»Das geht dich einen feuchten Dreck an. Gib mir jetzt eine Antwort. Du und dein Bruder, ihr wisst genau, dass ich Isaac nicht einmal angerührt habe.«
»Ja, das wissen wir. Aber Hunter hat gesagt, wenn wir das jemandem erzählen, halten uns alle für verrückt. Und irgendwie bist du schuld an dem, was Isaac zustieß, weil das alles passiert ist, nachdem du diese Worte gesagt hast.«
Ich fühlte mich plötzlich ganz merkwürdig.
»Was meinst du? Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst«, antwortete ich unsicher, was Aidan zu merken schien.
»Du erinnerst dich nicht daran, dass du ›Seo-cron‹ gesagt hast?«, fragte er und sah mich skeptisch an.
»Warum sollte ich das sagen? Ich weiß nicht einmal, was das bedeutet«, antwortete ich.
Wie du weißt, konnte ich mich sehr gut daran erinnern, nur was ich gesagt hatte, war mir entfallen.
»Aber ich weiß es«, ertönte plötzlich eine Stimme aus einer der Kabinen. Eine Toilettenspülung wurde betätigt und die Kabinentür öffnete sich. Es war Caleb, der sich frech zwischen mich und Aidan schob, um sich die Hände zu waschen. Der Hall-Zwilling und ich starrten ihn erwartungsvoll an.
»Komm schon. Raus mit der Sprache, Caleb«, drängte ich ihn.
»Das ist Gälisch und bedeutet ›Gegenschlag‹«, antwortete er und drehte sich mit tropfnassen Händen zu Aidan um, der ihm sofort ein paar Papierhandtücher reichte.
»Du kannst Gälisch?«, fragte er beeindruckt.
»Ja, und noch sieben andere Sprachen. Bis jetzt!«, antwortete Caleb und grinste den Zwilling an.
»Beeindruckend!«, sagte Aidan und grinste zurück.
»Wow! Ich muss gleich kotzen. Warum nehmt ihr euch nicht ein Zimmer, dann kann der Hall-Trottel dir weiter erzählen, wie toll er dich findet. Und der Rest von uns muss sich diese Bauchpinselei nicht mehr anhören.«
Bei diesem Satz wurde Caleb von einem Moment auf den anderen rot wie eine Tomate.
»Äh, ja!«, stammelte er unsicher. »Gälisch habe ich eigentlich nur wegen einer Nachbarin gelernt, weil sie sich strikt weigerte, Englisch zu sprechen.«
Ich konnte nicht glauben, was er da von sich gab.
»Du willst mir ernsthaft erzählen, dass du wegen einer Nachbarin eine Fremdsprache gelernt hast? Warum zum Teufel solltest du das tun?«, fragte ich ihn, und auch Aidan schien diese Frage brennend zu interessieren, so wie er ihn ansah.
Er räusperte sich und sah uns nervös an, was für mich irgendwie ein Zeichen dafür war, dass er sich das alles nur ausgedacht hatte.
»Ja, also! ... ich ... ich mochte sie und sie tat mir einfach leid. Sie war schon sehr alt und hatte nach dem Tod ihres Mannes niemanden mehr. Ich habe ihre Einkäufe und andere Besorgungen für sie gemacht und da sie nur Gälisch sprach, musste ich eben ihre Sprache lernen. Ich lerne unglaublich schnell. Ich weiß nicht warum, es ist einfach so und im Grunde kenne ich es auch nicht anders. Aber kann mir mal jemand sagen, was genau passiert ist, als Oliver diese Worte gesagt hat?«
»Das geht dich überhaupt nichts an, Frischling«, entgegnete ich scharf und schob ihn, die Hände auf seinen Schultern, zum Ausgang. »Wir müssen jetzt in den Unterricht, sonst bekommt unser Englischlehrer wegen dir gleich am ersten Tag eine pulsierende Halsschlagader.«
Doch bevor ich die Toilette verließ, drehte ich mich noch einmal zu Aidan um.
»Sag deinem Bruder von mir, dass ihr ab jetzt keine Exkremente mehr über mich erzählt.«
»Exkremente kann man nicht erzählen. Sogar Scheiße zu erzählen ist grammatikalisch und symbolisch äußerst fragwürdig«, sagte Mr. Oberschlau, bevor ich ihm einen Schlag auf den Hinterkopf verpasste.
Die erste Unterrichtsstunde war sehr lehrreich - mein Fazit: Vergiss nie, warum du eine Toilette betrittst und verlasse sie nicht, bevor du dein Geschäft erledigt hast.
Ich dachte, meine Blase würde jeden Moment platzen. Leider darf ich in den ersten beiden Schulstunden nicht auf die Toilette. Das ist eine Bain'sche Sonderregel, denn so habe ich mir bei fast allen Lehrern eine Freistunde erschlichen, um wieder ins Bett zu kriechen. Bisher war es schade, dass ich dadurch noch ein Nickerchen machen konnte, aber an diesem Tag bekam ich meine Quittung für die vergangene Serie von Schandtaten. Grausam, aber bittere Wahrheit.
In der großen Pause, als ich längst erledigt hatte, was mich zwei Stunden lang quälte, gab
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Kian Talyn
Cover: Mark Jacob Haller
Lektorat: Mark Jacob Haller
Korrektorat: Ceryna James, Mark Jacob Haller
Satz: Kian Talyn, Mark Jacob Haller
Tag der Veröffentlichung: 04.06.2023
ISBN: 978-3-7554-4390-2
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Abenteuer, Reise, Magie, Fantasie, Aufgaben, Feen, spannend, mitreißend, Zauberer, Hexen, Jungen, Mädchen, Freundschaft, Team, Gefahr, Magier, Monster, Bestien, Mythologie, Schottland, Merlin, Zauberei, Hexerei, ab 14 Jahre, Internat, Heim, Waisenhaus, Schule