Liebe ist die stärkste Kraft im Universum.
Nur sie ist dazu in der Lage alle uns bekannten und auch unbekannten Grenzen zu überwinden.
Prolog

Oliver lag am Rand des Abhangs und blickte aufs Meer hinaus.
»Oliver? Wir haben dich gesucht und gerufen«, sagte ich.
Langsam drehte er seinen Kopf in meine Richtung und lächelte mich an.
»Ich weiß, ich habe es gehört«, hauchte er und mir wurde schlagartig klar, dass es ihm nicht gut ging.
»Was ist los mit dir?«, fragte ich ihn, nachdem ich mich zu ihm gesetzt hatte.
»Alles in Ordnung. Ich kannte den Preis. Sahyr, die Najade, hatte es mir gesagt, und auch Cerberus hatte mich gewarnt, dass es mein Ende bedeuten könnte, wenn ich Merlins Macht annähme. Aber ich tat es für die Menschen, für Zoe und vor allem für dich, mein Bruder. Der Schmerz, dich nicht besser kennen zu lernen, ist größer als die Angst vor dem, was mich als Nächstes erwartet. Ich weiß, wie schwer es für dich sein muss, mich zu verlieren, wo wir uns doch gerade erst gefunden haben. Aber es gibt jemanden, der dich mehr braucht als ich. Wir mögen den Kampf um die Welt der Menschen gewonnen haben, aber Emma le Fay ist noch nicht besiegt. Suche das Mädchen und ihre Freunde, die bereits Merlins dritte Welt besucht haben, sie werden dir helfen«, flüsterte Oliver schwach und lächelte mich zufrieden an.
»Nein! Nein, Oliver. Wir werden das Mädchen zusammen finden, hörst du? Ich werde dich heilen und dann werden wir sie zusammen finden, okay?«, sagte ich unter Tränen.
»Du kannst mich nicht heilen, Kleiner, denn ich bin nicht krank. Kyle, du bist mein Bruder und ich bin so stolz auf dich. Ich weiß, dass ich dich nicht immer gut behandelt habe, aber du bist viel stärker und klüger, als ich es in deinem Alter war. Du trägst den Namen Bain zu Recht und ich bin mir sicher, dass Mama und Papa genauso stolz auf dich wären, wie ich es bin. Ich liebe dich, Kyle, und ich werde dich immer lieben, wohin ich auch gehe.«
Nach diesen Worten löste sich mein Bruder vor meinen Augen in Asche auf, die sofort von einer sanften Brise über die Klippen ins Meer geweht wurde.
Mit unendlicher Trauer im Herzen sah ich ihm nach, bis meine Tränen alles vor meinen Augen verschwimmen ließen. Nun hatte ich niemanden mehr auf dieser Welt.
Mit dem Ärmel wischte ich mir die Tränen weg und richtete mich auf. Als ich mich umdrehte, stand Zoe da. Sie musste alles mitbekommen haben, zumindest Olivers Verschwinden, denn sie weinte.
»Was ist passiert?«, fragte sie mit Verzweiflung in der Stimme.
Noch unfähig darüber zu sprechen, zuckte ich nur mit den Schultern.
Aus der Ferne sah ich ein Taxi auf die Hütte zufahren.
»Ich glaube, da kommt deine Mutter«, sagte ich und deutete auf das herannahende Auto.
»Du kommst doch mit uns zurück nach Brydon, oder?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Nein. Ohne Oliver wird es nicht mehr dasselbe sein.«
»Aber wo willst du denn hin? Du hast doch sonst niemanden«, entgegnete sie.
»Stimmt, und wie du mir deutlich gesagt hast, wird mich auch niemand vermissen.«
Zoe brach wieder in Tränen aus.
»Das stimmt nicht und ich habe es auch nicht so gemeint, das musst du doch wissen. Ich kann euch nicht beide verlieren, sonst habe ich niemanden mehr.«
»Aber Zoe, du hast deine Mutter und ich habe einen Auftrag zu erfüllen.«
Als sie sich von mir abwandte, um einen Blick auf das Taxi zu werfen, das uns fast erreicht hatte, nutzte ich die Gelegenheit und rannte schnell zu der nahe gelegenen Hütte, um mich dort zu verstecken.
Ich sah, wie Zoe mich noch suchte, wie sie weinend in die Arme ihrer Mutter fiel und wie sie gemeinsam in das Taxi stiegen und davonfuhren.
Auch wenn ich es mir in diesem Moment nicht eingestehen wollte, brach mir dieser zweite Abschied an diesem Tag noch mehr das Herz.
Nächster Halt:
Stuttgart Hauptbahnhof

JOSH
Ich stand gerade unter der Dusche, als plötzlich die Badezimmertür aufging.
»Josh, Telefon!«
»Echt jetzt? Ich bin unter der Dusche, Mom!«, antwortete ich genervt.
»Es ist Anna«, sagte sie und ich erstarrte für einen kurzen Moment.
»Hast du Anna gesagt? Anna Hochwart«, fragte ich, um sicher zu gehen, dass ich mich nicht verhört hatte.
»Ja, ich lege es in dein Zimmer.«
Ich hatte seit über einem Jahr nichts mehr von Anna gehört, seit sie mit ihrer Familie nach Stuttgart in Baden-Württemberg gezogen war. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Anna tatsächlich in meinem Zimmer am Telefon auf mich wartete.
Ich drehte das Wasser ab, griff nach dem Badetuch und wickelte es mir um die Hüften, ohne mich abzutrocknen. Was sich fast als fataler Fehler herausstellte, denn als ich zur Badezimmertür eilte, kam ich wegen meiner nassen Füße ins Rutschen. Wie ein betrunkener Affe auf dem Eis schlitterte ich auf die Tür zu und konnte das Schlimmste gerade noch verhindern, indem ich mich an der Türklinke festhielt. Trotz des Beinaheunfalls rannte ich, nachdem ich das Bad verlassen hatte, über das alte Parkett im Flur in mein Zimmer, wo meine Mutter das Telefon auf mein Bett gelegt hatte.
»Ja, Josh am Apparat«, und in dem Moment, als ich das sagte, hätte ich mir am liebsten die Hand vor die Stirn geschlagen. ›Wer bitte meldet sich so?‹. Aber ich hatte keine Gelegenheit, weiter über diesen dummen Satz nachzudenken.
»Das wurde aber auch Zeit«, hörte ich eine genervte Stimme am anderen Ende der Leitung. Kein ›Hallo Josh, wie geht es dir‹, kein ›Was hast du in der Zwischenzeit gemacht‹, nichts dergleichen. Sie gab mir nicht einmal die Chance, mich zu rechtfertigen, sondern fuhr sofort fort.
»Meine Mutter hat schon alles mit deiner Mutter geregelt. Du musst in einer Stunde am Bahnhof sein. Ich habe dir alle Details und deinen Reiseplan per Mail geschickt. Im Anhang findest du auch dein Zugticket. Du musst es nur noch ausdrucken. Und pack dir genug Kleidung für etwa zwei Wochen ein, ich denke, das sollte reichen.«
Ich fühlte mich wie vor den Kopf gestoßen. Sie hat sich über ein Jahr nicht bei mir gemeldet und dann ruft sie mich wie aus heiterem Himmel an und gibt mir solche Anweisungen. Ich war völlig perplex und wusste nicht, was ich antworten sollte.
»In einer Stunde, beziehungsweise mittlerweile in fünfzig Minuten, solltest du das schaffen, oder?«
»Äh, ja... also... ich, ich muss mich noch anziehen«, stammelte ich vor mich hin.
»Anziehen? Du kommst gerade aus der Dusche und musst dich noch anziehen? Bitte erspar mir die Details, in welchem Aufzug du gerade mit mir telefonierst«, sagte sie empört.
»Ich habe ein Handtuch um die Hüften«, fauchte ich ins Telefon.
»Ich sagte doch, ich will es nicht wissen. Jetzt zieh dich an und druck das aus. Ich hoffe, du hast einen Drucker ...« »Ja« »...pack Klamotten für zwei Wochen ein, und dann treffen wir uns in Stuttgart am Hauptbahnhof.«
Dann ertönte plötzlich ein Tuten.
»Moooom«, rief ich und schaute schockiert auf das Telefon in meiner Hand.
Keine fünf Sekunden später kam meine Mutter in mein Zimmer, mit einem Grinsen im Gesicht, das, als sie mich sah, augenblicklich verschwand.
»Du bist noch nicht angezogen? Du hast nicht mehr viel Zeit. Ich dachte, du freust dich, Anna wiederzusehen, oder irre ich mich?«, fragte sie erstaunt.
»Äh, ja. Irgendwie schon. Aber... wie konntest du...?«
»Junge, reiß dich erst mal zusammen. Du lallst schlimmer als Tante Fredericke, wenn sie einen über den Durst getrunken hat. Du hast dich im letzten Schuljahr so angestrengt und ich bin wirklich stolz auf dich, wie gut du die Umstellung gemeistert hast. Nächstes Jahr machst du deinen Realschulabschluss, was ich noch gar nicht glauben kann. Mein kleiner Junge wird bald erwachsen. Und deshalb habe ich mir gedacht, du hast dir einen kleinen Urlaub verdient. Ohne deine alte Mutter und da kam mir der Anruf von Frau Hochwart heute Mittag gerade recht.«
Ich glaube, ich muss sie genauso schockiert angesehen haben, wie das Telefon zuvor.
»Jetzt sag doch mal was. War das falsch oder freust du dich auf eine seltsame pubertäre Weise, die ich nicht verstehe?«
»Äh. Ich weiß es selbst nicht«, gab ich zu.
»Okay, pass auf. Der Zug fährt um 20.08 Uhr, wir brauchen etwa 20 Minuten zum Bahnhof. Ich habe dir inzwischen alles ausgedruckt und du musst dich nur noch entscheiden, was du mitnehmen willst, dafür hast du ...«, sie sah auf die Uhr, »... ungefähr eine halbe Stunde Zeit. Und wenn du bis dahin nicht mit deiner gepackten Tasche bei mir unten in der Küche stehst, dann ist das eben so. Ich gehe jetzt runter und schmiere ein paar Brote. Entweder als Reiseproviant oder als Abendessen. Es ist deine Entscheidung.«
Meine Mutter kam zu mir, legte beide Hände an meinen Kopf und gab mir einen Kuss auf die Stirn, wodurch sie bemerkte, dass ich noch ganz nass war.
»Und das nächste Mal nimmst du dir die Zeit und trocknest dich vorher ab. Die paar Minuten hätte Anna sicher warten können«, sagte sie und betrachtete kritisch die Pfütze zu meinen Füßen.
Ich schmiss meine Sporttasche mit einem lauten Knall auf die Kücheninsel, so dass meine Mutter fast das Brot in ihrer Hand durch die Luft geschleudert hätte.
»Joshua Leonard Carter. Was soll das? Willst du, dass ich einen frühen Herztod erleide?«, fragte sie und kratzte sich die Butter von der Handfläche. Ein kurzer Blick zu mir verriet ihr, dass ich sauer war.
»Sie meldet sich ein Jahr lang nicht und jetzt soll ich wie ein Hündchen angelaufen kommen, nur weil sie nach mir ruft? Das verstehe ich nicht.«
Meine Mutter seufzte. Sie packte die Brote in eine Frischhaltetüte und drehte sich zu mir um.
»Warum quälst du dich so? Wenn du nicht zu ihr willst, dann lass es. Aber du weißt doch, wie das ist, wenn man umzieht und wie lange es dauern kann, bis man sich eingelebt hat. Sei also ein bisschen verständnisvoller und freue dich, dass sie dich nicht vergessen hat.«
Ihre Worte beruhigten mich, denn ich wusste, dass sie Recht hatte. Der Kontakt zu meinen Freunden in Florida war anfangs noch sehr häufig - mindestens einmal in der Woche hingen wir alle zusammen im Videochat. Irgendwann wurde es immer seltener und seit einem halben Jahr hat sich niemand mehr aus meinem alten Freundeskreis gemeldet. Vielleicht habe ich die Sache mit Anna auch überdramatisiert. Schließlich rief sie mich nach einem Jahr an, weil sie mich wiedersehen wollte, und lud mich einfach so zu sich nach Hause ein. Eigentlich sollte ich mich darüber freuen, auch wenn das alles ein bisschen komisch war, aber Annabell Hochwart war schon immer alles andere als normal.
Erwartungsvoll sah mich meine Mutter an, worauf ich kommentarlos zur Garderobe ging und mir meine Jacke schnappte.
»Eine gute Wahl«, sagte sie lächelnd, öffnete meine Sporttasche und packte meinen Reiseproviant ein.
Keine halbe Stunde später standen wir auf dem Bahnsteig vor dem ersten von drei Zügen, der mich nach Stuttgart bringen sollte. Plötzlich sah ich Besorgnis im Gesicht meiner Mutter. Sie war der Meinung, dass ich noch nie alleine gereist war, was ihr erst jetzt so richtig bewusst zu werden schien. Von meiner Reise durch die Labyrinthe von Philiopoulus wusste sie natürlich nichts, und das war auch gut so.
»Bitte achte auf die Durchsagen im Zug. Und schau dir den Reiseplan an, wo du überall umsteigen musst. Ich habe dir alle wichtigen Informationen in diesen Umschlag gepackt. Denk dran, du musst zweimal umsteigen, einmal in ...«
»Mom! Mama!«, unterbrach ich sie. »Keine Sorge, ich schaffe das schon«, und griff nach dem Umschlag in ihrer Hand.
»Bitte alle einsteigen!«, ertönte eine Durchsage durch die Lautsprecher.
Mit einem etwas mulmigen Gefühl betrat ich den Zug. Doch ich wollte mir nichts anmerken lassen. Kaum hatte sich die Tür zwischen uns geschlossen, rief sie: »Melde dich zwischendurch und auch, ob du gut angekommen bist.«
»Ja, mach ich«, antwortete ich als sich der Zug in Bewegung setzte. Nur leise hörte ich sie »Ich liebe dich« sagen, aber bevor ich antworten konnte, war sie aus dem Fenster der Zugtür verschwunden.
Ich schaute mich um. Wie es in einem Zug aussieht, brauche ich dir nicht zu beschreiben, aber für mich war es eine ganz neue Erfahrung. Ich bin zwar schon einmal in San Francisco CableCar gefahren, aber da war ich zehn oder so und das war überhaupt kein Vergleich zu diesem Erlebnis. Ich hatte schnell einen Platz gefunden. Zum Glück waren zu der Zeit nicht viele Leute unterwegs, so konnte ich einen Zweisitzer für mich alleine ergattern und meine Tasche neben mich stellen.
Die Fahrt war im Großen und Ganzen ereignislos. Als es langweilig wurde, aus dem Fenster zu schauen, fing ich an, meine Reiseunterlagen zu studieren, aber auch das dauerte nicht lange. ›Drei Stunden und sieben Minuten Fahrtzeit‹, dachte ich gelangweilt, zog mein Smartphone aus der Brusttasche meiner Jacke und öffnete die App meines Streaming-Dienstes. Ein Hoch auf kostenloses WLan in deutschen Zügen.
Nach zweimaligem Umsteigen saß ich endlich im Zug, der mich direkt nach Stuttgart bringen sollte. Je näher ich meinem Ziel kam, desto nervöser wurde ich. Inzwischen freute ich mich auf Anna, auch wenn ich mir nicht so recht vorstellen konnte, worüber ich mich mit ihr zwei Wochen lang unterhalten sollte. Aber wahrscheinlich habe ich mir zu viele unnötige Gedanken gemacht. Irgendwie ist das zu einer blöden Angewohnheit von mir geworden.
»Nächster Halt: Stuttgart Hauptbahnhof. Ausstieg in Fahrtrichtung rechts«, signalisierte mir die Lautsprecherdurchsage, dass ich mein Ziel fast erreicht hatte. Schnell stopfte ich die leere Kühltasche, in der sich mein Proviant befand, in ein Seitenfach meiner Sporttasche. Ich zog meine Jacke an, schnappte mir mein Gepäck und ging zu einer der Türen, wo bereits andere Fahrgäste darauf warteten, den Zug verlassen zu können.
Der Zug hält, die Fahrgäste steigen aus, aber von Anna keine Spur. Etwas verwundert, dass alle Fahrgäste in eine Richtung liefen, folgte ich wie ein Schaf der Herde. Sehr ungewöhnlich fand ich, dass der Bahnhof ein Kopfbahnhof war, sprich alle Züge fuhren in dieselbe Richtung wieder ab. Im Prinzip wie eine Sackgasse im Straßenverkehr, es gab nur einen Weg rein und raus.
Am Ende des Bahnsteigs angekommen, stellte ich erst einmal meine Tasche auf den Boden und sah mich etwas ratlos um.
›Na toll, und jetzt?‹, fragte ich mich, als eine junge Frau, die mir sehr bekannt vorkam, direkt auf mich zustürmte.
»Mama, ich habe ihn gefunden. Da steht er und musste auf uns warten, weil du nicht auf mich hören wolltest.«
Schwer atmend kam sie vor mir zum Stehen und stützte erschöpft ihre Hand auf ihre angewinkelten Knie.
»Ich komme, ich komme. Bin gleich da!«, eilte eine abgekämpfte Frau Hochwart hinterher. Ohne ihren typischen Anwaltsanzug hätte ich sie fast nicht wiedererkannt. Doch bevor wir uns richtig begrüßen konnten, bemerkte ich, dass noch jemand bei uns war. Ein Junge, höchstens zwölf oder dreizehn Jahre alt. Braune kurze Haare und braune, vielleicht auch grüne Augen. Er sah mich so erwartungsvoll an, dass ich gerade fragen wollte, ob er sich verlaufen hatte, als Anna zu sprechen begann.
»Josh, das ist Kyle, Kyle Bain. Kyle, das ist Josh Carter.«
»Hallo Josh. Schön, dich endlich kennenzulernen«, sagte er in einem seltsamen Dialekt, den ich nicht ganz zuordnen konnte, und streckte mir die Hand entgegen. Ich erwiderte die Geste und reichte ihm etwas zurückhaltend meine Hand und sagte: »Es ist auch schön dich kennen zu lernen« und sah dann etwas verunsichert zu Anna, die sich ihrer Mutter zuwandte.
»Mutter? Ich habe eine ganz trockene Kehle vom vielen rennen. Kannst du uns in einem der Läden etwas zu trinken kaufen?«
»Das ist eine ausgezeichnete Idee. Wartet hier, ich bin gleich wieder da«, sagte sie noch etwas außer Atem und ging.
»Okay, pass auf, Josh. Was ich dir jetzt erzähle, habe ich zuerst selbst nicht geglaubt, aber es ist alles wahr. Kyle hier ist aus Schottland und stand vor ein paar Tagen einfach vor meiner Tür. Er kennt unsere Reise durch die Labyrinthe von Philiopoulus, als wäre er selbst dabei gewesen. Und wenn du jetzt denkst, dass das schon unglaublich ist, dann wirst du gleich völlig ausflippen. Er und sein Bruder sind Zauberer. Aber nicht die Art Zauberer, die mit billigen Tricks andere glauben machen, sie könnten zaubern. Sie sind wirklich Zauberer und sie brauchen unsere Hilfe.«
Die ganze Zeit stand ich da und hörte ihren Worten ruhig zu, sah abwechselnd zu ihr und dann wieder zu diesem Kerl, der gekleidet war, als hätte er sich aus einem Kleidercontainer bedient.
»Und deshalb sollte ich so schnell herkommen?«, fragte ich, und beide nickten.
Mit einem Mal kochte die Wut in mir hoch.
»Ich bin über drei Stunden hierher gefahren und habe mich wirklich gefreut, dich nach so langer Zeit wiederzusehen. Und dann kommst du mit so einer Geschichte? Klar, wir haben wirklich abgefahrenen Scheiß erlebt, den uns nie jemand glauben wird. Aber hier in unserer Welt, echte Zauberer? Das soll ich dir glauben? Was kommt als nächstes? Bringst du mich jetzt zum Gleis 9 3/4 und lässt mich dort durch einen Betonpfeiler rennen?«
Der Kerl sah mich nur kurz an, hob die Arme und sagte: »So-las a’cnagadh«, worauf die Lichter über uns wild zu flackern begannen. Alle Passanten blieben augenblicklich stehen und blickten nach oben, ein Beweis dafür, dass dies nicht nur in meiner Einbildung geschah.
Ich kam nicht mehr dazu, etwas zu dem Erlebten zu sagen, denn in diesem Moment kam Annas Mutter mit vier Getränkeflaschen in den Händen zurück.
»Habt ihr das gerade auch bemerkt? Muss was mit den Umbaumaßnahmen zu tun haben. Wird wirklich Zeit, dass die endlich fertig werden.«
Natürlich hätte ich das glauben können, aber was für ein Zufall, dass ausgerechnet in dem Moment, als der Kleine mit erhobenen Armen etwas in einer fremden Sprache sagte und die Lichter zu flackern begannen. Eben noch wäre ich am liebsten mit dem nächsten Zug nach Hause gefahren, auch wenn es die ganze Nacht gedauert hätte. Aber jetzt, auch wenn ich noch nicht ganz überzeugt war, war meine Neugier geweckt.
Eine unerwartete Reise

JOSH
Entgegen meiner bisherigen Annahme, dass Annas Familie direkt in Stuttgart wohnt, verließen wir die baden-württembergische Landeshauptstadt in Richtung Osten. Während die Ortschaften immer kleiner wurden, wechselten wir nach einem langen Tunnel von der Bundesstraße 14 auf die Bundesstraße 29. Meine Augen wurden immer schwerer und niemand sprach ein Wort. Nur aus dem Radio ertönte leise Musik, die nicht gerade dazu beitrug, meine immer stärker werdende Müdigkeit zu bekämpfen. Nach etwa einer halben Stunde verließen wir endlich die B29 und kamen in einen direkt angrenzenden kleinen Ort mit dem idyllischen Namen Winterbach. Wir hatten unser Ziel erreicht.
Da mir meine Müdigkeit anzusehen war, führte mich Frau Hochwart in ein kleines Einzelzimmer im ersten Stock ihres modernen Einfamilienhauses.
»Ich glaube, für heute ist es gut und du solltest dich erst einmal richtig ausschlafen. Morgen habt ihr genug Zeit, euch alles zu erzählen, was es zu erzählen gibt. Das Bad ist gleich den Flur runter, letzte Tür rechts. Schlaf gut, Joshua.
Mit diesen Worten verabschiedete sich Annas Mutter von mir und dann dauerte es auch nicht mehr lange, ich wollte nur noch kurz auf dem Bett die Augen schließen, bevor ich ins Bad gehen wollte, um mir die Zähne zu putzen, als mir im wahrsten Sinne des Wortes die Lichter ausgingen.
Schlaftrunken und etwas orientierungslos taumelte ich durch den Flur ins Bad, die Wegbeschreibung noch vage in Erinnerung. Ich holte meine Zahnbürste aus dem Kulturbeutel und putzte mir die Zähne. Auch wenn es vielleicht unklug war, dies vor dem Frühstück zu tun, war der Pelz in meinem Mund so unerträglich, dass ich es einfach tun musste. Danach wusch ich mir mit kaltem Wasser das Gesicht, in der Hoffnung, dadurch ein wenig wacher zu werden, als mich plötzlich jemand mit der Hand unter dem laufenden Wasser berührte. Erschrocken öffnete ich die Augen und blickte instinktiv zwischen meine Finger, denn dort passierte etwas Seltsames und doch Vertrautes. Bis knapp unter meine oberen Fingergelenke waren plötzlich wieder Schwimmhäute da. Verwundert schaute ich zu dem, der mich berührt hatte, und da stand Kyle vor mir, nur mit einem Badetuch um die Hüften.
Aufgrund meines noch immer schlafkomatösen Zustandes war mir wohl völlig entgangen, dass jemand unter der Dusche stand, als ich das Bad betrat. Obwohl ich froh war, dass es nicht Anna war, wusste ich nicht, ob ich mich zuerst bei mir entschuldigen oder meine Verwunderung über meine wiedererlangten Schwimmhäute thematisieren sollte.
Kyle schien meinen verwirrten Gesichtsausdruck zu amüsieren, denn er grinste mich an.
»Aquarianer. Sehr faszinierend«, sagte er, wandte sich ohne ein weiteres Wort von mir ab und verließ den Raum.
Nach einem weiteren Blick auf meine Finger, die wieder völlig normal aussahen, zweifelte ich ernsthaft an meinem Verstand und fragte mich, ob das gerade wirklich passiert war oder ob ich mir das alles nur eingebildet hatte.
Da ich einen mörderischen Kohldampf hatte und so schnell wie möglich etwas essen wollte, beschloss ich nach einem kurzen Riechtest unter meinen Achseln und der Feststellung, dass es noch im Bereich des Erträglichen war, auf die Dusche zu verzichten.
Wenig später stand ich unten in der Küche. Anna und Kyle saßen auf Hockern an der Küchenzeile und aßen Cornflakes. Auch für mich stand eine Schüssel bereit.
Frau Hochwart stand mit einer Kaffeetasse in der Hand da und sah mich lächelnd an.
»Guten Morgen Joshua. Hast du gut geschlafen?«
Ich lächelte sie ebenfalls an und antwortete mit einem knappen »Ja«, da ich zu den Morgenmuffeln gehörte und ging auf den freien Thekenhocker zu.
»Du bist so gewachsen, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe. Wie groß bist du jetzt? Ein Meter achtzig?«, wollte sie wissen.
»Ein Meter zweiundachtzig«, verbesserte ich wortkarg und setzte mich.
Anna schob mir wortlos eine Packung Flakes zu, den Löffel im Mund, während Frau Hochwart die Milch aus dem Kühlschrank dazu stellte.
»Und du hast in 18 Tagen Geburtstag, hat mir deine Mutter am Telefon erzählt?«, horchte sie mich weiter aus.
Ich nickte und füllte die Schüssel.
»Du wirst sechzehn, richtig?«
»Das stimmt«, bestätigte ich und schob mir den Löffel in den Mund. Aber eigentlich würde ich schon in acht Tagen sechzehn werden, denn schließlich war ich zehn Tage mit Anna, Frank und Pablo im Labyrinth von Philiopoulus unterwegs. Aber wie sollte ich das erklären, schließlich war ich an dem Tag zurückgekehrt, an dem ich durch den Spiegel gegangen war. Schwer zu sagen, ob ich wirklich 10 Tage in der Zeit gealtert war und diese mit in die normale Welt gebracht hatte, oder ob ich in mein altes, jüngeres Ich geschlüpft war. Fakt ist, dass ich 10 Tage mehr Lebenserinnerungen hatte.
»Anna wird dieses Jahr auch 16. Unglaublich, wie schnell die Zeit vergeht«, sagt sie und schaut auf die Uhr an ihrem Handgelenk. »Apropos Zeit, ich muss ganz schnell in die Kanzlei, um mich auf die morgige Verhandlung vorzubereiten. Macht keinen Unsinn und amüsiert euch nach den Regeln. Sonst sehen wir uns noch heute vor Gericht wieder«, sagte sie lachend.
Schnell stellte sie ihren Kaffeebecher in die Spüle, nahm ihre Aktentasche von der Küchenarbeitsplatte und verließ das Haus.
Anna und Kyle hatten vor mir aufgegessen, stellten ihre Schüsseln ebenfalls in die Spüle und sahen mich erwartungsvoll an, als ich mir noch einen Löffel Flakes in den Mund schob.
»Was ist?«, fragte ich erstaunt mit vollem Mund.
»Du hast nach der Demonstration am Bahnhof gar nichts mehr gesagt«, bemerkte Anna.
»Stimmt«, antwortete ich.
»Komm schon! Muss ich dir wirklich jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen?«, erwiderte sie genervt.
Obwohl ich noch nicht fertig war, legte ich meinen Löffel beiseite, verschränkte die Arme und sah die beiden kritisch an.
»Na gut. Dann erzähl mir mal die Geschichte von unserem Zauberer hier und warum er glaubt, ausgerechnet unsere Hilfe zu brauchen.«
Und was soll ich sagen. Er erzählte mir seine Geschichte, die du wahrscheinlich schon kennst. Aber ich will sie noch einmal grob zusammenfassen. Da war ein Waisenjunge namens Oliver, der seine Eltern bei einem mysteriösen Unfall verloren hatte. Als er von drei Rowdys angegriffen wurde, entdeckte er seine magischen Fähigkeiten. Dann war da noch ein anderer Junge namens Caleb Sinclair, zumindest dachte er, dass er so hieße. Zusammen mit Zoe, der Tochter der Heimleiterin, kämpften sie zuerst gegen eine Talnonne und dann gegen wild gewordene Brownies, die nichts mit Schokoladenkuchen zu tun hatten, wie ich mir sagen ließ. Dann kämpften sie gegen einen Mantikor, Najaden, Riesenspinnen und schließlich gegen einen Greif. Dann reisten sie durch ein Portal in die Anderswelt, begegneten dort dem Höllenhund, der sie später wieder in die Menschenwelt zurückbrachte, aber vorher trafen sie auf die Erbin der Schatten namens Emma le Fay, die Oliver unheilbar schwer verletzte, so dass Caleb, der eigentlich Olivers kleiner Bruder Kyle war, ihn nicht heilen konnte. So mussten die drei in den Kampf gegen die Furien ziehen, wo auch das letzte Siegel brach, was nicht hätte passieren dürfen. Dadurch öffnete sich die Hölle und allerlei dämonische Wesen fielen über die Erde her. Hätte Kyle nicht im letzten Moment Merlins Kraft gefunden und Oliver nicht alle dämonischen Kreaturen zurück in die Anderwelt verbannt, würden wir heute nicht hier sitzen. Ja, ich denke, das war es im Großen und Ganzen. Ach nein, am Ende starb Oliver und löste sich, wie alle besiegten mystischen Wesen vor ihm, in Asche auf. Aber Kyle glaubte, dass Oliver nicht tot, sondern nur an einen anderen Ort gegangen war.
»Okay! Das ist wirklich eine faszinierende Geschichte und auch sehr dramatisch. Nehmen wir mal an, ich glaube euch. Dann gäbe es ein paar Fragen zu beantworten.«
»Okay. Lass hören«, sagte Kyle.
»Wie kommt es, dass du plötzlich zaubern kannst, wo du doch am Anfang der Geschichte immer nur der Heiler warst. Du hast Oliver immer die Zaubersprüche vorgesagt und es ist nie etwas passiert, warum auf einmal? Was hat sich verändert?«
»Eine berechtigte Frage. Ich war selbst etwas überrascht und wusste erst nicht, ob ich die Zaubersprüche wirkte oder Oliver. Aber irgendetwas muss in mir aktiviert worden sein, als Merlins Kraft durch mich in Oliver floss. Seitdem beherrsche ich die Magie. Bei weitem nicht so mächtig wie mein Bruder, bevor er Merlins wahre Kraft erhielt,
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Kian Talyn, Mark Jacob Haller
Cover: Mark Jacob Haller
Lektorat: Mark Jacob Haller
Korrektorat: Ceryna James, Mark Jacob Haller
Satz: Kian Talyn, Mark Jacob Haller
Tag der Veröffentlichung: 16.06.2023
ISBN: 978-3-7554-4448-0
Alle Rechte vorbehalten