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Leseprobe

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

An alle Entmutigten, die vom Weg abgekommen sind.

Gebt nicht auf!

 

Ihr seid zu Großem fähig, glaubt daran, und es wird geschehen!

 

Ein Freak mit Zöpfen

Wer glaubt schon, dass einem gewöhnlichen Kerl so etwas Außergewöhnliches passieren kann? Hättet ihr mir diese Geschichte vor einem Jahr erzählt und gesagt, dass ich dieser Kerl sein werde, hätte ich euch den Vogel gezeigt.

Aber es ist passiert - so wahr ich hier sitze und darüber nachdenke, wie ich euch diese verrückte Geschichte so glaubwürdig wie möglich erzählen kann.

 

Mein Name ist Joshua Carter, aber außer meiner Mom nennen mich alle nur Josh. Ich bin 14 Jahre alt und damit ihr euch nicht ständig fragt, wie ich aussehe, ich habe dunkelblonde kurze Haare und grüne Augen. Im Moment bin ich genau 1,76 m groß und wiege 62 kg. Ich weiß nicht, ob das jemanden interessiert, aber jetzt ist es gesagt.

 

Angefangen hat alles im Sommer. Mom hatte die total bescheuerte Idee, nachdem sie sich im Streit von meinem Vater getrennt hatte, mit mir von den Staaten nach Deutschland zu ziehen.

Nach Deutschland! Ist das zu fassen? Warum nicht nach Kalifornien oder Texas oder in einen anderen Staat in den USA, wo man nicht fünf Schichten Pullover tragen muss? Okay, vielleicht übertreibe ich jetzt ein bisschen. Aber selbst der schönste Sommer in Deutschland ist kein Vergleich zu einem mittelmäßigen Sommer in Florida.

Meine Mutter hielt es für eine geniale Idee, einen Job an ihrer alten Schule irgendwo im Nirgendwo anzunehmen. Man muss wissen, dass meine Mutter Deutsche ist und mein Vater Amerikaner. Ich war noch nie woanders als in den USA und außer Tante Frederike hatten wir dort keine lebenden Verwandten mehr.

Wie auch immer. Wir sind also nach Deutschland gezogen und das gleich zu Beginn der Sommerferien. So hatte ich zwar genug Zeit, bevor der Stress in der neuen Schule losging, aber den Sommer hier zu verbringen, anstatt bei meinen Freunden in Florida zu sein, war echt scheiße.

Nach dem langen Flug habe ich in der ersten Nacht kaum ein Auge zugemacht. Es war so ruhig. Zu ruhig! Kein Rauschen des Meeres, das in Florida fast vor unserer Haustür lag. Stattdessen wohnten wir jetzt im Bungalow meiner verstorbenen Großeltern, der nur halb so groß war wie unser Strandhaus und mindestens hundert Jahre älter. Ich hätte heulen können. Am liebsten wäre ich den ganzen Tag in dem leeren Zimmer unter der Bettdecke geblieben. Aber nach einem lauten Hupen stand plötzlich meine Mutter am Bett.

 

»Josua. Steh auf und zieh dich an. Der Möbelpacker ist da.«

Ich stellte mich schlafend, aber meine Mutter ließ sich nicht täuschen. Sie zog mir kurzerhand die Bettdecke weg.

»Was soll das, Mom?«, fauchte ich sie wütend an. »Und wenn ich nackt wäre?«

»Das wäre auf jeden Fall gesünder als das hier!«, entgegnete sie aufgebracht. »Warum liegst du schon wieder in Straßenkleidung im Bett? Hatten wir diese Diskussion nicht schon zur Genüge?«

»Doch, aber ich war gestern einfach zu müde nach dem langen Flug ... nach Deutschland«, sagte ich vorwurfsvoll.

Verärgert legte ich mir das Kissen auf den Kopf und hoffte, sie nicht mehr zu hören. Aber weit gefehlt!

»Du hast immer eine neue Ausrede parat, mein Freund. Ich habe dir so süße Pyjamas gekauft. Wenn sie dir nicht gefallen, dann schlaf meinetwegen in deinen Boxershorts oder nackt, das ist mir egal. Aber nicht in deinen Straßenklamotten, das ist total eklig.«

Ich nahm mir das Kissen vom Gesicht und sah sie an.

»Okay Mom! Ich hab's kapiert, es kommt nie wieder vor. Sagst du mir jetzt, warum du in mein Zimmer gekommen bist? Sonst würde ich jetzt gerne weiterschlafen.«

»Nichts da. Für den Rest der Ferien kannst du noch genug schlafen. Der Möbelpacker ist da und ich brauche deine Hilfe unten. Also raus aus den Federn«, sagte sie und wollte gerade mein Zimmer verlassen, als sie sich noch einmal zu mir umdrehte. »Ach, und wage es ja nicht, in diesen Klamotten nach unten zu kommen. Du gehst jetzt duschen, denn dein Gestank ist kaum auszuhalten, und danach ziehst du dir bitte frische Sachen an. Sonst war die Dusche umsonst. Dein Frühstück wartet dann unten auf dich.«

 

Ich verstand zwar nicht, warum ich duschen sollte, wenn ich beim Entladen des Lastwagens wieder ins Schwitzen kommen würde. Ich konnte nur vermuten, dass sie Angst hatte, dass die Möbelpacker wie die Fliegen umkippen würden, wenn ich an ihnen vorbeiging. Ich hatte gelernt, dass es sinnlos war, Dinge zu hinterfragen und tat einfach, was meine Mutter mir sagte.

Zehn Minuten später stand ich geduscht und in frischen Klamotten in der Küche. Während ich aß, liefen die Möbelpacker schwitzend und keuchend an mir vorbei. Kurz bevor ich den letzten Pfannkuchen gegessen hatte, sprach mich einer der Möbelpacker an.

»Ich soll dir von deiner Mutter ausrichten, dass du rauskommen sollst, wenn du aufgegessen hast.«

Ich stopfte mir den Rest in den Mund, räumte den Teller in den Geschirrspüler und ging nach draußen.

Meine Mom stand an der Laderampe des Umzugswagens und sagte jedem, der etwas aus dem Laderaum holte, wohin er es bringen sollte. Die Jungs sahen richtig gestresst aus. Ich dachte nur: »Willkommen in meiner persönlichen Hölle, Jungs«.

Meine Mom lächelte, als sie mich sah. Vorfreude, dachte ich, noch ein Mann, den sie herumkommandieren kann. Aber nein, sie überraschte mich. Sie verschwand hinter dem Lastwagen und kam wenige Augenblicke später mit meinem Fahrrad zurück.

»Hier, Joshua. Fahr ein paar Runden, mach dich mit der neuen Umgebung vertraut. Schau dir die Nachbarschaft an. Und sei spätestens bei Einbruch der Dunkelheit zurück. Ich kümmere mich hier um alles.«

Ich glaube, ich sah ziemlich dumm aus, weil ich es nicht verstehen konnte. Hatte der alte Ohrensessel von Oma, der neben ihr stand, vielleicht meine Mutter gefressen und dann eine bessere Version von ihr ausgespuckt? So kannte ich sie nicht. Es wäre dumm von mir gewesen, die Gelegenheit nicht zu ergreifen, bevor sie wieder zu sich kam. Ich lächelte sie an, schwang mich auf mein Fahrrad und wollte gerade in die Pedale treten, als sie mich am Arm packte. Überrascht schaute ich sie an und dachte schon, das sei alles nur ein Scherz von ihr, als sie mir schnell einen Geldschein in die Hosentasche steckte.

»Hast du dein Handy dabei?«, fragte sie mich.

»Ja. Aber niemand sagt mehr Handy dazu. Es heißt Smartphone, Mom.«

»Na gut. Dann hau ab, wie ihr jungen Leute heutzutage sagt.« Die beiden Möbelpacker, die gerade dabei waren, Omas antikes Sofa aus dem Lastwagen zu hieven, lachten.

Ich verdrehte wie immer die Augen und flitzte davon, bevor ihr noch etwas Peinliches einfiel.

 

Ich weiß nicht, wie lange ich durch die Gegend geirrt bin. Ein Wohngebiet grenzte an das andere - alles kam mir so fremd vor. Jedes Haus sah anders aus und kein Vorgarten glich dem anderen, wenn es überhaupt einen Rasen vor dem Haus gab. Es wirkte so willkürlich und chaotisch. Zu diesem Zeitpunkt konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, hier jemals heimisch zu werden.

Irgendwann hatte ich genug von der Vorstadt und zückte mein Smartphone. Gerade als ich die Navi-App aktivierte, ertönte ein lautes Knurren aus meiner oberen Körperhälfte.

»Schon gut. Kein Grund, gleich einen Aufstand anzuzetteln«, sagte ich zu meinem Magen und gab den Suchbegriff ›Essen‹ ein. »Na, was gibt's denn hier zu spachteln?«

Ziemlich schnell fand ich einen Imbiss, dessen Angebot appetitlich klang. Nach einem kurzen Blick in meine Hosentasche und der Feststellung, dass Mom mir einen Zwanziger zugesteckt hatte, klemmte ich mein Smartphone in die Lenkerhalterung, aktivierte die Routingfunktion und schwang mich wieder auf den Sattel.

Wenig später hielt ich einen lecker duftenden Döner in der Hand. So etwas hatte ich noch nie gegessen. Ich suchte mir ein gemütliches Plätzchen, um den Döner zu verspeisen. Der kleine Park auf der anderen Straßenseite schien mir perfekt. Ich lehnte mein Fahrrad an einen großen Busch, setzte mich auf eine der vielen Bänke und ließ es mir schmecken.

Während ich aß, beobachtete ich zwei Jungen, die ungefähr in meinem Alter waren. Der eine war groß, dunkelhaarig und sehr athletisch. Seine Kleidung sah aus, als hätte er sie gerade erst gekauft. Abgesehen vom karierten Hemd, das zum Teil rot war, dominierte die Farbe Schwarz. Ebenso das Käppi, das er klassisch mit dem Schild nach vorne trug. Der andere war kleiner, untersetzt und hatte rotbraune Haare. Seine Kleidung sah nicht neu aus. Er trug ein gewöhnliches weißes T-Shirt und eine Bluejeans, die ziemlich abgenutzt aussah. Ein sehr ungleiches Paar, dachte ich noch.

 

Angesichts der vielen Menschen, die durch den kleinen Park eilten, um auf die andere Seite des Geschäftsviertels zu gelangen, wären mir die beiden wahrscheinlich gar nicht aufgefallen. Aber durch ihr seltsames Verhalten erregten sie meine Aufmerksamkeit. Sie schlichen umher, als wollten sie von niemandem entdeckt werden. Der Große hatte sogar ein Fernglas um den Hals. Ein bisschen kindisch fand ich das schon, in dem Alter Geheimagent zu spielen.

Die beiden versteckten sich hinter dem großen Busch, gleich neben der Bank, auf der ich saß. Wahrscheinlich hätte ich sie nie angesprochen, wenn sie einfach weitergegangen wären, aber ich war zu neugierig, warum sie sich so verhielten.

 

»Was macht ihr da?«, fragte ich in normaler Lautstärke.

Der kleine Dicke sah mich mit gerunzelter Stirn an und zog mich von der Bank auf den Boden neben sich.

»Wir sind auf einer streng geheimen Mission«, sagte er und grinste mich an. Ich hatte noch nie in meinem Leben so viele Sommersprossen auf einem Haufen gesehen wie bei diesem freundlich dreinblickenden Kerl.

»Was für eine Mission ist das?«, fragte ich, weil ich es genauer wissen wollte.

»Eine streng geheime. Habe ich das nicht gesagt?«, antwortete er nachdenklich.

»Streng geheim also.«

»Genau!«, antwortete er und grinste wieder.

Ich hatte den leisen Verdacht, dass der Kerl nicht ganz richtig im Kopf war. Trotzdem war er mir irgendwie sympathisch.

»Ich bin Gordo und der mit dem Guckglas von meinem Opa ist PJ. Eigentlich heißt er Pablo Juan, aber so darf ihn niemand nennen, außer seiner Mama.«

»Ich heiße Josh«, antwortete ich und reichte ihm die Hand.

»Könntet ihr beiden mujeres chismosas mal die Klappe halten. Ihr verscheucht noch die Rehe«, schimpfte PJ mit starkem spanischem Akzent - Mujeres chismosas bedeutet so viel wie Klatschweiber. Spanisch ist an amerikanischen Schulen Pflichtfach.

»Da ist ein Reh? Gib her, ich will das Reh auch sehen.«

Gordo griff nach dem Fernglas, aber PJ schlug ihm auf die Hand.

»Was redest du da für einen Blödsinn, Gordo? Ich meinte Freaky Trudie, keinen echten Hirsch. Also reiß dich zusammen und denk nach, du Idiot!«

»Ja, schon gut PJ. Tut mir leid.«

PJ setzte das Fernglas wieder auf. Ich kam mir ein bisschen blöd vor, wie ich da mit diesen beiden Typen, die ich überhaupt nicht kannte, hinter einem Busch hockte. Aber es schien niemanden zu interessieren, was wir hier taten. Die Leute gingen an uns vorbei, als wären wir gar nicht da.

»Sie kommt aus dem Buchladen.«

Ich wagte einen Blick über unsere Deckung, denn es interessierte mich, wen wir hier beschatteten. Da fiel mir dieses Mädchen auf. Sie trug eine blaue Jeans-Latzhose, hatte dicke braune Zöpfe an den Seiten und eine Brille mit schwarzem Gestell. Sie war gerade dabei, ein rotes, antik aussehendes Buch in einem Rucksack zu verstauen und setzte dann ihren Fahrradhelm auf.

»Allá vamos, Gordo! Unsere Räder! Es geht weiter!«

Gordo lächelte mich an, mit einem Strahlen in den Augen wie ein Kind am Weihnachtsmorgen. »Es geht weiter. Komm, es geht weiter Josh«.

Ich weiß nicht warum, aber auch ich schwang mich auf mein Fahrrad und folgte den Jungs. Hätte ich gewusst, wohin mich das führen würde, wäre ich direkt in die andere Richtung gefahren. Hauptsache weit weg von denen. Aber nein, ich Idiot wollte es nicht anders.

 

Mit großem Abstand folgten wir dem Freak mit den Zöpfen. Die Häuser wurden immer bleicher und baufälliger. Eine Gegend, in der man keine Sightseeingtour machen würde.

»Wo sind wir hier?«, fragte ich interessiert.

»Im alten Industrial-Park. Früher waren hier alle wichtigen Firmen, aber seit sie vor der Stadt direkt an der Autobahn einen neuen Industrial-Park gebaut haben, ist hier kein Schwein mehr«, antwortete mir PJ, ohne mich anzusehen. »Und ich weiß auch schon, wo unsere kleine Freaky Trudie hin will.«

Wir bogen in eine schmale Straße ein und hielten an. Eine Schranke verhinderte die Weiterfahrt. Ich entdeckte zwei Schilder. Ein kleines mit der Aufschrift ›Zutritt verboten‹ und ein großes, auf dem stand: ›Westfälisches Landesmuseum - Wiedereröffnung 20. April 1954 - Einlass ab 19 Uhr‹.

»Das alte Museum hier ist abgebrannt, hat mir meine Oma erzählt. Bei der Eröffnung und da sind ganz viele Leute gestorben. Die Leitern von der Feuerwehr waren nicht lang genug und deswegen konnten sie nichts machen …«.

»Halt die Klappe, Gordo. Das interessiert kein Schwein«, unterbrach ihn PJ schroff.

Das Gebäude, das mich wegen seiner hohen Säulen an das Lincoln Memorial in Washington D.C. erinnerte, war nicht gerade klein, und im oberen Drittel war nach all den Jahren immer noch der Ruß vom Brand zu sehen. Gordos Erzählung machte also durchaus Sinn.

»Die Geschichte war interessant«, antwortete ich.

PJ schaute mich zum ersten Mal direkt an. Seine dunklen, fast schwarzen Augen weckten in mir den Wunsch, die Beine in die Hand zu nehmen und wegzulaufen. Sein Blick war eiskalt.

»¿Quién eres? Wer bist du überhaupt?«

»Mein Name ist Josh«, antwortete ich und streckte ihm meine Hand entgegen.

»No! Was glaubst du, wer du bist? Niemand hat das Recht, mir zu widersprechen. Wenn ich sage, dass es kein Schwein interessiert, dann ist das so. ¿Entiendes?«

PJ griff nach dem Schild an seinem Käppi und drehte es nach hinten. Dann kam er so dicht auf mich zu, dass sich unsere Nasenspitzen berührten. Wieder ging bei mir der Alarm los, und am liebsten wäre ich zurückgewichen, aber ich wusste, dass PJ das als Schwäche ansehen würde. Also blieb ich standhaft. Auch er wich nicht zurück, was nach einiger Zeit äußerst unangenehm wurde.

»PJ ... PJ«, rief Gordo aufgeregt, was mich nach einer gefühlten Ewigkeit endlich aus dieser Situation befreite. »Da ist Trudie.«

Irgendwie war das Mädchen auf das abgesperrte Gelände gelangt, eilte zu einem der schmalen, bodennahen Fenster, öffnete es und verschwand darin.

»So kommst du immer rein, du kleiner Freak! Ihr nach Chicos! Vamos!«

Spieglein, Spieglein

Der Einstieg durch das kleine Fenster war für PJ und mich kein Problem. Aber Gordo, der alles andere als sportlich war, hatte seine Schwierigkeiten. Heulend und zappelnd hing er bäuchlings mit den Beinen voran in der viel zu kleinen Öffnung. Er kam weder vor noch zurück.

»Hilfe! Hilfe Omi, Hilfe«, schrie er aus Leibeskräften.

»Halt's Maul, Idiota«, blaffte PJ ihn an. »Die erwischen uns noch.«

Gemeinsam zogen PJ und ich an seinen Beinen. Ich stemmte mich mit einem Fuß gegen die Wand, um meinen Zug zu verstärken. PJ brüllte seinen weinenden Freund an, er solle doch endlich den Bauch einziehen. Und als ich dachte, wir schaffen es nie, löste sich Gordo aus dem Fenster und landete unsanft auf dem Betonboden.

Schmerzhaft rieb er sich den Bauch.

»Stell dich nicht so an, el Gordo. Zwei Tüten Chips weniger am Abend würden schon helfen«, fauchte PJ seinen Kumpel an.

»Das hat aber richtig wehgetan«, jammerte der Rotschopf.

»Da kannst du deine Omi ja später pusten und Küsschen drauf geben lassen! Hombre, was für ein Weichei.«

Was fand Gordo nur an dem ungehobelten Kerl? Ich kenne diese coolen Typen mit ihrem Gefolge aus persönlichen Prellböcken und Speichelleckern. Es war mir immer ein Rätsel, warum sich überhaupt jemand mit diesen Deppen abgibt. An Gordos Stelle hätte ich lieber keinen Freund als einen wie Pablo Juan.

 

Wir liefen von Raum zu Raum auf der Suche nach Trudie. Viele Keller waren leer oder verschlossen. Aber es gab auch einige, in denen sich viel Gerümpel befand. Einige Dinge sahen sogar sehr wertvoll aus. Ich fragte mich, wie viele Schätze hier wohl vergraben waren, ohne dass jemand von ihnen wusste oder ihren wahren Wert kannte.

»Nach oben kann sie nicht gegangen sein«, sagte PJ, als wir eine Treppe erreichten, die mit schweren Balken und großen Betonbrocken versperrt war. »Da kommt man nicht durch. Die kleine Kröte ist hier unten«.

»Warum folgen wir eigentlich dem Mädchen?«, fragte ich.

PJ sah mich wieder scharf an, und diesmal rechnete ich damit, eine mitten ins Gesicht zu bekommen. Dieser coole Typ war es nicht gewohnt, dass man sein Handeln in Frage stellte. Ich erwartete keine ernsthafte Antwort, aber PJ überraschte mich.

»Diese Trudie ist keine chica. Sie ist ein Freak, total loco. Sie redet ständig davon, dass die Schwester ihrer Großmutter entführt wurde, als sie noch Kinder waren.«

»Das ist ja schrecklich. Aber warum ist sie deswegen verrückt?«

»Weil sie erzählt, dass ihre Großtante von einem el Monstruo in einen Spiegel gezogen wurde. Deshalb ist sie loco. Und jetzt geh mir aus dem Weg, du Möchtegern-Latino«, sagte er und stieß mich unsanft zur Seite. Warum er mich Möchtegern-Latino nannte, verstand ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht, aber es sollte nicht das letzte Mal sein, dass er mich so nannte.

 

Die Räume und Verschläge nahmen kein Ende, und ich begann zu zweifeln, ob wir Trudie finden würden. Ich vermutete, dass sie uns in die Irre geführt hatte und schon über alle Berge war, als ich in einem kleinen dunklen Gang einen kaum sichtbaren Lichtkranz um eine Tür entdeckte.

Ich machte PJ darauf aufmerksam, der mir lächelnd auf die Schulter klopfte.

»Es ist mal schön, nicht nur von Idiotas umgeben zu sein.« Im ersten Moment war ich mir nicht sicher. War das ein Kompliment?

PJ lief zur Tür und lauschte.

»Ich will nach Hause, PJ. Meine Omi wartet bestimmt schon mit dem Essen auf mich.«

»Silencio! Halt's Maul, el Gordo«, fauchte PJ scharf und öffnete vorsichtig die Tür.

Gordo und ich folgten ihm auf leisen Sohlen. Und da war sie. Auf dem Boden kniend, vor einem großen ovalen Standspiegel. Das Holz, das den Spiegel umgab, war bemerkenswert. Es war kein gewöhnlicher Rahmen. Mein Großvater in den USA hatte mir das Schnitzen beigebracht, aber so etwas Aufwendiges und Detailreiches hatte ich noch nie gesehen. Ich erkannte Menschen und Tiere, aber auch andere Wesen. Solche, die einen in den schlimmsten Träumen verfolgen. Das Ganze schien eine Geschichte zu erzählen. Und ganz oben thronte ein prächtiges Schloss. Ich wünschte, ihr hättet es sehen können. Es war ... der Hammer!

 

Trudie kniete vor dem Standspiegel, und vor ihr lag aufgeschlagen das alte, in rotes Leder gebundene Buch, das ich schon vor der Buchhandlung bei ihr gesehen hatte. Aus ihrem Mund kam ein Murmeln, während ihr rechter Zeigefinger über den Text glitt. Trudie war so in ihre Lektüre vertieft, dass sie uns gar nicht bemerkte.

»Hab ich dich, du Freak«, sagte PJ.

In einem Moment der Schockstarre blickte sie zu uns auf, dann packte sie eilig das Buch in ihren abgenutzten Rucksack - doch bevor sie die Flucht ergreifen konnte, geschah etwas Unglaubliches.

Eine Hand mit gräulicher Haut und langen, spitzen schwarzen Fingernägeln kam aus dem Spiegel und packte das Mädchen am Arm. Trudie schrie gellend auf. Im ersten Moment war ich vor Schreck wie gelähmt, aber als die Hand begann, das Mädchen in den Spiegel zu ziehen, reagierte ich.

Ich packte ihren anderen Arm und zog mit aller Kraft.

»Helft mir! Kommt schon! Wir müssen sie retten«, schrie ich die beiden Jungs an, die wie angewurzelt mit weit aufgerissenen Augen dastanden.

»Lass los ... lass mich los. Du tust mir weh. Bitte lass mich los«, wimmerte Trudie. Mir blieb nichts anderes übrig, als zu helfen. Obwohl ich nicht wirklich begriff, was hier geschah. Die Kraft, gegen die ich ankämpfte, war so stark, dass Trudie allmählich im Spiegel verschwand. Ich hätte einfach loslassen können, aber meine Hände umklammerten sie, obwohl auch ich dem gierigen Spiegelbild immer näher kam. Ich schrie Gordo und PJ an, die immer noch untätig dastanden, mir endlich zu helfen, als nur noch ein kleines Stück von Trudies Arm aus dem Spiegel ragte. Plötzlich spürte ich, wie mich zwei kräftige Hände an der Hüfte packten und zerrten ... aber es war zu spät.

Ein unerwarteter Ruck ging durch meinen Körper und plötzlich umgab mich völlige Dunkelheit. Nicht ein einziger Lichtpunkt war zu sehen. Ich geriet in Panik, wollte um Hilfe schreien, aber aus meinem Mund kam kein Ton. Ich hatte das Gefühl zu schweben. Ich strampelte und schlug um mich, aber ich spürte keine Bewegung. Nichts ... um mich herum war absolute Leere. Mein Herz fühlte sich an, als würde es jeden Moment aus meiner Brust springen. Ich hatte solche Angst wie noch nie in meinem Leben.

Ich weiß nicht, wie lange ich in diesem Zustand war. Irgendwann muss ich eingeschlafen sein, auch wenn es sich nicht wie Einschlafen anfühlte ... es war anders.

 

 

Noch bevor ich die Augen öffnete, hörte ich das Knistern des Feuers. Wie betäubt blickte ich in die züngelnden Flammen vor mir. Es dauerte eine Weile, bis ich wieder ganz bei mir war. Das Letzte, woran ich mich erinnerte, war wie ein Traum. Ich hatte mich noch nicht ganz aufgesetzt, da sprach mich schon jemand an.

»Na, wieder unter den Lebenden?«

Es war Trudie, die keine Armlänge von mir entfernt am Lagerfeuer saß. Auf dem Schoß ihr Buch, in dem sie bis eben gelesen zu haben schien. Noch etwas benommen sah ich mich um. Der Schein der Flammen reichte nicht weit und tauchte alles um uns herum in tiefes Schwarz. Was ich hörte, war das Zirpen der Grillen in der Ferne. Ich hatte keine Erinnerung daran, wie ich hierher gekommen war. Aber wer es mit Sicherheit wusste, war dieses Mädchen.

»Wo sind wir?«

»Hinter dem Spiegel«, antwortete sie knapp, ohne von ihrem Buch aufzublicken.

»Was soll das heißen? Das verstehe ich nicht.«

Trudie blickte von ihrem Buch auf und sah mich irritiert an.

»Wir sind durch den Spiegel gegangen und jetzt sind wir hier. Was ist daran nicht zu verstehen?«

»Ja, klar! Ich kann mich auch alleine verarschen. Nein! Jetzt mal im Ernst. Wo sind wir hier und wie hast du es geschafft, dass ich hier draußen bin? Haben dir die Jungs dabei geholfen, war das alles nur ein Gag von euch, um mich zu ärgern?«

»Glaubst du, ich und diese beiden Idioten haben das alles inszeniert, um dir einen Streich zu spielen, obwohl ich dich noch nie in meinem Leben gesehen habe? Glaubst du das wirklich? Warum denken die Jungs immer, dass sich alles nur um euch dreht? Ich habe eine Botschaft vom Universum für dich, es gibt noch mehr da draußen als dein aufgeblasenes Ego, das mindestens die Größe von Uranus zu haben scheint«, antwortete sie wütend.

»Schon gut«, sagte ich und rappelte mich auf. »Ich muss jetzt los. Ich hätte schon längst zu Hause sein sollen. Der erste Tag hier und ich bekomme Hausarrest, dank euch.«

Ich zog mein Smartphone aus der Tasche und aktivierte es.

»Verdammt! Kein Empfang, also keine Navi-Funktion. Na toll! Wie soll ich jetzt nach Hause finden?«, schimpfte ich.

Trudie las unbekümmert in ihrem Buch weiter, als wäre ich gar nicht mehr da.

»Ich finde schon irgendwie nach Hause. Also, mach's gut und grüß PJ und Gordo von mir«, sagte ich und lief auf die schwarze Wand aus Dunkelheit zu.

»Bevor du gehst, habe ich noch eine Frage an dich. Wo willst du eigentlich hin?«

Ich drehte mich wieder zu ihr um und wusste nicht, was ich antworten sollte. Ich wusste nicht, ob es so klug war, ihr meine neue Adresse zu geben. Andererseits, was sollte sie damit anfangen? Jedenfalls war ich verzweifelt genug und vielleicht gab sie mir ja eine ungefähre Richtung an.

»Im Forst 15. Etwas außerhalb der Stadt«, antwortete ich.

Sie nickte und lächelte.

»Eine letzte Frage habe ich noch, bevor du gehst. Warum hast du mich nicht gehen lassen, als ich dich darum bat?«

Ich fühlte mich wie vor den Kopf gestoßen.

»Was? Das war doch nur ein Traum, wie kannst du das wissen?«

Hatte ich im Schlaf gesprochen? Wusste sie es deshalb? Alles andere war unmöglich. Es musste einfach so sein.

»Nein«, antwortete sie, »das war kein Traum. Es ist wirklich passiert. Und hättest du mich gehen lassen, wäre ich jetzt allein hier, so wie ich es wollte. Wenn du jetzt gehen willst, dann geh, aber glaube mir, egal in welche Richtung du gehst, du wirst nie im Forst 15 ankommen.«

Das konnte nur ein schlechter Scherz sein. Ich lief zurück zum Feuer und setzte mich wieder hin.

»Du hast also nicht um Hilfe gerufen? Du wolltest, dass ich dich loslasse?«

Trudie lachte und rückte mit dem Finger ihre schwarz gerahmte Brille zurecht.

»Ich kann mir vorstellen, dass das alles ein Schock für dich sein muss. Aber ich verstehe nicht ganz, was du mit diesem hirnamputierten Affen und seinem Lakaien zu tun hast.«

»Ich bin da irgendwie reingeschlittert. Meine Mutter und ich sind erst gestern aus den USA nach Deutschland gezogen«, erklärte ich.

Trudie klappte ihr Buch zu und sah mich an.

»Oh Mann! Hattest du schon immer dieses Talent, in Schwierigkeiten zu geraten, oder war das jetzt einfach nur Pech?«

Ich zuckte mit den Schultern.

»Keine Ahnung. Ich verstehe nicht einmal, was hier eigentlich passiert ist«, antwortete ich traurig.

»Okay, pass auf, ich erkläre es dir. Wir sind hier im Land Chuartan und nicht weit von hier befindet sich der Eingang zum Labyrinth des verrückten Philiopoulus. Sobald es wieder hell ist, werde ich hineingehen und meine Großtante aus der Gefangenschaft des Meisters der Rätsel und Spiele befreien. Und wenn ich sie gefunden habe, werde ich mit ihr durch den Spiegel nach Hause gehen. Und wenn alles gut geht, wird jeder genau in die Zeit zurückkehren, in der er verschwunden ist. Und da du jetzt schon hier bist, kannst du mir helfen. Im Gegenzug helfe ich dir, nach Hause zu kommen. Wie klingt das für dich?«

Nachdem ich sie nur angesehen hatte, musste ich laut lachen. Zu abgedreht war das, was sie mir da erzählte. Trudie schaute mich emotionslos an.

»Du glaubst mir nicht?«, fragte sie mich und packte dabei ihr wertvollstes Hab und Gut in ihren Rucksack. Dann stand sie auf und verschwand durch das raschelnde Dickicht.

»Trudie, warte! Wo willst du hin?«, rief ich ihr nach.

»Komm mit, du wirst schon sehen«, antwortete sie aus der Ferne.

Ich sprang auf und zückte mein Smartphone. Obwohl es schon dämmerte, schaltete ich die Taschenlampe ein und folgte ihr.

 

Nach einigen Metern durch das dichte Gestrüpp packte mich plötzlich jemand am Arm. Ich erschrak zu Tode, und als ich begriff, dass Trudie mich gerade davor bewahrt hatte, eine steile Felswand hinunterzustürzen, zog es mir den Magen zusammen.

»Weißt du, warum man mich Freaky Trudie nennt?«

Ich war noch nicht ganz bei mir und zuckte nur mit den Schultern.

»Weil sie mir das hier nie geglaubt haben!«, sagte sie und deutete mit dem Finger ins Tal.

Mir entfuhr ein begeistertes »Wow! Das ist echt abgefahren!«, denn was ich da sah, war der absolute Hammer!

Die aufgehende Sonne tauchte das vor uns liegende Tal in ein goldenes Meer. Jeder noch so kleine Zweifel an ihrer Geschichte löste sich in diesem Moment in Luft auf. Das Labyrinth, von dem Trudie sprach, hatte gigantische Ausmaße. Bei näherem Hinsehen erkannte ich, dass es sich in Wirklichkeit um mehrere verschiedene Labyrinthe handelte, von denen jedes für sich genommen nicht weniger beeindruckend war. Die meisten Irrwege waren von grünen Hecken gesäumt, aber auch steinerne Labyrinthe offenbarten sich mir und eines, das aus reinem Licht zu bestehen schien. Zwischen den Gärten ragten in regelmäßigen Abständen riesige Kuppeln empor, deren Zweck ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht kannte - was sich aber bald ändern sollte. Und schließlich das Beeindruckendste, das dem Anblick etwas Magisches verlieh. In der Mitte, umgeben von all diesen Labyrinthen und Kuppeln, thronte ein prächtiges Schloss mit Türmen, die so hoch waren, dass man glauben konnte, die kleinen Schleierwolken am Himmel hingen als Fahnen an den Turmspitzen.

So beeindruckend und wunderschön es auch war, so sehr machte es mir auch Angst.

»Und das ist wirklich der einzige Weg nach Hause, Trudie?«, fragte ich und sah sie an. Sie rückte ihre Brille zurecht und kniff die Augen zusammen.

»Ich sage dir jetzt etwas, weil ich dich mag. Als Warnung! Wenn du mich noch einmal Trudie nennst oder gar auf die glorreiche Idee kommst, mich Freaky Trudie zu nennen, ziehe ich dir deine Unterhose so weit in die Ritze, dass du denkst, du wärst ein Mädchen. Hast du das verstanden?«

Ich schluckte und nickte. In ihren Augen sah ich, dass sie es bitterernst meinte.

»Okay, und wie soll ich dich dann nennen?«, fragte ich eingeschüchtert.

»Ich heiße Anna«, sagte sie und streckte mir ihre Hand entgegen.

»Joshua, aber nenn mich Josh«, stellte ich mich vor und wir schüttelten uns die Hände.

»Eine Sache interessiert mich noch. Wie kommen die Jungs dazu, dich Trudie zu nennen, wenn du doch Anna heißt?«

Sie lächelte und da fielen mir zum ersten Mal ihre wunderschönen braunen Augen auf.

»Mein voller Name ist Gertrude Eleonor Annabell Hochwart. Ich muss dir wahrscheinlich nicht erzählen, wie grausam Kinder sein können. Sobald jemand in der Klasse meinen richtigen Namen wusste, machte er die Runde. Dazu kam noch die verrückte Geschichte mit meiner Großtante und ehe ich mich versah, war ich Freaky Trudie«.

»Mein zweiter Vorname ist Leonard.«

Ich weiß nicht, warum ich ihr das gesagt habe. Ich habe das noch nie jemandem freiwillig erzählt, aber ich wollte sie wohl ein bisschen aufmuntern und ihr zeigen, dass sie nicht die Einzige ist, die schreckliche Namen hat, was mir auch gelungen ist. Sie lachte und ich hatte den Eindruck, dass Anna gar nicht die Freaky Trudie war, für die sie alle hielten. Zugegeben, die Geschichte, durch einen Spiegel in ein Land mit einem riesigen Labyrinth zu reisen, klang schon etwas verrückt, aber ich war da. Oder?

»Vielleicht sollten wir jetzt besser die Jungs suchen. Auch wenn ich sie am liebsten hier zurücklassen würde, ist es wohl besser, wenn wir zusammenbleiben.«

»PJ und Gordo? Die sind auch hier?«, fragte ich überrascht, denn ich hatte nicht damit gerechnet, dass sie auch in den Spiegel gezogen wurden.

»Natürlich! Sie haben sich abgesetzt. Sie sind eine halbe Stunde vor dir aufgewacht und wollten nicht mit einem Freak die Feuerstelle teilen. Sie haben dich bei mir gelassen, weil sie keine Lust hatten, dich zu tragen.«

 

Wir fanden die Jungs auf einem kleinen Hügel, nicht weit von Annas und meinem Feuerplatz. Gordo hatte rote Augen, als hätte er die ganze Nacht nicht geschlafen, und PJ schnitzte mit einem kleinen Klappmesser die Rinde von einem Ast.

»Meine Omi macht sich bestimmt große Sorgen. Sie hat bestimmt ganz viele Blaubeerpfannkuchen gebacken und hofft, dass ich jeden Moment durch die Haustür komme ... mit ganz viel Butter ... und gebratenem Speck. Der gebratene Speck meiner Omi ist der beste ... und ihre Rühreier erst«, jammerte Gordo und wischte sich die Tränen von den Wangen.

»Halt die Fresse. Was du alles in dich reinschaufelst, da wird mir schon vom Zuhören schlecht.«

Als PJ uns entdeckte, sprang er auf und bedrohte uns mit seinem Speer.

»Halt! Keinen Schritt weiter Josue. Wenn du dich auf die Seite dieses Freaks geschlagen hast, hast du hier nichts zu suchen.«

Bevor ich den Mund aufmachen konnte, stellte sich Anna mutig vor mich.

»Erstens, Pablo, er heißt nicht Josue, sondern Josh. Und zweitens habt ihr Josh bewusstlos bei mir liegen lassen, hier hat niemand Partei ergriffen. Ich frage mich, ob du exorbitant dumm oder einfach nur total paranoid bist«, entgegnete sie scharf.

In PJ begann es zu brodeln.

»Hat mich der kleine Freak gerade beleidigt, Gordo? Und hat dieses Loco-Ding mich gerade Pablo genannt?«

»Ich weiß es nicht, PJ«, sagte Gordo und kratzte sich über seinen roten, zerzausten Schopf. »Ich glaube schon.«

»Dich zu beleidigen, das kannst du ganz allein, Pablo. Und den armen Frank für deine Machtspielchen zu missbrauchen, ist das Allerletzte. Ihr habt nur zwei Möglichkeiten. Entweder ihr bleibt hier und eure Chance, wieder nach Hause zu kommen, ist gleich null, oder ihr kommt mit mir und Josh ins Labyrinth und wir finden gemeinsam einen Weg zurück. Es ist eure Entscheidung.«

Gordo sah seinen Freund beschämt an, während dieser drohend die Augen zusammenkniff.

»Hast du etwas zu essen für mich, Anna? Ich sterbe vor Hunger.«

»Gordo, du Fresssack! Du estúpido Verräter! Du bist so was von tot«, zischte Pablo.

Anna stellte ihren Rucksack ab und holte einen Schokoriegel heraus.

»Wenn du den nimmst, dann sind wir die längste Zeit Freunde gewesen, Gordo! ¿Entiendes?«

Gordo stand auf, nahm den Schokoriegel und packte ihn hingebungsvoll aus. Doch bevor er hineinbiss, drehte er sich zu seinem Freund um.

»Ich heiße Frank und nicht Gordo. Und wenn ich jetzt diesen leckeren Schokoriegel esse und wir deswegen keine Freunde mehr sind, dann waren wir nie richtige Freunde, Pablo.«

 

Ich war überrascht, welche Kraft so ein bisschen Schokolade haben kann. Als wäre es ein Super-Schokoriegel, der die Ketten der Unterdrückung sprengen kann. Böse Zungen könnten behaupten, dass Frank seinen besten Freund für einen Schokoriegel verkaufen würde. Pablo fühlte sich betrogen, und obwohl ich ihn nicht als Freund des Jahres kennen gelernt hatte, hatte ich das Gefühl, dass er wirklich verletzt war.

»Verpisst euch, ihr Loser. Ohne euch bin ich besser dran. Verpisst euch! Verpisst euch, ihr Puto-Freaks.«

 

Ich bin mir sicher, wenn wir weiter dagestanden und ihn angeschaut hätten, wäre Pablo wie ein kleines Mädchen in Tränen ausgebrochen. Wir gingen ohne ein weiteres Wort von uns.

Keine Angst vor wilden Tieren

Nach einem kurzen Fußmarsch erreichten Anna, Frank und ich den Eingang des Labyrinths. Ein riesiges Tor aus verschlungenen Schlangen versperrte uns den Weg. Anna holte ihr Buch aus dem Rucksack, während ich mir das ungewöhnliche Tor genauer ansah. Normalerweise hätte ich es einfach aufgestoßen, aber ich spürte, dass von den schwarzen Schlangen eine Gefahr ausging, auch wenn ich in diesem Moment keine vernünftige Erklärung dafür hatte.

Ich war nicht der Einzige, der sich für das Tor interessierte. Frank stand so dicht vor einem der Schlangenköpfe, dass er ihn fast mit der Nasenspitze berührte. Mit dem Zeigefinger strich er sanft über einen der unzähligen, etwa kinderfaustgroßen Köpfe, als plötzlich die Augen des Kriechtiers rot aufleuchteten.

»Das ist cool«, sagte Frank.

Bei mir schrillten alle Alarmglocken. Wie ein Footballspieler riss ich ihn von den Beinen und beförderte uns geradewegs auf den staubigen Boden. Mit gerunzelter Stirn sah er mich wütend an.

»Hey, was soll das? Bist du verrückt geworden?«

Statt zu antworten, deutete ich auf das Tor. Ein Augenpaar nach dem anderen erwachte, bis uns ein Meer aus roten Lichtpunkten anstarrte. Zischend lösten sich die Schlangen aus ihrem eisernen Netz und streckten sich uns entgegen. Zuerst erstarrte ich vor Schreck, doch als die Köpfe näher kamen, bewegten wir uns rückwärts auf Anna zu, die im Schneidersitz saß und las.

»Anna? Anna!«, rief ich panisch, in der Hoffnung, ihre Aufmerksamkeit vom Buch auf die Schlangen zu lenken.

»Einen Moment noch, Jungs. Ich hab's gleich. Hier muss doch gestanden haben, wie man das Schlangentor öffnet.«

»Anna! Wir haben keine Zeit mehr«, antwortete ich mit zitternder Stimme, während uns die Schlangen folgten.

»Ich habe es ... ich habe es!«

Anna klappte ihr Buch zu, legte es neben sich auf den Boden und stand auf.

Frank und ich krochen durch den Staub zu Anna. Von diesem Moment an lag unser Schicksal in ihren Händen. Ich wagte nicht aufzustehen. Ich sah noch, wie Anna ihre Arme den unzähligen fleischgierigen Schlangen entgegenstreckte, dann schloss ich die Augen.

Ich hörte das Zischeln und Züngeln. Es war so nah, dass ich nicht zu atmen wagte. Dann hörte ich Annas Stimme, die laut und deutlich eine Art Zauberspruch aufsagte:

»Serpentes, ingressum concedite nobis«

Mit einem Mal verstummten die Schlagen. Nur Franks lange und tiefe Atemzüge waren für mich hörbar. Ich traute mich, langsam die Lider zu öffnen und erschrak beinahe zu Tode. Nur wenige Zentimeter vor meinem Gesicht verweilten rot glühende Augen, die mich hungrig anstarrten.

»Ihr werdet eingelassen, wenn ihr unser Rätsel löst«, zischten die Schlangen mit hundert Zungen. »Wisst ihr des Rätsels Lösung nicht, so werdet ihr mit Haut und Haar gefressen.«

»Nennt mir euer Rätsel«, entgegnete Anna kühn.

Ich wagte mich nicht zu rühren. Ich fürchtete mich so sehr, dass ich glaubte, mich jeden Augenblick einzunässen.

 

»Mit M umschließt es manchen Garten,

mit D trotzt es der Zeiten Lauf,

mit B muss es den Acker warten,

mit L steh'n Jäger oft darauf.«

 

Anna murmelte die Worte vor sich hin, während Frank neben mir vor Angst wimmerte.

»Eure Zeit ist abgelaufen. Was ist des Rätsels Lösung?«

»Ich habe sie gleich. Wartet, nur einen Moment.«

In Annas Stimme schwang ein Hauch von Panik mit.

»Nein! ... die Lösung! ... Jetzt!«, drohten die Schlangen zischend.

»Die Mauer umschließt manchen Garten. Die Dauer trotzt der Zeiten Lauf. Der Bauer muss den Acker warten und …« Anna stockte.

»Weiter Anna. Bitte«, flehte ich.

Die Spannung in mir war zum Zerreißen gespannt. Hatte Anna das Rätsel gelöst? Oder waren wir Schlangenfutter? Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen.

Die metallenen Zungen der Schlangenköpfe zuckten ein letztes Mal hektisch. Dann zog sich das chaotische Gewirr zurück, bis es wieder nur ein Tor war.

Ich legte mich flach auf den Boden und atmete ein paar Mal tief durch, während Anna dem immer noch schwer atmenden Frank auf die Beine half.

»Ich hab mir in die Hose gemacht ... ich hab mir in die Hose gemacht«, jammerte er verlegen.

Anna streichelte ihm tröstend über die Schulter. »Ist schon gut. Das hätte jedem passieren können.«

 

»Ihr habt das Rätsel gelöst. Ihr dürft eintreten«, sprachen die hundert Köpfe zischend, und ihre Augen verloren das Leuchten.

Quietschend öffnete sich die schwere Tür wie von Geisterhand.

»Ich will nicht hinein. Bitte! Ich will da nicht rein. Ich will nur nach Hause.«

Ich konnte Franks Angst verstehen. Mir zitterten die Knie, wenn ich daran dachte, was noch kommen könnte. Die Schlangen waren wohl das kleinere Übel. Aber Frank war nicht in der Verfassung für die Wahrheit. Und obwohl ich kein Freund von Lügen war, war es in diesem Moment leider notwendig.

»Sieh mal. Das Schlimmste haben wir schon hinter uns. Jetzt müssen wir nur noch durch das Labyrinth zum Schloss, dann sitzt du wieder bei Oma am Esstisch und kannst dich von ihr verwöhnen lassen.«

Frank wischte sich die Tränen aus den Augen.

»Okay. Ich mache das für meine Omi.«

Anna lächelte ihn an und streichelte ihm noch einmal über die Schulter.

»Deine Omi kann stolz auf dich sein«, sagte sie und wir gingen gemeinsam durch das Tor ins Labyrinth.

 

Wie man sich vorstellen kann, haben Labyrinthe ihre Tücken. Wenn man denkt, man sei auf dem richtigen Weg, findet man sich plötzlich in einer Sackgasse wieder und muss den ganzen Weg zurückgehen. Irgendwann kommt die Verzweiflung und man verliert den Glauben, jemals ans Ziel zu kommen. Nach zwei Stunden in diesem blöden Heckenlabyrinth wusste ich, dass es so nicht weitergehen konnte. Wir brauchten eine Strategie.

Ich erinnerte mich an die phänomenale Aussicht ins Tal. Und dann kam mir eine Idee. Was wäre, wenn es nach jedem Labyrinth eine Kuppel gäbe? Könnte man die nicht als Orientierungshilfe nutzen?

Ich erzählte Anna von meiner Idee und sie stimmte mir zu. Die Kuppel, die uns am nächsten war, war hoch genug, so dass wir sie problemlos als Orientierungspunkt nutzen konnten. Das bewahrte uns zwar nicht davor, ab und zu falsch abzubiegen, aber es erleichterte die Sache ungemein.

So dauerte es nicht lange, bis wir vor unserer ersten Kuppel standen. Was ich euch jetzt schon verraten kann ist, dass nicht alle Kuppeln aus dem gleichen Material waren. Die erste war aus reinem Glas.

 

Das grüne Blattwerk, das sich von innen gegen die Glaswände drückte, ließ eine ungewöhnliche Pflanzenvielfalt vermuten, doch erst als wir die Kuppel betraten, zeigte sich der Dschungel in seiner ganzen Pracht. Palmen, Farne und unzählige andere exotische Pflanzen, die ich noch nie in meinem Leben gesehen hatte, wuchsen dicht an dicht zu einem sattgrünen Urwald zusammen. Zu dem ohnehin schon ohrenbetäubenden Gezwitscher und Gekrächze der Vögel kam noch die drückende feuchte Hitze, so dass man sich wie in einem tropischen Dschungel fühlte.

Ich war das feuchtwarme Klima Floridas gewohnt, aber selbst mir fiel das Atmen schwer. Frank geriet in Panik. Verängstigt tastete er das Glas nach der rahmenlosen Öffnung ab, durch die wir gekommen waren. Aber sie war nicht mehr da.

»Ich will hier raus ... bitte! Ich kann nicht atmen. Ich will hier raus«, flehte er atemlos, als plötzlich eine Stimme ertönte, die uns vor Schreck zusammenzucken ließ.

»Willkommen, willkommen. Mein Name ist Philiopoulus und ich bin der Meister der Rätsel und Spiele. Ich freue mich, dass ihr gekommen seid, denn es ist schon viel zu lange her, dass ich Gäste begrüßt habe. Das erste Rätsel habt ihr nicht so würdig gelöst. Beinahe wärt ihr das Mahl meiner kleinen, entzückenden Lieblinge geworden«, kicherte Philiopoulus vergnügt. »Jetzt wollen wir mal sehen, ob euch das erste Spiel besser gelingt. Also strengt euch etwas mehr an, besonders du, mein Dickerchen.«

»Ich bin nicht dein Dickerchen«, protestierte Frank atemlos.

»Schade«, erwiderte Philiopoulus und lachte albern.

»In der Mitte dieser Kuppel ist ein Fels, der jetzt noch von allen Pflanzen verdeckt ist. Und auf diesem Felsen liegt eine Glaskugel. Wenn ihr sie berührt, habt ihr das Spiel gewonnen. Aber ihr könnt es nur gemeinsam beenden, das heißt, alle sechs Hände müssen diese Kugel berühren. Habt ihr das verstanden?«

Ich schaute Anna an, die mir zunickte. Frank war zu sehr mit Schwitzen und Atmen beschäftigt.

»Wir müssen nur auf einen Felsen klettern und eine Glaskugel berühren, dann haben wir das Spiel gewonnen und dürfen hier raus?«, fragte ich ungläubig.

»Im Großen und Ganzen ja. Auch wenn es etwas schwieriger werden könnte. Aber ich denke, das werdet ihr noch früh genug herausfinden.«

Philiopoulus kicherte wieder.

»Klettern? Ich kann nicht klettern«, keuchte Frank.

»Schade, mein Dicker. Aber ich glaube, ich kann dir einen kleinen Anreiz geben. Das Spiel heißt ›Keine Angst vor wilden Tieren‹. Lass es jetzt beginnen.«

»Wilde Tiere?«, sagten Anna und Frank gleichermaßen schockiert.

Kaum hatten sie es ausgesprochen, ertönte ein großkatzenartiges Brüllen, das mir das Blut in den Adern gefrieren ließ.

»Wir müssen hier weg«, schrie ich und meine Freunde zögerten nicht lange. Gemeinsam rannten wir in den dichten Dschungel. Zuerst hatte ich Angst, dass Frank nicht mithalten könnte, aber der Junge überraschte mich. Manchmal hatte ich sogar das Gefühl, er würde mich gleich überholen. Anna war superschnell, fast so schnell wie ich.

Das laute Keuchen hinter uns war für mich fast greifbar und die schweren Pfoten, die immer wieder dumpf auf den weichen Boden schlugen, kamen schnell näher. Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich noch mithalten konnte. Langsam wurde mir bewusst, wie groß diese Kuppel und der Dschungel darin wirklich waren. Meine Schritte wurden langsamer und meine Lungen brannten wie Feuer.

»Ich kann nicht mehr. Ich kann nicht mehr. Seitenstechen ... Aua! ... Seitenstechen«, keuchte Frank klagend an mir vorbei.

»Da ist er, der Fels«, bemerkte Anna atemlos.

Die feuchte Hitze und die extreme körperliche Belastung brachten mich langsam an meine Grenzen. Aber man glaubt gar nicht, wozu man fähig ist, wenn man weiß, dass einem eine riesige Raubkatze auf den Fersen ist. Obwohl mir die Oberschenkel schmerzten, lief ich noch ein wenig schneller, als plötzlich ein tiefes Grollen den Boden erzittern ließ. Der Fels, der nicht mehr weit entfernt war, begann plötzlich in die Höhe zu wachsen.

Anna war die erste, die ihn erklomm, dicht gefolgt von Frank. Und so ungern ich es zugebe, ich war der Letzte. Ich war nass geschwitzt bis auf die Unterwäsche und meine Kleider klebten förmlich an mir. Es war einfach ekelhaft.

Zuerst war ich froh, dass meine Hände so feucht waren, denn der Fels war schroff und rau. Doch schon nach wenigen Handgriffen spürte ich, wie sich der Fels langsam in meine Haut schnitt. Ich war schon einige Meter vom Boden entfernt, als ich unter mir ein bedrohliches Fauchen hörte. Ich machte den Fehler und schaute nach unten. Was ich sah, war die Verkörperung dessen, was Alpträume ausmacht. Der Körperbau glich dem eines Braunbären. Die Pranken waren die einer Raubkatze und der Schwanz beweglich wie eine Schlange. Das Schrecklichste aber war der Kopf. Die riesigen Augen, die großen, runden Ohren und das überdimensionale Maul mit den gewaltigen, messerscharfen Zähnen. Ich war wie gelähmt, und wäre der Fels nicht immer weiter gewachsen, hätte mich das Untier mit seinen riesigen Fangzähnen wahrscheinlich schon längst erwischt.

»Josh! Komm schon! Beweg deinen Hintern hier rauf!«, rief Anna von oben. Frank hatte es fast geschafft, während ich immer noch hier unten vor mich hin dümpelte. Inzwischen hatten sich zwei weitere Bestien der gleichen Art zu dem einen gesellt, als plötzlich ein Tier aus dem Wald trat, das mich im ersten Moment an eine Giraffe erinnerte. Aber in Wirklichkeit hatte es, abgesehen von dem extrem langen Hals, überhaupt nichts mit der gewöhnlichen Giraffe gemeinsam. Der Körper war stämmig, die Beine dick wie Baumstämme und der Kopf erinnerte an eine mittelalterliche Waffe. Jene mit Stacheln besetzte Kugel, die, wenn ich mich recht erinnere, Morgenstern genannt wird. Die Augen des seltsamen Wesens waren glühend rot und die spitzen Zähne ragten schief aus dem großen Maul. Schnell setzte sie zum Angriff an. Doch diesmal war nicht ich das Ziel, sondern Frank.

Das langhalsige Ungeheuer schwang seinen Kopf wie eine fleischgewordene Abrissbirne und raste geradewegs auf den ahnungslosen Frank zu.

»Pass auf!«, rief ich, doch es war zu spät. Zu seinem Glück schlug der Stachelkopf nur wenige Zentimeter neben ihm in den Felsen ein. Zu meinem Unglück löste das einen Steinhagel aus. Nur mit Mühe konnte ich dem größten Teil ausweichen, aber ein Stück traf mich knapp über der linken Augenbraue. Zuerst spürte ich nur ein leichtes Brennen, das nach wenigen Sekunden von einem feuchten Gefühl begleitet wurde. Blut lief mir über das Gesicht. Das Schlimmste aber war, dass mir das Zeug ins Auge lief, was meine Sicht stark einschränkte - vom stechenden Schmerz ganz zu schweigen.

»Josh! Alles in Ordnung?«, rief Anna von oben.

»Mir geht's gut«, antwortete ich, aber eigentlich hätte ich auf der Stelle losheulen können. Nicht nur wegen der Schmerzen, es war die ganze Situation - aber ich riss mich zusammen. Was sollte Anna schließlich von mir denken?

 

»Du musst hier rauf. Nur so können wir die Sache beenden.«

Ich wusste, dass sie Recht hatte. Aber ich klebte wie angewurzelt an dem schroffen Felsen.

»Komm«, rief Frank, der inzwischen neben Anna stand. »Wenn ich es geschafft habe, dann schaffst du es auch.«

Wahrscheinlich war es dieser Satz, der mich aus meiner Schockstarre befreite und zum Weiterklettern anspornte. Zu meinem Glück waren die Raubkatzen-Bären-Dinger keine besonders guten Kletterer. Trotzdem versuchten sie mir zu folgen. Kläffend und fauchend schlugen sie ihre Krallen in den harten Stein. Inzwischen war ich weit genug von ihnen entfernt, so dass sie mir trotz ihrer immensen Größe nicht mehr gefährlich werden konnten. Irgendwie taten sie mir fast leid, wie sie immer wieder den Halt verloren und zu Boden stürzten. Die leibhaftige Abrissbirne hingegen machte mir mehr Sorgen. Das Ungetüm schien sich langsam von seinem letzten Angriff zu erholen und ich musste ihm unbedingt aus dem Weg gehen. Also begann ich, um den Felsen herumzuklettern, außer Sichtweite der Morgenstern-Giraffe. Mein Plan ging auf ... zumindest vorerst. Denn das Ding schien nicht dumm zu sein und suchte mich. Geschickt flüchtete ich immer wieder aus seinem Blickfeld, was zwar länger dauerte, mir aber einen halbwegs sicheren Aufstieg garantierte.

 

Als ich endlich oben angekommen war, packten mich Frank und Anna jeweils an einem Handgelenk und zogen mich ganz zu sich hoch. Ich war so erschöpft, dass ich mich erst einmal flach auf den Rücken legen und in Ruhe durchatmen musste. Meine Finger waren wund und schmerzten, die Platzwunde über dem Auge brannte wie verrückt, aber ich war in diesem Moment überglücklich. So sehr, dass ich vor Erleichterung zu lachen begann. Ich weiß nicht, ob die anderen verstanden, warum ich lachte, aber sie lachten mit.

»Okay, Jungs. Machen wir dem Spuk ein Ende. Hände an die Kugel, alle zusammen«, sagte Anna, nachdem wir uns beruhigt hatten. Sie war die einzige, die auf der relativ kleinen Plattform stand. Frank war auf den Knien, und ich war gerade dabei, mich wieder aufzurappeln, als ein ohrenbetäubender Schrei ertönte. Er war prähistorisch. Irgendetwas sagte mir, dass es noch nicht vorbei war. Und so war es.

Zwei riesige graue Vögel tauchten plötzlich wie aus dem Nichts über uns auf. Sie flogen zu schnell, um sie genauer beschreiben zu können. Aber sie kamen dem, was wir über Flugsaurier wussten, verdammt nahe. Anna wollte sich in Sicherheit bringen, aber es war zu spät. Einer der beiden flog so dicht über sie hinweg, dass der Wind, den der Dinosaurier mit seinen mächtigen, spärlich befiederten Flügeln erzeugte, sie aus dem Gleichgewicht brachte. Anna stolperte rückwärts an den Rand des Abgrunds und ruderte wild mit den Armen. Es war ein fast aussichtsloser Kampf, das Gleichgewicht wiederzufinden. Die Verzweiflung war ihr ins Gesicht geschrieben. Frank und ich wussten zunächst nicht, was hier geschah. Erst im allerletzten Moment reagierten wir gleichzeitig, packten Anna an der Latzhose und zogen sie über die Kante wieder in Sicherheit.

Keiner von uns musste ein Wort sagen. Ohne nachzudenken, legten wir unsere Hände auf die Kugel. Ich zitterte am ganzen Körper und wartete fast paranoid auf eine neue Gefahr.

Doch stattdessen senkte sich der Fels. Die Dinovögel verschwanden auf dieselbe wundersame Weise, wie sie zuvor erschienen waren, ebenso wie die Stachelkopfgiraffe und diese Raubkatzen-Bären-Dinger. Ich glaube, ich habe erst wieder zu atmen angefangen, als der Felsbrocken vollständig im Boden versunken war. In den Gesichtern von Anna und Frank glaubte ich zu sehen, was ich in diesem Moment fühlte. Die unsagbare Erleichterung, dass der Horrortrip zu Ende war.

»Meine Lieben«, sagte Philiopoulus fröhlich. »Das hat Spaß gemacht, nicht wahr? Ich muss sagen, so viel Spaß hatte ich schon lange nicht mehr. Zwischendurch dachte ich, ich sterbe vor Langeweile, aber dann ... dann wurde es sehr unterhaltsam. Vielen Dank euch allen! Ich freue mich auf das nächste Spiel. Ihr seid eine Runde weiter. Herzlichen Glückwunsch! Eure Belohnung wartet vor der Kuppel auf euch. Und damit ihr auch heil dort ankommt, zeigt euch einer meiner Freunde den Ausgang. Bis zum nächsten Mal.«

Ich zuckte zusammen, als ich wieder so ein Raubkatzen-Bären-Ding sah, das mich bei lebendigem Leib zerfleischen wollte. Aber es starrte uns nur an. Aus der Nähe sah es noch viel gewaltiger aus.

Wir standen auf. Ich weiß nicht, wie es den anderen ging, aber meine Knie fühlten sich an wie Wackelpudding. Anna, Frank und ich folgten dem Ungetüm, das uns auf dem kürzesten Weg zum Ausgang führte. Ich war der Letzte, der die Kuppel verließ und drehte mich noch einmal um. Ich wollte mich vergewissern, dass das Ding uns nicht weiter verfolgte - doch es wandte sich von mir ab und verschwand spurlos im dichten Blätterwerk.

Die Belohnung, von der Philiopoulus sprach, war mehr, als ich erhofft hatte. Es war ein Zelt, von außen unscheinbar und winzig, aber innen unglaublich groß und äußerst geschmackvoll eingerichtet - alles kam mir ein wenig griechisch vor, mit all den Statuen und Säulen. Man könnte fast meinen, der verrückte Phil hätte ein magisches Zelt von Herrn Potter geklaut. Aber der Innenarchitekt war definitiv ein anderer, das stand fest. Am besten hat mir das Buffet gefallen. Ich hatte einen Bärenhunger. Anna und Frank haben sich auch bedient. Wir saßen und aßen und sprachen kein Wort. Nicht, dass ich keinen Redebedarf gehabt hätte, aber ich brauchte Zeit, um das alles für mich zu verdauen.

»Gute Nacht«, war das einzige, was mir an diesem Abend über die Lippen kam, bevor ich mich in eines der Betten im Gemeinschaftsschlafraum legte und erschöpft einschlief.

Ich mag dich

Irgendwann in der Nacht wachte ich auf. Frank schnarchte laut in einem der anderen Betten. Aber von Anna war nichts zu sehen.

Ich vermutete, dass sie nicht schlafen konnte und stand auf, um nach ihr zu sehen. Im Aufenthaltsraum, wo das Buffet fast leer war, war sie nicht zu finden. Ich beschloss, das Zelt zu verlassen ... und da saß sie, ihr Buch auf dem Schoß, auf dem Boden vor einem knisternden Lagerfeuer.

Es war eine wunderschöne, sternenklare Nacht.

Ich setzte mich neben sie und schaute eine Weile in die tanzenden Flammen, während ich mit einem dünnen Stock in das Feuer stach.

»Was für ein Tag, nicht wahr?«, brach ich irgendwann das Schweigen.

Anna blickte von ihrem Buch auf und nickte.

»Das kann man sagen.« Dann wurde es wieder still.

Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich hasse solche Situationen. Wenn man nicht weiß, worüber man reden soll, diese erdrückende Stille. Ich meine, nach dem gestrigen Tag hätten wir über tausend Dinge reden können, aber mir fiel beim besten Willen nichts ein.

Anna blätterte weiter und ich kam mir vor wie der größte Idiot. Jetzt einfach aufstehen und wieder ins Zelt gehen, das konnte ich nicht. Wer weiß, was sie dann von mir denken würde. Ich musste etwas sagen, das ihre Aufmerksamkeit vom Buch auf mich lenkte. Etwas, das mehr bringt als ein Gespräch, das aus zwei Sätzen besteht. Ich zermarterte mir wirklich das Hirn, als mir das plötzlich einfiel. Ich beschloss, das zum Gesprächsthema zu machen, womit Anna sich gerade beschäftigte.

»Was ist das eigentlich für ein Buch? Ist das so eine Art Lösungsbuch für Rätsel und Aufgaben?«

Anna blickte von ihrem Buch auf und rückte ihre Brille zurecht. In diesem Moment wusste ich, dass ich ihre volle Aufmerksamkeit hatte.

»Ich würde es eher als eine Art ... Begleiter bezeichnen. Es stammt aus der Zeit meiner Urgroßmutter und erzählt von den Abenteuern eines Mädchens namens Marion, das das Land Chuartan besuchte.«

»Wie ein Märchenbuch?«, fragte ich und wünschte sofort, ich hätte es nicht getan.

»Nein, denn sonst wären wir jetzt in einem Märchen. Oder?«, fragte sie ein wenig verärgert. »Alles, was wir erlebt haben, hat Marion auch erlebt und noch viel mehr. Ohne dieses Buch wären wir aufgeschmissen. Es ist unser Ticket nach Hause. Die Garantie, dass wir alles heil überstehen.«

Ich dachte kurz nach.

»Aber ist das nicht Betrug? Ich glaube nicht, dass Philiopoulus das so toll findet.«

Anna sah mich sprachlos an.

In diesem Moment wäre ich am liebsten aufgestanden und wieder im Bett verschwunden. Eigentlich wollte ich ihr durch ein nettes kleines Gespräch näher kommen, sie besser kennen lernen. Aber wohin dieses Gespräch führte, gefiel mir nicht. Ich wusste nicht, was sie von mir hielt. So wie sie mich ansah, konnte es nichts Nettes sein.

Frank entschärfte die Situation ein wenig, indem er sich mit einem Teller zu uns setzte, den er mit den letzten Resten des Buffets gefüllt hatte.

»Mein Magen hat mich geweckt. Leute, ich habe Kohldampf«, sagte er und schmatzte mit vollem Mund. »Das Zeug ist echt lecker. Willst du was davon?«

Er hielt mir einen angebissenen Muffin unter die Nase, aber mir war gerade nicht nach Essen. Ich schüttelte den Kopf und stand auf.

»Ich glaube, ich hau mich noch ein bisschen aufs Ohr.«

Anna, die ihre Nase wieder in ihr Buch gesteckt hatte, reagierte nicht. Frank grinste mich mit seinem schokoladenverschmierten Mund glücklich an. »Alles super!«

Niedergeschlagen trottete ich zu meinem Bett und legte mich wieder schlafen.

 

Ein völlig aufgelöster Frank riss mich aus dem Schlaf.

»Josh! Josh wach auf. Du wirst nicht glauben, wer uns das Frühstück gebracht hat. Fliegende Hamster. Wirklich! Du hättest sie sehen sollen. Einer ist sogar aus Versehen in der Blaubeermarmelade gelandet. Ich hätte mich wegwerfen können.«

»Frank! Lass mich in Ruhe!«, fuhr ich ihn an und drückte mir das Kissen aufs Gesicht.

»Komm schon! Meine Omi sagt immer, nur der schnellste Bärchen bekommt die leckersten Pfannkuchen.«

»Diesen Spruch gibt es gar nicht«, brummte ich unter meinem Kissen hervor. »Das heißt, nur der frühe Vogel fängt den Wurm.«

»Aber Würmer sind nicht lecker! Komm, steh auf! Du hast noch nie so viel zu essen gesehen. Es ist alles da. Komm!«

Widerwillig kroch ich aus dem Bett und folgte ihm in den Aufenthaltsraum. Frank hatte nicht übertrieben. Die drei Buffettische waren so voll, dass man das Tischtuch nur erahnen konnte. Und man kann sich nicht vorstellen, wie es roch. Es war zum Niederknien. Der Ärger darüber, dass Frank mich geweckt hatte, war mit einem Schlag verflogen.

War das Bohnenkaffee, was ich da roch? Ich hatte noch nie Kaffee getrunken. Meine Eltern lebten von dem braunen Zeug, vor allem Mom. Aber sie hat immer gesagt, das ist nichts für mich, dann kann ich fünf Nächte nicht schlafen. Aber wenn er so gut schmeckt wie er riecht, dann wird er mein neues Lieblingsgetränk, dachte ich mir.

Ich schnappte mir einen Teller und packte alles drauf, was ging. Ich dachte schon, ich hätte mein Teller-Volumen überschritten, aber Frank war ein wahrer Meister darin.

Mit einem riesigen Berg von Essen vor mir griff ich nach der Tasse, um meinen ersten Schluck Kaffee zu trinken, als Frank mich mit großen Augen ansah.

»Du trinkst Kaffee?«

»Ja!«, antwortete ich selbstbewusst, nahm einen großen Schluck ... und spuckte ihn gleich wieder aus.

»Bah! Ist das eklig«, sagte ich angewidert und wischte mir mit dem Ärmel über den Mund. Frank nahm mir den Becher aus der Hand.

»Lass mich mal probieren«, nahm er ebenfalls einen großen Schluck ... und spuckte ihn ebenso schnell wieder aus.

»Du hast recht. Das ist wirklich eklig.«

Wir sahen uns an und mussten beide laut lachen.

 

»Was ist denn so lustig, Jungs?«, fragte Anna, die plötzlich, ohne dass wir es bemerkt hatten, mit ihrem Buch in der Hand vor uns stand.

»Wir haben Kaffee getrunken«, sagte Frank und kicherte weiter.

»Eher Brühe gespuckt«, entgegnete Anna und betrachtete unsere Pfützen auf dem Boden. »Ich mag das Zeug nicht. Ist mir zu bitter.«

Anna setzte sich zu uns an den Tisch und schlug ihr Buch auf.

»Ich glaube, ich weiß, was als Nächstes kommt. Marion hat das Labyrinth grob skizziert, aber aus irgendeinem Grund war ihre erste Aufgabe eine andere als unsere. Der Dschungel kam bei ihr erst später. Aber die Chancen stehen gut, dass die Kristallkuppel als nächstes kommt. Und es wäre nicht verkehrt, sich darauf vorzubereiten.

Anna schnappte sich etwas zu essen (bei weitem nicht so viel wie Frank oder ich) und wir unterhielten uns über die Kristallkuppel. Wie wichtig es sei, sich an den Streben am Boden zu orientieren, und dass man sich am besten an den Händen halten solle, um sich nicht zu verlaufen. Sie erzählte uns, welche Gefahren noch in diesem Labyrinth lauern und worauf wir sonst noch achten müssen.

Ich hatte bei weitem nicht so viel geschafft, wie ich mir und meinem Magen zugetraut hatte. Mein Teller war noch halb voll, während Anna, die mir gegenüber saß, ihre Miniportion komplett aufgegessen hatte. Ich wollte die Gelegenheit nutzen, das Missverständnis von gestern Abend auszuräumen, während Frank mit den Resten seines Frühstücks beschäftigt war.

»Ich wollte mich bei dir entschuldigen. Ich wollte dich oder dein Buch nicht beleidigen. Es tut mir leid, dass ich Märchenbuch gesagt habe.«

Anna lächelte mich an.

»Es gibt nichts zu entschuldigen. Ich weiß, dass ich manchmal kompliziert und seltsam sein kann. Ich bin vielleicht gebildeter als meine Altersgenossen, aber in Wirklichkeit fühle ich mich dümmer. Ich kann nicht über dieselben Dinge lachen wie sie, und ich kann mich nicht für dieselben Dinge begeistern wie sie. Es ist für mich nicht existenziell, was ich am nächsten Tag in der Schule anziehe, und ich mache mir keine Gedanken darüber, mit wem ich zum Abschlussball gehe. Ich interessiere mich für Wissenschaft, Politik und die dunklen Machenschaften hinter den Kulissen unserer dekorativen Gesellschaft. In den Augen der Sozialpädagogik bin ich unfähig, zwischenmenschliche Beziehungen aufzubauen - kurz: sozial inkompetent. Hier bei euch zu sein, obwohl ich das nie geplant hatte, finde ich schön. Ich wusste nicht, wie sich freundschaftliche Zuneigung anfühlt. Aber wenn es das ist, was ich mit Frank und dir fühle, dann möchte ich es nicht mehr missen.«

 

Ehrlich! Ich habe noch nie jemanden erlebt, der sich so kompliziert ausgedrückt hat, um einfach nur ›Ich mag dich‹ zu sagen. Freudestrahlend und laut kichernd drückte Frank Anna mit einem Arm an sich, so dass sie fast auf ihm saß.

»Wir mögen dich auch, Anna«, sagte er. »Übrigens bin ich die Pipi-Hose losgeworden. Dafür hat diese Hose die Farbe von Kacka«, sagte er mit einem etwas angewiderten Gesichtsausdruck.

Ein Lachen brach aus mir heraus und Anna lachte mit. Auch Frank fing an, laut zu lachen, aber ich glaube nicht, dass er verstand, warum.

 

Als mittags die Essenslieferung ausblieb, wussten wir, dass es Zeit war, aufzubrechen. Auch wenn ich lieber noch eine Weile mit meinen neuen Freunden in diesem magischen Zelt verbracht hätte, mussten wir weiter.

Ein Problem, das sich in Nichts auflöst

Dieser Teil des Labyrinths war anders als der, in dem wir uns zuvor bewegt hatten. Fingerdicke, stachelige Ranken durchzogen die braungrünen, wild wuchernden Hecken. An manchen Stellen waren die Ranken sogar so chaotisch angeordnet, dass einzelne Gänge nur mit Mühe oder gar nicht passierbar waren.

Wir krochen und zwängten uns durch die unwegsamen Pfade, zerrissen uns die Kleider und zerkratzten uns die Haut an den messerscharfen Dornen. Und es nahm kein Ende. Die Verzweiflung stand uns dreien ins Gesicht geschrieben, und die nächste Kuppel war durch die weit in die Höhe ragenden

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Kian Talyn
Cover: Mark Jacob Haller
Lektorat: Ceryna James, Mark Jacob Haller
Korrektorat: Mark Jacob Haller
Satz: Kian Talyn, Mark Jacob Haller
Tag der Veröffentlichung: 02.05.2023
ISBN: 978-3-7554-4107-6

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