"Pictoribus atque poetis quidlibet audendi semper fuit aequa potestas"
Horaz
(Ist den Malern und Poeten nicht von jeher freigestanden, alles, was sie wollen, zu wagen?)
Jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen ist liebevolle Absicht.
1964
Seit Jahrtausenden formen die Wellen der Ostsee den Verlauf der Küste. Schleichend und für eine Menschenzeit nicht wahrnehmbar, aber unaufhaltsam.
Der Mensch nimmt Veränderungen in der Küstenlandschaft lediglich nach einem kräftigen Sturm oder einem anderen Naturereignis wahr. Dann, wenn wieder ein Stück Steilküste abgebrochen, der Strand nicht mehr ganz so breit wie vormals ist, oder sich Berge von Unrat und Gehölz am Ufer türmen und sich Algenreste finden lassen, wo sonst nur Dünen und Sand vorherrschten.
Das ruhige, ewig schöne Geräusch, der sich an einem Strand brechenden Welle, erzeugt jedoch keinen Gedanken an Veränderung, an Zerstörung des Gegenwärtigen. Der Mensch projiziert den Eindruck der Natur lieber auf das Dasein seiner selbst. Die Urwüchsigkeit wird zum Spiegelbild des Seins.
Und hier am Meer, beseelt durch die Weite des Blickes, der beständigen Gegenwart, verspürt jede kleine Existenz mehr oder weniger stark einen Wunsch.
Den Wunsch nach grenzenloser Freiheit.
Sein Postenführer war irgendwo weiter zurück, das wusste er, darauf konnte er sich verlassen. Noch lag der Strand in der Dunkelheit, nur am Horizont war ein Band des beginnenden Tages zu sehen. Im Abschnitt siebenundzwanzig hatten sie schon alle einhundert Meter Scheinwerfer aufgestellt. Hier noch nicht. Sie konnten froh über den Einen sein, der sich am Turm befand, und mit dem sich wenigstens etwas von dem erkennen ließe, was sie erkennen sollten.
Eindringlinge wie Ausdringlinge.
Ausdringlinge, das fanden sie witzig auf den Stuben und er hatte den Verdacht, dass die Unbedarftheit am Erfahrungsmangel Nahrung findet. Keiner seiner jetzigen Kameraden war bisher einem Ausdringling begegnet, ganz zu schweigen einem Eindringling. Aber es war vorgekommen, dass wusste er von seinem Postenführer. Die Kameraden, denen es passiert war, waren nur schnellstens abgeschirmt worden und wenigstens wurden sie versetzt. In der Regel aus persönlichen Gründen, wie es hieß.
Er machte sich keine Gedanken darüber, auch weil ein Weiterdenken immer an einem Zwiespalt scheiterte. Sie hatten es lernen und tausende Male üben müssen. Den Anruf, den Warnschuss, den gezielten Schuss in die…. nein, so weit konnte und wollte er nicht denken. Er hatte Bomben fallen hören, die Angst der Männer in den Kellern gespürt, die Tränen seiner Mutter gesehen.
Das Meer lag ruhig da und die Wellen säuselten Frieden.
Trügerischer Frieden. Die Luft- Land- und Seewege waren gesperrt. Man sprach von einem ‚Eisernen Vorhang’, seit Chruschtschow vor nunmehr fast drei Jahren Ulbricht freie Hand ließ. Über der Sowjetunion wurde ein Jahr zuvor ein amerikanisches Aufklärungsflugzeug vom Typ U-2 abgeschossen. Francis Gary, der Pilot, kam in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Dieser an sich archaische Akt war nur ein Puzzleteil in der sich steigernden Ost-West-Dramatik und Chruschtschow sah sich genötigt, bei den folgenden Berlin-Gesprächen in Paris, in denen über den Status der Vier-Mächte-Stadt weiterverhandelt wurde, eine Entschuldigung von den Amerikanern zu fordern. Eisenhower, der damalige Präsident der USA, lehnte dieses ab und wird ein halbes Jahr später von John F. Kennedy abgelöst. Mit Kennedy änderte sich nicht die Politik der Amerikaner, einzig und alleine wurde diese ‚charismatischer’, und Chruschtschow muss seine Forderungen nach Aufhebung des Vier-Mächte-Status Berlins begraben.
Die große Weltpolitik aber, kümmert den kleinen DDR-Bürger nicht. Er kennt beide Seiten und weiß, dass er im Westen in den Läden vor vollen Regalen steht, während hier im Osten alleine die Rede von Aufbau und Fortschritt ist, und das in übermannsgroßen Buchstaben. Zu Hunderttausenden entscheiden sie sich für die vollen Regale, auch wenn im Einzelnen die Gründe differenzierter zu betrachten sein mögen. Bis Ulbricht, der eigentlich nicht die Absicht hatte, eine Mauer zu errichten, seinen Landsleuten die Entscheidung abnahm. Kleinlich betrachtet, konnte Ulbricht der Lüge nicht überführt werden, denn es war mehr als eine Mauer, die er bauen ließ. Die Grenzanlagen waren vielfältiger, als Stein auf Stein gesetzte Wände. Zäune, Stacheldrahtverhaue, Beobachtungstürme und später Minen und Selbstschussanlagen wurden zur ‚Sicherung’ der Grenze eingesetzt.
Und, vor allem in den Anfängen, Menschen. Menschen, denen angewiesen worden war, andere Menschen daran zu hindern, ein Gebiet zu verlassen oder zu betreten.
Propagiert wurde letzteres. Der Imperialismus, der faule, parasitäre Kapitalismus sollte außen vor bleiben. Die Ausbeutung des Menschen durch das Kapital werde in sich und ganz natürlich zur Aufhebung der unhaltbaren Zustände führen. Aber bis dahin mussten die Kampf- und Arbeiterlieder singenden Menschen hier davor geschützt werden, während in der Lüneburger Heide die neuen VW-Käfer fuhren und der nächste Urlaub in die Toskana geplant wurde.
„Hast du noch etwas in der Flasche?“, fragte sein Postenführer, der urplötzlich neben ihm durch den Sand stampfte.
„Ein wenig.“ Er löste sein Koppel, zog die bauchige Feldflasche heraus und reichte seinem Kameraden diese, ohne weitere Worte.
„Wie machst du das nur immer? Meine Flasche reicht gerade mal eine Stunde und ich denke, für mehr als diese Zeit kann der Inhalt auch nicht vorgesehen sein. Salzluft macht durstig.“ Der Postenführer schraubte den Deckel der Flasche auf, setzte an und nahm einen hörbaren Schluck. „Danke“, sagte er und reichte die Flasche zurück.
Sie setzten sich auf einen angespülten Baumstamm und schwiegen. Der Postenführer nahm sein Gewehr von der Schulter und stellte es mit dem Kolben zwischen die Beine.
„Wenn ich Durst verspüre und nichts mehr oder nur noch wenig in der Flasche habe, stelle ich mir den ersten Schluck vor. Tausende Male hat ein jeder dieses Gefühl erlebt. Ein wenig Fantasie und du spürst die Flüssigkeit die Kehle entlang fließen. Bei mir hilfst, meistens.“
„Wenn ich Durst habe, verspüre ich wenig Lust auf Träumerei. Eher würde es dann noch schlimmer werden“, entgegnete sein Postenführer und zündete sich eine Zigarette an. „Da fällt mir ein, kann man schon gratulieren? Bist du nun Onkel?“
„Ja, ein Mädchen. Mutter und Kind sind wohlauf“, antwortete er ein wenig verbittert.
Er hatte einen Brief erhalten. Urlaub wurde ihm nicht gewährt. So ein Allerweltsereignis berechtige nicht dazu, hatten sie gesagt. Sein Bruder hatte zwei Jahre zuvor geheiratet und ihm ein Foto geschenkt. Darauf waren er, als Bräutigam, in einer Uniform der Nationalen Volksarmee, und seine Frau im weißen Brautkleid zu sehen. Sie lächeln erkennbar glücklich in die Kamera und zwischen ihnen dominierte ein als Eisbär verkleideter Mann, der wohl mehr zufällig dem Brautpaar begegnet war und sich mit ablichten ließ.
Ja, er hätte gerne Urlaub genommen, obwohl die Geburt seiner Nichte eher ein vorgeschobener Grund gewesen wäre. Er wollte einfach nur wieder mal raus, raus aus der Endlosschleife. Acht Stunden Wache, acht Stunden Bereitschaft, acht Stunden Ruhe und kaum Abwechslung. Die Ausgänge mit den Kameraden in das nahe Dorf hatten ihren Reiz verloren. Er verstand es nicht wie Karl, ein Stubenkamerad, mit den Dorfmädchen zu flirten, oder wie Eberhard aus der Nachbarstube, die Beine galant dem Rhythmus der Musik anzupassen.
Seit zwei Monaten war er nicht mehr zu Hause gewesen und es war an der Zeit.
„Glückwunsch. Aber Urlaub kannst du vergessen. Nicht deswegen“, sagte der Postenführer und schnippte den Zigarettenstummel in Richtung Wasser.
„Es sollen jetzt überall Türme aufgestellt werden. Richtig hohe mit Funk, Notstromaggregat und Heizung. Dann kannst du unseren hier vergessen“, redete er zusammenhangslos weiter. „Der wirkt ja doch eher wie ein falsch platzierter Jagdsitz.“
Sie schwiegen wieder und blickten aufs Meer. Der helle Streifen am Horizont war etwas breiter geworden. Der Rand zur Dunkelheit hatte seine Schärfe verloren und war nicht mehr so klar auszumachen. Aber hier am Strand überwiegte noch die Schwärze, war die Nacht noch aktuell und das Gesicht des Gegenüber nur schemenhaft zu erkennen.
„Weißt du, ich schaue mich noch mal bei der breiten Heide um. Du machst hier die Runde weiter. Bin in einer halben Stunde zurück“, sagte der Postenführer nach einer Weile, schulterte sein Gewehr und stiefelte ohne eine Antwort abzuwarten davon.
Die breite Heide war eine durch einen Blitzschlag gespaltene Kiefer, die in ihrer jetzigen Form tatsächlich an einen weiblichen Körper mit ausladendem Hinterteil erinnerte. Den Namen hatten ihr die Dorfbewohner gegeben. Die breite Heide stand auf einen kleinen Hügel, noch oberhalb der Dünen. Von dort ließ sich ein Großteil ihres Sektors überblicken. Der dort Wachende war aber auch strategisch weit entfernt, sollte eine schnelle Anwesenheit am Strand erforderlich sein.
Aber nicht Diensteifrigkeit zog seinen Postenführer zur breiten Heide, das wusste er. Allmorgendlich, wenn die Sonne gerade anfing aus dem Meer zu steigen, ging die Tochter des Kommandanten im Meer baden. Züchtig, mit Badeanzug. Der Kommandant hatte dafür gesorgt, dass die Badestelle zu einer bestimmten Zeit nicht ausgeleuchtet oder durch die Wache der Kontrolle unterlag. Und von der breiten Heide aus, ließ sich die Badende auch durch ein Fernglas nur unbefriedigend beobachten. Aber das Mädchen zog sich regelmäßig in einer Kuhle zwischen den Dünen um, direkt unterhalb des Hügels, auf dem die breite Heide thronte. Deswegen erweiterte sein Postenführer ebenso regelmäßig ihren Sektor um das Gelände der breiten Heide. Und damit war er sicher nicht der Einzige.
Einmal hatte auch er sich dorthin entschuldigen können. Sein Postenführer hatte einen fürchterlichen Kater gehabt und es vorgezogen, am Strand ein Schläfchen zu halten. Sie kam tatsächlich aus der Schwärze des Kiefernwaldes hinter den Dünen. Der Mond hatte jedoch genügend Licht bereitgehalten um sie zwischen den Dünen deutlich sehen zu können. Er beobachtete sie durch sein Fernglas, sah wie sie die Träger ihres Kleides über die Schultern zog und es zu Boden fallen ließ. Es war warm gewesen und sie trug nur einen Slip darunter. Ihre runden vollen Brüste schwangen ein wenig, als sie sich nach vorne beugte um den Slip auszuziehen. Das schwarze Dreieck zwischen ihren Beinen konnte er nur für einen kurzen Moment sehen, da sie in der gebeugten Haltung blieb und so gleich in den Badeanzug stieg, den sie aus ihrer Tasche angelte. Aber ihre Brüste ließen sich dafür länger betrachten und er genoss es, wie sie sich abmühte, diese in dem engen Badeanzug unterzubringen und mit den Händen zurechtrückte. Dann war sie Richtung Meer gelaufen und für ihn war die Zeit gekommen, seinen Postenführer zu wecken.
Nun würde der sie also wieder beobachten, dabei stand er in dem Verdacht, bei ihr mehr zu dürfen, als nur ihren Körper zu betrachten. Sie wusste sicher, dass sie vom Hügel ständig beobachtet wurde und dass die Grenzer sich wie bei einem Staffellauf den Stab übergaben. Im wahrsten Sinne des Wortes. Sein Postenführer aber hatte es irgendwie geschafft aus der Anonymität in ihr Ritual dringen zu dürfen. Wie auch immer, ihm war es egal. Zu Hause wartete jemand auf ihn und damit war sein Bedarf dahingehend grundlegend gedeckt. Das Immerwiederkehrende ließ sich anders erledigen.
Der helle Streifen am Horizont war noch breiter geworden. Es schien ein schöner Tag zu werden. Kein Morgenrot, Schlechtwetterbot, obwohl er nichts darauf gab. Lichte Farben spiegelten sich in der See. Goldene Ockertöne kündigten den nahen Sonnenaufgang an. Er saß immer noch auf dem Baumstamm. Wo der wohl herkam? Das Meer hatte ihn blank gescheuert, alle Ecken und Kanten entfernt. Bei Tage würde er fast weiß erscheinen, weil ihm das Salzwasser alle Farben genommen hatte.
Sein Blick blieb weiter am Horizont haften. Er hätte schon längst den Sektor durchquert haben müssen, konnte aber auch behaupten schon wieder zurück zu sein. Eine Kontrolle war heute am Sonntag nicht zu erwarten.
Jetzt war schon der genaue Bereich zu erkennen, wo die Sonne auftauchen würde. Dieser Bereich war in gleißendes Licht gehüllt. Zu beiden Seiten dagegen wurde es abstufig dunkler. Sturmmöwen zogen draußen auf der See ihre Kreise. Als schwarze Punkte auszumachen. Schwarze Punkte. Einer schien zu verharren. Ein schwarzer Punkt lag auf der See. Für eine Sturmmöwe viel zu groß.
Er nahm sein Fernglas und visierte den Punkt an. Vielmehr war jetzt auch nicht zu erkennen, aber der Punkt schien größer zu werden. Wenn ich nach links laufe, habe ich das Objekt vor der aufgehenden Sonne, dachte er um gleich darauf festzustellen, dass er sehr weit laufen müsste, bis außerhalb ihres Sektors, um eine wesentliche Änderung seines Blickwinkels zu erreichen.
Ein Boot, ein Schiff, ja, jetzt war es zu erkennen. Groß wie ein Fischkutter, was macht der hier? Jetzt schien er nicht näher zu kommen, eher hatte er den Eindruck das Schiff versuche im Lichtschatten zu bleiben und mit dem Bug zur Küste so wenig wie möglich von sich preisgeben zu wollen.
Was sollte er tun? Warum war sein Postenführer nicht hier? Hier war kein Fanggebiet, der hatte hier nichts zu suchen. Vielleicht verschwindet er gleich wieder, dachte er und vernahm plötzlich ein Flüstern aus den Dünen hinter sich. Das war nicht sein Postenführer.
Instinktiv ließ er sich vom Baumstamm gleiten und legte sich flach in den Sand. Er zog seine Waffe von der Schulter und legte sie mit beiden Händen haltend vor sich. Langsam hob er den Kopf und lugte über den Stamm in Richtung Düne. Heute hätte er Mondlicht gebrauchen können. Mit seiner Taschenlampe wollte er nicht auf sich aufmerksam machen. Ihm kam nicht der Gedanke, die Anderen müssten sich eher vor ihm verstecken, als umgekehrt. Darüber schmunzelte er erst viel später.
Es war verdammt noch zu dunkel! Er lauschte angestrengt und versuchte zwischen den Ginsterbüschen am Anfang der Dünen etwas erkennen zu können. Ein Schlurfen war nun zu hören, als würde etwas Schweres über den Sand gezogen. Jetzt müsste sein Postenführer auftauchen, das wäre mehr als notwendig.
Er riss sich sein Käppi vom Kopf, ohne zu wissen, ob er gesehen werden konnte. Auch er lag im Schatten. Schwarze Umrisse waren jetzt zu erkennen, die sich außerhalb der Dünen vom hellen Sand abhoben. Fünf Personen und etwas langes, Dunkles. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Zweifellos waren Kinder darunter, der Größe der Personen zufolge. Stimmen waren nicht mehr zu vernehmen, nur die dumpfen Schritte im Sand und das schlurfende Geräusch des dunklen Gegenstandes, den zwei der Personen hinter sich herzogen.
Ein Schlauchboot. Ein Fluchtversuch. Ausdringlinge! Die Erkenntnis kam ganz plötzlich, auch weil seine Angst einer gewissen Neugier wich und Platz machte für ein Minimum an Rationalität. Was tun? Aufspringen, Waffe in den Anschlag und brüllen? Und wenn die auch eine Waffe bei sich haben? Die Angst kroch wieder hoch und übernahm Regie. Warum mussten die sich gerade diesen Abschnitt aussuchen? Warum gerade er? Wer waren sie? Warum wollten sie fliehen? Die Gedanken sprudelten sekundenschnell.
Die Gruppe kam jetzt näher an den Baumstamm heran. Er konnte teilweise schon Gesichter sehen. Zwei Männer, einer davon sichtlich älter, jedenfalls konnte er einen weißen Vollbart und die leicht gebeugte, kleine Gestalt als solche erkennen. Eine Frau und zwei Kinder. Die Kinder mochten der Größe nach zwischen sechs und zehn Jahre alt sein und hielten sich an der Hand der Frau, wohl der Mutter, fest.
Welch Schicksal trieb eine Familie in die Flucht aus der Heimat? Oder wollten sie in ihre Heimat und es wurde ihnen verwehrt? Jedenfalls durften sie die Grenze nicht überschreiten, deswegen lag er ja hier, das war sicher. Einen Grund wird es geben, einen guten Grund, sonst würde eine Mutter ihre Kinder nicht solch einer Gefahr aussetzen. An der Körpersprache erkannte er, dass die Kinder Angst hatten. Immer wieder fassten sie mit beiden Händen nach der Mutter, schmiegten sich an deren Beine.
Lauft Kinder, lauft, ich schieße nicht auf euch.
Die Gruppe hielt an der Wasserkante. Die beiden Männer legten das Schlauboot ab, wohl um eine kleine Pause einzulegen, ehe sie sicher in die Ruder greifen mussten. Jetzt hoben sie das Boot wieder am Bug an und waren im Begriff es ins Wasser zu ziehen.
„Halt! Stehen bleiben!“ Der Ruf hallte über den Strand und kam aus Richtung Dünen. Sein Postenführer stürmte daraus hervor und kam mit langen Schritten gerannt. Die Waffe hielt er vor der Brust. Unmittelbar neben dem Baumstamm hielt er und legte das Gewehr in den Anschlag.
„Stehen bleiben oder ich schieße!“, schrie er mit bebender Stimme in Richtung Flüchtlinge. Die beiden Männer verharrten, hatten aber das Boot an der Reling noch in den Händen. Die Kinder klammerten an der Frau. Wie gelähmt standen sich die Seiten gegenüber. Es ließ sich nur ahnen, welch Abwägungen in den Köpfen vor sich gingen. Für einen Moment schien alles erstarrt.
Die aufgehende Sonne am Horizont ließ ihn die Gruppe als Schattenriss deutlich erkennen. Er sah, wie der alte Mann mit einer Kopfbewegung, dem jüngeren anwies, weiterzumachen. Sie setzen sich wieder in Bewegung und wateten durch knöcheltiefes Wasser, das Boot noch in den Händen haltend.
Über ihm hörte er das Klicken der Sicherung an der Waffe. Er sah sich selbst hochspringen, mit beiden Händen abstützend den Baumstamm überqueren und seitlich seinen Postenführer anrempeln. Nein, er hatte es wirklich getan. Der Postenführer wankte und war sichtlich überrascht. Er gab ein Grunzen von sich, als er seinen Kameraden erkannte, stemmte sich nun gegen ihn und versuchte weiter auf die Gruppe zu zielen.
Ein Schuss fiel und hallte aus den Kiefern oberhalb der Dünen wider. Das Geschoss mochte irgendwann draußen im Wasser landen. Er hatte in den Lauf gegriffen und die Waffe seines Postenführers hochgerissen. Alles war eine Bewegung gewesen und in Sekundenschnelle passiert.
„Du ...“, raunte sein Postenführer und zog an der Waffe, die der Andere immer noch mit einer Hand am Lauf hochhielt.
„Lass sie gehen!“, zischte er. Der Postenführer rang weiter um die Waffe. Der Andere holte mit dem freien Arm aus und versetzte seinem Postenführer einen Faustschlag an den Kopf, in Höhe des Ohres. Der Postenführer ließ die Waffe los und ging in die Knie. Mit beiden Händen hielt er sich den Kopf und blickte mit schmerzverzehrtem Gesicht ungläubig auf.
„Ich werde Meldung machen, Gefreiter!“, stammelte er. „Das sind ….“
„Nichts wirst du!“, fuhr ihn der Andere an. Er hielt nun die Waffe des Postenführers in den Händen. Seine eigene lag immer noch im Sand hinter dem Baumstamm. Er fühlte sein Herz weiter wild klopfen, sein Gemüt hatte sich jedoch von Ängstlichkeit in klare Entschlossenheit gewandelt.
„Wenn du hierüber ein Sterbenswörtchen von dir gibst, erfährt der Hauptmann, dass du seine Tochter vögelst“, sagte er deutlich und drehte sich zu der Gruppe Flüchtender um. Die Frau hatte sich hingehockt und hielt beide Kinder umschlungen. Die Männer hatten das Schlauboot fallengelassen. Der Bug wurde nun durch die leichten Wellen auf- und abgehoben, das Heck lag noch immer an Land.
Aus der Gruppe löste sich der ältere Mann und kam auf ihn zu. Dicht vor ihm blieb er stehen, fast berührten sich die Körper. Der ernste, offene Blick verriet ein hohes Maß an Selbstbewusstsein und irgendwie strahlte seine ganze Erscheinung eine Art Würde aus.
Sekunden verrannen, während die unglaubliche Szenerie eine weitere Pause einzulegen schien.
„Wie heißen Sie, Soldat?“, fragte der alte Mann mit einem wohlakzentuierten Ton. Angst war in der Stimme nicht zu spüren.
Er nannte seinen Namen, instinktiv gehorchend, um einen Moment später nicht mehr sicher zu sein, ob es richtig war.
Der alte Mann kramte in seiner rechten Jackentasche. Überhaupt schien seine Anzugsjacke prallgefüllt mit kleinen Gegenständen zu sein. Eine vorbereitete Flucht, natürlich.
Der Alte ergriff die linke Hand des Soldaten und legte etwas hinein. „Danke“, sagte er und der Soldat gewahrte Tränen in den Augen des Alten. Der Flüchtling lächelte noch mal kurz, drehte sich um und stapfte zu den Seinen zurück. Mit einer Armbewegung wies er den Jüngeren an, das Boot wieder aufzunehmen.
Als sie es weit genug ins Wasser gezogen hatten, so dass Tiefgang vorhanden war, winkte er der Frau und den Kindern zu, ins Boot zu steigen. Die Männer holten Paddel aus dem Boden des Bootes hervor und begannen beidseitig aufs offene Meer zu rudern.
Er drehte sich wieder zu seinem Postenführer um, der noch immer im Sand saß und den Kopf zwischen die Arme gelegt hatte. Er schien verzweifelt zu sein.
„Komm“, sagte der Gefreite und griff seinem Postenführer unter die Arme. „In drei Stunden ist Ablösung.“
Seite an Seite stapften sie durch den Sand in Richtung ihres Turmes. Der Gefreite konnte das Schiff noch sehen, aber es entfernte sich immer mehr von der Küste. Jetzt öffnete er auch die Faust, die die ganze Zeit den Gegenstand hielt, der ihm von dem Alten übergeben wurde.
Einen kleinen goldfarbenen Elefanten hielt er in der Hand. Dem Gewicht nach zu urteilen, war dieser aus irgendeinem sehr schweren Metall gefertigt. Das Tier stand auf einem kleinen Sockel, der Rüssel war keck nach oben gestellt, als erwarte er Futter oder provoziere einen Gegner.
Der Gefreite drehte den Elefanten in der Hand und wollte ihn gerade in der Hosentasche verschwinden lassen, als er mit einem Finger eine Gravur unterhalb des Sockels spürte. Er ließ seinen Postenführer, der teilnahmslos neben ihm trottete, ein wenig vorlaufen und hielt sich die Gravur vor die Augen.
Er glaubte es erkennen zu können:
Josef von Heernstetten
Juwelier
Das Schiff war nicht mehr am Horizont auszumachen, obwohl die Nacht nun endgültig auf der See vorüber war. Alles war, auch hier am Strand, in orangefarbenen Licht gehüllt und die Schattenwelt wich zurück.
Er steckte den Elefanten ein und begann mit schnellen Schritten seinen Postenführer einzuholen. Sie hatten noch einiges zu klären, das war sicher.
2007
Wettervorhersage für Donnerstag den
18 .Oktober 2007
Ein Sturmtief zieht vom Nordatlantik Richtung Ostsee. An der Südseite dieses Tiefs bestimmt kalte Meeresluft das Wetter in großen Teilen des Bereichs. Dabei können gebietsweise ergiebige Niederschlagsmengen auftreten. Nachmittags
bilden sich Gewitter aus, die zum Teil mit Starkregen verbunden sein können. Die Temperaturen liegen bei maximal 11 bis 14 Grad. Der Wind weht zunehmend stark bis stürmisch, verbreitet kann es zu Sturmböen kommen, an der Küste Mecklenburg-Vorpommerns auch Orkanböen.
*
Im Wolkendunst über der Stadt war St. Marien zu erkennen und er überlegte einen Moment, ob es sich hierbei vielleicht um den sogenannten Smog handeln könnte. Den Gedanken verwarf er angesichts der Lage und der Größe Stralsunds jedoch schnell wieder. Der Himmel war bedeckt und jenes war wohl die Ursache für den verschwommenen Umriss der nahen Stadt.
Für diese Fahrt nach Stralsund hat er sich für die alte Strecke entschieden, jene Strecke, welche bis zu den straßenbaulichen Errungenschaften der Nachwendezeit der schnellste Weg von Schwerin nach Stralsund gewesen war.
Jetzt hatte er bereits Pantelitz hinter sich gelassen, die letzte Ortschaft vor der Stadt, und er steuerte seinen alten Audi, am Ortseingang vorbei, entlang des Tribseer Damms in Richtung Innenstadt. Des Öfteren fragte er sich, warum Ausfallstraßen in den Städten immer eine so wenig einladende Wirkung verbreiten. Nur ein geringer Teil der Altbauten, welche die Straße säumten, war bereits wieder saniert, der Rest dümpelte im abblätternden Kleid vergangener Baukulturen und verkörperte Vernachlässigung.
Zwangsläufig führt der Weg am Hauptbahnhof vorbei, wo er sich spontan zu einem Halt entschloss, einerseits weil er gleich sein Ziel erreicht haben wird und andererseits, weil er noch nicht erwartet wurde, vielmehr seinem Wesen entsprechend viel zu zeitig angekommen war.
Er betrat den Bahnhof durch einen der drei Eingänge und gleichzeitig entsprach der Eindruck seinen subjektiven Empfindungen, dass sämtliche Bahnhöfe Deutschlands durch Modernisierungs-maßnahmen austauschbar und ihren urtümlichen Charakter lediglich durch die Fassade behielten.
Er erinnerte sich noch schwach an die dunkle Unterführung zum Bahnsteig 6, an die öde Bahnhofshalle mit den kleinen Schaltern - jetzt beim Betreten der Halle, fiel ihm ein, dass die riesigen Wandbilder in der Halle schon damals, in seinen Kindertagen, die Wände zierten. So öde kann es dann wohl nicht gewesen sein oder war die Darstellung der Insel Rügen und der Stadt Stralsund damals nicht genauso farbenfroh wie heute?
An einem Verkaufsstand mit gastronomischem Service erstand er einen Kaffee und eine Tageszeitung von einer sehr attraktiven Verkäuferin, die genau jenen Eindruck durch unfreundliche Hektik selbst zerstörte. Mit dem Plastikbecher in der Hand schlenderte er wieder in Richtung Ausgang und schaute draußen den Menschen zu, welche anscheinend in gleicher Anzahl in den Bahnhof hinein und hinaus strömten. Es war Donnerstagmorgen, ein Großteil der Reisenden wird wohl auf dem Weg zur Arbeit sein und er genoss seine momentane zeitliche Freiheit.
Es fing an zu nieseln, der Wind blies die feinen Tropfen fast waagerecht durch die Straßen und die Menschen wurden beim Hinausströmen durch das Vordach der Eingänge einladend aufgehalten. Mangels Notwendigkeit hier zu stehen, erschien es ihm schnell zu beengt. Er ging hinüber zu seinem Wagen und überlegte wo er noch einen kurzen Halt einlegen könnte.
Da der Regen immer stärker wurde und sein Parkplatz vor dem Bahnhof schon alleine durch seine Anwesenheit nicht zeitlich limitiert erschien, schlug er die Zeitung auf und blätterte etwas lustlos durch für ihn uninteressante lokale Nachrichten.
Er ertappte sich dabei, wie er aufmerksam jede Todesanzeige musterte. Aber das Ableben seines Onkels geschah genau vor zwei Wochen, so dass eine Anzeige wohl schon in den vergangenen Tagen erschienen war. Und warum gerade in dieser Zeitung? Sein jetziges Eintreffen in Stralsund hatte aber in der Hauptsache mit dem Tode seines Onkels zu tun, so dass, wie auch auf der gesamten Fahrt, seine Gedanken ständig mit diesem Thema beschäftigt waren.
Er startete den Motor und machte sich auf den Weg in die Frankenvorstadt. Den unscheinbaren silbernen Wagen, der ihm seit Schwerin folgte, bemerkte er nicht.
*
Der Anruf seiner ältesten Schwester Kirsten kam am Dienstagabend, wie alle Anrufe, zu einer für ihn völlig ungünstigen Zeit. Soeben waren seine für den heutigen Abend benötigten Ölfarben angemischt und er hatte keine Lust auf ein längeres Gespräch, bei dem seine Farben ihre nötige Konsistenz verlieren könnten und er Mühe hätte, feine Linien auf die Leinwand zu bringen.
Kirsten wirkte wie immer ein wenig außer Atem am Telefon, dabei war es nur ihre Stimmlage welche jenen Eindruck vermittelte.
„Du musst unbedingt nach Stralsund kommen, Roman.“
Sonst befragten sie sich wenigstens gegenseitig noch nach dem Befinden der jeweiligen Familie. Jene Einleitung konnte nur etwas mit seinem Vater zu tun haben, da in jüngster Vergangenheit alle seine kurzfristigen Berufungen nach Stralsund die unendliche und unsägliche Vatertragödie als Ursache hatten.
„Warum und Wann?“
Roman gab sich den Anschein von großer Sachlichkeit und wollte zumindest nicht gleich mit Unmöglichkeit antworten.
„Übermorgen. Die Anderen kommen auch alle.“
Mit den „Anderen“ waren seine weiteren Geschwister gemeint und es bedurfte dahingehend zwischen ihnen keine Erläuterung des unbestimmten Begriffes.
„Ja, und Warum?“, antwortete Roman im lächelnden Tonfall, um die scheinbare Bedeutungslosigkeit der bisherigen Unterhaltung zu unterstreichen.
„Es geht um Onkel Oswald. Ich mag mit euch nicht am Telefon darüber sprechen. Ihr müsst alle bitte hierher kommen. Wir haben uns auf Donnerstag geeinigt, weil Karin, Ina und Silvana frei nehmen können und Wolf gerade zu Hause ist. Kannst du kommen?“
Hätte Wolf nicht frei gehabt, hätten sie trotzdem den Donnerstag als Termin festgelegt, war sein erster Gedanke. Seine Schwestern müssen sich einigen, sein Bruder und er müssen folgen. Eine typische Vorgehensweise und in seinen Facetten schon immer ein großes Ärgernis für ihn.
Onkel Oswald... Onkel Oswald war der Bruder seines Vaters, lebte in Franzburg, einer kleinen Ortschaft zwischen Stralsund und Tribsees, und er wusste so gut wie überhaupt nichts über ihn. Vom Tode dessen hatte er auch durch einen Anruf erfahren. Seine Mutter teilte ihm mit, dass Onkel Oswald in aller Stille beigesetzt werden wollte, ohne weitere Familienangehörige, nur dessen Bruder, also sein Vater, sollte die Urne zur Bestattung begleiten.
Roman sollte es recht sein. Seine Freizeit war durch unendliche Vorhaben als Begriff ein Witz und ihn zog es momentan auch nicht unbedingt in seine Heimat.
Aber hier ging es nicht um eine Bestattung, es musste sich um andere dringende Angelegenheiten handeln, wenn seine Schwester es am Telefon nicht sagen wollte und alle nach Stralsund bestellte. Kurz dachte er an die Wohnung oder was auch immer, in der Onkel Oswald gelebt hat. Aber hätte Kirsten dann nicht eher ihre Schwager und nicht ihre Schwestern benötigt, wenn es sich um eine Räumaktion handeln würde? Eines wäre jedoch gewiss, Roman und seinen Bruder hätte sie in einem solchen Fall zuerst angerufen.
„Ich weiß nicht, ob ich so kurzfristig frei nehmen kann“, entgegnete Roman nachdenklich, nicht um Wichtigkeit vorzutäuschen, vielmehr weil er sich über die bereits erfolgte Absprache seiner Schwestern ärgerte. Ein kurzfristiger Urlaub war momentan bei ihm kein Problem, da seine Dienststelle in ihrer Auflösung nur noch aus ihm und seiner rheumakranken Halbtagssekretärin bestand und das Arbeitsaufkommen langsam der Existenzberechtigung entgegenwirkte.
„Bitte, du musst kommen. Ich hätte dir ja eher Bescheid gegeben, es hat sich aber erst heute früh ergeben.“
Zumindest haben sie es nicht schon seit Tagen gewusst, sondern alle am heutigen Tage erfahren. Das war schon etwas beruhigend und im Wohlgefallen einer beinahen Gleichberechtigung sagte er sein Erscheinen zu.
*
Die Urlaubssaison war vorbei. Jetzt, Anfang Oktober, schien der Verkehr in seinem Ausmaß erträglich. Roman steuerte seinen Wagen am Pinguingarten vorbei in die Karl-Marx-Straße, welche früher als Zubringer für die Rügeninvasoren diente und bei der jetzt, durch den Bau einer neuen Umgehungstrasse, die beiderseitig säumenden Weiden frischer erschienen.
Seine Mutter war mit ihrem neuen Freund irgendwo im Schwarzwald unterwegs, so dass er am Wulflamufer kein geöffnetes Fenster zu erwarten brauchte.
Der Jahnsportplatz gegenüber brachte regelmäßig unangenehme Erinnerungen. Gedanken an Demütigungen seines rabiaten Sportlehrers verdrängte er schnell und bog links in die Fährhofstraße ein.
Ein Besuch bei Kirsten war fast immer mit einer Parkplatzsuche verbunden. Erst zwei Straßen weiter fand er einen. Er nahm nur seine Brieftasche und seine Zigaretten mit und schlenderte zur Wohnung seiner Schwester.
Sie sagte, dass sie sich alle gegen zehn Uhr treffen wollten. Jetzt war es fünf nach zehn und ihm war es recht, nicht der Erste zu sein. Der letzte wird er aber wohl auch nicht werden, da Karin, so sie mit dem Auto unterwegs war, von Natur aus nicht pünktlich sein kann. Kirsten sagte auch, dass die Angelegenheit wohl etwas länger dauern würde und auf sein Nachfragen hin, ihm Reiseutensilien für mindestens eine Nacht empfohlen hatte, diese er jetzt aber fürs Erste auf dem Rücksitz seines Wagens beließ.
An der Wohnungstür angekommen hörte er bereits das Gekicher und Gejohle seiner Geschwister. Es schienen alle bereits anwesend zu sein, wohl auch Karin, so er es dem Stimmgewirr entnehmen konnte. An Frohsinn mangelte es seinen Geschwistern nicht, zuvorderst war gute Laune und ein Lächeln das Markenzeichen der Ortmanns.
Er klingelte und Kirsten öffnete die Tür. Ein Hallo, eine kurze Umarmung und er stand in der Küche.
Vom ovalen Tisch stiegen Rauchschwaden und Kaffeedämpfe auf und Roman gewahrte seine Geschwister in kneipiger Runde versammelt. Es schien, als redeten alle gleichzeitig und durcheinander. Roman begrüßte sie nacheinander, wie es ihm schien, immer etwas förmlicher und steifer als die anderen untereinander. Ina und Karin wirkten so, als würde sich jeden Moment der Vorhang öffnen und sie einem breiten Publikum vorgestellt werden. Sie machten sich selbst für ihre Geschwister wie für einen öffentlichen Auftritt zurecht.
Er fragte sich nicht zum ersten Mal, ob seine Schwestern einen unausgesprochenen Konkurrenzkampf führten, im Wettbewerb stünden oder warum sie alles daran setzten, in ihren mittleren Jahren jungmädchenhaften Idealen nachzulaufen. Das gleiche traf für Kirsten und Silvana zu, wobei es hier erfreulich nicht so in den Vordergrund trat. Von Natur aus kamen seine Schwestern Schönheitsidealen schon sehr nahe und im Bewusstsein dessen und einem daraus resultierenden Mangel an Selbstkritik, waren sie Lenker und Denker in ihren Familien und traten auch so in Gesellschaft auf.
Traf das auch auf Karin zu, die jetzt mit der Zigarette in der Hand und beständig träumerischen Blick eher verhalten der Unterhaltung beiwohnte und lediglich reagierte? Roman konnte sich aber erinnern, dass Karin im Notfall schon erstaunlich energisch für ihre Interessen und die ihrer Familie eintreten konnte.
Sein Bruder war der lauteste und der Spaßmacher unter seinen Geschwistern. Bevor Roman die Küche betrat, machte er gerade einen Scherz über Onkel Oswalds Hühner, welche er angeblich in den letzten zwei Jahren seiner Bettlägerigkeit im Schlafzimmer hielt und sie zur Stubenreinheit und gemeinsamer Benutzung der Toilette samt Spülung erzog. Hatte Onkel Oswald Hühner? Roman erinnerte sich nicht mehr.
Kirsten fertigte auch für Roman einen Kaffee und in der Zwischenzeit wurde er auf seine Frage hin, über die Abwesenheit der Familie Kirstens aufgeklärt. Natürlich, ihr Mann Roland war in der Firma und ihre Kinder arbeiteten oder waren in der Schule, daher die Irritation. Stralsundbesuche fanden für Roman in der Regel am Wochenende statt, wenn alle irgendwie anwesend waren. Auch über die jeweilige Reise der anderen Geschwister wurde er unterrichtet. Roman war nicht überrascht, zu erfahren, dass Ina und Karin bereits am Vorabend bei Kirsten eingetroffen waren.
„Romano, bleibst du heute Abend auch hier?“, trompetete Wolf.
„Wie befohlen“, antwortete Roman und fühlte sich sogleich wieder, im Kreise seiner Geschwister und im Besonderen im Zusammensein mit seinem Bruder, von Ernsthaftigkeit befreit. Wolf verhunzte ständig alle Namen und ließ sich nur selten dazu herab, Vornamen korrekt auszusprechen.
„Dann gehen wir heute Abend ein Bier trinken, oder?“
„Ihr beide wollt ein Bier trinken gehen und wir bleiben hier, oder was? Wir gehen alle zusammen aus.“, entgegnete Ina in gespielter Entrüstung.
„Warum sind wir hier in Stralsund? Ihr habt es doch schon erfahren, oder?“ Roman blickte dabei Karin und Ina an.
Kirsten, an die Arbeitsplatte der Einbauküche gelehnt, kam ihnen zuvor: „Nein, Karin und Ina wissen noch nichts. Ich wollte warten, bis wir vollzählig sind.“
Am Tonfall und am Blick Kirstens erkannte Roman, dass es der Wahrheit entsprach und wieder fühlte er eine leichte Wohligkeit ob der Gleichbehandlung. Hatte er sich vielleicht in der Vergangenheit zuviel über das Geklüngel seiner Schwestern eingebildet?
Kirsten setzte sich ebenfalls an den Tisch und schaute bedeutungsvoll in die Runde. Es war zu bemerken, dass hier nicht Theatralität eine Rolle spielte, sondern es sich tatsächlich um eine ernste und wichtige Sache handeln musste. Die Gespräche verstummten und selbst Wolf setzte einen für seine Verhältnisse angemessen ernsten Blick auf.
Vom Kühlschrank, welcher sich rechts von der Tür in unmittelbarer Nähe des Tisches befand, ergriff Kirsten Papiere und legte sie vor sich hin. Es handelte sich um zwei Briefumschläge mit deutlichen Gebrauchsspuren.
„Am Montag war ich mit Roland in Onkel Oswalds Wohnung. Eigentlich wollten wir nur schauen, ob wir ausräumen müssen, eine Firma dafür bestellen oder was auch immer. Mutti kommt am Sonntag wieder und will sich eigentlich darum kümmern. So wie es aussieht, werden wir einfach alles als Sperrmüll entsorgen. Von den Möbeln ist nichts mehr zu gebrauchen und es sieht so aus, als hätte Onkel Oswald seit den siebziger Jahren nichts verändert. Ich habe nicht in vielen Schubladen nachgesehen und auch nur in einer Papiere vorgefunden, aber in jener auch dieses hier entdeckt.“
Kirsten öffnete den größeren Umschlag und entnahm einen Bogen im DIN A 4 Format.
*
Bei seiner Verurteilung wurde er vom Richter mit einem Kleinkriminellen verglichen und es ärgerte ihn maßlos. Die Schmach im Gerichtssaal als Angeklagter zu sitzen wog nicht halb so schwer. Er wollte zu den schweren Jungs gehören, zu den Erhabenen, die für einen Schuldspruch nur ein herablassendes Lächeln übrig hatten. Aber alles war schiefgelaufen. Er verstand diese Balkanesen nicht, im wahrsten Sinne des Wortes. Bei ihrem gemeinsamen Bruch in das Handygeschäft waren sie von einer Streife ertappt worden. Und nur weil sie sich nicht einigen konnten und die Balkanesen untereinander in Streit gerieten. Geplant war ein Blitzeinbruch. Rein, einsacken was in Reichweite lag, und raus. Aber Mirko musste ja noch an die Kasse!
Er, Ronny Schulze, 28 Jahre alt, wurde für zwei Jahre auf Bewährung verurteilt. Mirko und seine Kumpanen sitzen aufgrund von diversen Vorstrafen ein.
Ronny ist in Bad Doberan aufgewachsen. Seine Kindheit war geprägt von Disharmonie innerhalb der Familie. Sein Vater, ein ehemaliger Stasi-Mitarbeiter und ständig unterwegs, hatte an der Erziehung seiner Kinder, Ronny hatte noch eine Schwester, keinen Anteil gehabt. Die Mutter war immer zu Hause gewesen, jedenfalls konnte sich Ronny nicht an etwas anderes erinnern. Nach der Wende und dem Zusammenbruch der Welt seines Vaters, fing jener an zu trinken und wurde gegenüber jedermann gewalttätig. Ronny und seine Schwester wurden für Kleinigkeiten regelmäßig verprügelt. Ronny lernte mit den Schmerzen umzugehen, nur eines tat unendlich weh, dann, wenn sein Vater in seinem Suff seine Mutter schlug. Er tat es nie vor den Kindern aber sie hörten jeden Schlag, jeden Klatscher und das Wimmern ihrer Mutter, und Ronny begann Rache- und Mordgedanken zu entwickeln.
Ronny beendete die Schule auf Veranlassung seiner Lehrer mit der achten Klasse. Die anschließende Lehre zum Beikoch brach er aus fadenscheinigen Gründen ab. In diversen Zeugnissen und Stellungnahmen wurde ihm geringes Leistungsvermögen, eine schwache Persönlichkeit und gesteigertes Desinteresse an Bildung bescheinigt.
Mit neunzehn Jahren zog Ronny zu einem Kumpel nach Stralsund und hielt sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Seine Haupteinnahmequelle war seine Schwester, die ihm ständig Geld zusteckte, im guten Glauben, Ronny sei auf dem Weg in ein geregeltes Leben, wie er ihr in seiner einfachen Art regelmäßig beteuerte. Seine Schwester, mittlerweile vierunddreißig Jahre alt, war mit einem gutverdienenden Schiffbauer verheiratet, hatte einen Sohn und lebte nach Ronnys Ansicht in einer wunderbar heilen Welt. In diese flüchtete er sich von Zeit zu Zeit und genoss es. Sich selber eine solche Heimstatt aufzubauen strebte er nicht an, schon weil er keine Ahnung hatte, wie er damit beginnen sollte. Seine Eltern besuchte er so gut wie nie, auch weil sie immer noch zusammen lebten.
Im Fitnessstudio lernte er Nikolai und dessen Halbwelt kennen. Nach etlichen Autodiebstählen, Einbrüchen in Kioske und Imbissbuden und gewalttätigen Erpressungen von Kleinigkeiten bei Kindern und Halbwüchsigen, ohne je erwischt worden zu sein, fühlte sich Ronny zugehörig. Wem zugehörig, hätte er aber nicht beantworten können. Im Moment war er Rausschmeißer im ‚Follow me’, einer verrufenen Diskothek, in der sich regelmäßig die Unterwelt Stralsunds amüsierte. Ronnys Leidenschaft fürs Bodybuilding befähigte ihn für diesen Job und alleine seine äußere Erscheinung und Nikolais Beziehungen waren Empfehlung genug.
Nikolai war es auch, der Ronny den neuen Auftrag vermittelte. Im Namen des Chefs, wie Nikolai zu verstehen gab, aber Ronny fragte nicht. Nun stand er hier in der Smiterlowstraße, hatte bereits eine Fahrt von Stralsund nach Schwerin und zurück hinter sich und keine Lust bei diesem Regen aus seinem Wagen auszusteigen.
Der Audi stand auf der rechten Straßenseite gegenüber einem Supermarkt. Er gehörte Roman Ortmann und Ronny hatte schon einiges über diesen Mann in Erfahrung bringen können. Nicht genug, wie Nikolai ihm immer mitteilte. Ronny war jedoch mit sich zufrieden und wähnte sich in einer großen Sache. Einen Typen beschatten, seine Familie, seine Arbeitsstelle, seine Freizeit zu erkunden, das hatte schon etwas. Es lohnt sich, versicherte Nikolai und Ronny hatte aus den vorherigen Deals mit Nikolai keine Veranlassung, ihm nicht zu glauben.
Roman Ortmann war 40 Jahre alt, verheiratet mit einer Britta und hatte einen Sohn. Sie lebten in einem Doppelhaus in einer Neubausiedlung am Ostorfer See in Schwerin. Ronny hatte einige Daten über die Ortmanns aus einem Papiercontainer. Er fühlte sich wie ein Profi und Detektivarbeit machte ihm Spaß, wie er feststellte. Gerade als er seine Observation am vergangenen Donnerstag vor dem Haus der Ortmanns begonnen hatte, fuhren der Typ und seine Frau mit ihrem alten Audi 100 aus dem Carport. Er war ihnen gefolgt und hatte zu seiner Freude bemerkt, dass sie als erstes an einem Papiermüllcontainer ganz in der Nähe hielten und anscheinend tonnenweise Papier entsorgten. Ronny hatte es für wichtiger gehalten, Daten zu sammeln und hatte die beiden weiterfahren lassen. Seine Beobachtungen konnte er später fortsetzen. Nikolai hatte ihm Taschengeld mitgegeben, so dass er sich ein kleines Zimmer im ‚Nordlicht’ in der Schelfstadt nehmen konnte.
Ortmanns gingen auch am Wochenende nicht aus, verbrachten anscheinend einige Zeit im Garten und Ronny wurde es schnell langweilig. Am Montag folgte er dem Typen zu seiner Arbeitsstelle, seine Frau schien nicht beruflich tätig zu sein. Der Typ fuhr zu einer Art Behörde am anderen Ende der Stadt und Ronny musste sich alleine mit dieser Erkenntnis der beruflichen Aktivitäten des Typen begnügen. Am Dienstag folgte er dem Sohn, der mit der Straßenbahn in Richtung Innenstadt fuhr und dort vor einer Schule wohl Klassenkameraden begrüßte, bevor sie gemeinsam die Schule betraten. Auf Nikolais Frage hin, konnte Ronny nicht sagen, um welche Art Schule es sich hier handelte. Aber er war dennoch stolz auf seine Arbeit, besonders auf die Sache mit dem Papiercontainer.
Reich waren diese Typen nicht, das konnte er Nikolai nach
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 30.07.2015
ISBN: 978-3-7396-0761-0
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