Herbst 2005
Todd Roycroft zupfte nervös an seiner Nase. Das, was er soeben auf seinem Bildschirm sah, kam ihm einfach ungeheuerlich vor. Und sein Chef, Dr. Alan Devorny, würde ihn wie immer zur Schnecke machen, wenn er ihm eine so unglaublich klingende Theorie auftischte. Und obwohl Roycroft noch nicht lange im Arizona Star Explore Centre arbeitete, hatte er sich hier schon für seine fast immer unhaltbaren Thesen einen Namen gemacht.
Roycroft war hauptsächlich für die Beobachtung von Sonneneruptionen zuständig - eigentlich ein furchtbar langweiliger Job. Niemand interessierte sich so richtig für seine Arbeit. Denn ob es auf der Sonnenoberfläche einmal mehr oder einmal weniger knallte, war eigentlich unwichtig.
Wahrscheinlich lag darin auch der Grund, warum Roycroft dann und wann utopische Theorien entwickelte. Nämlich um, wie seine Kollegen vermuteten, einfach mal wieder auf sich aufmerksam zu machen und zu zeigen, wie unverzichtbar er für das Arizona Star Explore Centre war.
Aber andererseits, wenn seine Berechnungen stimmten, wäre er sicher für den Tod von Millionen Menschen verantwortlich, wenn er schwieg. Also, was tun?
Sein Entschluss stand schnell fest. Er erhob sich schwerfällig aus seinem Sessel, seufzte hingebungsvoll: „Ich habe hier sowieso keinen Ruf mehr zu verlieren“, und verließ sein Büro.
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Auch Dr. Devorny konnte einen Seufzer nicht unterdrücken, als Roycroft sein Büro betrat. Nicht, dass er eine Abneigung gegen diesen Mann hätte, nein, der war eigentlich ganz okay. Nur verrannte er sich manchmal in eine Idee und ließ auch nicht locker, wenn dabei nichts Vernünftiges mehr herauskommen konnte. Dadurch zog er sich immer wieder den Spott seiner Kollegen zu - verdientermaßen, wie Alan Devorny fand.
Auch er selbst schoss dabei gelegentlich ein paar Pfeile ab, hielt sich im großen und ganzen aber zurück und schrieb die Sturheit Roycrofts eher dessen Arbeitseifer zu als dessen Geltungssucht.
Dennoch setzte er eine unpersönliche Miene auf und fragte ironisch: „Na Todd, Ihrem Gesichtsausdruck sehe ich an, dass Sie mal wieder einer nobelpreisverdächtigen Entdeckung auf der Spur sind. Was ist es denn dieses Mal? Haben Sie etwa herausgefunden, dass die Sonne aus Wasserstoff besteht und der zu Helium verbrennt? Oder dass die Sonnenoberfläche rund sechstausend Grad heiß ist?“
Roycroft schüttelte verärgert den Kopf: „Wenn ich recht habe, wird Ihnen das Lachen schnell vergehen. Und nicht nur Ihnen, sondern der ganzen Menschheit!“
„Aha, das ist ja mal ne ganz neue Masche von Ihnen, uns die Apokalypse vorherzusagen. Aber nicht besonders originell, denn das haben seit dem Mittelalter schon viele getan und die Erde dreht sich immer noch! - Na schön, auf welche Weise werden wir denn Ihrer Meinung nach zugrunde gehen?“
„Verbrennen!“
„Wieso? Werden Horden von Psychopathen mit Flammenwerfern auf die Menschheit losgehen?“
„Viel schlimmer. Die Sonne wird immer schneller wachsen und dabei alles auf der Erde verbrennen!“
„Na, da rufen wir eben die Feuerwehr, die löscht dann den Brand.“ Und etwas ernsthafter setzte Devorny hinzu:“ Natürlich wird die Sonne eines Tages zu wachsen beginnen und sich in einen roten Riesen verwandeln. Aber das passiert erst in ein paar Milliarden Jahren, das lernt doch jedes Kind schon in der Schule.“
„Nicht, wenn meine Berechnungen stimmen. Dann ist es nämlich schon im nächsten Sonnenzyklus soweit.“
Langsam wurde Devorny ärgerlich: „Und das entgeht allen anderen Wissenschaftlern auf der Welt, darunter einigen wirklichen Koryphäen, die ebenfalls die Sonne beobachten? Nur Sie, ein kleiner Assistent, der erst vor zwei Jahren von der Universität zu uns gekommen ist, machen die große Entdeckung. Todd, Sie enttäuschen mich, Ihre anderen Ideen waren wesentlich origineller.“
„Lassen Sie mich das doch wenigstens erklären. Ich habe mich eingehend mit der Sache befasst! Ein Irrtum ist fast ausgeschlossen.“
„Irgendwie kann ich mich erinnern, diesen Satz schon öfter von Ihnen gehört zu haben.“
Roycroft ließ sich nicht beirren: „Aus meinen Unterlagen geht alles eindeutig hervor. Die Aktivität der Sonne hat von Zyklus zu Zyklus immer mehr zugenommen. Um genau zu sein, sie hat sich jedes Mal verdoppelt - wie ein Pendel, das immer weiter ausschwingt. Und bereits das nächste Mal könnte es soweit sein, dass es sich überschlägt. Mit anderen Worten: Die Sonne dehnt sich innerhalb kurzer Zeit fast explosionsartig bis zur Venus aus. Auf der Erde wird es dann so heiß sein, wie es jetzt auf dem Merkur ist.“
„Und Sie erwarten ernsthaft, dass ich Ihnen das glaube? Haben Sie dafür überhaupt Beweise?“
„Natürlich - die Erderwärmung.“
„Haben Sie noch nie etwas vom Treibhauseffekt gehört?“
„Das schon, aber wie erklären Sie sich dann, dass die Erwärmung immer zu jenen Zeiten zunahm, als auch die Sonne gerade den Höhepunkt eines Zyklusses erreicht hatte?“
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Die Sonne umspielte mit ihren Strahlen die dicken Rauchschwaden, die in dem großen Büro langsam zur Decke strebten. An dem langen Konferenztisch, der an der Fensterfront stand, saßen nur zwei Männer. Der eine war Alan Devorny, der andere Professor Andrew McCoy, Leiter des Arizona Star Explore Centre.
Vor McCoy stand ein überquellender Aschenbecher, auf dessen Rand eine dicke Zigarre lag, die vor sich hin glomm. Nach Devornys Meinung grenzte McCoys Geschmack, was die Zigarrensorte anbelangte, fast an Körperverletzung. Es genügten bereits fünf Minuten Aufenthalt im Büro des Professors, und man trug den Zigarrengeruch für den Rest des Tages mit sich herum, weil er sich schon in der Kleidung festgesetzt hatte. Und wie Devorny bereits mehrfach feststellen musste, verschonte der Zigarrenqualm nicht einmal die Unterwäsche, sondern schien sich gerade darin mit Vorliebe festzusetzen. Aus diesem Grund suchte er das Büro seines Chefs nur äußerst ungern auf, aber dieses Mal ließ es sich wohl nicht umgehen.
„Eindeutige Beweise für diese These gibt es natürlich noch nicht, aber ganz von der Hand weisen lässt sie sich auch nicht. Wir werden das natürlich noch eingehender überprüfen ...“, meinte er, nachdem er Andrew McCoy über Roycrofts neue Theorie informiert hatte.
Der Professor unterbrach ihn aber unwirsch: „Bis jetzt hat sich noch jede so genannte Entdeckung Ihres Wunderknaben als Fehlschlag entpuppt. Wieso haben Sie da Zweifel, dass es dieses Mal anders sein könnte?“
„Bis jetzt waren seine zugegebenermaßen meist abenteuerlichen Thesen immer leicht zu widerlegen, wenn man sich damit eingehender befasst hat. Irgendetwas hatte er stets übersehen, so dass man seine Wehrufe ungehört verhallen lassen konnte. Dieses Mal aber ist es anders. Mir fällt nichts auf, was Roycroft übersehen haben könnte. Und da ich nicht definitiv ausschließen kann, dass er doch Recht hat, bin ich zu Ihnen gekommen. Ich bin weit davon entfernt, eine Lanze für seine Theorien zu brechen, aber stellen Sie sich einmal vor, er hätte Recht und wir legten nur die Hände in den Schoß.“
McCoy erwiderte nichts, sondern gönnte sich erst einmal einen tiefen Zug aus seiner Zigarre, bevor er sie wieder im Aschenbecher vor sich hin glimmen ließ.
„Na schön“, brummte er nach einer Weile nachdenklich. „Bleiben Sie an der Sache dran und bringen Sie mir alle verfügbaren Akten, damit ich mir selbst ein Bild machen kann. Aber wenn ich damit nur meine Zeit verschwende, dann Gnade Ihnen Gott.“
„In Ordnung“, sagte Devorny und verließ fluchtartig das Büro des Professors. Draußen holte er erst einmal tief Luft.
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Hans-Dieter Morawski genoss diesen Anblick sehr. Es gab für ihn nichts Großartigeres, als auf dem Dachgarten seines kleinen Hauses in Heidelberg zu sitzen und durch sein leistungsstarkes Teleskop, um das ihn sicher sogar einige professionelle astronomische Einrichtungen beneidet hätten, der Sonne zuzuschauen.
Stundenlang konnte er das tun. Und mit seinen mittlerweile 72 Jahren hatte er auch jede Menge Zeit dafür - schließlich besaß er als Rentner keinerlei Verpflichtungen mehr.
Besonders angetan hatten es ihm die Sonneneruptionen. Er wusste einfach alles über diese wunderschön anzusehenden Explosionen auf der Sonnenoberfläche. Zum Beispiel, wie heiß sie waren, wo sie am häufigsten entstanden, wie schnell sie sich entwickelten und dann von der Sonnenoberfläche fortbewegten. Dieses Wissen stammte vor allem aus vielen Jahren eigener Beobachtungen und aus Büchern. Die stellten seine zweite Leidenschaft neben der Himmelsbeobachtung dar - und das konnte man auch leicht erkennen; das halbe Haus war vollgestopft mit überquellenden Bücherregalen. Natürlich handelte die meiste Literatur - Morawski konnte ja seinen Sternen schließlich nicht untreu werden - von der Astronomie. Alle hatte er schon gelesen, viele sogar mehrfach, und so hielt er sich zu Recht für ein wandelndes Sternen-Lexikon.
Gerade lief vor seinen Augen eine besonders schöne Sonneneruption ab: Der Materiestrom zog sich mehr als einen Sonnendurchmesser dahin, ehe er von der Oberfläche abriss. ‚Einfach wundervoll’, dachte Morawski, ‚schade, das ich meinen Fotoapparat gerade nicht griffbereit habe, das wäre eine schöne Aufnahme geworden’. Und dieses Bild hätte auch perfekt zu einer Artikelserie gepasst, an der er gerade im Auftrag eines Wissenschaftsjournals schrieb.
Als ihm einfiel, dass er in einem seiner Bücher gelesen hatte, dass diese Materieströme maximal nur einen Sonnendurchmesser lang werden, ärgerte er sich noch mehr. Wenn er schon einmal Zeuge einer solchen Sensation wurde, konnte er es nicht einmal festhalten - wirklich zu dumm. Dabei war es doch ein so einmaliger Ausbruch gewesen! Und mehr als einen Sonnendurchmesser lang - einfach superärgerlich.
Moment mal, einen Sonnendurchmesser lang oder war es doch nur ein halber gewesen? Und wie war das gleich noch mal: Waren bisher nur Materieströme mit der Länge eines Sonnendurchmessers beobachten worden, oder doch nur halb so lange?
Wie denn, ließ ihn nun auch schon sein Gedächtnis im Stich? Aber egal, wenn er schon das Foto vermasselt hatte, wollte er wenigstens dieser Sache auf den Grund gehen.
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Bei Todd Roycroft klickten die Handschellen. Ungläubig starrte er auf die metallenen Dinger, die seinen Bewegungsdrang spürbar einschränkten.
Noch immer konnte er es nicht fassen: „Das kann nur ein Missverständnis sein. Ich war doch an dem Unfall gar nicht Schuld, sondern ich habe selbst noch die Polizei gerufen. Fragen Sie doch in dem zuständigen Revier nach, wenn Sie mir nicht glauben“.
Aber die Typen mit den dicken Sonnenbrillen machten sich nicht die Mühe einer Antwort. Nachdem sie Roycroft mit den Handschellen geschmückt hatten, begannen sie, sämtliche Unterlagen einzusammeln. Nach einer Viertelstunde sah das Büro so aus, als hätte Roycroft hier nie residiert.
Er konnte sich wirklich nicht erklären, wieso er so überfallartig verhaftet worden war. Er hatte sich doch schließlich nichts zu Schulden kommen lassen und den kleinen Unfall heute morgen, bei dem glücklicherweise nur die Stoßstange eines vor ihm fahrenden Chryslers zu Schaden kam, ordnungsgemäß gemeldet.
Wegen so einem Malheur hätten ihm also kaum zwei Beamte in Zivil im Gedränge der U-Bahn einfach eine Pistole ins Kreuz gedrückt und ihn zum unauffälligen Mitkommen aufgefordert, sondern dann wäre er von uniformierten Polizisten in seiner Wohnung abgeholt und regelgerecht festgenommen worden, mit Vorlesen seiner Rechte und so. Nicht, dass ihm so etwas öfters passierte, aber in Filmen sah man ja oft, wie eine richtige Verhaftung vor sich geht.
Langsam dämmerte ihm, dass ihn das FBI nicht wegen des Unfalls kassierte, in den er heute morgen mit verwickelt worden war: „Seit wann kümmert sich überhaupt das FBI um kleine Verkehrsunfälle? Da stimmt doch was nicht. Ich verlange sofort eine Erklärung!“
Da baute sich der größte der drei in feine Anzüge gehüllten Agenten vor ihm auf, schaute ihn eine ganze Weile nachdenklich an, nahm schließlich langsam seine Zigarette aus dem Mund und blies Roycroft den Rauch genüsslich ins Gesicht: „Sie haben da angeblich eine merkwürdige Entdeckung gemacht, von wegen die Sonne würde explodieren oder so ähnlich. Stellen Sie sich mal vor, das würde an die Öffentlichkeit gelangen, könnten Sie die riesige Panik verantworten, die dann sicher entstehen würde? Wir nicht, und deshalb müssen wir Sie einstweilen bitten, unser Gast zu sein - bis die Sache endgültig geklärt ist.“
Dann wandte sich der Riese von Roycroft ab und meinte seufzend zu seinen beiden Begleitern: „Ich bin eigentlich zum FBI gegangen, um Ganoven das Handwerk zu legen, aber nicht, um irgendwelche Spinner in Gewahrsam zu nehmen.“
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In welchem Buch hatte Hans-Dieter Morawski das doch gleich gelesen? War es das mit dem grünen Einband gewesen, oder das mit dem blauen?
Heute schien wirklich nicht sein Glückstag zu sein, erst das Pech mit der verpatzten Fotografie des Jahrhunderts und nun auch noch diese Gedächtnislücken. Das konnte doch nun wirklich nicht schon das Alter sein.
Nach einigen Minuten eifrigen Suchens war aber aller Ärger vergessen, denn Morawski hatte gefunden, was er suchte: sein „Sonnenlexikon“. Und da stand es schließlich schwarz auf weiß: Der längste jemals beobachtete Materiestrom einer Sonneneruption besaß eine Länge von einem halben Sonnendurchmesser.
Nun fing Morawskis Herz wie wild zu klopfen an, schließlich war er ja Zeuge eines bisher nie da gewesenen Naturschauspiels geworden. Doch mitten in der Freude darüber durchzuckte ihn ein schrecklicher Gedanke, der sich dann bohrend in seinem Kopf festsetzte: Wieso war eigentlich noch nie ein so langer Auswurf gesehen worden?
Die einzig mögliche Antwort auf seine Frage - schließlich konnte er die sich ja als Hobbyastronom selbst geben - ließ seine Knie weich werden: Die Sonnenaktivität musste sich deutlich verstärkt haben. Sollte die Sonne sich doch viel früher, als von allen Wissenschaftlern der Welt angenommen, zu einem so genannten „roten Riesen“ aufblähen, dabei die Erde verbrennen und schließlich in sich zusammenstürzen?
Morawski musste sich bei diesem Gedanken erst einmal setzen. Was für ein entsetzliches Szenario wäre das und mit welch schlimmen Auswirkungen!
Doch dann fasste er wieder Hoffnung. ‚Sicher irre ich mich, können denn sämtliche Koryphäen der Astronomie, die ja viel mehr Fachwissen als ich besitzen, alle falsch liegen? Höchst unwahrscheinlich’, dachte er.
Dann kam er zu einem Entschluss: Er würde einen Artikel über seine Beobachtungen und Schlussfolgerungen in einer Fachzeitschrift veröffentlichen und auf die Meinung der Fachwelt warten. Auch wenn er sich dadurch vielleicht lächerlich machte, sein Gewissen wäre dann beruhigt. Ja, genauso wollte er es machen.
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Charles Long, Distrikt-Chef des Washingtoner FBI, zuckte wie elektrisiert zusammen. Das tat er jedes Mal, wenn Meyers an seiner Bürotür anklopfte. Denn Meyers hämmerte gegen die Türfüllung, als wollte er einen Nagel mit der bloßen Faust in das Holz schlagen.
Long war sich sicher, dass Meyers wusste, dass ihm diese Art anzuklopfen höchst zuwider war. Das verbesserte seine ohnehin miese Laune an diesem Morgen natürlich nicht und so klang sein „Herein“ noch mürrischer als sonst.
Daraufhin riss Meyers die Tür mit einem Elan auf, als wollte er sie aus den Angeln heben - auch das gehörte zum Spiel und missfiel Long nicht weniger. Und das brachte er auch gleich zum Ausdruck, indem er seinen Untergebenen sofort anfuhr: „Wenn Sie hier so hereinbrausen, hoffe ich für Sie, dass Sie einen guten Grund dafür haben.“
„Habe ich das nicht immer, Chef?“, entgegnete Meyers mit einem selbstgefälligen Grinsen.
„Wie wär’s mit einer Versetzung ins Archiv als Belohnung? Da dürfen Sie jeden Tag staubige Luft atmen und die Sonne sehen Sie dann nur noch nach Feierabend.“
„Oh, ich hätte da eher an eine Beförderung gedacht. Aber darum bin ich nicht hier, sondern deswegen“, antwortete Meyers und schwenkte eine Zeitschrift.
„Toll, aber um mir Zeitschriftenabonnements aufzuschwatzen, bezahlt Sie das FBI garantiert nicht.“
„Das ist ‘Astronomy’, das Fachblatt in Sachen Weltraumforschung in den Staaten schlechthin ...“
„Ihre privaten Hobbies interessieren mich nicht, es sei denn, Sie gehen ihnen im Dienst nach“, knurrte Long.
„... hier, auf Seite 5, gibt es einen Artikel, in dem ein Deutscher schreibt, dass er beobachtet habe, dass die Sonne in den letzten Jahrhunderten viel stärker gewachsen sei, als sie es nach den gängigen Theorien hätte tun dürfen“, fuhr Meyers unbeirrt fort.
„Ich verstehe noch immer nicht ...“
„Er schließt daraus, dass unsere Sonne viel früher explodieren und dabei alles Leben auf der Erde auslöschen könnte, als bisher gedacht.“
„Also genau wie der Verrückte, den wir in Gewahrsam nehmen mussten, bevor er das ganze Land mit seiner Weltuntergangstheorie in Aufruhr versetzt?“
„Richtig. Und da zwischen den beiden keinerlei Verbindung besteht oder bestand - ich habe das schon überprüft - bin ich stutzig geworden. Was, wenn nun an der Sache wirklich was dran ist? Was, wenn es sich bei unserem Verrückten um eine Art verkanntes Genie handelte?“
Long schwieg, verschränkte die Hände hinter seinem Kopf, ließ sich in seinem Sessel nach hinten sinken und fixierte einen imaginären Punkt an der Decke seines Büros.
„Hm“, machte er nach einer Weile kurzen Nachdenkens, „ich glaube, wir sollten uns noch einmal ausführlich mit unserem unfreiwilligen Gast unterhalten. Und es wäre nicht schlecht, wenn wir auch einen Fachmann dabei hätten, der einschätzen kann, ob uns unser Freund einen Bären aufbindet oder nicht.“
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Schon drei Tage hing Roycroft in dieser Zelle fest. Nun ja, so ungemütlich fand er sie zwar nicht, war sie doch fast so groß wie seine Junggesellenbude - und auch etwas ordentlicher. Dennoch hoffte er, dass der Spuk bald ein Ende hatte.
Aber da er dummerweise sehr zurückgezogen lebte, würde ihn so schnell kaum ein Mensch vermissen und nach ihm fragen. Auch seinen Kollegen würde sein Fernbleiben kaum auffallen, hatte er doch nie Kontakt zu ihnen gesucht. Sie dachten sicher, er wäre im Urlaub.
Mitten in diesen Gedanken wurde er von einem Geräusch aufgeschreckt, offenbar machte sich jemand an seiner Zellentür zu schaffen. Als sich kurz darauf die Tür öffnete, traten jene zwei Männer ein, die ihn in der U-Bahn festgenommen hatten. Roycroft erkannte sie sofort, obwohl sie dieses Mal nicht mit ihren markanten Sonnenbrillen geschmückt waren.
Der Größere von ihnen, schlank, mit dunklem Haar und Schnauzbart, ergriff zuerst das Wort: „Tut mir Leid, Mister Roycroft, dass wir noch keine Zeit hatten, uns Ihnen vorzustellen, wie es sich gehört. Ich bin Dan Meyers und mein Kollege heißt Ronald Finder. Wie ich Ihnen schon erklärte, haben wir Sie aus dem Verkehr gezogen, weil wir befürchten mussten, dass Sie mit Ihrer apokalyptischen Theorie die öffentliche Sicherheit gefährden würden, sobald sie an die Öffentlichkeit gelänge. Zumal es damals berechtigte Zweifel an der Richtigkeit Ihrer These gab. Allerdings haben sich die Dinge danach anders entwickelt, als wir es uns vorgestellt haben, denn Sie sind nun offenbar nicht mehr der Einzige, der uns eine baldige Explosion der Sonne vorhersagt. Hier, lesen Sie selbst.“
Mit diesen Worten überreichte er Roycroft die Ausgabe der „Astronomy“, in der der Artikel von Morawski stand.
Todd Roycroft überflog den Artikel kurz, lehnte sich dann zufrieden auf seiner Pritsche zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und meinte lässig: „Tcha, Jungs, und jetzt soll ich euch und eurer Regierung aus der Patsche helfen, wie?“
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Es war nur eine kleine Runde, die im Prunksaal des Weißen Hauses um den großen Mahagonitisch versammelt war. Neben dem Präsidenten und dem Vizepräsidenten hatten es sich Professor McCoy und Dr. Devorny vom Arizona Star Explore Centre in den weichen Ledersesseln bequem gemacht.
Vor ihnen lag eine Unmenge von Dokumenten und Berechnungen, in denen Dr. Devorny unablässig herumwühlte, während Professor McCoy dem Präsidenten und dem Vizepräsidenten eine Simulation auf einem Laptop erklärte: „Nach den Berechnungen von Roycroft dürfte sich in etwa folgendes Szenario ergeben: Die Korona der Sonne dehnt sich mit wachsender Geschwindigkeit aus und verdoppelt sich innerhalb eines Zyklusses, also innerhalb von elf Jahren. Das heißt, in fünfundfünfzig Jahren hätte sich die Sonne bis zur Venus ausgedehnt und auf der Erdoberfläche wäre es dann so heiß, wie es heute auf dem Merkur ist, also mehrere hundert Grad. Was das bedeutet, brauche ich Ihnen sicher nicht näher zu erläutern. Kein Mensch, und sicher auch kaum ein Tier oder Pflanze, könnte bei derartigen Temperaturen überleben. Schon allein deshalb nicht, weil dann sämtliches Wasser aus Ozeanen, Seen und Flüssen verdampft wäre und es nichts mehr zu trinken gäbe.“
McCoy wurde durch ein Klopfen an der Tür unterbrochen. Charles Long, der Washingtoner FBI-Chef, und Todd Roycroft traten ein. Dr. Devorny sprang auf, rannte Roycroft entgegen, nahm ihn beim Arm und rief: „Da sind Sie ja endlich“. Dann zog er ihn zu der kleinen Gruppe am Laptop, während Long den Prunksaal wieder verließ.
„Darf ich vorstellen, Mr. President, Mr. Vizepresident, Todd Roycroft, einer meiner Mitarbeiter“.
Nachdem Roycroft den beiden Staatsmännern die Hand geschüttelt hatte, sagte er: „Nun, wie gefallen Ihnen meine Berechnungen?“
„Ganz und gar nicht“, erwiderte der Präsident und fragte: „Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass alles genauso kommt, wie Sie es berechnet haben?“
„Groß genug, als dass man die ganze Angelegenheit auf die leichte Schulter nehmen könnte. Ob die Zeiträume nun exakt stimmen, weiß ich nicht, aber auf ein paar Jahre mehr oder weniger kommt es ja auch gar nicht an. Fest steht, die Sonne wird in nicht allzu ferner Zukunft immer schneller immer größer werden und aufgrund des dadurch immer geringer werdenden Abstandes zur Erde hier alles Leben verbrennen. Bildlich gesprochen, könnte man sagen, dass dann der Himmel einstürzt.“
Der Präsident erwiderte nichts mehr, sondern lehnte sich in seinen Sessel zurück, kratzte sich nachdenklich am Kinn und schaute eine Weile aus dem Fenster dem Laub im Garten zu, das gerade im Herbstwind tanzte. Dann stand er auf, gab den drei Wissenschaftlern die Hand und entließ sie mit den Worten: „Ich danke Ihnen vielmals, meine Herren, aber im Moment können Sie nichts weiter für mich tun. Sie hören noch von mir.“
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Phala und Ngama arbeiteten als Wildhüter im Serengeti-Nationalpark. Und darauf waren sie stets sehr stolz gewesen. Zum einen wegen der zahlreichen und zum Teil sehr seltenen Tier- und Pflanzenarten, die es hier gab, und zum anderen wegen des traumhaften Blicks auf den Kilimandscharo mit seinem früher schneebedeckten Gipfel.
Aus diesen Gründen hatte der Serengeti-Nationalpark auch immer sehr viele Touristen angezogen. Doch im Laufe der letzten Jahre verschwanden die Besucherströme ebenso wie der Schnee auf dem Gipfel des Berges. Dieser Besucherschwund hing aber sicher nicht damit zusammen, dass der Ausblick auf den Berg nun weniger beeindruckend war als früher, sondern vielmehr mit der unerträglichen Hitze. Selten sank die Temperatur unter 50 Grad, und wenn, dann nur des Nachts.
Deshalb hatten Phala und Ngama auch nicht mehr viel zu tun. Früher waren sie nämlich vollauf damit beschäftigt gewesen, große Touristengruppen durch den Park zu führen. Doch seit es keine Besucher mehr gab, durchstreiften sie den Park nur noch, um hier und da nach dem Rechten zu sehen.
Und dabei hatten sie vor kurzem eine merkwürdige Entdeckung gemacht: Aus einem kleinen Weiher, malerisch umgeben von den verschiedensten Bäumen, stieg Dampf auf. Nun hatten sie zwar schon davon gehört, dass es warme Seen gibt, die durch Erdwärme gespeist werden, doch war ihnen nie aufgefallen, dass es auch hier einen solchen See gab.
Auf ihrem heutigen Rundritt kamen sie wieder an dem kleinen See vorbei. Er dampfte noch heftiger als das letzte Mal, und brodelte dazu, als ob das Wasser kochen würde.
Phala schüttelte erstaunt den Kopf, nein, gebrodelt hatte das Wasser mit Sicherheit nicht, als sie das letzte Mal hier waren, das wusste er genau. Doch warum brodelte es dann jetzt?
Er stieg von seinem Pferd ab und steckte den Finger in den kleinen See, um ihn gleich darauf mit einem Schmerzensschrei wieder herauszuziehen: Er hatte sich den Finger verbrannt! Ungläubig starrte er auf das verletzte Glied, das sich zunehmend rot färbte.
Er schüttelte wieder den Kopf, stieg auf sein Pferd und ritt wortlos weiter. Ngama folgte ihm.
Sie ritten um den See herum und kamen an ein flaches Ufer, das die Wildtiere immer als Tränke benutzten. Zahlreiche Fährten bewiesen, dass auch in der letzten Nacht wieder viele Tiere hierher gekommen waren.
Ngama und Phala folgten den Fährten und fanden nicht weit vom See zahlreiche Tierkadaver. Sie wiesen keinerlei Verletzungen auf, konnten also nicht von Raubtieren getötet worden sein.
Auf dem Rückweg zur Station grübelten die beiden Wildhüter, warum sie so viele tote Tiere am See gefunden hatten. War das Wasser vielleicht vergiftet worden? Warum sollte aber jemand so etwas tun?
Als sie auf der Station ankamen, hatten sie noch immer keine einleuchtende Antwort gefunden. Phala und Ngama gingen gleich zum Leiter des Nationalparks, Jesus Mntono, und berichteten ihm von ihren Entdeckungen.
Sie waren erstaunt, dass ihre Meldung für ihn nichts Neues war: „Ja, so etwas haben mir auch Wildhüter aus anderen Teilen unseres Nationalparks berichtet. Dort fanden sie ebenfalls viele verendete Tiere in der Nähe von Wasserstellen, deren Wasser gleichfalls brodelte. Allerdings konnte ich mir bis jetzt auch keinen Reim darauf machen.“
Jesus Mntono durchmaß sein Büro mit mehreren Schritten und blieb schließlich stehen, um nachdenklich aus dem Fenster zu schauen. Dann fuhr er fort: „Deine Entdeckung, Phala, dass das Wasser nicht nur gebrodelt, sondern gekocht hat, weil du dir deinen Finger verbrannt hast, wirft nun ein ganz anderes Licht auf die Sache: Die Tiere sind wahrscheinlich verdurstet, weil das Wasser sich durch die Hitze in der Sonne so aufgeheizt hat, dass es zu kochen anfing, und sie es nicht mehr trinken konnten.“
Phala und Ngama schauten erst sich und dann ihren Chef an. Sie schüttelten ungläubig ihre Köpfe, bevor Ngama das Wort ergriff: „Das glaube ich einfach nicht. Es ist zwar draußen sehr heiß, aber dass dadurch das Wasser in unseren Seen zu kochen anfängt, kann ich mir nicht vorstellen.“
„Ich weiß, es klingt unglaublich, aber es gibt einfach keine andere Erklärung. Und Phalas verbrannter Finger ist der beste Beweis dafür.“
„Was sollen wir jetzt tun?“, ließ sich Phala vernehmen.
Jesus Mntono schüttelte den Kopf: „Ich glaube nicht, dass wir da irgendetwas tun können. Uns bleibt wohl nur, zuzusehen, wie unsere Tiere sterben.“
„Wir könnten doch das Wasser aus den Seen holen, es irgendwo abkühlen lassen und den Tieren abends hinstellen“, schlug Ngama vor.
Aber sein Chef winkte nur ab: „Selbst wenn wir eine Möglichkeit finden würden, eine so große Menge Wasser, wie unsere Tiere benötigen, abzukühlen, wie willst du sie damit tränken? Willst du jedem einzelnen einen Eimer hinstellen?“
Mntono zuckte ratlos mit den Schultern. „Auf jeden Fall werde ich die Regierung informieren. Vielleicht haben die eine Idee.“ Mit diesen Worten wandte er sich seinem Schreibtisch zu und griff nach dem Telefonhörer.
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Zwei Tage später war die Runde um den großen Mahagonitisch im Prunksaal des Weißen Hauses wesentlich größer. Wissenschaftler aller Bereiche hatten sich – einer Einladung des Präsidenten folgend – hier eingefunden. Allerdings tappten sie alle noch im Dunkeln, was den Grund dieses Treffens betraf. Doch wenn man schon mal vom Präsidenten eingeladen wird, dann geht man eben hin, und wenn es nur deswegen ist, dass man später einmal erzählen kann, man habe dem ersten Mann im Staate mal Auge in Auge gegenüber gestanden und sich von ihm die Hand schütteln lassen. Dementsprechend erfüllte unruhiges Gemurmel den großen Saal und verschiedenste Mutmaßungen über den Grund der Einladung machten die Runde.
Vom Arizona Star Explore Centre waren dieses Mal nur der Leiter Professor McCoy und Todd Roycroft anwesend, Dr. Devorny hatte man bei der Einladung nicht mit berücksichtigt. Den beiden war die Ehre zuteil geworden, gleich neben dem noch leeren Präsidentensessel sitzen zu dürfen, McCoy zur Rechten, Roycroft zur Linken.
In Reichweite von Roycroft stand auf einem kleinen Rolltisch ein Video-Projektor, an dem ein Laptop angeschlossen war. Roycroft stand auf und prüfte zum x-ten Male alle Kabelverbindungen vom Laptop zum Projektor.
Seine Nervosität konnte man ihm deutlich ansehen. Schließlich hatte sich hier die Elite der amerikanischen Wissenschaft versammelt und ausgerechnet er, ein kleiner Assistent, sollte einen Vortrag vor ihnen halten! Sicher würden sie ihn wegen seiner gewagten These in der Luft zerreißen. Oder vielleicht doch nicht? Roycroft schlich wieder zu seinem Platz und ließ sich seufzend in seinen Sessel fallen.
Kurz darauf trat der Präsident ein und das Gemurmel verstummte schlagartig. Alle erhoben sich, während der Präsident zu seinem Platz ging. Dann gab er den Anwesenden ein Zeichen, wieder Platz zu nehmen, während er selbst stehen blieb und zu sprechen begann: „Meine Herren, vielen Dank, dass Sie meiner Einladung gefolgt sind, umso mehr, da Ihnen keine Angaben über den Zweck dieses Treffens gemacht wurden. Dies ließ sich aber leider nicht umgehen, da es sich bei diesem Thema um eine Sache mit höchster Brisanz handelt.“
Er machte eine kurze Pause, ließ seinen Blick einmal über die versammelte Runde schweifen und fuhr dann fort: “Sie alle haben vielleicht schon von der Theorie gehört, dass die Sonne - viel schneller als bisher erwartet - zu einem roten Riesen mutieren könnte ...“
Heftiges Gemurmel unterbrach den Präsidenten an dieser Stelle. Roycroft konnte dabei so wenig schmeichelhafte Worte wie „Unfug“ oder „Schwachsinn“ vernehmen, was seinen Pulsschlag noch schneller werden ließ.
Der Präsident hob die Hand, worauf das Gemurmel wieder verstummte und sprach weiter: „Der Mann, der diese Theorie entworfen hat, ist heute hier anwesend. Ich möchte, dass Sie alles vergessen, was Sie bisher eventuell über diese These gehört haben, sondern sich seinen Vortrag genau anhören und erst dann ein Urteil bilden.“
Während der Präsident Platz nahm, erhob sich Todd Roycroft und begann mit belegter Stimme zu sprechen: „Vielen Dank, Mr. President. Ich weiß die Ehre wohl zu schätzen, vor einem so hohen Gremium sprechen zu dürfen und ich hoffe nicht, dass Sie sich alle umsonst bemüht haben. Aber eigentlich wäre es mir doch lieber, wenn Sie alle umsonst gekommen wären ...“
Roycroft bemerkte ein paar verständnislose Blicke unter seinen Wissenschaftlerkollegen und wurde unsicher: „Also, was ich damit sagen wollte ... äh ich meine ... äh ... also, was ich Ihnen zu sagen habe, ist von so großer Tragweite, dass ich hoffe, mich geirrt zu haben, aber ich fürchte, dass hier kein Irrtum mehr vorliegen kann, denn die Fakten sind eindeutig. Nach meinen Berechnungen hat sich die Sonnenaktivität in den letzten drei Zyklen von Höhepunkt zu Höhepunkt immer wieder verdoppelt. Dabei hat sich die Sonnenhülle leicht ausgedehnt, zuletzt aber mit wachsender Geschwindigkeit. Rechnet man diese Geschwindigkeit hoch, wird sich der Sonnendurchmesser ab dem nächsten Zyklus mit jedem zukünftigen Zyklus verdoppeln, etwa so, wie in dieser Simulation. Das würde konkret bedeuten, dass der Rand der Sonne schon in fünfundfünfzig Jahren die Venus erreicht. Die Temperaturen auf der Erde wären dann so hoch, wie heute auf dem Merkur und alle Gewässer bereits verdampft ...“
Wieder brach unter den Gelehrten heftiges Gemurmel aus, doch Roycroft ließ sich davon dieses Mal nicht beirren, schaltete mit einer Fernbedienung den Video-Projektor an und startete die Simulationssoftware auf dem Laptop. Kurz darauf erschien an der Wand vor ihnen eine animierte Projektion des Sonnensystems, in deren Verlauf sich die Sonne immer mehr aufblähte und dabei nach und nach die Planeten Merkur und Venus verschlang.
Als die etwa dreißigsekündige Sequenz abgelaufen war, erhob sich einer der Wissenschaftler und ergriff das Wort: „Ich bin Professor Weidner vom Chicago Observatory und ich sage Ihnen klar und deutlich: Ihre Spielerei hier beweist gar nichts. Sie haben doch selbst gesagt, dass die Sonne sich bisher nur leicht ausgedehnt hat. Mit welcher Sicherheit können Sie dann vorhersagen, dass die Ausdehnung tatsächlich in der Geschwindigkeit und Größe erfolgt wie in Ihrer Simulation? Vorausgesetzt, die von Ihnen prophezeite Verwandlung der Sonne zu einem roten Riesen tritt in der nächsten Zeit überhaupt ein.“
„Nun, ich habe einfach den Trend der zuletzt beobachteten Geschwindigkeiten und Größenzuwächse hochgerechnet.“
„Woher wissen Sie denn, dass es sich bei dieser Ausdehnung nicht um eine normale Schwankung innerhalb eines Zyklusses handelt?“
„Weil ich mir die alten Aufzeichnungen seit dem 16. Jahrhundert genau angesehen habe und dabei war nie von Durchmesserschwankungen die Rede.“
„Aufzeichnungen aus dem 16. Jahrhundert, wie schön, aber so etwas gehört ins Antiquariat. Wissen Sie etwa nicht, dass unsere Vorfahren nicht die exakten Analysegeräte besaßen, wie wir sie heute benutzen? Wie sollen sie dann die üblicherweise nur geringfügigen Durchmesserveränderungen haben feststellen können? Also Ihre Argumentation steht für mich auf sehr wackeligen Füßen und ich fürchte, dass ich und meine Kollegen hier wirklich nur unsere Zeit verschwenden.“
Roycroft nickte und sagte: „Ich würde Ihre Zweifel an der Richtigkeit meiner Untersuchungen teilen, wenn da nicht noch eine andere Sache wäre. Abgesehen davon, dass auch einige andere Wissenschaftler meine Meinung teilen, zum Beispiel der Deutsche Morawski ...“
Weidner unterbrach ihn mit einer abwehrenden Handbewegung und meinte verächtlich: „Von wegen Wissenschaftler, der ist doch bloß Hobbyastronom“. Dabei betonte er besonders das letzte Wort und sah sich beifallsheischend unter den anderen Anwesenden um.
Doch Todd Roycroft ging nicht auf diese Bemerkung ein, sondern fuhr fort: „... wie ich eingangs schon erwähnte, begann vor etwa drei Zyklen die verstärkte Sonnenaktivität. Und genau seit der Zeit begann sich auch unsere Atmosphäre zu erwärmen! Ist das nicht ein sehr seltsamer Zufall? Und wenn Sie mir das ebenfalls nicht glauben, dann stöbern Sie doch selbst in den Klimaarchiven herum. Oder stammen die Ihrer Meinung nach etwa auch bloß von Amateuren?“
Weidner starrte ihn verblüfft an, klappte seinen Mund zu, den er schon für eine Erwiderung geöffnet hatte, und setzte sich wieder hin.
Der Präsident ließ seinen Blick über die Runde schweifen und sprach, als niemand sonst das Wort ergreifen wollte: „Genau das habe ich befürchtet. Sie können die Argumente von Mr. Roycroft nicht entkräften. Daher müssen wir uns für den Ernstfall rüsten. Ich habe das Katastrophenministerium bereits angewiesen, eine Strategie zum Überleben der Menschheit in Zusammenarbeit mit anderen Nationen zu entwickeln.
Wir werden dabei zweigleisig vorgehen. Zum einen wollen wir riesige Bunkeranlagen bauen, die ein komplettes Ökosystem darstellen und sich daher vollständig selbst versorgen können. Mit anderen Worten, da unten wollen wir eine autarke Miniwelt errichten, mit Städten, Wäldern und Feldern. Zum anderen wollen wir sämtliche uns derzeit zur Verfügung stehenden Raumfahrtkapazitäten nutzen, um einen Planeten zu finden, auf dem ein paar Astronauten längerfristig überleben und dort unter Umständen sogar eine neue Zivilisation gründen können. Schließlich weiß niemand von uns, wie lange so ein Bunker-Ökosystem funktioniert, denn es hat ja noch nie jemand ausprobiert.
Ihnen ist sicher auch klar, dass wir in der Kürze der Zeit - Mr. Roycroft rechnet mit höchstens zweiundzwanzig Jahren, bis es auf der Erdoberfläche zu heiß sein wird - nicht Bunker für alle Menschen auf der Erde werden bauen können. Deshalb bitte ich Sie, dieses Gespräch hier äußerst vertraulich zu behandeln. Eine Panik würde uns keinen Schritt weiterbringen, denn wohin sollten die Menschen überhaupt fliehen?“
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Herbst 2010
Mike Spencer streckte sich in seinem engen Raumanzug, so gut es ging. Langsam drehte er seinen Kopf nach rechts, wo Irina Subotikowa, ebenfalls in einen plumpen Skaphander gehüllt, mit ihm zusammen auf den Start wartete. Der amerikanische Astronaut und seine russische Kollegin hatten es sich in den Schalensesseln in der Kommandozentrale des Space-Shuttles „Endeavour“ so bequem wie möglich gemacht und fieberten dem Ende des Countdowns entgegen.
Für ihn und Irina Subotikowa war die bevorstehende Reise zum Mars einfach nur eine internationale Mission zur Erforschung des erdnächsten Planeten, die sie zusammen mit weiteren Astronauten durchführen sollten. Dazu würden insgesamt vier Shuttles starten; neben der „Endeavour“ noch die ebenfalls amerikanische „Explorer“, die russische „Buran“ sowie die europäische „Union“.
Auf dem Mars angekommen, sollten sie eine internationale Basis errichten, ein paar wissenschaftliche Untersuchungen durchführen und dann zur Erde zurückkehren.
Vom eigentlichen Hintergrund der Mission wussten sie – ebenso wie die breite Öffentlichkeit - nichts. Damit wollte man unter anderem verhindern, dass noch einer der Astronauten absprang, wenn bekannt wurde, dass es eine Reise ohne Wiederkehr werden würde, denn die Auswahl an Astronauten war verständlicherweise nicht besonders groß. Selbst die beteiligten Raumfahrtorganisationen erfuhren nur so viel wie nötig von den geheimen Plänen der UNO, nach denen Mike Spencer und Irina Subotikowa zusammen mit sechs anderen Astronauten auf dem Mars den Fortbestand der Menschheit sichern sollten. Wenn alles so wie geplant klappte, würden diese acht Menschen die Grundlage für eine neue Zivilisation bilden, durch die die Menschheit auch nach der Vernichtung der Erde durch die Sonne weiterleben könnte. Dafür waren die vier Raumfähren in eine Art Arche Noah verwandelt worden und enthielten nicht nur alles lebensnotwendige, sondern auch besonders erhaltenswerte Kulturgüter.
Den gleichzeitigen Start der vier Shuttles - an Bord der europäischen Raumfähre befanden sich übrigens eine Spanierin und ein Deutscher, während die Besatzungen der „Buran“ und der „Explorer“ jeweils aus Russen und Amerikanern bestand - hatte man angeordnet, um die Erfolgsaussichten dieses Planes zu verbessern. Denn je mehr Raumfähren starteten, umso größer war die Wahrscheinlichkeit, dass wenigstens eine ihr Ziel erreichte. Außerdem wurden so die Kräfte der Menschheit nicht zersplittert, als wenn man verschiedene Planeten angesteuert hätte. Erreichten nämlich alle vier Shuttles den Mars, könnten dort acht Menschen wesentlich mehr erreichen, als nur zwei, vier oder sechs. Auch wären bisher unbekannte Gefahren durch mehrere Astronauten, die sich gegenseitig unterstützten, viel besser zu bewältigen.
Trotz all dieser Maßnahmen stand der Erfolg der Mission aber im wahrsten Sinne des Wortes in den Sternen. Eine so weite und lange Reise - sie würde mindestens zweieinhalb Jahre dauern - hatte ein bemanntes Raumschiff noch nie unternommen. Und das aus einem einfachen Grund: Es gab nämlich noch keine ausreichend großen Raumschiffe, die für eine so lange Zeit genügend Wasser und Sauerstoff hätten aufnehmen können. Und die Technologien zur Rückgewinnung und Erzeugung von Wasser und Sauerstoff an Bord eines Raumgleiters standen noch am Anfang ihrer Entwicklung.
Deshalb sollten alle vier Raumfähren erst zur internationalen Raumstation ISS fliegen, wo riesige Zusatztanks mit Wasser und Sauerstoff darauf warteten, von ihnen ins Schlepptau genommen zu werden. Gleich mit diesen Tanks von der Erde aus zu starten war unmöglich, weil die Kraft der Trägerraketen für eine so große Startmasse nicht ausreichte. Deshalb musste man die Zusatztanks in einzelnen Teilen zur ISS schaffen und konnte sie erst dort zusammenbauen und befüllen.
Eine andere Lösung, nämlich die Astronauten während des Fluges in ein künstliches Koma zu versetzen, weil sie dann viel weniger Wasser und Sauerstoff verbrauchten, hatte man schnell wieder verworfen. Denn durch das lange Liegen wäre die Muskulatur so verkümmert, dass die Astronauten keine Kraft gehabt hätten, sich später auf dem Mars zu bewegen. Und außerdem befürchtete man, dass unterwegs Ereignisse eintreffen könnten, die das Eingreifen von Menschen unbedingt erforderlich machten. Müssten dann erst die Astronauten aus dem Koma aufgeweckt werden, ginge möglicherweise zuviel wertvolle Zeit verloren.
Spencer beschäftigten ganz andere Gedanken, während er in seinem Schalensessel im Cockpit der „Endeavour“ lag und darauf wartete, dass die letzten Sekunden des Countdowns verstrichen. Er dachte an seine Frau, seine Tochter, seine Freunde, und ob er sie nach der langen Reise alle wohlbehalten wieder in seine Arme schließen können würde.
Das Shuttle vibrierte wie ein Erdbeben der Stärke sieben auf der Richter-Skala, als die mächtigen Triebwerke der beiden Trägerraketen zündeten. Dann schob es sich, erst langsam, dann immer schneller werdend, in den azurblauen Himmel von Florida.
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Michail Kriwalov hasste es, wenn ihn sein Raumanzug im Schritt kniff. Und er hatte während seiner bisher zwölf Ausflüge ins All noch nie einen Skaphander gehabt, der ihn nicht gekniffen hätte. ‘Und so etwas nennt sich nun Maßarbeit’, schimpfte er in Gedanken, während er seinen Raumanzug an der erwähnten Stelle zurechtzurücken versuchte.
Er befand sich an Bord der russischen Raumfähre „Buran“ auf dem kasachischen Weltraumbahnhof Baikonur und gehörte - zusammen mit der Amerikanerin Ireen Green - zu einer der vier Shuttle-Besatzungen, die auf dem Mars das Überleben der Menschheit sichern sollten.
Dieser Planet war von der UNO als Ziel ausgewählt worden, weil er von den mit der heutigen Technik erreichbaren Planeten die besten Überlebensaussichten bot, denn erst kürzlich hatte man dort riesige Wasserreservoirs in Form von Eis entdeckt. Gelänge es, diese anzuzapfen, stünde nicht nur genügend lebensnotwendiges Nass zur Verfügung, auch Sauerstoff könnte in ausreichendem Maße daraus gewonnen werden. Wohnen sollten die acht Astronauten in einer unterirdischen Basis, weil sie dort am besten vor den unwirtlichen Umweltbedingungen geschützt waren.
Bei dem Gedanken an das, was ihn möglicherweise alles auf dem Mars erwartete - schließlich hatte noch nie ein Astronaut diesen Planeten betreten - vergaß Kriwalov sogar, dass es ihm trotz intensivster Bemühungen bisher nicht gelungen war, das Kneifen seines Skaphanders zu beseitigen. Dieses unangenehme Gefühl riss ihn aber schließlich wieder aus seinen Gedanken.
Nur noch fünf Sekunden, dann würden der Countdown ablaufen und die Triebwerke der „Buran“ zünden, und ihn zusammen mit Ireen auf eine lange, ungewisse Reise schicken. Vier - drei - zwei - eins - null.
Die Triebwerke zündeten planmäßig und gaben dabei ein so durchdringendes Fauchen von sich, dass Michail Kriwalov es sogar durch seinen dicken Helm hindurch hören konnte. Im gleichen Moment bewegten sich die Arme des Startgerüstes zur Seite und gaben die Buran frei - bis auf einen! Offenbar versagte dessen Hydraulik, denn das riesige Stahlgerüst bewegte sich keinen Zentimeter. Die Buran musste unweigerlich daran hängen bleiben! Doch nein, nur ein kurzer Ruck, ein kreischender Ton, dann war die Buran frei und schob sich immer schneller der Sonne entgegen.
Kriwalov glaubte schon, die Buran habe die brenzlige Situation unbeschadet überstanden, als ihn ein greller Alarmton zusammen mit einer roten Signalleuchte dieser Illusion beraubte.
„Starker Druckverlust im Laderaum“, meldete Ireen, deren Stimme die Aufregung trotz der schlechten Übertragungsqualität der Helmkopfhörer deutlich anzumerken war.
„Cockpit hermetisch abriegeln!“, befahl er, und wunderte sich, wie ruhig seine Anweisung klang, obwohl ihm selbst im Moment das Herz bis zum Halse schlug.
„Druck fällt weiter.“ Die Aufregung in Ireens Stimme steigerte sich langsam zur Panik. Ihr Blick blieb wie gebannt auf den Anzeigen hängen.
„Bleib ruhig, Mädchen“, versuchte Kriwalov sie zu beruhigen. „Viel kann uns nicht passieren, solange wir in unseren Raumanzügen stecken. Wir haben darin für zwei Stunden Sauerstoff. Das reicht locker, um zur Erde zurückzukehren. Und jetzt sofort Wendemanöver einleiten. Haupttriebwerk abschalten, Manövriertriebwerke einschalten und mit fünfzig Prozent Schub fahren.“
Sein Kopf arbeitete wieder wie ein Räderwerk. Er wusste genau, was jetzt zu tun war - und dass sie auch wirklich eine Chance hatten. Jedenfalls so lange, bis von Ireen die Meldung kam: „Haupttriebwerk abgeschaltet, Manövriertriebwerke reagieren nicht.“
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Im europäischen Raumfahrtzentrum in Korou herrschte hektische Betriebsamkeit. Dies war besonders dem Leiter Francois Voltaire anzumerken, denn ihm lief der Schweiß in Strömen über das Gesicht. Er schwitzte hauptsächlich vor Anspannung, würde das aber keinesfalls zugeben und schimpfte deshalb lauthals: „Diese verdammte südamerikanische Hitze. Und erst diese bestialische Luftfeuchtigkeit. Dass mich das noch nicht umgebracht hat, ist ein wahres Wunder.“
Seine Aufregung kam nicht von ungefähr. Heute gab es gleich eine doppelte Premiere auf seinem Weltraumbahnhof. Nicht genug damit, dass heute von hier die erste bemannte ESA-Mission überhaupt in den Weltraum starten würde, nein, es war gleichzeitig auch noch der Jungfernflug der neuen europäischen Raumfähre „Union“.
Entsprechend viel Betrieb herrschte in Korou. Nicht nur Wissenschaftler und Angestellte der ESA hasteten über das weitläufige Gelände, auch zahlreiche Journalisten waren anwesend und machten das Chaos perfekt. Auf Schritt und Tritt stolperte man über ein Stativ, wurde von einem Fotografen angerempelt oder durch einen Interviewwunsch aufgehalten. Voltaire schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass der Spuk so schnell wie möglich vorübergehen möge.
Aber insgeheim genoss er auch den ganzen Rummel, war er doch gewissermaßen sein Kind. Hatten doch tatsächlich erst einige Mitglieder der ESA-Chefetage damit geliebäugelt, die Mission von China aus zu starten, weil dort größere Zeitfenster für den Start der Raumfähre zur Verfügung stehen würden. Zwar stimmte das mit dem Zeitvorteil, aber welcher Chef eines Weltraumbahnhofes ließe sich denn die Gelegenheit entgehen, von sich selbst später einmal sagen zu können, dass ausgerechnet von „seinem“ Stützpunkt aus die erfolgreiche Marsmission begonnen hatte?
Voltaire machte sich keine Gedanken darüber, warum in so kurzer Zeit vier Raumfähren zum gleichen Ziel aufbrachen. Man hatte auch ihn nicht in die eigentlichen Hintergründe der Mission eingeweiht. Er kannte nur die offizielle Version, die da lautete, man wolle durch die internationale Beteiligung die Kosten auf viele Schultern verteilen. Und um die Risiken für eine so weite Reise zu minimieren, schickte man gleich mehrere Shuttles. Außerdem könnte eine so große Gruppe von Astronauten besser mit unvorhersehbaren Ereignissen fertig werden als ein kleineres Team.
Voltaire zweifelte diese Aussagen nicht an. Sie klangen logisch und die verrückten Artikel über eine mögliche Sonnenexplosion, die vor mehreren Jahren durch verschiedene Fachzeitschriften geisterten, hatte er längst vergessen. Das Thema war dann aber bald wieder in den unergründlichen Tiefen der Wissenschaft verschwunden, so dass es ihm nicht in den Sinn kam, einen Zusammenhang zwischen dem Start der „Union“ auf seiner Basis und den damaligen Aufsehen erregenden Theorien herzustellen. Und für die zahlreichen anwesenden Journalisten handelte es sich einfach nur um eine „Riesen-Story“.
An Bord der „Union“ befanden sich der deutsche Astronaut Bertram Zierkendorf und seine spanische Kollegin Estella Grucca. Für Zierkendorf war es der erste Einsatz. Grucca hingegen hatte schon zwei erfolgreiche Ausflüge ins All hinter sich gebracht und wegen ihrer größeren Erfahrung das Kommando für diese Mission übertragen bekommen.
Da sie wusste, was auf sie zukam, hielt sich ihre Aufregung vor dem Start in Grenzen, während es Zierkendorf schon ein wenig mulmig zumute war. Schließlich hatte man ihm immer wieder ganz genau erklärt, welche Qualen ein Start für den menschlichen Körper durch die dabei auftretenden Beschleunigungskräfte mit sich brachte, wohl auch, damit er nicht leichtsinnig würde.
Der Countdown für die Raumfähre war fast beendet. „Elf ... zehn ... neun ... acht ... sieben“, zählte eine synthetische Stimme aus den Lautsprechern, die man überall auf dem Gelände von Korou aufgestellt hatte. Als der Countdown bei Null anlangte, zündeten planmäßig die Haupttriebwerke der „Union“ und die Raumfähre legte einen Bilderbuch-Start hin.
Zierkendorf schloss ergeben die Augen und wünschte sich, dass alles schnell vorübergehen möge, während Grucca ihre Aufmerksamkeit auf die verschiedenen Displays im Cockpit richtete. Alle Werte normal! So würde es hoffentlich auch während der ganzen Mission bleiben.
Voltaire schaute zusammen mit seinen Mitarbeitern und den vielen Journalisten der „Union“ nach, bis sie nicht mehr zu sehen war. Dann seufzte er zufrieden, wischte sich wieder einmal den Schweiß von der Stirn, zündete sich eine Zigarette an und murmelte: „Der Rest ist eure Angelegenheit“, womit er die beiden Astronauten meinte.
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Kriwalovs Gehirn arbeitete fieberhaft und suchte nach einer Lösung. Mit dem Haupttriebwerk - wenn es denn überhaupt wieder startete - ließen sich keine Wendemanöver durchführen. Aber die Manövriertriebwerke - ohne die es für sie keine Möglichkeit gab, mit der „Buran“ zur Erde zurückzukehren oder die ISS zu erreichen - waren auch bei weiteren Startversuchen nicht angelaufen. Wahrscheinlich hatte die Startrampe deren Treibstoffzuleitungen beschädigt, was sich aber nicht auf die Schnelle reparieren ließ.
Sein Entschluss stand fest: „Rettungskapsel startklar machen. Mit dem Ding können wir zwar nicht auf der Erde landen, dazu sind wir schon zu hoch, aber wenigstens zur internationalen Raumstation ISS fliegen.“
Diese Worte weckten in Ireen Green neue Hoffnung. Natürlich, die Rettungskapsel! Da hätte sie auch wirklich selber darauf kommen können. Ein bisschen wütend über sich selbst machte sie sich an die Arbeit: „Countdown zum Abdocken der Rettungskapsel eingeleitet. Abdockvorgang beginnt in zehn Minuten.“
Nun hatten sie zehn Minuten Zeit, sich zur Rettungskapsel zu begeben. Das reichte mit Sicherheit, denn die Kapsel befand sich nur gute fünfundzwanzig Meter hinter dem Cockpit, also etwa in der Mitte der Raumfähre. Auf dem Weg dorthin kamen sie durch den Laderaum und sahen das große Loch, das die Startrampe in die Außenhaut der Buran gerissen hatte und durch das nun die Sterne funkelten.
Das Shuttle war fast der ganzen Länge nach aufgeschlitzt. Der Riss begann unmittelbar hinter dem Cockpit und schien bis zum Ende des Rumpfes zu gehen. Jedenfalls konnte man kein Ende sehen.
„Kein Wunder, dass der Innendruck so rasch fiel“, meinte Kriwalov. Ireen nickte nur zu seinen Worten, ohne zu bedenken, dass er das ja gar nicht sehen konnte, weil sie hinter ihm lief.
Der Lagerraum war inzwischen fast ganz leer. Die meisten Gegenstände hatten sich wohl bei der Kollision mit der Startrampe von ihren Regalen losgerissen und waren dann von der entweichenden Luft mit ins All gerissen worden. Dennoch mussten die Astronauten immer mal wieder einer Kiste oder einem Karton ausweichen, von denen einige in der Schwerelosigkeit ziellos durch den Raum schwebten.
Kurz darauf kletterten sie in die Rettungskapsel. „Endlich funktioniert mal wieder etwas“, meinte Ireen erleichtert, als sie auf den Türöffner der Kapsel drückte und danach die Einstiegsluke auch wirklich nach oben klappte. Auch der Schließmechanismus funktionierte noch und so schnallten sich die beiden Astronauten beruhigt in ihren Sitzschalen an.
Die Rettungskapsel war nicht groß, sie bot gerade zwei Personen Platz und bestand aus einer metallischen Unterkonstruktion, die oben von einer Kuppel aus Spezialglas abgeschlossen wurde. Dieses Spezialglas hielt zwar den Druckunterschied zwischen dem Innenraum und dem Vakuum des Weltraums aus, war aber nicht hitzebeständig. Deshalb konnte man mit so einer Kapsel auf Planeten mit einer Atmosphäre nicht landen, weil die beim Eintritt in dessen Gashülle entstehende Reibungswärme das Glas zum Schmelzen gebracht hätte.
Eine grüne Lampe zeigte an, dass der Druckausgleich im Inneren der Kapsel jetzt abgeschlossen war. Während Kriwalov nun die Startsequenz in die Steuerung neben ihm eintippte, nahm Ireen Green ihren Helm ab und holte tief Luft. „So, das wäre geschafft. Jetzt musst du uns bloß noch wohlbehalten zur ISS bringen.“
„Kein Problem“, erwiderte Kriwalov, der sich inzwischen ebenfalls von seinem Helm befreit hatte, „die Kapsel besitzt ein spezielles Ortungsmodul für die ISS, bewegt sich automatisch darauf zu und dockt auch automatisch an, sobald der Notfallmodus aktiviert wird, was ich eben getan habe. Jetzt brauchen wir uns nur noch zurückzulehnen, denn den Rest macht die Technik allein und in ungefähr zwei Stunden plaudern wir mit den Astronauten auf der ISS und erzählen ihnen von unserem kleinen Abenteuer.“
Jetzt begannen allerlei Anzeigen aufzuleuchten und die Kapsel setzte sich in Bewegung. Sie wurde von einer großen Metallplatte in einen Tunnel geschoben, der als Schleuse fungierte.
Am anderen Ende des Tunnels befand sich die Außenluke. Sie begann sich dann zu öffnen, wenn die Metallplatte in das gegenüberliegende Tunnelende eingefahren war und so die Schleuse hermetisch abriegelte.
„Na bitte, auch das funktioniert. ISS, wir kommen“, frohlockte Kriwalov, während sich die Kapsel weiter durch den Schacht bewegte.
Doch langsam verschwand das Lächeln aus seinem Gesicht. Warum war am Ende der Schleuse noch kein Licht auszumachen? Wenigstens die Sterne müsste man doch dort funkeln sehen.
Er hatte sich schon entspannt in seine Sitzschale gelegt, richtete sich jetzt aber unruhig wieder auf und sagte: „Die Außentür der Schleuse hätte sich längst öffnen müssen. Verdammt, was ist da los?“
Er hämmerte wie wild auf die Tasten der Steuerung ein, um die Startsequenz abzubrechen, doch die Kapsel bewegte sich stetig weiter in Richtung Schleusentür.
„Wenn wir das Ding nicht zum Stehen bekommen, werden wir hier drin zerquetscht“, schrie Kriwalov.
Irina sah ihn mit vor Entsetzen weit geöffneten Augen an, brachte aber kein Wort heraus.
Ein dumpfer Schlag machte den beiden Astronauten klar, dass die Kapsel nun an der äußeren Tür der Schleuse angeschlagen war. Dann ein Knirschen und Rumoren, das sich zu einem Dröhnen steigerte. Der Metallrahmen der Kapsel hielt aber noch stand, während Kriwalov wie besessen die Steuerung bearbeitete und Ireen Green vor Angst gelähmt in ihrer Sitzschale hing.
Zuerst gab die Glaskuppel nach, zersplitterte und übergoss sie mit einem Regen aus feinsten Scherben. Dann barst mit einem lauten Knall auch die Metallkonstruktion der Rettungskapsel. Sie hatte dem immer stärker werdenden Druck nicht mehr standhalten können.
Michail Kriwalov spürte, wie sein Körper zwischen den Trümmern der Rettungskapsel und der Außenluke eingeklemmt wurde und sich der Druck immer mehr verstärkte. Ihm war nun endgültig klar, dass er und Ireen nur noch wenige Sekunden zu leben hatten ...
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Ein sanfter Gong kündete im Cockpit der „Union“ an, dass die unmittelbare Aufstiegsphase nun beendet war und sich die Astronauten jetzt aus ihren Sitzschalen erheben könnten. Grucca seufzte, als sie sich erhob und meinte dann: „Das wäre erst mal geschafft.“
„Geschafft ist der richtige Ausdruck, ich bin so was von am Ende. Ich dachte: ‘Hört denn der Steigflug nie auf, sind wir denn nicht endlich oben.’ Aber jetzt haben wir es ja tatsächlich geschafft und ich habe somit meine Feuertaufe bestanden“, erwiderte Zierkendorf und wischte sich erleichtert den Schweiß von der Stirn.
„Also Feuertaufe würde ich das nicht nennen. Das Härteste an so einem Ausflug ist immer die Landung und die steht uns ja noch bevor“, meinte Grucca, ohne Rücksicht auf das offensichtlich arg in Mitleidenschaft geratene Nervenkostüm Zierkendorfs zu nehmen.
„Und ich dachte immer, der Start wäre das Schwierigste, weil man ja eh von allein herunterkommt“, versuchte Zierkendorf zu scherzen, doch Grucca ging nicht darauf ein: „Man kann nur dann wieder herunterkommen, wenn man den richtigen Eintrittswinkel in die Atmosphäre erwischt, sonst verbrennt man vorher.“
Dann wandte sie sich von ihm ab und ging zur Cockpittür, hinter der ein Gang zu den Frachträumen der „Union“ führte.
„Ich schau mich mal ein wenig um“, sagte sie im Hinausgehen. „Sie haben doch sicher alles im Griff hier, oder?“
Sie wartete die Antwort Zierkendorfs aber gar nicht erst ab, sondern verschwand, bevor er etwas erwidern konnte.
Zierkendorf schüttelte seinen Kopf und brummte missmutig vor sich hin: „So eine eingebildete Kuh. Das kann ja heiter werden.“
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Die Nachricht von der Katastrophe der „Buran“ war noch nicht bis nach Texas vorgedrungen. Wahrscheinlich hätte sie auch nichts geändert, denn in Houston waren die Vorbereitungen zum Start des vierten und letzten Shuttles, der „Explorer“, so gut wie abgeschlossen.
Jetzt gab es kein Zurück mehr. In weniger als drei Stunden würden die beiden Astronauten, die Russin Olga Gregowna sowie der Texaner Richard Snow, die Startrampe betreten, mit dem Aufzug zum Cockpit der „Explorer“ fahren und dann von dort aus die letzte Phase des Countdowns einleiten.
Fünf Stunden später hob auch das Letzte der vier Shuttles ab, das zur internationalen Mars-Mission gehörte, und nahm zunächst Kurs auf die internationale Raumstation ISS. Der Start und der Flug dorthin verliefen absolut reibungslos.
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Zierkendorf erschrak, als Estella Grucca wie von Geistern gehetzt in das Cockpit stürmte. „Was ist denn los?“ fragte er verstört.
Doch die Kommandantin der „Union“ achtete nicht auf ihn, rannte zum Steuerpult, griff sich das Mikrofon und schrie hinein: „‘Union’ für Korou, ‘Union’ für Korou, ich will Voltaire sprechen, sofort!“
Es dauerte nur wenige Sekunden, bis eine leicht verrauschte Stimme aus den Lautsprechern kam: „Hier Korou, ‘Union’, wir hören. Was ist denn bei euch los?“
Grucca wiederholte schroff: „Ich sagte, Sie sollen mir Voltaire geben und zwar ein bisschen plötzlich.“
„Da muss ich ihn erst mal suchen“, lautete die Antwort von der Erde, wobei der abweisende Ton der Stimme trotz des Rauschens deutlich zu vernehmen war.
Auch in Zierkendorf stieg Ärger auf, weil sie seine Frage vorhin einfach ignoriert hatte und er fuhr sie an: „Jetzt sagen Sie mir endlich, was dieses Theater soll!“
Doch seine Kollegin schaute ihn gar nicht an und murmelte nur: „Die wollen uns verheizen.“
„Verheizen?“, echote Zierkendorf und wollte gerade weiterfragen, als Voltaires Stimme aus den Lautsprechern klang: „Hier Korou, hier Korou, ‘Union’, was gibt es denn so dringendes?“
„Das will ich Ihnen gerne sagen“, explodierte Estella Grucca, „haben Sie sich schon einmal Gedanken darüber gemacht, wie wir eigentlich zur Erde zurückkehren sollen?“
„Ich verstehe Ihre Frage nicht ganz“, antwortete Voltaire, hörbar verwirrt.
„Nun ganz einfach, ohne Zusatztriebwerke kommen wir vom Mars nicht wieder hoch.“
„Sind Sie sicher, dass die Triebwerke der ‘Union’ zu schwach sind? Wir haben die Mission zusammen mit den Experten der NASA geplant und ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass uns dabei ein so simpler Fehler unterlaufen sein sollte“, kam es in beleidigt klingendem Ton aus den Lautsprechern.
„Ob Sie es sich vorstellen können oder nicht, interessiert mich nicht im geringsten, für mich zählt nur, was ich weiß. Und ich weiß, dass die Gravitation des Marses annähernd der der Erde entspricht und das heißt, dass wir auf dem Mars ohne Zusatztriebwerke mit der ‘Union’ nicht viel höher als wie ein Frosch springen werden können!“
„Jetzt beruhigen Sie sich doch. Wahrscheinlich sind die Triebwerke auf der ISS und werden Ihnen dort zusammen mit den Zusatztanks für Wasser und Sauerstoff übergeben.“
Das leuchtete Estella offenbar ein, denn sie klang deutlich verlegen, als sie antwortete: „Ja ... wahrscheinlich ... so wird es wohl sein. Tut ... tut mir Leid, wenn ich ein bisschen überreagiert habe.“
„Schon gut“, versetzte Voltaire und fügte mit boshaftem Unterton hinzu, „ich habe schon oft gehört, dass Astronauten einen Raumkoller bekommen haben, aber noch nie so kurz nach dem Start.“
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Langsam, sehr langsam, trieb die „Explorer“ auf die ISS zu. Ganz sanft dockte die Raumfähre an, so sacht, dass nicht einmal ein kleiner Ruck den Crews der anderen beiden Raumfähren, die schon vor einiger Zeit auf der ISS eingetroffen waren und sich in ihren Quartieren aufhielten, verriet, dass die „Explorer“ angekommen war. Und noch während die Besatzung des Shuttles mit dem Druckausgleich der Verbindungsschleuse zur ISS zu tun hatte, näherten sich der Raumfähre von außen mehrere Astronauten in Skaphandern und begannen mit der Montage der zusätzlichen Wasser- und Sauerstofftanks.
In der Kommandozentrale der ISS herrschte rege Betriebsamkeit. So bemerkte Jewgeni Sakralow, seines Zeichens Kommandant der Raumstation, auch nicht, als Olga Gregowna und Richard Snow eintraten. Er war in Gedanken versunken und fuhr erschrocken zusammen, als ihn Olga von hinten am Arm berührte und mit „Hallo Jewgeni“ begrüßte.
In Sakralows Gesicht zeigte sich ein Lächeln, als er Olga erkannte, ihr die Hand gab und erwiderte: „Hallo Olga, willkommen in meinem kleinen Reich.“ Dann reichte er auch Snow die Hand: „Fühlen Sie sich hier wie zu Hause.“ Und er fügte in Anspielung auf Snows texanische Herkunft hinzu: „Ist hier zwar nicht so geräumig wie auf einer texanischen Ranch, aber dafür haben wir wenigstens amerikanischen Whiskey an Bord.“
Richard Snow lachte kurz auf und meinte: „Und ich dachte immer, solche Klischees wären nur auf der Erde zu Hause. Schließlich wohnt nicht jeder Texaner auf einer Ranch, genauso wenig, wie jeder Russe ein Wodkaliebhaber ist.“
Diese Erwiderung entlockte Sakralow ein Schmunzeln, das aber sofort wieder verschwand, als Olga ihn fragte: „Die Buran hat es wohl sehr eilig gehabt, weil sie nicht mehr hier ist. Jedenfalls habe ich sie beim Andocken nicht sehen können.“
In Sakralows Gesicht arbeitete es sichtlich, als er mit leiser Stimme antwortete: „Sie ist nicht weg. Sie war noch gar nicht hier. Wir haben seit zwei Stunden keinen Kontakt mehr mit der Buran gehabt. Und der Suchtrupp ist schon eine Stunde unterwegs, hat sich aber noch nicht wieder gemeldet.“
„Ihr müsst sie doch auf dem Radar haben.“
„Das schon, aber daraus werden wir überhaupt nicht schlau. Denn die „Buran“ hat einen völlig anderen Kurs eingeschlagen und fliegt immer geradeaus, gerade so, als ob sie manövrierunfähig wäre.“
„Macht euch mal keine Sorgen“, schaltete sich Snow ein, „Ireen und Michail sind doch keine Anfänger. Mit einem Steuerungsproblem werden die garantiert fertig. Sicher ist bei denen bloß der Strom ausgefallen. Das erklärt auch, warum sie sich noch nicht melden konnten.“
„Wahrscheinlich hast du Recht“, meinte Olga, doch ganz waren die Zweifel in ihr nicht beseitigt. Aber solange nichts genaues bekannt war, konnte man sich ja noch mit Fug und Recht an das Fünkchen Hoffnung klammern, dass nur ein einfacher Defekt die Crew von der „Buran“ aufhielt. Später, wenn sie dann doch wohlbehalten angekommen wären, würde man sicher gemeinsam über die ganze Angelegenheit lachen, weil ein so kleiner Fehler für eine solch große Aufregung gesorgt hatte.
Doch eine etwas verzerrt klingende Stimme aus den Deckenlautsprechern der Kommandozentrale der ISS machte Olgas Hoffnung schlagartig zunichte. „ISS bitte kommen, hier Rettungsteam, nähern uns jetzt der ‘Buran’.“
Sakralow ergriff hastig das Mikrofon: „Ist von außen irgendetwas zu sehen?“
„Scheint ganz schön was abbekommen zu haben“, kam nach einigen Sekunden die Antwort, „der Rumpf ist auf einer Seite fast der gesamten Länge nach aufgeschlitzt.“
„Können Sie auf Video-Modus gehen, Rettungsteam?“
„Roger, ISS“. Gleichzeitig erschien auf verschiedenen Monitoren ein schwankendes Bild, auf dem der aufgerissene Rumpf der „Buran“ langsam näher kam.
„Was könnte das gewesen sein?“, fragte Sakralow.
„Vermutlich ein Asteroid oder Weltraummüll.“
„Können die da drinnen das überlebt haben?“
„Kommt drauf an, ob sie schnell genug in ihre Schutzanzüge gekommen sind. Bei dem Riss hat es sicher nicht lange gedauert, bis die gesamte Luft raus und der Druck runter auf Null war. Wie auch immer, wir gehen jetzt rein und finden sie.“
„Viel Glück“, beendete Sakralow die Verbindung und warf einen ernsten Blick in die Runde der versammelten Astronauten.
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Klaus Martens streckte sich behaglich in seinem Pilotensessel. Erst in einer halben Stunde würde er den Autopiloten ausschalten, um dann die vierstrahlige Chartermaschine mit der Flug-Nummer 321, unterwegs von Frankfurt nach Puerto Plata, auf dominikanischem Boden zu landen. An Bord befanden sich über 300 Urlauber, die sich an den Stränden der Dominikanischen Republik erholen wollten und für die er als Kapitän die Verantwortung trug.
Es waren noch mehr als zweihundert Meilen bis zum Ziel. Alle Instrumente und Aggregate arbeiteten normal.
Martens hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, niemals auch nur einen Gedanken an die Möglichkeit eines Unglücks zu verschwenden. Denn er flog diese Route nun schon mehrere Jahre und hatte zuvor auch schon lange Zeit andere Strecken weltweit bedient, so dass er sich mit Fug und Recht als Profi bezeichnen konnte. Und als solcher würde er auch mit einem unvorhergesehenen Zwischenfall zurecht kommen und sie alle sicher ans Ziel bringen. Falls er aber aus irgendwelchen Gründen dazu nicht mehr in der Lage sein sollte, dann würde es eben Peter Eichwald, sein Co-Pilot, tun, der ebenfalls ein erfahrener Mann war.
„Na, Peter“, begann Martens nun eine kleine Unterhaltung, „schon was vor in Puerto Plata heute Abend?“
„Nur endlich mal wieder ausschlafen, Klaus. War ja echt anstrengend, diese Woche, weil ich ja noch die Vertretung für Jochen übernehmen musste.“
„Ausschlafen schon, aber in wessen Bett?“, ließ Martens nicht locker und zwinkerte vielsagend mit dem rechten Auge. „Glaubst du, es hat sich in der Flotte noch nicht herumgesprochen, dass du dich immer wegen so einer kakaobraunen Schönheit für die Route nach Puerto Plata einteilen lässt?“
„Wer hat dir denn das nun schon wieder geflüstert?“, brummte Eichwald missmutig.
„Der Tower von Puerto Plata. Kam vorhin als Eilmeldung.“
„Haha, sehr witzig. Ich habe noch keine andere Berufsgruppe erlebt, in der soviel über Kollegen getratscht wird, wie unter Piloten.“
„Es war aber kein Pilot, der mir das erzählt hat, sondern eine Stewardess!“
„..außer den Flugbegleiterinnen, wollte ich sagen“, konterte Eichwald und geriet dann ins Schwärmen: „Vielleicht stelle ich sie dir mal vor. Sie heißt Marguerita - und das passt haargenau, denn sie ist wie eine wunderschöne Blume.“
„Na hoffentlich pflückst du sie nicht bloß ab und lässt sie dann verwelken“, meinte Martens trocken.
„Nein, bestimmt nicht. Sie ist wirklich was ganz besonderes für mich.“
„Der Spruch kommt mir irgendwie bekannt vor. Habe ich den nicht erst vor einem halben Jahr gehört, als du die kleine Thailänderin kennengelernt hast und mit der anscheinend auch schon wieder Schluss ist? Wolltet ihr nicht sogar heiraten?“
„Ach, du spielt auf Minh an? Was würdest denn du tun, wenn du viel eher als geplant nach Hause kommst, weil dein Flug wegen schlechten Wetters gestrichen wurde, aber kein Platz mehr in deinem Bett ist, weil da schon ein anderer Mann drin liegt? Sie trotzdem heiraten?“, fuhr Eichwald erregt auf.
„Tut mir Leid, das wusste ich nicht“, lenkte Martens ein und zeigte ein entschuldigendes Lächeln: „Da hast du den Beweis, dass unser Buschfunk doch nicht so perfekt ist, wie du meinst.“
Eichwald wollte gerade etwas erwidern, als die Cockpittür aufflog und eine Stewardess hereinstürmte. Martens drehte sich um und wollte die Frau grob anfahren, unterließ es aber, als er ihren entsetzten Gesichtsausdruck bemerkte.
„Einer der Passagiere ist wahrscheinlich gerade erschossen worden“, brachte sie mühsam hervor. Vermutlich stand sie unter Schock.
Doch darauf konnte Martens jetzt keine Rücksicht nehmen. „Was heißt wahrscheinlich? Ist er tot oder nicht?“, fragte er scheinbar ungerührt.
„Ja, der Passagier ist tot, aber ich habe niemanden mit einer Waffe in der Hand sehen können.“ Das Entsetzen war der Stewardess immer noch deutlich anzuhören.
Martens erhob sich und sagte: „Peter, du informierst den Tower in Puerto Plata über den Zwischenfall. Ich gehe inzwischen nach hinten und schaue mir die Sache mal etwas näher an.“
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Olga lag wie benommen in ihrer Koje und starrte mit leerem Blick zur Decke. Dann und wann zeigte sich in ihren Augen auch mal eine Träne, die dann aber hastig weggewischt wurde. Ansonsten lag sie bewegungslos - schon seit einer halben Stunde.
Genauso lange war es auch her, seit das Rettungsteam Ireen und Michail zerquetscht in der Schleuse der „Buran“ gefunden und die traurige Nachricht zur ISS übermittelt hatte. Olga stand damals gerade - zusammen mit ihren fünf Kollegen - in der Kommandozentrale und sah die schrecklichen Bilder live über die Monitore flimmern. Allen Anwesenden stand danach die Bestürzung deutlich ins Gesicht geschrieben, schließlich hätte ja auch sie das gleiche Schicksal treffen können.
Die meisten Astronauten hatten daraufhin ihre Köpfe gesenkt und stumm vor sich hin geschaut, während ihr Teamkollege Richard Snow als Einziger die Hände faltete und vor sich hin betete. Olga tat das ebenfalls nicht, zu tief steckte die kommunistische Erziehung noch in ihr. Statt dessen war sie in ihre Kabine gerannt, damit niemand die in ihr aufsteigenden Tränen sehen konnte.
Aber getrauert hatte sie mindestens genauso sehr wie Richard Snow. Und sie beneidete ihn immer noch ein wenig, weil er seinen Schmerz teilen konnte; teilen mit einem Wesen, das sie nicht kannte.
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Als Martens die Sitzreihe 51 erreichte, bot sich ihm ein schreckliches Bild. Der Tote, ein Mann um die fünfzig, lag mit zerfetzter Schläfe auf dem Boden. Um seinen Kopf herum hatte sich eine Blutlache gebildet, die sich immer mehr ausbreitete.
Die Passagiere auf den vorderen Sitzreihen hatten von dem Vorfall noch nichts mitbekommen und unterhielten sich unbekümmert, lasen im Bordmagazin oder sahen sich das laufende Videoprogramm an. Die Fluggäste auf den hinteren Reihen dagegen schauten mit sichtbarem Entsetzen auf die Leiche.
Martens war froh, dass es bis jetzt keine Panik unter den Fluggästen gegeben hatte. Er hockte sich neben den Toten und begann, die Leiche zu untersuchen. Kein Zweifel, dem Mann war ein Geschoss in die rechte Schläfe eingedrungen und dann offenbar im Kopf stecken geblieben. Denn die linke Schläfe, wo das Projektil ja wieder hätte austreten müssen, war unversehrt.
„Wie ist das passiert?“, fragte Martens nun die Passagiere auf den Nachbarsitzen des Toten. Alle berichteten übereinstimmend, dass sie nur ein leises „Plopp“ gehört hätten, dass sie an einen Schuss aus einer Pistole mit Schalldämpfer aus einem Gangsterfilm erinnerte. Dann sei der Mann umgekippt.
Martens überlegte. Es lag auf der Hand, dass nur der direkt danebensitzende Fluggast der Mörder sein konnte. Denn wäre der Schuss von weiter weg abgegeben worden, hätte er aller Wahrscheinlichkeit nach zuerst einen der Nachbarn des Toten treffen müssen. Deshalb sagte Martens zu dem Passagier, der gleich neben dem Opfer saß: „Sie sind vorläufig festgenommen - wegen Mordverdacht. Sobald wir gelandet sind, werden Sie den dominikanischen Behörden übergeben. Und wenn Sie meine Meinung hören wollen: Da haben Sie sich wirklich keinen schönen Ort ausgesucht, um ins Kittchen zu wandern, denn die dortigen Gefängnisse sind alles andere als Luxusherbergen und die Wärter nicht gerade zimperlich.“
„Aber ich war es doch gar nicht“, stammelte der Beschuldigte - ein Mann um die dreißig - fassungslos. „Wie soll ich den Mann denn erschossen haben?“
„Natürlich mit einer Pistole. Und die werden wir schon noch finden.“
Der junge Mann gewann langsam seine Fassung wieder: „Nein, ich meinte ‘wie’, nicht ‘womit’. Ist Ihnen schon aufgefallen, dass der Mann den Einschuss in der rechten Schläfe hat? Mit jener Seite, die von mir abgewandt ist? Und da er einen Fensterplatz hat - pardon, hatte - kann von dort aus niemand geschossen haben. Glauben Sie, er würde nicht bemerken, wenn ich meinen Arm um ihn lege, um ihn dann von der anderen Seite zu erschießen? Und mich dabei noch in Gefahr begebe, dass die Kugel seinen Kopf durchschlägt und danach mich trifft?“
„Hm“, brummte Martens, und kratzte sich nachdenklich am Kinn. Er betrachtete den Toten noch einmal genau und erst jetzt fiel ihm auf, dass die Leiche tatsächlich das Einschussloch auf der im Sitzen zum Fenster gewandten Seite hatte.
Dann schob sich Martens in den schmalen Gang von Sitzreihe 51 und betrachtete die Bordwand. Etwa in der Höhe, wo sich der Kopf des toten Passagiers befunden haben musste, fand er ein Loch in der Innenverkleidung. Anschließend holte Martens sein Taschenmesser aus der Hose, klappte es auf, zerschnitt die Innenverkleidung und riss sie dann stückchenweise von der Wand.
Darunter befand sich das Metallskelett des Flugzeuges; verschiedene Träger, die an ihren Verbindungsstellen miteinander vernietet waren. Und an einer solchen Verbindungsstelle fehlte ein Nietkopf. Martens fasste einen Träger an, um zu prüfen, ob die Verbindung trotzdem noch hielt, musste aber gleich wieder loslassen, weil er sich die Finger verbrannt hatte. Jetzt kam ihm die Erleuchtung: Die Außenhaut des Flugzeuges hatte sich wahrscheinlich durch die starke Sonneneinstrahlung so sehr aufgeheizt, dass die Nieten, die das Flugzeug zusammenhielten, weich wurden und unter der Belastung zerrissen.
Dann kroch er zurück zum Hauptgang und betrachtete die Wunde des Toten noch einmal. Als er feststellte, dass die Größe des Einschusses in etwa mit dem Durchmesser eines Nietkopfes übereinstimmte, war für ihn die Sache klar: „Okay, Sie haben mit seinem Tod nichts zu tun, dafür gibt es jetzt ein anderes Problem. Übrigens: Können Sie beten?“
„Nein“, antwortete der junge Mann verwirrt.
„Dann sollten Sie es jetzt lernen.“
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Wieder standen sie alle vor den Monitoren der Kommandozentrale der ISS: Zierkendorf und Grucca, Snow und Gregowna, Spencer und Subotikowa sowie die kleine Besatzung der Raumstation. Die Bildschirme zeigten einen schier nicht enden wollenden Trauerzug, der zwei Särgen folgte und sich auf die Kirche im Moskauer Kreml zubewegte. Es lief das Programm eines russischen Fernsehsenders, der live die Trauerfeier für die beiden verunglückten Astronauten Michail Kriwalov und Ireen Green übertrug.
Dass die Feier in Moskau stattfand, verstand sich von selbst, schließlich war die „Buran“ eine russische Raumfähre gewesen. Immer wieder zeigten die Kameras den Trauerzug aus verschiedenen Einstellungen, so lange, bis dessen Spitze die Kirche erreicht hatte. Dann war zu sehen, wie die beiden Särge vor dem Altar aufgebahrt wurden und sich die Kirche immer mehr mit Trauernden füllte. Als schließlich alle Plätze besetzt waren und so viele Menschen in den Gängen standen, dass es fast kein Durchkommen mehr gab, begannen die Glocken zu läuten.
Obwohl es sich bei diesem Gotteshaus um eines der Größten in Russland handelte, hatten längst nicht alle aus dem Trauerzug einen Platz darin gefunden - so groß war die Anteilnahme. Und nicht nur in Russland, auch die restliche Welt nahm regen Anteil an dem tragischen Unglück.
Als die Orgel erklang, verstummte das Gemurmel in der Kirche wie auf einen Schlag und die Menschen begannen zu singen. Olga gefiel der Gesang. Er hatte etwas melancholisches und passte zu dem Anlass. Irgendwie fühlte sie sich davon etwas getröstet, nicht zuletzt auch, weil sie sah, wie viele Menschen zusammen mit ihr trauerten, obwohl diese die Toten nicht so gut gekannt haben konnten, wie sie.
Schließlich begann der Pfarrer mit einer Predigt. Sie verstand ihn gut, denn er sprach russisch und das war ja auch ihre Muttersprache. Der Geistliche redete vom Paradies, wo die Seelen der beiden toten Astronauten jetzt sein würden. Olga hatte zwar auch schon ihre Großmutter davon sprechen hören, doch sich selbst nie damit befasst, so dass sie sich keine rechte Vorstellung davon machen konnte. Dennoch hörte sie der Predigt aufmerksam zu.
„Der Schock in uns allen sitzt tief, weil diese beiden Menschen auf so schreckliche Weise von uns gegangen sind. Wir fühlen mit den Hinterbliebenen, weil in ihre Familien Lücken gerissen wurden, die sich durch nichts auf der Welt wieder füllen lassen. Und das ist besonders schlimm für die Kinder, denn ihre Mama wird sie niemals mehr ins Bett bringen oder ihr Papa wird mit ihnen niemals mehr in den Tierpark gehen können.
Mit anderen Worten, wir alle trauern. Doch was ist eigentlich Trauer? Trauer ist der Schmerz über den Verlust eines oder mehrerer nahestehender Menschen. Und da haben wir es: Verlust. Uns ist etwas, was wir lieb gewonnen hatten, weggenommen worden, und deshalb sind wir traurig. Wir sehen den Tod der beiden Astronauten also nur aus unserer Sicht. Sehen wir es doch aber mal aus ihrer Sicht!
Denn der Tod ist ja nicht das Ende, kein abrupter Schlussstrich, sondern eine Tür zu einem anderen, besseren Leben! So weilen die Verstorbenen nun zwar nicht mehr unter uns, leben dafür aber im Paradies weiter. Gönnen wir ihnen doch einfach dieses bessere Leben dort, zu dem auch wir eines Tages aufbrechen! Gönnen wir ihnen doch einfach, dass sie nun aller irdischer Mühsal für immer entronnen sind! Sehen wir es doch einfach aus ihrer Sicht und nicht aus unserer. Amen.“
Olga bewegten diese Worte mehr, als sie sich zunächst eingestehen wollte. Aber der Pfarrer hatte wirklich ihr Innerstes angerührt. Nachdenklich verließ sie die Kommandozentrale und ging zu ihrer Kabine. Und ihr Schritt wurde dabei immer fester, denn die Trauer in ihrem Inneren wich zunehmend einer neuen, noch nie gekannten Tatkraft.
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„Ich habe leider keine guten Nachrichten, Peter“, begann Martens, als er das Cockpit betrat. „Das Flugzeug bricht auseinander. Die Sonne hat die Außenhaut so aufgeheizt, dass die Nieten der Tragkonstruktion weich werden und bei der geringsten Belastung zerreißen. Wir müssen sofort landen.“
„Das geht nicht“, widersprach Eichwald. „In den unteren Luftschichten ist der Luftdruck stärker als hier oben und demzufolge auch die Belastung für die Konstruktion. Außerdem sind wir immer noch über dem Ozean, mehr als hundert Meilen von der Küste entfernt.“
„Dann werden wir eben notwassern. Ich kann nicht riskieren, dass uns schon hier oben noch mehr Niete wegknacken, denn wir brauchen garantiert jeden einzelnen davon bei der Landung. Und denk mal an all unsere Kabel! Die sind doch zumeist direkt unter der Außenhaut verlegt und halten die Hitze bestimmt nicht mehr lange aus. Mich wundert es überhaupt, dass es unter diesen Umständen bis jetzt noch keine Ausfälle bei der Bordelektronik gab. Außerdem haben wir nicht genügend Sprit, um ewig hier oben bleiben zu können.“
Martens setzte sich in seinen Pilotensessel und fuhr fort: „Informiere du den Tower von Puerto Plata, wo wir in etwa runtergehen werden, ich bereite inzwischen die Passagiere auf eine möglicherweise unsanfte Landung vor.“
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Zierkendorf langweilte sich. Und immer, wenn er sich langweilte, schaltete er seinen Fernseher ein.
In seinem Quartier auf der ISS hatte er zwar kein so großes Gerät wie zu Hause auf der Erde, aber ihm war der kleine batteriebetriebene Taschenfernseher hier immer noch lieber als gar nichts. So konnte er wenigstens etwas abschalten und brauchte nicht immerzu darüber nachzudenken, was ihm auf seiner Reise möglicherweise noch alles bevorstand.
Hier oben, mehr als 300 Kilometer über der Erdoberfläche, hatte man eine riesige Auswahl an Sendern. Es konnten Fernsehprogramme aus aller Herren Länder empfangen werden, wenn das betreffende Land gerade am äußeren Rand der Erdkugel auftauchte. Da sich die ISS sehr schnell fortbewegte – sie umkreiste die Erde ja viele Male am Tag – verschwand der Sender aber bald wieder und machte einem neuen Platz.
Zierkendorf hatte Glück und bekam nach kurzem Suchen ein deutsches Programm auf seinen Schirm. Es lief gerade ein Wissenschaftsmagazin, in dem verschiedene Wissenschaftler über die Ursachen des außergewöhnlich warmen Wetters in diesem Jahr spekulierten. Denn obwohl der Monat November bereits begonnen hatte, konnte man in Deutschland bei Tagestemperaturen von 25 Grad Celsius noch im Freien baden gehen, was es bisher nie gegeben hatte.
„Herr Professor Wiesner“, begann der Moderator, „Sie haben ja eine sehr umstrittene Theorie als Erklärung für das ungewöhnlich warme Wetter in diesem Jahr aufgestellt. Danach wäre eine Vergrößerung der Sonne Schuld.“
„Ja, das stimmt. Wir haben festgestellt, dass sich der Sonnendurchmesser gegenüber dem 16. Jahrhundert nahezu verdoppelt hat ...“, antwortete Professor Wiesner, ein kleiner, gemütlich aussehender Mann mit Bauchansatz und Glatze.
„Das ist doch blanker Unsinn“, fuhr ihm ein anderer Studiogast ins Wort, den jetzt eine Einblendung als Dr. Ringstetter vom Meteorologischen Dienst vorstellte. „Sie können das niemals beweisen. Schließlich hatte man im sechzehnten Jahrhundert noch keine so genauen Messmethoden wie wir heute und konnte daher nur eine ungenaue Beschreibung für den Sonnendurchmesser liefern. Dass Sie daraus nun gar eine Verdoppelung der Größe der Sonne ableiten, finde ich absolut unseriös.“
„Lesen Sie doch selber in den Originalschriften von Kopernikus nach. Da steht eindeutig, dass eine totale Mondfinsternis zu seiner Zeit sieben Stunden dauerte. Und die totale Mondfinsternis letzten August war schon nach viereinhalb Stunden zu Ende. Das bedeutet, entweder bewegt sich der Mond heute fast doppelt so schnell wie im sechzehnten Jahrhundert, oder die Sonne ist größer geworden und kann durch die Erde nun nicht mehr so lange verdeckt werden wie früher. Wenn ich dann noch die hohen Temperaturen der letzten Zeit in Betracht ziehe ...“, erwiderte Wiesner mit einem beleidigten Unterton in der Stimme.
Doch Ringstetter schien dies keineswegs zu stören, denn er unterbrach den Professor erneut: „Genau da haben wir doch schon den Schwachpunkt in Ihrer Theorie. Glauben Sie wirklich, dass man die Exaktheit der Zeitmessung im sechzehnten Jahrhundert mit der des einundzwanzigsten Jahrhunderts vergleichen kann?“
Ob des dauernden Widerspruchs erregte sich nun auch der Professor zunehmend: „Genauigkeit hin oder her, ein so großer Unterschied von zweieinhalb Stunden lässt sich auch mit einer heutzutage sicherlich genaueren Zeitmessung nicht erklären.“
Nun war es der Moderator der Sendung, der dem Professor ins Wort fiel: „Wie Sie sehen, liebe Zuschauer, sind sich die Fachleute über die Ursache der ungewöhnlichen Hitzewelle keineswegs einig. Viele machen auch den so genannten Treibhauseffekt dafür verantwortlich. Dass es ihn wirklich gibt, ist inzwischen unumstritten. Ob er aber tatsächlich so schnell so gravierende Veränderungen in unserem Klimasystem auszulösen vermag, versucht unser nächster Beitrag zu klären ...“
Mittlerweile begann sich das Bild auf Zierkendorfs Taschenfernseher spürbar zu verschlechtern und auch der Ton ging in einem Rauschen unter. Zierkendorf schaltete deshalb das Gerät jetzt ab, setzte sich auf sein Bett und starrte gedankenversunken, den Kopf dabei auf die Hände gestützt, vor sich hin.
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Die Passagiere jener Sitzreihen, hinter denen sich ebenfalls Nieten befanden, waren inzwischen so auf andere Sitze im ganzen Flugzeug verteilt worden, dass sie nicht mehr von zerreißenden Nieten getroffen werden konnten. Und nachdem auch die dominikanische Küstenwache versprach, ein Schiff in jene Region zu entsenden, in der Flug Nummer 321 vermutlich notwassern würde, begann Kapitän Martens mit der Notlandung.
Er hatte sich entschlossen, maximalen Sinkflug einzuleiten, in der Hoffnung, dass die Nieten erst dann versagen würden, wenn sie schon fast unten wären. Allerdings konnte ihnen auch noch das Wetter einen Strich durch die Rechnung machen, denn eine Gewitterzone mit heftigen Turbulenzen, die zusätzlich am Flugzeugkörper rüttelten, wäre ihr sicheres Ende gewesen. Deshalb erkundigte sich Martens nun: „Wie sieht es denn überhaupt mit dem Wetter aus? Könnten wir in heftige Turbulenzen geraten?“
Eichwald überflog kurz den letzten Wetterbericht. „So an die zehn Meilen westlich von hier zieht ein Regengebiet auf. Von dem sollten wir uns lieber fern halten, du weißt ja, die Fallwinde in einem Regengebiet sind nicht ohne!“
Martens nickte nachdenklich. Plötzlich hatte er eine Eingebung. Er schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn und rief: „Genau, das ist die beste Lösung! Wir machen keinen Bogen um das Regengebiet, nein, wir fliegen mitten hinein!“
Eichwald schaute seinen Kapitän an, als hätte der den Verstand verloren.
Martens entging dieser Blick nicht, deshalb fragte er: „Na überleg mal Peter, was tut man denn mit Wasser so alles?“
„Du kannst Fragen stellen. Trinken, duschen, baden. Was soll das?“
„Warst du noch nie im Wasser, um dich abzukühlen?“
Jetzt fiel auch bei Eichwald der Groschen: „Natürlich, du hast recht. Wir fliegen so lange im Regen umher, bis sich die Maschine abgekühlt hat. Dann haben auch die Nieten wieder mehr Festigkeit und wir können sicher landen. Mann, ich könnte dich küssen.“
„Das heb dir mal besser für Marguerita auf. Programmier lieber einen passenden Kurs in das Regengebiet ein.“
„Aye, aye, Sir, wir sind schon so gut wie dort.“
Und der Flug Nummer 321 landete ohne weitere Zwischenfälle sicher auf dem Flughafen von Puerto Plata.
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Erneut versammelten sich die Besatzungen der drei Shuttles in der Kommandozentrale der ISS. Kommandant Sakralow hatte sie zu sich gebeten und eine kleine Ansprache vorbereitet.
„Es fällt mir sehr schwer, diese Worte zu euch zu sprechen. Schließlich war ja einer der Toten ein Landsmann von mir, den ich selbst persönlich sehr gut kannte. Wir haben nämlich dasselbe Ausbildungszentrum für Kosmonauten besucht und auch schon ein paar gemeinsame Flüge gemacht.
Dennoch müssen wir uns jetzt wieder unserer Arbeit zuwenden und die Trauer, so gut es eben geht, vergessen. Und ihr müsst wieder mit voller Kraft an die Erfüllung eurer Mission gehen. Michail und Ireen hätten dies sicher auch so gewollt. Denn wenn ihr scheitert, wäre ihr Opfer völlig umsonst gewesen.“
Er schaute kurz in die Runde und fuhr dann fort: „In zwei Stunden sind die Montagearbeiten für die Zusatztanks an allen Raumfähren komplett beendet. Dann solltet ihr keine Zeit mehr verlieren und sofort starten. Und wenn ihr noch einen Blick auf die Erde werfen wollt, habt ihr jetzt sicher die beste Gelegenheit dazu!“
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Estella Grucca machte eine Inspektionstour durch die „Union“. Sie überprüfte, ob die Anschlüsse der Versorgungstanks fest saßen und überzeugte sich auf einem Display, dass die Tanks auch voll gefüllt waren.
Dann ging sie in den Frachtraum, um die Zusatztriebwerke zu suchen, die die „Union“ unbedingt für einen Wiederaufstieg vom Mars benötigte. Sie durchstöberte jede Ecke, öffnete alle Container, die sie erreichen konnte und durchlas sämtliche Frachtbriefe, doch die Triebwerke konnte sie nicht finden.
‘Ich habe doch gleich gewusst, dass ich wegen dieser Sache noch einmal mit Voltaire werde sprechen müssen’, dachte sie, und stapfte entschlossen zurück zur ISS.
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Nachdenklich ließ der Präsident seinen Blick durch den Park des Weißen Hauses schweifen. Er stand ganz nah am Fenster und hatte die Hände hinter dem Rücken ineinander gelegt. ‘Und da waren es nur noch drei’, dachte er.
Vor kurzem hatte auch er die Meldung bekommen, dass die Crew der „Buran“ ihr Ziel nie mehr erreichen würde und das hatte ihn sichtlich geschockt. Er schüttelte den Kopf und spann in Gedanken den Faden weiter: ‘Unterwegs kann noch so viel passieren. Und wenn schon jetzt ein Team ausfällt, bevor es eigentlich richtig losgegangen ist, sinken unsere Erfolgsaussichten rapide. Da sind wir nun so stolz auf all unsere technischen Errungenschaften, doch was passiert, wenn die Technik mal versagt? Auf wen können wir uns dann noch verlassen?’
Und der Präsident fing an, still für sich zu beten.
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In der Kommandozentrale der ISS begegnete Estella Grucca nur Kommandant Sakralow. Er kam ihr vor wie ein Schiffskapitän auf seiner Brücke, der ständig auf seinem Posten sein und nie auch nur ein Fünkchen Verantwortung an andere abgeben wollte. Und schon gar nicht, um bloß mal etwas auszuspannen.
„Du weißt nicht zufällig, wo die Zusatztriebwerke für die ‘Union’ abgeblieben sind?“, fragte sie ihn und fuhr fort, „im Frachtraum habe ich sie jedenfalls nicht finden können.
Sakralow dachte kurz nach und erwiderte dann: „Ich weiß von keinen Zusatztriebwerken für die ‘Union’. Auch die anderen Shuttles haben von uns keine bekommen. Wir sollten uns nur um den Proviant kümmern, die Zusatztanks montieren und sie mit Wasser, Sauerstoff und Treibstoff füllen.“
Grucca nickte wissend, so als ob sie die Antwort erwartet hätte. Dann griff sie sich ein Mikrofon und rief das europäische Raumfahrtkontrollzentrum in Korou.
Nach kurzer Wartezeit meldete sich dann eine Stimme: „Hier Kontrollzentrum Korou, ich höre.“
„Ich will eine Verbindung zu Voltaire“, befahl Grucca.
„Der schläft jetzt sicher, wir haben es ja gerade mal zwei Uhr morgens. Kann das nicht bis später warten?“
Mit Estella Grucca ging jetzt wieder ihr spanisches Temperament durch: „Das ist mir vollkommen egal, und auch wenn er gerade auf dem Klo sitzen würde, ich will ihn sprechen - jetzt!“ Und als sie Sakralows strafenden Blick bemerkte, fügte sie in etwas sanfterem Ton hinzu: „Bitte!“
„Na gut“, seufzte die Stimme aus dem Lautsprecher, „ich werde eine Verbindung herstellen, auch wenn er mir dafür die Hölle heiß macht.“
Es knackte mehrere Male und die Spanierin begann bereits unruhig mit dem Fuß zu wippen, als sich nach etwa einer Minute Voltaire endlich meldete: „Hier Voltaire. Haben Sie schon wieder einen Raumkolleranfall, weil Sie mich mitten in der Nacht aus dem Bett holen lassen?“
„Ich störe Sie gewiss nicht, weil ich mit Ihnen scherzen will“, explodierte die Astronautin und ignorierte Sakralows Blick dieses Mal, „sondern weil ich wissen will, wo die Zusatztriebwerke sind, von denen Sie mir sagten, dass ich sie wahrscheinlich von der ISS bekommen würde.“ Und sie setzte bissig hinzu: „Nur, hier sind sie auch nicht und der Kommandant weiß von nichts. Haben Sie vielleicht eine Erklärung dafür?“
„Hm“, machte Voltaire und man konnte hören, wie er sich dabei kratzte.
„Und damit wir uns richtig verstehen“, ergänzte Estella mit Nachdruck, „ohne diese Triebwerke wird die ‘Union’ bestimmt nicht zum Mars fliegen - jedenfalls nicht mit mir.“
„Na schön, ich gehe der Sache nach und melde mich, sobald ich etwas weiß. Korou Ende“, verabschiedete sich Voltaire, hörbar verstimmt. Kurz darauf verriet ein kurzes Knacken in den Lautsprechern, dass die Funkverbindung unterbrochen worden war.
Estella Grucca schaute Sakralow kurz an und ging zur Tür. „Rufe mich bitte, wenn er sich meldet“, sagte sie über die Schulter, „ich bin drüben auf der ‘Union’“, und verließ die Kommandozentrale.
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Terry Bride döste in seinem Schaukelstuhl vor sich hin. Der alte Mann saß im Schatten unter dem Vordach seiner Tankstelle, die sich in einem kleinen Ort im Süden Floridas befand.
Ihm machte die Hitze zu schaffen, die immer noch wie eine Glocke über der Erde zu liegen schien, obwohl es bereits spät am Nachmittag war. Und das ging schon seit Wochen so, unerbittlich brannte die Sonne vom Himmel herunter und trieb das Thermometer auf immer neue Rekordwerte.
62 Grad hatten die Meteorologen für heute vorausgesagt. Obwohl Terry bereits mehr als sechzig Jahre hier lebte, konnte er sich nicht erinnern, früher jemals eine solche Hitzewelle erlebt zu haben. Vorhin hatte er sich sogar eine Brandblase geholt, als er den Hof seiner Tankstelle fegte und dabei versehentlich das Blech einer Zapfsäule berührte. Zwar standen die beiden Zapfsäulen seiner Tankstelle ungeschützt mitten in der prallen Sonne - das war schon immer so gewesen - aber trotzdem hatte er sich bis jetzt niemals an ihnen verbrannt.
Also musste doch etwas an den Prophezeiungen der Umweltschützer dran sein, die vor Klimaveränderungen warnten, die die Folge von steigenden Durchschnittstemperaturen sein würden. Früher waren diese Leute einfach nur irgendwelche Spinner für ihn gewesen - heute lachte er nicht mehr über sie, denn er spürte selbst, dass irgendetwas mit dem Klima nicht mehr stimmte. Diese Hitze - nein, das konnte einfach nicht mehr normal sein.
Das Geräusch eines heranrollenden Fahrzeugs riss Terry Bride aus seinen Gedanken. Er erhob sich aus seinem Stuhl und schlurfte zu den Zapfsäulen, um den neuen Kunden zu bedienen: „Hallo die Herrschaften, was darf es denn sein? Nur voll tanken? Oder ist auch eine kleine Wäsche gefällig?“
„Nein, bitte nur voll tanken“, erwiderte der Fahrer, ein Mann in mittleren Jahren. Eine Frau, offenbar seine Ehefrau, saß neben ihm. Im Fond des Wagens spielten zwei Kinder - ein Junge und ein Mädchen - miteinander.
Während Terry eine Zapfpistole in den Tankstutzen des Fahrzeugs schob, stieg der Fahrer aus, streckte sich kurz und fragte dann: „Gibt’s hier auch Erfrischungen?“
„Natürlich, gehen Sie nur hinein, gleich auf der rechten Seite steht ein Eisschrank mit gekühlten Getränken.“
„Das ist genau das Richtige, was wir jetzt brauchen“. Und in den Wagen gewandt, sagte der Mann: „Wer Durst hat: mir nach!“
Von der Rückbank ertönte ein zustimmendes Geheul, dann rissen die Kinder die Türen auf, stürzten ins Freie und rannten in das Tankstellengebäude. Auch die Frau stieg aus und ging zu ihrem Mann, der erst den Arm um sie legte, ehe sie gemeinsam den Kindern hinterher schlenderten. Terry konnte noch hören, wie der Mann zu seiner Frau sagte: „Ach, ist das furchtbar heiß hier, schon nach so wenigen Schritten strömt mir der Schweiß aus allen Poren“, dann waren sie im Gebäude verschwunden.
Während das Benzin noch in den Tank lief, begann Terry die Scheiben des Wagens mit einem Lappen zu säubern. Ab und zu schaute er hinüber zum Tankstellengebäude und konnte durch das große Panoramafenster sehen, wie die Familie um einen Stehtisch herum stand, die erfrischenden Getränke genoss und ihm bei der Arbeit zusah.
Terry gefiel dieses Bild, denn es war offensichtlich, dass es in dieser kleinen Familie sehr harmonisch zuging. Das erinnerte ihn an früher, als seine Frau noch lebte. Zusammen mit ihr und seinen beiden Söhnen, die nach dem Tod ihrer Mutter nach New York gingen, hatte er die glücklichste Zeit seines Lebens verbracht. Mitten in diese schönen Erinnerungen tönte das Klicken der Zapfpistole, weil der Tank inzwischen fast überlief, und holte ihn in die Wirklichkeit zurück.
Chester McRunge - so hieß der Familienvater - schaute dem alten Mann vom Verkaufsraum aus zu. Eine eiskalte Cola hatte seinen Schweißausbruch zum Stoppen gebracht und ihn wieder erfrischt. Dazu trug sicher auch der kühlende Luftstrom seinen Teil bei, für den die an der Decke befindlichen Ventilatoren sorgten.
McRunge freute sich, mit welcher Gründlichkeit der alte Tankstellenbesitzer die Scheiben seines Wagens reinigte. Dann sah er, wie der alte Mann die Zapfpistole aus dem Tankstutzen seines Wagens zog und sprach zu seiner Familie: „Wenn ihr alle ausgetrunken habt, fahren wir gleich weiter.“
Alle nickten und leerten schnell ihre Flaschen. Während die Frau mit den Kindern nun zum Wagen ging, blieb Chester noch, um auf den Tankstellenbesitzer zu warten und dann die Rechnung zu begleichen.
Terry Bride wollte gerade wieder die Zapfpistole in die Halterung der Säule schieben, als er plötzlich einen Schmerz in der Brust verspürte. Er stöhnte auf und bekam jetzt noch einen Krampf in der Hand, die die Zapfpistole hielt. Dabei betätigte er versehentlich das Ventil, so dass das Benzin mit einem dicken Strahl heraussprudelte und auf dem Boden eine immer größer werdende Pfütze bildete, die sich langsam aber stetig auf eine Zapfsäule zubewegte.
Schlagartig wurde Terry bewusst, in welcher Gefahr er schwebte: Wenn das Benzin die Zapfsäule erreichte, wäre eine Explosion unvermeidlich, denn es war jene Zapfsäule, an der er sich erst vorhin selbst verbrannt hatte.
Unter Aufbietung seiner letzten Kräfte versuchte er, die Zapfpistole loszulassen, um dann wegzukriechen. Doch vergebens. Erschöpft von dieser Anstrengung, versank er in einer Ohnmacht, während er noch immer die Zapfpistole in der Hand hielt, aus der weiterhin der Kraftstoff strömte.
Die McRunges hatten von all dem nichts mitbekommen. Sie war gerade damit beschäftigt, einen Streit zwischen den Kindern zu schlichten, während er in einigen Zeitschriften blätterte, die neben der Kasse lagen. Chester McRunge hörte seine Frau noch sagen: „Oh, hier riecht es aber stark nach Benzin“, als plötzlich sämtliche Scheiben des Tankstellengebäudes zersplitterten und ihn eine gewaltige Druckwelle gegen die Wand warf, von der er ohnmächtig zu Boden rutschte. Von dem Feuerball, der schließlich die gesamte Tankstelle und alle Gebäude in einem Umkreis von einhundert Metern restlos vernichtete, bemerkte er nichts mehr.
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Die sechs Astronauten hatten sich nun zum vorerst letzten Male in der Kommandozentrale der ISS versammelt. Sakralow fehlte noch, obwohl er die anderen zu sich gebeten hatte. Sicher um sich zu verabschieden, denn die Montagearbeiten an den Shuttles waren komplett beendet und die Raumfähren somit startklar gemacht worden.
Die sechs nutzen ihr Zusammentreffen, um sich gegenseitig Mut zu machen. Sie würden sich jetzt etwa drei Jahre nicht mehr sehen, sondern nur noch über Funk verständigen können. Wenn alles klappte, trafen sie sich erst auf dem Mars wieder, um dort verschiedene Experimente durchzuführen und anschließend zur Erde zurückzukehren - so glaubten sie jedenfalls.
Abgelenkt durch ihre Unterhaltung, bemerkten die Astronauten gar nicht, dass Sakralow inzwischen eingetreten war. Erst als er die Stimme erhob, verstummten sie und wandten sich ihm zu.
„Ihr könnt euch sicher vorstellen, warum ich euch noch einmal zu mir gebeten habe“, begann Sakralow. „Natürlich, um mich von euch zu verabschieden und euch eine gute Reise zu wünschen. Wenn alles gut geht, seid ihr in ungefähr sieben Jahren wieder zurück auf der Erde und dann berühmte Leute.
Denkt immer daran, dass die Zahl sieben eine Glückszahl ist. Also gebt euch Mühe, dass ich euch dann alle gesund hier wiedersehe.
Auf der Erde würde man jetzt sicher mit einem Gläschen auf das Gelingen der Reise anstoßen, hier oben lassen wir das aber lieber, denn für die vor euch liegenden Aufgaben braucht ihr alle einen klaren Kopf.“
Dann sah er jedem einzelnen ernst ins Gesicht und sagte leise: „Passt auf euch auf.“ Und mit lauter Stimme fügte er hinzu: „Und jetzt an die Arbeit, hopp, hopp!“
Die anderen wollten daraufhin den Raum verlassen, doch Estella Grucca blieb stehen und sagte laut: „Moment noch“, worauf sie sich wieder umwandten. „Hat sich Voltaire noch nicht gemeldet?“, fragte Estella und musterte Sakralow dabei mit einem kritischen Blick. Die anderen fünf Astronauten schauten die Spanierin fragend an, worauf diese erklärte: „Ist euch noch nicht aufgefallen, dass wir gar keine Zusatztriebwerke bekommen haben, ohne die wir vom Mars nicht mehr starten können?“
Die anderen schüttelten erstaunt die Köpfe und sahen nun ebenfalls zu Sakralow, der sichtlich mit sich rang.
„Ja richtig, die Zusatztriebwerke“, begann er unsicher. Dann schien er einen Entschluss gefasst zu haben, denn seine Stimme klang viel fester, als er sagte: „Ich war schon von Anfang an dafür, euch reinen Wein einzuschenken, aber die da unten“, er deutete mit seiner Hand Richtung Erde und versuchte ein Lächeln, „waren dagegen. Sie wollten es euch erst sagen, wenn ihr so weit draußen seid, dass der Treibstoff nicht mehr für eine Rückkehr reichen würde.“
Er machte eine Pause, weil sich die Gesichter der um ihn stehenden Astronauten zusehends verfinsterten. Dann fuhr er mit leiserer Stimme fort: „Also, um es kurz zu machen: Die Erde wird wahrscheinlich nicht mehr lange existieren. Die Sonne dehnt sich immer schneller immer weiter aus und wird in einigen Jahren durch die zunehmende Hitze alles Leben auf der Oberfläche unmöglich machen. Deshalb sollt ihr zum Mars fliegen, der nach unseren Berechnungen außerhalb der Gefahrenzone liegt und dort eine neue Zivilisation gründen. Um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass wenigstens ein Shuttle den Mars erreicht, werdet ihr alle verschiedene Routen benutzen. Sie sind bereits in eure Steuerungen einprogrammiert. Das ist eigentlich alles und deshalb braucht ihr auch keine Zusatztriebwerke für eine Rückkehr.“
Die Reaktion auf seine Erklärung konnte er deutlich in den Gesichtern der sechs ablesen. Sie reichte von Fassungslosigkeit, Entsetzen und Betroffenheit bis hin zur Ungläubigkeit, wobei letztere aber deutlich überwog.
„Das glaube ich einfach nicht“, protestierte Spencer, „wieso haben wir davon noch nie etwas gehört?“
„Natürlich wollten wir das nicht an die große Glocke hängen“, erwiderte Sakralow, „was würde das denn nützen? Es würde bloß eine riesige Panik ausbrechen; aber entrinnen könnte einer solchen Katastrophe niemand - außer euch. Es gibt zwar Pläne, große Bunkeranlagen zu bauen, in denen die Menschen eine Weile überleben können, doch reichen die Plätze darin bei weitem nicht für alle. Warum also mit der düsteren Wahrheit den Menschen ihr restliches Leben schwer machen? Da sollen sie doch lieber die zweiundzwanzig Jahre - die vermutlich noch bleiben, bis auf der Oberfläche wegen der Hitze niemand mehr existieren kann - ohne die Gewissheit ihres nahen Todes verbringen. Das ist im Übrigen auch meine Meinung.“
„Mir kommt das alles so utopisch, so unwirklich vor“, ließ sich jetzt Olga Gregowna vernehmen, „wie hoch ist denn die Wahrscheinlichkeit, dass dieses Szenario tatsächlich so eintritt?“
„Hoch genug, um Vorsichtsmaßnahmen wie diese Mission einzuleiten“, antwortete Sakralow und fügte mit Bedauern hinzu, „leider“.
„Ich fürchte, er hat Recht“, fiel Zierkendorf ein, „denn ich habe gestern eine Fernsehsendung aus Deutschland gesehen, in der berichtet wurde, dass die Menschen in meinem Land selbst jetzt, mitten im November, noch im Freien bei Temperaturen von über 20 Grad Celsius baden gehen können. Glaubt mir, das hat es bei uns noch niemals gegeben.“
„Und wenn das alles nur mit dem Treibhauseffekt zusammenhängt?“, fragte Snow.
Sakralow zuckte mit den Schultern und fragte zurück: „Und wenn nicht?“
Snow kratzte sich verlegen hinter seinem rechten Ohr und schwieg, dafür ergriff jetzt Estella Grucca das Wort, die die ganze Zeit geschwiegen hatte: „Bleibt immer noch die Frage, warum ihr uns das nicht gleich gesagt habt. Da ist doch bestimmt noch mehr, was ihr uns verheimlicht!“
„Mein Gott“, polterte Sakralow jetzt los, „bei allem Respekt, Estella, begreifst du denn nicht? Ihr sechs werdet, wenn alles so kommt wie befürchtet, die einzigen Menschen sein, die diese Katastrophe überleben! Ich wäre froh, wenn ich an eurer Stelle sein könnte. Ich weiß zwar auch wie ihr nicht, was genau in der Zukunft auf mich wartet, aber ihr habt mit Sicherheit eine größere Chance als der Rest der Menschheit!“
Estella Grucca schaute zu Boden, überlegte kurz, nickte dann und sagte: „Du hast Recht.“ Sie strich Sakralow leicht über den Arm und sagte: „Tut mir Leid. Ich wünsche dir alles Gute und hoffe, dass sich sämtliche Vorhersagen der Wissenschaftler als Irrtum erweisen. Und das wäre ja nicht das erste Mal“, bevor sie sich umdrehte und den Raum verließ.
Die anderen drückten Sakralow der Reihe nach schweigend die Hand und gingen dann zu ihren Shuttles.
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Plötzlich erzitterte die „Union“, als hätte sie von einer riesigen Faust einen kräftigen Schlag bekommen. Zierkendorf und Grucca wurden davon aus ihren Schalensesseln geschleudert und mussten sich erst mühsam - weil behindert durch ihre Skaphander - wieder aufrappeln.
Vor dem Cockpitfenster war statt der gewohnten Weltraumschwärze plötzlich ein riesiger, feuerroter Ball mit einem langen glühenden Schweif zu sehen, der sich in die gleiche Richtung wie die „Union“ bewegte. Er hatte sich dem Shuttle unbemerkt von hinten genähert, es dann gerammt - daher der heftige Schlag - und schließlich überholt.
Bei dem Zusammenprall hatte die Raumfähre einiges abbekommen. Etliche der Displays und Anzeigen auf dem Steuerpult waren entweder ausgefallen oder blinkten hektisch in roter Farbe. Zu allem Überfluss gaben auch noch Lautsprecher einen durchdringenden, warnenden Quäkton von sich.
In Zierkendorf stieg Panik auf. „So eine Scheiße. Das Ding hat uns voll erwischt. Wir werden beide sterben!“, jammerte er lauthals.
Estella Grucca rüttelte ihn an der Schulter und schrie: „Reißen Sie sich gefälligst zusammen! Wenn Sie jetzt die Nerven verlieren, sterben wir garantiert!“ Und dann sprach sie in eindringlichem Ton weiter: „Wir kriegen das schon wieder hin. Aber dazu brauche ich Ihre Hilfe, Bertram, allein schaffe ich das bestimmt nicht!“
Innerlich war sie von ihren Worten überhaupt nicht überzeugt. Etwas derartiges hatte sie noch nie erlebt und so eine Situation war auch in keiner ihrer zahlreichen Übungssimulationen je vorgekommen. Aber wenn Zierkendorf jetzt durchdrehte, hatten sie gleich gar keine Chance.
Der Deutsche schaute sie prüfend an und beruhigte sich zusehends: „Ja, Sie haben recht, entschuldigen Sie meinen kleinen Blackout. Was soll ich jetzt tun?“
„Ich schlage vor, Sie inspizieren zunächst unser Shuttle von innen und sehen nach, ob irgendwo die Außenhülle beschädigt ist. Dazu sollten Sie vorsichtshalber einen Raumanzug anziehen. Wenn Sie von innen nichts entdecken können, sollten Sie sich unsere Raumfähre zur Sicherheit auch noch von außen anschauen. Ich werde inzwischen checken, welche Systeme noch funktionieren.“
„Okay“, erklärte sich Zierkendorf einverstanden und begann seinen Skaphander zu verschließen. Dabei sagte er: „Es war trotzdem keine gute Idee von meiner Mutter, mich den Beruf eines Astronauten ergreifen zu lassen.“
„Dann würden Sie aber auch niemals zu den wenigen überlebenden Menschen auf dem Mars gehören“, erwiderte Grucca, während sie hektisch auf der Tastatur des Steuerpultes herumtippte, in der Hoffnung, verschiedene Funktionen wieder reaktivieren zu können.
Bald stand fest, dass so ziemlich alles ausgefallen war, was an einer Raumfähre auch nur ausfallen kann. Als Grucca merkte, dass all ihre Bemühungen keinerlei Erfolge zeigten, konnte auch sie ein beklemmendes Gefühl nicht unterdrücken. „Sieht so aus, als ob wir einen Totalschaden hätten. Sämtliche Kontrollen und Steuerungen sind ausgefallen. Wir treiben ungesteuert durchs All. Und selbst wenn die Steuerung funktionierte, wüsste ich nicht, wohin ich steuern sollte, denn auch die Navigationsgeräte scheinen etwas abbekommen zu haben.“
Die Situation war außer Kontrolle geraten. Und das passierte ausgerechnet ihr, der Paradefrau der europäischen Raumfahrt. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals so ratlos gewesen zu sein wie jetzt. Denn zur Reparatur solcher komplexer Ausfälle waren sie weder ausgebildet, noch hatten sie das entsprechende Werkzeug dafür.
Zierkendorf lief der Schweiß in Strömen vom Gesicht, während er sich mit seinem Raumanzug abmühte. Schließlich sagte er: „Ziemlich heiß hier drin, nicht wahr?“
Grucca wollte schon eine spitze Bemerkung loslassen, da spürte auch sie, dass sie schweißgebadet war. Aber weil die Innentemperaturanzeige auch nicht mehr funktionierte, konnte sie nur schätzen: „40 Grad werden es schon sein.“
Dann überlegte sie kurz und fuhr fort: „Vielleicht geht ja unsere Funkanlage noch. Ich werde mal versuchen, die ISS zu erreichen. Die werden sicher einen Tipp für uns parat haben, wie wir die ‘Union’ wieder flott kriegen.“
Sie griff zur Sendetaste der Funkanlage, die im Steuerpult eingelassen war und zog ihre Hand sofort wieder zurück, als wäre sie von einer Schlange gebissen worden. Sie schaute ungläubig ihren Finger an, auf dem sich gerade eine Brandblase zu entwickeln begann: Sie hatte sich an der Taste den Finger verbrannt!
Sie schüttelte verwundert den Kopf und ließ sich in ihre Sitzschale fallen, sprang aber gleich danach wieder auf. Ihre Kleidung qualmte an den Stellen, an der sie die Sitzschale berührt hatte.
Estella Grucca sah an sich herunter und bemerkte, dass nun auch ihre Schuhsohlen zu qualmen begannen und dabei zunehmend einen stechenden Geruch im Cockpit verbreiteten. Sie schaute zu Zierkendorf, dessen Schuhe ebenfalls rauchten, der das aber nicht zu bemerken schien, weil er wie gebannt aus dem Cockpitfenster starrte. Sie folgte seinem Blick und sah, dass die Scheiben des Fensters ganz matt geworden waren. Trotzdem konnte sie erkennen, dass es draußen taghell erleuchtet war. Da der riesige Feuerball durch seine größere Geschwindigkeit längst verschwunden sein musste, konnte das nur bedeuten, dass die „Union“ brannte. Grucca vermutete, dass bei der Kollision vorhin ein Treibstofftank beschädigt worden war, dessen Inhalt sich anschließend - zusammen mit aus dem Shuttle austretendem Sauerstoff - wahrscheinlich durch einen Kurzschluss entzündet hatte.
Dann entdeckte sie ein kleines Loch in einem der Cockpitfenster, das sich rasch vergrößerte und durch das eine immer größer werdende Flamme hereinstach. Sie wollte gerade zu schreien beginnen, um Zierkendorf auf die Gefahr aufmerksam zu machen, als sämtliche Fenster zerplatzten und das gesamte Cockpit sofort in Flammen stand. Grucca spürte noch einen unerträglichen Schmerz am ganzen Körper, ehe alles um sie herum in Dunkelheit versank.
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„‘Union’, bitte melden, ‘Union’, bitte melden“, wiederholte Voltaire immer wieder aufgeregt. Er hatte das Mikrofon der Funkanlage des Kontrollzentrums Korou mit beiden Händen umfasst und drückte es vor Anspannung immer mal wieder ganz fest, als könne er so die „Union“ zu einer Antwort zwingen. Doch auf der Frequenz der „Union“ gab es nur ein nervtötendes Rauschen zu hören.
Nach ungefähr einer Stunde gab er auf. Obwohl die „Union“ schon seit einem Jahr unterwegs war und die Funkwellen daher einige Zeit für den Weg hin und zurück brauchten, hätte ihre Antwort inzwischen eintreffen müssen. Das konnte nur bedeuten, dass seine Warnung die Raumfähre zu spät oder gar nicht mehr erreicht hatte.
Voltaire setzte sich erschöpft auf eine Couch und verbarg das Gesicht hinter seinen Händen.
Vor einer Stunde war die Meldung gekommen, dass die Sonne einen großen Materiestrom ausgeworfen hatte - ausgerechnet in Richtung der „Union“! Da das Licht der Sonne für den Weg bis zur Erde ungefähr acht Minuten brauchte, war das Verderben also schon unterwegs gewesen, ehe es auf der Erde jemand bemerken konnte.
Weitere wertvolle Zeit verstrich, bis man die Größe der Protuberanz und deren genauen Weg durch das All berechnet hatte und so die Gefahr für die europäische Raumfähre überhaupt erst einmal erkannte. Und als schließlich die Warnung an die „Union“ durchgegeben wurde, dauerte es ungefähr noch eine Viertelstunde, ehe das Funksignal bei der „Union“ ankam.
Offensichtlich zu spät; der Materiestrom musste die Raumfähre wohl eher erreicht haben, sonst hätte man schon längst ein Signal von der „Union“ bekommen. Und obwohl sich die Protuberanz auf dem Weg durch das All abkühlte, würde sie immer noch um die 3000 Grad Celsius heiß sein - viel zuviel für das Hitzeschild des Shuttles.
Auch der Gedanke, dass das Einleiten einer Kursänderung weitere Zeit in Anspruch genommen hätte - eine Verzögerung, die er nicht zu verantworten hatte -, konnte Voltaire nicht trösten. Ihm blieb nur noch, zu beten, dass die Tanks der Raumfähre schnell explodierten und seine beiden Astronauten so vor einem langsamen und qualvollen Feuertod bewahren würden.
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„Meteoritenfeld voraus“, meldete Irina Subotikowa.
„Was, hier?“, wunderte sich Mike Spencer, „laut Sternenkarte sollte hier weit und breit nichts anderes als nichts sein.“
„Es ist aber da, Mike“, erwiderte Irina, „das Radar zeigt es ganz deutlich an. Es ist kein Irrtum möglich. Und die Stücken sind alle groß genug, um der „Endeavour“ ein solches Loch in den Pelz zu brennen, dass wir unser Testament machen können.“
Mike Spencer überlegte nur kurz. „Ausweichmanöver einleiten“, befahl er.
„Negativ, Anfluggeschwindigkeit zu hoch“, antwortete Irina.
Spencer wusste trotzdem, was zu tun war: „Umschalten auf manuelle Steuerung und maximale Verzögerung!“
„Schalte um auf manuelle Steuerung in drei, zwei, eins ...“, zählte Irina, während Mike Spencer zu dem Joystick-ähnlichen Steuerknüppel der „Endeavour“ griff. Als sie bei Null angelangt war, ging ein Ruck durch das Shuttle und Mike riss es fast den Steuerknüppel aus den Händen, doch dann hatte er die Raumfähre im Griff. Präzise gehorchte das Shuttle auch der kleinsten Bewegung seiner Hände.
„Braves Mädchen“, lobte er die „Endeavour“ mit sichtlichem Stolz, ganz so, als ob er sie selbst konstruiert und gebaut hätte. Dann wandte er sich wieder Irina zu. „Wie dicht ist denn das Meteoritenfeld?“, wollte er wissen.
Sie tippte ein paar Befehle in ihr Bedienpult und antwortete dann: „Der mittlere Abstand zwischen den größeren Brocken beträgt 400 Meter. Sie bewegen sich alle mit etwa derselben Geschwindigkeit, so dass sich die Abstände kaum verändern dürften. Ungefähre Länge des Feldes ist 20 Kilometer. Bei unserer derzeitigen Geschwindigkeit sind wir da in zwei Minuten durch.“
„Na, dann wollen wir mal“, gab Mike zurück und als sie den Anfang des Meteoritenfeldes erreichten, imitierte er den Flugkapitän eines Jumbo-Jets: „Ladies and Gentleman, vor uns befinden sich leider einige Turbulenzen. Bitte stellen Sie das Rauchen ein und schnallen Sie sich an. Vielen Dank.“
Irina schüttelte den Kopf und meinte: „Du verlierst wohl nie den Humor, was?“
„Nicht, wenn es sich vermeiden lässt“, erwiderte Mike, und begann ein Ausweichmanöver zu fliegen.
An ihren Cockpitfenstern rasten die kleinen und großen Gesteinsbrocken nur so vorbei. Irina erinnerte das irgendwie an ein Weltraum-Computerspiel, das sie früher als Kind mit Begeisterung gespielt hatte. Nur das hier war die Realität, hier standen ihr Leben und das von Mike auf dem Spiel. Und sie wunderte sich, wie geschickt er um all die kleinen und großen Hindernisse jonglierte, die sie manchmal erst dann registrierte, wenn sie schon unmittelbar neben ihr auftauchten, und die eigentlich schwerfällige Raumfähre fast spielend durch das Meteoritenfeld lotste.
Es musste doch bald zu Ende sein! Sollten sie doch heil durch den Meteoritenschauer kommen? Neue Hoffnung keimte in ihr auf, als ihr plötzlich ein lauter Schlag diese Hoffnung wieder nahm.
„Schadensbericht“, verlangte Mike. Er war scheinbar die Ruhe selbst und ließ sich durch nichts beirren, sondern suchte angestrengt die beste Route durch das Gewirr aus umherfliegenden Gesteinsbrocken.
Irina tippte wieder auf der Tastatur ihres Steuerpultes herum und vermeldete nach kurzer Zeit: „Kein Druckabfall feststellbar. Die Außenhülle scheint also intakt zu sein. Auch alle anderen Systeme arbeiten normal.“
„War wohl nur ein kleines Steinchen, das uns da einen Schrecken einjagen wollte“, murmelte Mike zufrieden und wich einem Stein aus, der mindestens die doppelte Größe der „Endeavour“ besaß.
Dahinter konnte er schon das Ende des Meteoritenfeldes sehen. Wie auf eine unsichtbare Schnur aufgereiht, bildeten die außen fliegenden Gesteinsbrocken eine fast gerade Linie. Und wie von Geisterhand beiseite geräumt, schienen die Meteoriten eine Spur für das Shuttle frei zu machen, damit es die Gefahrenzone sicher verlassen konnte. Bald hatten sie auch den letzten Stein hinter sich gelassen.
„Na, wie war ich?“, wollte Spencer wissen, während er den Autopiloten wieder einschaltete.
„Für einen Jumbo-Jet-Kapitän nicht schlecht“, erwiderte Irina in Anspielung auf seinen früheren Scherz, „kann ich jetzt wieder rauchen und mich abschnallen?“
Statt einer Antwort griff sich Mike eine leere Dose, die neben ihm stand, hielt sie sich wie ein Mikrofon vor den Mund und imitierte noch einmal die Stimme des Flugkapitäns: „Ladies and Gentlemen, wir haben die Turbulenzen nun hinter uns gelassen und können in Ruhe unseren Flug fortsetzen. Das Bordpersonal wird Sie jetzt wieder wie gewohnt bedienen. Ich wünsche Ihnen noch eine angenehme Reise.“
Irina lachte kurz, schaute ihn an und fragte: „Bin ich etwa mit ‘Bordpersonal’ gemeint? Okay, was soll ich dir denn bringen?“
Mike schaute ebenfalls zu ihr hinüber und meinte: „Eine eiskalte Cola wäre jetzt nicht schlecht, am besten mit einem doppelten Schuss.“
„Aber Alkohol ist für den Kapitän während eines Fluges doch strengstens verboten“, erklärte sie mit gespielter Strenge in der Stimme und erhob sich, um eine Cola aus dem Frachtraum zu holen.
Mike sah ihr nach und bemerkte deshalb den kleinen Gesteinsbrocken nicht, der sich wohl aus dem eben durchflogenen Meteoritenfeld gelöst hatte und auf den die „Endeavour“ direkt zuraste.
Irina war noch nicht weit gekommen, als sie hörte, wie die Scheibe des Cockpits zerbarst. Sie drehte sich erschrocken um und sah, wie ein etwa kopfgroßer Gesteinsbrocken Mike direkt auf die Brust schlug. Mike wollte noch schreien, doch der Schrei blieb ihm in der Kehle stecken, statt dessen schoss ein dicker Blutstrahl aus seinem Mund.
Mit Entsetzen bemerkte Irina, wie nun auch die zweite Cockpitscheibe zerplatzte und die ganze Luft aus dem Innenraum nach außen gesogen wurde. Sie wollte sich noch an ihrem Schalensessel festhalten, doch der Luftzug war zu stark. Sie wurde wie eine Feder durch das Cockpitfenster ins All gesogen, während der Autopilot die „Endeavour“ ihren Kurs immer weiter verfolgen ließ.
Irina konnte dem Shuttle nicht mehr lange nachsehen, denn bald traten ihr wegen des Vakuums die Augen aus den Höhlen. Das letzte, was sie wahrnahm, war ein dumpfer Knall aus ihrem Inneren, als ihre Lunge dem Druck der Restluft darin nachgab und platzte. Dann schwanden ihr die Sinne und sie glaubte, in einen unendlich tiefen Schlaf zu versinken.
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Mike Forster vom Space Control Center Houston beschlich eine böse Ahnung. Denn der nächste Funkkontakt mit der „Endeavour“ war bereits seit mehr als zwei Stunden überfällig.
Zuerst hatten er und seine Kollegen noch ihre Scherze über die Verspätung gemacht: „Die haben sicher die Zeitspanne für die Funkübertragung falsch berechnet. Ihr wisst doch, dass Mike Spencer in Mathe nicht der Allerbeste war.“
„Die Subotikowa kommt wahrscheinlich mit unseren modernen Funkgeräten nicht zurecht. Die ist doch bloß auf russischer Röhrentechnik ausgebildet worden“, meinte ein anderer und alle hatten gelacht.
Dass auch einem ihrer Shuttles etwas zustoßen könnte, kam ihnen nicht in den Sinn. Denn als es die russische Raumfähre erwischt hatte, war das für keinen von ihnen eine echte Überraschung gewesen. Schließlich waren die Russen hier für ihre Art, es auch mit wichtigen Dingen nicht allzu ernst zu nehmen, regelrecht berüchtigt.
Als es dann aber auch die „Union“ der Europäer erwischte, machte sich unter ihnen schon eine gewisse Nachdenklichkeit breit, aber hey, wer besaß denn die längste Erfahrung in Sachen Raumfahrt? Das waren doch sie, die Amerikaner; im Gegensatz dazu steckte die bemannte europäische Raumfahrt ja noch regelrecht in den Kinderschuhen.
Und dass sie gegebenenfalls auch brenzlige Situationen meistern konnten, hatten sie früher ebenfalls schon bewiesen, zum Beispiel bei der Apollo-Mission. Denn Jack Tallahan, der Dienstälteste unter ihnen, half bereits damals mit, die Astronauten von ihrem Ausflug zum Mond wieder sicher auf die Erde zurückzubringen. Vor allen Dingen auf seine Erfahrung bauten die Kollegen und verdrängten daher alle trüben Gedanken.
Doch je mehr Zeit verstrich, ohne dass der Funkkontakt mit der „Endeavour“ zustande kam, desto schwerer ließen sich die Gedanken an ein Unglück verdrängen und umso weniger große Sprüche wurden laut.
Schließlich brach Jack Tallahan den Bann und sprach das aus, was alle insgeheim schon dachten: „Ich glaube, da oben ist wirklich etwas Ernstes passiert. Sie sind einfach zu lange überfällig.“
Forster nickte zustimmend und kniff die Lippen zusammen. Dann sagte er: „Ich fürchte, das ist nicht mehr auszuschließen.“
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Olga Gregowna hatte keine Zeit, die wunderbare Aussicht von ihrem Cockpit auf den roten Planeten zu genießen. Sie war gerade damit beschäftigt, die „Explorer“ auf eine Umlaufbahn um den Mars zu dirigieren. Hochkonzentriert tippte sie auf dem Tastenfeld der Steuerung des Shuttles herum. Erst als die synthetische Stimme des Bordcomputers meldete: „Bestätige Daten für Umlaufbahn. Die errechnete Umlaufzeit beträgt drei Stunden, sieben Minuten und 21 Sekunden“, ließ die Anspannung in ihr nach.
Sie lehnte sich zurück und genoss nun den Anblick des roten Planeten, in dessen nördlicher Hemisphäre sich einige Wolken tummelten.
Neben ihr räkelte sich Richard Snow, der in seiner Sitzschale geschlafen hatte, und nun von der Computermeldung aus seinen Träumen gerissen worden war. Mit der rechten Hand tastete er nach einem Schalter auf der Vorderseite seiner rechten Armlehne und betätigte ihn, worauf sich die Rückenlehne seines Sitzes von der Liege- in die Sitzposition aufrichtete. Dann warf er einen prüfenden Blick auf die Instrumente und meinte: „Scheint so, als ob wir es endlich geschafft hätten.“
Seine Stimme klang dabei etwas rostig, denn die Unterhaltung zwischen ihm und Olga hatte sich seit längerer Zeit nur noch auf dienstliche Belange beschränkt. Olga nickte und auch ihre Stimme klang belegt, als sie erwiderte: „Sieht doch echt wohnlich aus, unser neues Zuhause.“
Doch Richard Snow stand der Sinn momentan nicht nach Humor. Er wollte endlich heraus aus dieser Enge, sich mal wieder richtig die Füße vertreten und vor allen Dingen wieder in einem richtigen Bett schlafen. Deshalb ging er nicht weiter auf ihre Bemerkung ein, sondern erhob sich nur mit den Worten: „Dann werde ich jetzt mal alles für unsere Landung klar machen. Sie können ja inzwischen die Oberfläche nach einer geeigneten Stelle absuchen.“
Olga schaute ihm kopfschüttelnd nach, als er das Cockpit verließ. Dann seufzte sie leise und dachte: ‘Es wäre vielleicht besser gewesen, da draußen an einem Meteoriten zu zerschellen, als mit diesem Eisblock von Mensch den Rest meines Lebens auf dem Mars verbringen zu müssen’.
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Im Space Control Center in Houston konnte man die Anspannung förmlich spüren. Fünf Stunden waren mittlerweile seit dem Zeitpunkt vergangen, zu dem sich die „Endeavour“ hätte melden müssen. Zwar könnte dafür nach wie vor ein simpler technischer Defekt verantwortlich sein, doch, so gestand sich Mike Forster ein, wenn man an die Zuverlässigkeit der soliden amerikanischen Technik glaubte, müsse man das auch in diesem Fall tun. Das bedeutete, wenn die Technik einwandfrei funktionierte, aber trotzdem kein Kontakt mit dem Shuttle zustande kam, konnte es also nur noch an den beiden Astronauten der „Endeavour“ selbst liegen. Und die vergaßen bestimmt nicht einfach so die festgelegten Zeitpunkte für Funkkontakte, nein, da musste ihnen schon etwas Ernsthaftes zugestoßen sein.
Die Ratlosigkeit sah man ihm und seinen Mitarbeitern immer deutlicher an. Schließlich brach Buck Furlington, der jüngste in Forsters Team, das Schweigen: „Ich habe mal ein paar Berechnungen angestellt. Danach könnte die ‘Endeavour’ gerade vollständig vom Mond verdeckt sein, was bedeutet, dass auch die Funkwellen komplett abgeschirmt würden.“
Forster schüttelte sorgenvoll den Kopf: „Buck, ich verstehe ja, dass du dich an jeden Strohhalm klammern willst, aber der Strohhalm, den du dir ausgesucht hast, ist dafür wirklich ungeeignet. Wenn du in all deinen Seminaren während des Studiums richtig aufgepasst hättest, müsstest du wissen, dass Funkwellen auch reflektiert werden. Selbst wenn die ‘Endeavour’ also vollständig durch den Mond verdeckt wäre, würden ein paar Funkwellen am Mond vorbei gehen, dann auf Meteoriten, Asteroiden, Weltraummüll oder andere Planeten treffen und von dort so zur Erde reflektiert, dass hier wenigstens der Hauch eines Signales zu hören wäre.
Eine solch vollständige Abschirmung, wie du meinst, gibt es einfach nicht. Jedenfalls habe ich so etwas in meiner ganzen Dienstzeit noch nicht erlebt und ich bin weiß Gott schon lange in diesem Geschäft.“
Furlington wog seinen Kopf unentschlossen hin und her. Trotz Forsters einleuchtender Erklärung wollte er seine Theorie nicht so ohne weiteres aufgeben, auch wenn er sonst von der Meinung seines Chefs eine Menge hielt. Doch er hielt den Mund.
„Hat noch jemand eine Idee? Oder irgendwelche Vorschläge?“
Forster sah auffordernd und auch ein wenig hilflos in die kleine Runde. Denn normalerweise hatte er als Chef zu sagen, wo es lang ging, und war nicht auf Vorschläge seiner Mitarbeiter angewiesen.
„Na ja“, kratzte sich Jack Tallahan nachdenklich am Hinterkopf und sagte langsam: „Ich habe da so einen Gedanken, wie wir vielleicht doch herausbekommen können, wie es um die ‘Endeavour’ steht.“
„Dann spann uns nicht länger auf die Folter“, erwiderte Forster und sah seinen ältesten Mitarbeiter fragend an.
Tallahan überlegte kurz, ehe er anfing: „Ich erinnere mich, dass wir damals bei der Apollo-Mission ständig die Telemetriedaten aus dem Inneren der Raumkapsel überwacht haben. Dadurch wussten wir immer über den Sauerstoffgehalt der Atemluft, den Innendruck sowie die Innentemperatur und andere Werte Bescheid. So etwas müsste es doch heute auch noch geben.“
„Ja, sicher, aber ich wüsste nicht, wie uns das weiterbringen soll. Dadurch bekommen wir doch noch immer keinen Kontakt zu unseren Leuten“, meinte Forster und schüttelte seinen Kopf.
„Das nicht“, beharrte Tallahan, „aber wir wissen wenigstens, ob das Shuttle unbeschädigt ist.“
„Meinetwegen“, stimmte Mike Forster etwas zögernd zu, war er doch noch immer nicht ganz davon überzeugt, dass dieser Vorschlag sie einen entscheidenden Schritt voran bringen würde. „Du kannst ja mal zusammen mit Buck die Telemetriedaten durchchecken.“
Und nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Ist bestimmt besser, als hier nur tatenlos herumzusitzen.“
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Die „Explorer“ verließ ihre Umlaufbahn und raste nun auf den roten Planeten zu. Richard Snow steuerte die Raumfähre zu einem Landeplatz, den der Bordcomputer berechnet hatte, während Olga neben ihm saß und ihren Gedanken nachhing.
Fast zwei Jahre und elf Monate waren seit ihrem Start vergangen. Auf dieser langen Reise hatten sie nicht nur einmal geglaubt, ihr Ziel nicht mehr erreichen zu können - wenigstens nicht lebend. Denn auch ihr Flug war nicht ohne gefährliche Zwischenfälle verlaufen.
Für die erste Aufregung an Bord der „Explorer“ hatte ein defektes Ventil am Sauerstofftank gesorgt, durch das sie ungefähr ein Viertel ihres Sauerstoffvorrates verloren, ehe sie das Leck bemerkten. Daraufhin mussten sie auf einen Teil ihrer sportlichen Betätigungen verzichten, um Sauerstoff zu sparen.
Als nächstes legte ein Kurzschluss einen Teil der Solarzellenfläche des Shuttles lahm, so dass nicht mehr soviel Strom zum Aufladen der Bordakkumulatoren zur Verfügung stand, wie eigentlich nötig gewesen wäre. Aber auch hierfür fanden sie eine Lösung: Sie schalteten alle jene elektronischen und elektrischen Geräte ab, die für den sicheren Betrieb der Raumfähre nicht unbedingt gebraucht wurden. Denn weil sie nicht für derartige Reparaturen ausgebildet waren, konnten sie den Defekt auch nicht selbst beheben. Und zur Erde zurückzukehren, wo eine Reparatur möglich gewesen wäre, kam nicht in Frage, weil sie mittlerweile zwei Drittel der Strecke zum Mars zurückgelegt hatten.
Doch trotz all ihres Erfindungsreichtums wären sie fast doch noch gestorben, als schließlich ein Brand im Frachtraum ausbrach. Sie konnten ihn nur durch Öffnen der Frachtraumschleusen löschen, wodurch dem Feuer der Sauerstoff entzogen wurde. Allerdings verloren sie dabei nicht nur einen weiteren Teil ihres lebensnotwendigen Sauerstoffvorrates, sondern auch noch einen beträchtlichen Teil ihrer Ladung - darunter etliche Kisten mit Nahrungsmitteln - weil diese nicht genügend gesichert gewesen waren. Aus diesem Grund hatten sie dann noch ihre täglichen Nahrungsrationen verringern müssen.
Aber, so unglaublich das jetzt auch klang, irgendwie verspürte Olga eine gewisse Dankbarkeit für all diese Zwischenfälle, war doch dadurch die lange Flugzeit nicht so eintönig verlaufen, wie zunächst befürchtet. Doch dann lief ihr gleich wieder ein kalter Schauer den Rücken hinunter, als sie daran dachte, wie leicht sie dabei hätten umkommen können.
Vom Tod der anderen vier Astronauten wusste sie noch nichts. Man hatte es Richard und ihr bewusst verschwiegen, um sie nicht zu demotivieren. Und deshalb wusste sie auch nicht, dass die Hoffnungen der gesamten Menschheit, nach der Vernichtung der Erde doch noch irgendwie weiterzuleben, nun allein auf ihnen beiden ruhte.
Außerdem war es für sie im nachhinein ein Rätsel, wie sie all diese gefährlichen Situationen letztlich unbeschadet überstehen konnten und ihr kam unweigerlich der Gedanke, dass irgendjemand die ganze Zeit seine Hand schützend über sie gehalten haben musste, denn wie hätten sie sonst diese manchmal fast übermenschlichen Leistungen erbringen können?
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Forster sah Tallahans und Furlingtons bedrückten Mienen gleich an, dass etwas Schreckliches passiert sein musste. Deshalb traute er sich kaum zu fragen: „Was habt ihr herausgefunden?“
Buck Furlington sah Jack Tallahan an und überließ es ihm, die traurige Nachricht zu überbringen. Der zögerte zunächst, weil er erst nach den passenden Worten suchen musste: „Ich glaube, wir werden Irina und Mike nie mehr wiedersehen.“ Dann sah er zu Boden und machte erneut eine Pause, ehe er erklärte: „Die Auswertung der Telemetriedaten der ‘Endeavour’ hat ergeben, dass im Inneren des Shuttles kein Sauerstoff mehr vorhanden ist, sondern nur noch Vakuum.“
„Mein Gott, dass darf doch nicht wahr sein“, entfuhr es Forster, „seid ihr da ganz sicher?“
„Ja, leider,“ antwortete Buck an Tallahans Stelle, „jeder Zweifel ist ausgeschlossen. Wir haben sogar die Daten der letzten Stunden überprüft. Um genau 16:51 Uhr unserer Zeit gab es plötzlich einen rapiden Druckabfall. Die Luft muss innerhalb weniger Minuten komplett aus der ‘Endeavour’ entwichen sein.“
Forster klammerte sich noch an ein Fünkchen Hoffnung: „Und wenn es nur ein Messfehler ist? Ein ganz einfacher, mieser, hinterhältiger, kleiner Messfehler? Ein defekter Drucksensor? So etwas hatten wir doch schon des öfteren.“
Er sah seine beiden Kollegen der Reihe nach an, und sein flehender Blick bat sie, jetzt etwas hoffnungsvolles zu sagen. Doch Tallahan schüttelte nur traurig den Kopf: „Wir haben die Daten von allen Drucksensoren überprüft, von denen im Cockpit, von denen im Frachtraum, und denen in den Mannschaftsquartieren. Alle registrierten fast zur selben Zeit den Druckabfall, beginnend im Cockpit. Und der kam so überraschend, dass bestimmt nicht mehr genug Zeit blieb, damit sie noch in ihre Raumanzüge flüchten konnten. Irgendetwas muss ganz plötzlich ein so großes Loch in die ‘Endeavour’ gerissen haben, dass sie keine Möglichkeit mehr hatten, es zu flicken.“
Doch Forster wollte der Realität noch immer nicht ins Auge sehen: „Und wenn sie es trotzdem bis in die Rettungskapsel geschafft haben? Dann könnten sie doch noch leben?“
Wieder war so etwas wie ein Hoffnungsschimmer in seinen Augen zu sehen, der aber sofort erlosch, als Tallahan erwiderte: „Aber Mike, selbst wenn sie es bis in die Rettungskapsel geschafft hätten: Darin haben sie doch nur Proviant, Treibstoff und Luft für etwa eine Woche! Und sie bräuchten mindestens ein Jahr für den Rückflug!“
Nach diesen Worten drehte sich Forster stumm um. Und er verfluchte sich nun, dass er die Strategie, die drei Raumfähren jeweils einen anderen Kurs nehmen zu lassen und gegen die er von Anfang an gewesen war, nicht energischer bekämpft hatte. Denn dann hätten Mike Spencer und Irina Subotikowa seiner Meinung nach wenigstens eine kleine Chance gehabt, zu überleben.
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Die „Explorer“ wurde tüchtig durchgerüttelt, als Richard Snow sie knapp über der Oberfläche dahinsteuerte. Er suchte nach der vom Computer ausgewählten Landepiste - einer etwa drei Kilometer langen, ebenen Fläche, die genügend Platz zum Ausrollen bot - sowie einem Felsmassiv in deren Nähe, in das sie ihre Unterkunft bauen konnten.
Als er ein Gelände entdeckte, das genau diesen Anforderungen entsprach, klinkte er die zusätzlichen Wasser- und Sauerstofftanks aus ihren Halterungen aus. Kurz darauf öffneten sich an den Tanks Fallschirme und brachten die kostbare Fracht sicher zur Landung.
Nun flog Richard Snow noch eine Schleife, damit sie nicht allzu weit entfernt von den Tanks landeten und drückte die „Explorer“ nach unten. Dabei nahm das Rütteln immer weiter zu.
Snow schwitzte beim Landeanflug so heftig, dass ihm manchmal bald die Steuerkonsole aus den Händen geglitten wäre. Mit so heftigen Turbulenzen in der Marsatmosphäre hatte er wirklich nicht gerechnet.
Manchmal, so kam es Olga jedenfalls vor, schien er bereits die Kontrolle über das Shuttle verloren zu haben, weil es wie ein Spielball von den Marswinden hin und her gestoßen wurde. Ihr war es ein Rätsel, wie es Snow schließlich doch gelang, die „Explorer“ auf einem relativ ebenen Gelände zu landen. Dass es aber nur eben schien, bemerkte sie erst, als das vordere Fahrwerk der Raumfähre gegen irgendein Hindernis stieß und dabei wegbrach, so dass deren vorderer Teil auf dem Marsboden entlang schliff.
Die Schimpfworte, mit denen sie Richard Snow zu beglücken gedachte, brachte sie aber nicht mehr hervor, denn da sie im Gegensatz zu ihrem Kollegen nicht angeschnallt war, flog sie aus ihrer Sitzschale und prallte unsanft gegen die Cockpitscheibe.
Richard Snow fand keine Zeit, sich um sie zu kümmern, er musste erst einmal das Shuttle sicher zum Stehen bringen, ohne dass es noch gegen ein größeres Hindernis krachte. Aus der Luft hatte der Boden zwar eben ausgesehen, doch wie sich jetzt herausstellte, lag das nur daran, dass all die kleinen und größeren Felsbrocken, mit denen die Oberfläche übersät war, die gleiche Farbe wie der Untergrund besaßen und daher von oben nicht auszumachen gewesen waren.
Durch den Verlust des vorderen Fahrwerkes konnte Richard Snow die Raumfähre nun zwar kaum mehr kontrollieren, aber er riss so stark an der Steuerkonsole herum, als könne er dadurch diesen Verlust wieder wettmachen.
Als das Shuttle schließlich zum Stillstand kam, ohne vorher noch gegen ein weiteres größeres Hindernis zu prallen, ließ Snow seinen Kopf erschöpft auf das Steuerpult sinken und schickte ein so inbrünstiges Dankgebet zum Himmel, wie er es in seinem Leben bisher wohl noch nie getan hatte. Allerdings war das ja auch keine alltägliche Situation gewesen, selbst für einen Astronauten.
Nach einer Weile hob er den Kopf, sah zu Olga und überzeugte sich dann, dass sie sich nicht ernsthaft verletzt hatte. An die harte Landung würde sie wohl nur eine riesige Beule erinnern, und das auch nur vorübergehend. Anschließend zog er seinen Skaphander an und begann, den Frachtraum zu entladen.
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„Nein, diese Fragen sind nicht abgesprochen, deshalb werde ich sie auch nicht beantworten“, protestierte Ken Rowlington lautstark. Er war Kandidat für die in einer Woche stattfindenden Gouverneurswahlen in Texas und jetzt zu Gast in der Sendung „Interview der Woche“ des Senders „News24“. Und da diese Live-Sendung schon in wenigen Minuten begann, konnte man Rowlingtons Erregung durchaus verstehen.
Dieser Wutausbruch richtete sich gegen Kate Field, verantwortliche Redakteurin und Moderatorin der Sendung. Sie versuchte, sich trotz ihrer Erregung so sachlich wie möglich zu verteidigen: „Tut mir Leid, dass die neuen Fragen nicht vorher mit Ihrem Büro abgesprochen werden konnten, aber wenn es neue Ereignisse gibt, müssen wir als Newssender darauf entsprechend reagieren.“
„Ach was“, erwiderte Rowlington, immer noch aufgebracht, „ich weiß doch genau, dass Sie mit Grimton, meinem Gegenkandidaten, unter einer Decke stecken und mich hier bloß blamieren wollen.“
Auch Kate geriet nun zusehends in Rage: „So ein Quatsch. Ihr Politiker wollt doch immer nur die Fragen gestellt bekommen, auf die ihr eine schön klingende Antwort parat habt, damit ihr gut da steht. Aber die Fragen, die die Menschen wirklich interessieren, könnt ihr nicht beantworten und wollt euch deshalb davor drücken ...“
Damit die Auseinandersetzung nicht weiter eskalierte, mischte sich jetzt der Aufnahmeleiter ein, in dem er kommandierte: „Licht“. Die Scheinwerfer erstrahlten und erfüllten das Studio mit gleißender Helligkeit. Dann begann der Aufnahmeleiter zu zählen: „Und fünf, vier, drei, zwei, eins - Kamera ab“.
Kate strich sich schnell noch eine störende Haarsträhne aus dem Gesicht, rückte sich ihren Stuhl zurecht und begann: „Guten Abend bei dem ‘Interview der Woche’, hier bei ‘News24’. Ich bin Kate Field und freue mich, heute als Gast Ken Rowlington, den Kandidaten der Republikanischen Partei für die kommende Woche stattfindenden Gouverneurswahlen, begrüßen zu dürfen. Mister Rowlington, beginnen wir gleich mit der Frage, die unsere Zuschauer angesichts der aktuellen Ereignisse im wahrsten Sinne des Wortes wohl am brennendsten interessieren dürfte: Wie wichtig ist für Sie und Ihre Partei das Thema Umwelt?“
Kate konnte deutlich sehen, wie Rowlington trotz des von der Maskenbildnerin ziemlich dick aufgetragenen Make-up rot vor Zorn wurde, weil sie es gewagt hatte, eine dieser nicht abgesprochenen Fragen zu stellen und das auch noch gleich zu Beginn! Sie wusste, dass ihn das in seiner Ansicht, hier hätten alle die Absicht, ihn bloßzustellen, um seinem Gegenkandidaten zu helfen, nur noch bestärken musste.
Doch das ließ sie kalt, genauso wie seine nur mühsam beherrschte Stimme: „Das Thema Umwelt hat für uns natürlich eine der höchsten Prioritäten. Das können Sie eindrucksvoll an den vielfältigen Vorschlägen erkennen, die unsere Partei dazu gemacht hat. So erarbeiten wir zurzeit eine Vorlage für bilaterale Abkommen mit unseren Nachbarländern, um neue Grenzwerte für verschiedene Emissionen durchzusetzen. Darüber hinaus haben wir geplant, nach der Wahl die Investitionen in den Umweltschutz zu überprüfen und eventuell anzupassen.“
Aber Kate ließ sich von solchen nichtssagenden Floskeln nicht einwickeln, dazu war sie schon zu lange im Geschäft: „Was heißt anpassen? Anpassen kann auch absenken bedeuten. Und warum ist von all diesen Dingen nichts in Ihrem Wahlprogramm zu lesen?“
Ken Rowlington fand langsam seine Fassung wieder und glaubte, sich mit der nächsten Antwort gut aus der Affäre ziehen zu können, denn seine Stimme klang nun deutlich selbstsicherer: „Wie ich schon sagte, sind unsere Bemühungen bezüglich des Umweltschutzes sehr vielfältig, so vielfältig, dass wir nicht die Möglichkeit haben, jeden Vorschlag einzeln in unserem Wahlprogramm aufzuführen.“
Kate genügte diese Aussage aber wieder nicht: „Gehen wir trotzdem einmal ins Detail: Wie wollen Sie beispielsweise gegen die globale Erwärmung vorgehen?“
„Das ist doch nur eine Theorie, die nicht bewiesen ist. Und dazu noch eine von vielen. Wollten wir jede dieser Theorien für bare Münze nehmen und geeignete Abwehrmaßnahmen entwickeln, kostete das viel Geld - das Geld von Ihnen und mir, das Geld von uns Steuerzahlern. Zeigt sich dann später, dass die Theorie falsch war, ist das ganze Geld“, er blies bei diesen Worten über die Fläche seiner geöffneten Hand, „einfach futsch. Und spätestens dann müssen wir Politiker uns wieder Fragen von Journalisten wie Ihnen gefallen lassen, warum wir so leichtsinnig mit dem Geld der Steuerzahler umgegangen seien. Und selbst wenn sich eindeutig herausstellen sollte, dass es die globale Erwärmung wirklich gibt, haben wir sicher auch noch später genügend Zeit, um geeignete Gegenmaßnahmen zu ergreifen.“
„Das mag zutreffen, aber was ist mit der erst kürzlich aufgetauchten Prophezeiung einiger Wissenschaftler, dass die Sonne sich viel früher als gedacht - nämlich schon in den nächsten Jahren - zu einem so genannten roten Riesen verwandeln und anschließend in sich zusammenfallen könnte? Die Folgen einer solchen Katastrophe brauche ich Ihnen ja sicher nicht zu beschreiben. Gebietet Ihnen Ihre Fürsorgepflicht für Ihre Wähler denn nicht wenigstens in diesem Fall, der ja nun wirklich keine Zeit für lange Planungen ließe, etwas zu unternehmen?“, hakte die Moderatorin erneut nach.
„Ach was, das ist das absolut lächerlichste, was ich in letzter Zeit überhaupt gehört habe. Jedes Kind hat doch in der Schule gelernt, dass es noch Millionen Jahre dauern wird, bis so etwas passiert.“
„Für so lächerlich halte ich das nicht, denken Sie nur an die an einem kochenden See in Afrika verdursteten Tiere oder die wahrscheinlich durch eine extrem hohe Sonneneinstrahlung verursachte Explosion einer Tankstelle in Florida!“
„Sie haben eben Ihre Meinung und ich die meine, das ist in einer Demokratie nur natürlich“, lautete die sarkastische Antwort.
„Unser Nachbarstaat Florida scheint das aber auch nicht auf die leichte Schulter zu nehmen, denn man baut dort bereits riesige Bunker, in denen viele Menschen - gesetzt den Fall, dass eine solche Katastrophe Wirklichkeit würde - für lange Zeit überleben könnten.“
„Ich bin nur ein texanischer Politiker. Wenn Sie Auskunft über Vorgänge in Florida haben wollen, dann müssen Sie einen Politiker von dort in Ihre Show einladen und sich Ihre Fragen von ihm beantworten lassen.“
„Unter Ihrer Regierung würde es also keine derartigen Vorsichtsmaßnahmen geben?“
„Mit Sicherheit nicht!“
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Als Olga aufwachte, brummte es gewaltig in ihrem Schädel - und in ihren Ohren. Sie schlug sich zweimal mit den flachen Händen auf ihre Ohrmuscheln, aber das Brummen ließ sich dadurch nicht vertreiben. Dann rappelte sie sich auf und sah sich verdutzt um, ehe sie sich an die harte Landung und ihren kleinen Unfall erinnerte.
Allmählich wurden ihre Gedanken wieder klarer. Und so bemerkte sie erst jetzt, dass das Brummen in ihren Ohren von draußen kam.
Sie schaute aus dem Cockpitfenster und erblickte Richard Snow, der in etwa dreihundert Meter Entfernung mit einem Bohrroboter einen Tunnel in eine Felswand zu treiben begann. Dann erhob sie sich, stieg in ihren Skaphander und ging zu Snow.
Dieser hatte ihr Kommen nicht bemerkt und fuhr erschrocken herum, als er auf einmal ihre Stimme aus seinen Helmlautsprechern hörte: „Bei diesem Krach werden sich aber die Marsbewohner bald bei uns beschweren.“ Er lachte kurz auf und antwortete: „Ja, und wenn sie unsere Baugenehmigung sehen wollen, haben wir auch schlechte Karten“, worauf er sich wieder seiner Arbeit zuwandte.
Olga sah ihm eine Weile schweigend zu und fragte dann: „Und was kann ich inzwischen tun? Schließlich bin ich ja nicht als Touristin mitgeflogen, sondern als Astronautin!“
Snow antwortete, ohne seine Arbeit zu unterbrechen: „Wie wär’s, wenn Sie uns etwas zu essen machen? Danach dürfen Sie sich ein wenig ausruhen und mich in etwa drei Stunden hier ablösen. So können wir rund um die Uhr arbeiten.“
Und dann fügte er noch spöttisch hinzu: „Und wenn das der Frau Astronautin noch nicht genug ist, kann sie ja noch Wache stehen und mich vor den feindlichen Marsbewohnern beschützen.“
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Bernie Holsten lief der Schweiß in Strömen übers Gesicht. Zwar wischte er sich immer wieder mit seinem Hemdsärmel darüber, aber da der Ärmel inzwischen selbst klatschnass war, brachte ihm das kaum noch eine Erleichterung.
Zwischendurch flogen seine Augen immer wieder zu seiner Armbanduhr. Diese Schicht musste doch bald zu Ende sein! Doch die Uhr schien kein Mitleid mit ihm zu empfinden, denn sie zählte die Minuten unendlich langsam. So kam es Bernie jedenfalls vor.
Erst halb drei! Also noch volle zwei Stunden, bis die Ablösung kam. Bis dahin hatte er sich bestimmt gänzlich in Wasser aufgelöst.
Was musste es auch so warm sein in dieser blöden Höhle. Eintausend Meter tief hatten sie sie graben müssen. Angeblich sollten darin einmal mehrere tausend Menschen wohnen, um hier vor der Explosion der Sonne Zuflucht zu finden. So behauptete es jedenfalls ein Gerücht, das unter den Arbeitern, die an der Höhle bauten, gerade die Runde machte.
Aber Bernie glaubte nicht an solche Märchen. Er vermutete, dass sie an einem geheimen Regierungsbunker arbeiteten, der nur für ein paar ganz hohe Tiere bestimmt war. Vermutlich für den Fall, dass es mit Nordkorea zu einem Krieg wegen dessen Atom-Programm kam.
Bernie blickte hinüber zu seinem Kumpel Fred Farmer, ob der auch so mit der Hitze kämpfen musste. Doch Fred pflasterte unverdrossen Stein an Stein, ohne sich auch nur einmal über die Stirn zu wischen. Dabei hatte Fred eine anstrengendere Arbeit als er, denn Bernies Aufgabe bestand nur darin, mit einem Schaufellader Fred und die anderen Pflasterer ständig mit neuen Steinen zu beliefern. Er konnte dabei sitzen und ganz bequem durch die entstehende unterirdische Stadt fahren.
Dabei kam er weit herum und sah, wie alles jeden Tag Stück um Stück wuchs. Er fuhr gerade an einer Gruppe von Gasschweißern vorbei, die damit beschäftigt waren, irgendwelche Rohre miteinander zu verbinden, als es passierte. Bernie hatte sich wieder einmal mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn gewischt und war so einen Moment abgelenkt. Eigentlich hätte er gerade hier besonders acht geben müssen, denn an dieser Stelle verengte sich die Fahrbahn. Durch seine kurze Unaufmerksamkeit kam er von der Straße ab und stieß mit der Schaufel seines Radladers eine Batterie von Schweißgasflaschen um.
Unglücklicherweise fielen diese auch noch in Richtung der Schweißer, die mit offener Flamme arbeiteten. Eine dieser Flaschen traf beim Umfallen auf ein Hindernis, wobei das Ventil am Kopf der Flasche abgeschlagen wurde und so deren brennbarer Inhalt in Richtung der Schweißer strömte.
Diese bemerkten den Unfall nicht gleich, weil sie sich auf ihre Arbeit konzentrierten und sowieso jede Menge Baulärm die Höhle erfüllte. Bernie schrie den Schweißern eine Warnung zu, aber das ausströmende Gas war schneller: Es erreichte die Schweißbrenner und entzündete sich.
Die anschließende Explosion hatte verheerende Folgen. Denn da der Druck in der Höhle nicht einfach entweichen konnte, pflanzte sich die Druckwelle auch bis in die entlegenste Ecke fort und walzte alles nieder.
Keiner der hier unten beschäftigten Arbeiter überlebte dieses Inferno. Und das war noch nicht alles: Durch die enorme Wucht der Detonation wurde die Höhle so instabil, dass man es nicht mehr riskieren konnte, hier später einmal Menschen unterzubringen. Also musste man mit dem Bau einer neuen beginnen, und die Zeit drängte immer mehr ...
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Zwei Wochen dauerten die Bohr- und Schachtarbeiten nun schon. Und sie waren gut voran gekommen, denn das Gestein besaß glücklicherweise keine allzu große Härte.
Sie arbeiteten rund um die Uhr, wobei sie sich alle sechs Stunden abwechselten. Und wenn einer von beiden mal nicht schlafen konnte, half er dem anderen mit, obwohl er eigentlich keinen „Dienst“ hatte. Deshalb lag Richard Snow jetzt auch nicht in seinem Schalensessel im Cockpit der „Explorer“ und schlief, sondern plagte sich gerade mit einer schweren Stahltür ab, die die Außeneinheit der Schleuse am Eingang ihrer Höhle bilden sollte.
Nur diese äußere Tür fehlte noch, dann war die Schleuse funktionsbereit und sie konnten mit dem Abpumpen der Marsatmosphäre aus dem Inneren der Höhle beginnen. Anschließend würden sie ein luftähnliches Gasgemisch einleiten, das in seiner Zusammensetzung der Erdatmosphäre glich. Dabei musste dann ein Druck von einem Bar aufgebaut werden, damit sie in der Höhle keinen Raumanzug mehr brauchten.
Als nächstes hatten sie vor, zu dem Teil der Höhle, den sie noch erweitern wollten, eine Tür einzubauen. Hinter dieser konnten sie dann weiter arbeiten, ohne dass der dabei entstehende Staub in den bereits fertiggestellten Teil der Höhle eindrang.
Richard Snow ächzte unter der Last der schweren Stahltür. Damit Olga das nicht hören konnte, hatte er extra sein Mikrofon abgeschaltet. Schließlich sollte sie nicht merken, wie sehr ihn diese Arbeit anstrengte. Er wollte vermeiden, dass sie ihm dann ihre Hilfe anbot. Auch wenn sie sich mittlerweile duzten, weil sie das gemeinsame harte Arbeiten einander näher gebracht hatte - eine solche Blöße würde er sich niemals geben. So eine Schufterei war schließlich reine Männersache.
Endlich hatte er die Tür in die dafür vorgesehenen Aufhängungen gehievt und sie befestigt. Nun schaltete er den Steuerstromkreis ein und betätigte eine Taste, worauf sich das Außentor erwartungsgemäß schloss.
Zufrieden klatschte er in die Hände, schaltete dann das Mikrofon wieder ein und informierte Olga über seinen Erfolg. Nun hatten sie die schwerste Arbeit hinter sich und konnten es ruhiger angehen lassen.
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Die riesigen Solarzellenausleger der ISS glänzten in der Sonne. Sie bildeten gewissermaßen das Kraftwerk der Raumstation, denn sie waren für die gesamte Stromversorgung zuständig. Der von ihnen erzeugte Strom wurde entweder gleich verbraucht oder in Batterien gespeichert.
Die Solarzellen bestanden aus den aktuellsten und leistungsfähigsten Modellen, die die Industrie zurzeit liefern konnte. Und das aus gutem Grund, stieg doch der Energiebedarf der Raumstation - trotzdem man ihren Ausbau inzwischen eingestellt hatte - ständig weiter. Sakralow vermutete, dass dieser rätselhaft hohe Stromverbrauch vor allem auf die Kappe der Klimaanlage ging. Denn da die ISS - anders als die Erde - nicht von einer schützenden Atmosphäre umgeben war, heizte ihr die Sonne besonders ein. Die extreme Sonneneinstrahlung brachte andererseits aber auch einen Vorteil mit sich: Sie ließ die Solarzellen nämlich mehr Strom produzieren als zuvor berechnet, was den unerwartet hohen Stromverbrauch zum größten Teil wieder ausglich. Deshalb schien für Sakralow die Welt in Ordnung zu sein und er machte sich darüber keine Gedanken mehr - ein großer Fehler, wie sich bald herausstellen sollte.
Denn der gesamte von den Sonnensegeln erzeugte Strom musste zunächst die Speicherbatterien passieren, ehe er zu den eigentlichen Verbrauchern gelangte. Die Batterien waren aber nur für die zu erwartete Solarzellenleistung ausgelegt - nicht aber für die tatsächliche - und deshalb erwärmten sie sich viel mehr, als sie durften. Dadurch verdampfte immer etwas Elektrolytflüssigkeit, wobei sich wiederum hochexplosives Gas bildete.
Das machte sich zunächst nicht weiter bemerkbar. Doch eines Tages war es soweit: In einer Zelle hatte sich fast der gesamte Elektrolyt in Gas verwandelt, das sich durch die Überhitzung der Batterie schließlich entzündete.
Wegen der geringen Gasmenge besaß die folgende Explosion keine besonders große Wucht, so dass die Astronauten an Bord der ISS - zumal sich der Batterieraum in einer abgelegenen Ecke der Raumstation befand - nicht einmal ein leises „Plopp“ vernahmen. Aber sie reichte aus, um weitere Zellen der Batterie zu beschädigen. Daraufhin lief ein Teil der ätzenden Elektrolytflüssigkeit aus, teilte sich in unterschiedlich große Tropfen, die dann, getragen von der Schwerelosigkeit, durch den Raum schwebten. Einige davon setzten sich an den Wänden ab und begannen, sich in deren Oberfläche zu fressen. Das Verhängnis war nicht mehr aufzuhalten ...
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Sie hatten schon fast den gesamten Frachtraum der „Explorer“ entladen - nur die Lebensmittelvorräte waren noch darin - als sich das Wetter fast schlagartig änderte. Von einer Sekunde zur anderen geriet die bis dahin ruhige Atmosphäre in Bewegung und ein immer stärker werdender Wind trieb Staub vor sich her, so dass sie bald fast nichts mehr sehen konnten. Dazu verdunkelte sich der Himmel zusehends. Der Wind nahm weiter zu, verwandelte sich schließlich in einen Orkan und bekam dadurch eine solche Wucht, dass er sogar Steine von der Größe eines Tischtennisballes mit sich riss.
Richard Snow und Olga Gregowna mussten aufpassen, dass sie von diesen Geschossen nicht getroffen wurden. Kritischster Punkt dabei war die Scheibe des Helmes. Denn wenn ein Stein die Scheibe durchschlug, würde nicht nur die Atemluft entweichen, sondern auch der Druck im Skaphander schlagartig sinken, weil die Marsatmosphäre einen viel geringeren Druck als die Erdatmosphäre besitzt. Eine mit Luft vollgepumpte menschliche Lunge könnte dann ihrem Innendruck nicht mehr standhalten und zerplatzte wie eine Seifenblase.
Snow versuchte diese Gedanken zu verscheuchen, während er in der Ladeluke des Frachtraums der „Explorer“ stand und Olga Gregowna Kisten mit Nahrungsmitteln reichte, die diese dann auf einem Transportwagen ablud.
„Wenn der Sturm nicht bald nachlässt, müssen wir aufhören. Denn wenn uns so ein fliegender Stein trifft, sind wir erledigt“, hörte Olga Richard Snows Stimme in ihren Helmlautsprechern.
„Aber wir haben kaum mehr Lebensmittel in der Höhle. Wir müssen heute mindestens zwei Transporte schaffen, damit wir eine Weile damit auskommen“, wandte sie ein.
Als Antwort bekam sie nur ein Brummen. Richard Snow sagte ihr nichts von seinem Gefühl, dass sich die Raumfähre unter seinen Füßen manchmal zu bewegen schien. Erstens war er sich da nicht sicher, zweitens wollte er sie nicht beunruhigen und drittens glaubte er nicht, dass es einem Marssturm gelingen würde, etwas so Schweres wie die „Explorer“ ernsthaft zu gefährden.
Er ging in den Frachtraum zurück, stieg auf eine Leiter und wollte gerade etwas aus dem obersten Fach eines Regals nehmen, als er mitsamt der Leiter nach hinten kippte und von dem Inhalt des Regals begraben wurde. Mühsam versuchte er, sich wieder aufzurappeln, doch er bekam irgendwie keinen festen Boden unter die Füße. Schließlich begriff er: Die „Explorer“ war umgekippt und lag nun auf der Seite.
Schwerfällig, weil von seinem Skaphander behindert, krabbelte er durch die Regale Richtung Ausgang. Als er die Tür des Frachtraums erreichte, fand er den Weg versperrt: Die Raumfähre lag genau auf jener Seite, auf der sich der Ausstieg befand.
Richard Snow überlegte nicht lange, sondern kletterte wieder an den Regalen hinauf, genau an der Wand entlang, die eigentlich der Fußboden war. Dabei rutschte er jedes Mal ab, wenn die „Explorer“ voll von einer Sturmböe erwischt wurde. Schließlich hatte er doch sein Ziel erreicht: Eine Luke im Boden des Frachtraums, die nun aber wie ein Fenster nach der Seite zu öffnen ging.
Es gelang ihm nicht gleich, mit dem hinderlichen Anzug durch die enge Öffnung zu klettern, aber nach einiger Anstrengung schaffte er es doch und ließ sich vorsichtig außen am Rumpf der Raumfähre zu Boden gleiten. Gott sei Dank war das Shuttle nicht auf jene Seite gekippt, auf der der mit Lebensmitteln beladene Transportwagen stand. Sonst wäre Olga mitsamt dem Wagen zerquetscht worden.
Er schüttelte sich bei diesem Gedanken und ging auf Olga zu, die von alledem nichts mitbekommen hatte, weil sie mit dem Rücken zur „Explorer“ stand und unverdrossen Kiste auf Kiste in den Transportwagen stapelte. Richard Snow half ihr und musste sich zeitweise richtig gegen den Wind stemmen, um nicht umgeworfen zu werden. Olga erging es nicht anders.
Und auch die Kisten wurden durch den Orkan hin und her geschoben, so dass sie ihnen manchmal regelrecht hinterherlaufen mussten. Nur die Behälter auf dem Transportwagen konnten nicht mehr verrutschen, weil sie ringsum von Gitterwänden eingeschlossen waren.
Als sie alle Kartons auf dem Transportwagen verstaut hatten, meinte Richard Snow zu Olga: „Wir hören lieber auf für heute und warten, bis sich der Sturm wenigstens etwas gelegt hat.“
Sie widersprach dieses Mal nicht und stieg zu ihm in den kleinen Führerstand des Transportwagens. Snow startete den Elektromotor des Vehikels und fuhr im Schritttempo Richtung Höhle.
Schneller zu fahren, war auch gar nicht möglich, denn sie mussten um die zahlreichen Felsbrocken herumkurven, die sich wie gesät überall auf ihrem Weg befanden. Glücklicherweise lagen die Steine aber nicht so eng, als dass es kein Durchkommen mehr gegeben hätte.
Mehrfach erfassten sie unterwegs so starke Böen, dass der Elektromotor des Transporters gequält aufjaulte, aber das Fahrzeug keinen Schritt mehr vorwärts brachte. Da der Wind sich dabei ständig drehte, wurden sie kurz darauf plötzlich wieder so stark von hinten geschoben, dass sie mehrmals nur knapp einer Kollision mit einem der vielen Felsbrocken entgingen.
Sie hatten bereits den Windschatten des Felsmassivs, in dem sich ihre Höhle befand, erreicht, als ein lautes Krachen durch ihre schallgedämmten Raumanzüge drang, das eindeutig von hinten kam. Wenn sie ein Geräusch von draußen hören konnten, musste es schon sehr stark gewesen sein.
Sie glaubten zunächst, sie hätten einen Teil ihrer Ladung verloren. Doch als sie sich umdrehten, erstarrten sie vor Schreck. Eine Orkanböe hatte die drei riesigen Bremsfallschirme der „Explorer“, die sie bis jetzt aus Zeitmangel noch nicht geborgen hatten, erfasst und zog so das Shuttle mit wachsender Geschwindigkeit über die Marsoberfläche direkt auf sie zu!
Olga war vor Entsetzen wie gelähmt und konnte kein Glied rühren. Richard überwand seinen Schrecken zu ihrem Glück viel schneller und fuhr den Transporter so dicht wie möglich an die Wand des Felsmassivs heran.
Die „Explorer“ hatte sie unterdessen fast eingeholt und prallte gefährlich nah vor ihnen gegen die Felswand. Glücklicherweise wurde das Shuttle durch den Aufprall aber so weit zurückgeschleudert, dass es dann an dem Transporter der beiden Astronauten vorbei rutschte, ohne irgendeinen Schaden anzurichten. Kurz darauf verschwand das Raumschiff in einem Abgrund.
Richards Stimme riss Olga schließlich aus ihrer Erstarrung: „Ich wollte ohnehin bald ein neues Shuttle bei der NASA bestellen, denn mit so einem alten Modell wie der ‘Explorer’ wird man garantiert von jedem Außerirdischen bloß ausgelacht.“ Aber trotz des kecken Spruchs hörte sie deutlich, dass auch ihm der Schrecken noch in den Gliedern saß.
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Yves de la Foncker, Stellvertreter von Jewgeni Sakralow und damit zweitwichtigster Mann an Bord der ISS, hatte Hunger. Das war nichts Ungewöhnliches, denn der Franzose wurde fast ständig von einem Hungergefühl geplagt. Diesem Drängen konnte er meist nicht lange wiederstehen und schob sich dann schnell irgendetwas Essbares in den Mund, was sich auf wunderbare Weise bisher noch nicht auf seine Figur ausgewirkt hatte. De la Foncker sah schlank aus wie eh und je - wofür er von vielen beneidet wurde.
Schon bei der zweiten ungeduldigen Knurrattacke seines Magens gab der Astronaut seinen Widerstand auf. ‘Dann muss die Reparatur der Notbeleuchtung eben etwas warten’, dachte er und stieß sich von der Decke der Kommandozentrale ab. Denn da es auf der ISS keine Schwerkraft gab, brauchte er für diese Arbeit auch keine Leiter. Die fehlende Gravitation hatte darüber hinaus den Vorteil, dass Unfälle durch Stürze auf der Raumstation praktisch ausgeschlossen waren.
De la Foncker schlüpfte in seine Magnetschuhe, die er und die anderen Astronauten erst kurz vor Beginn der Marsmission bekommen hatten, damit sie sich besser fortbewegen konnten und nicht alle im Raum herumschwebten. Sonst hätte es bei der Ankunft der Besatzungen der Raumfähren, die später zum Mars weiterfliegen sollten, unweigerlich ein furchtbares Durcheinander gegeben.
Wieder festen Boden unter den Füßen, machte sich der Franzose auf den Weg in die Küche. Unterwegs begegneten ihm mehrere große Tropfen einer braunen Flüssigkeit, die ihm geradezu mundgerecht in Kopfhöhe über den Weg schwebten. ‘Wie praktisch’, lachte er zufrieden in sich hinein, ‘da hat Jewgeni seine Suppe wohl mal wieder nicht aufgegessen’, und schnappte nach dem größten Tropfen. Doch kaum hatte er ihn hinuntergeschluckt, fing es in seinem Mund und seiner Speiseröhre fürchterlich zu brennen an. ‘Mein Gott’, dachte er erschrocken, ‘das Zeug brennt ja wie Feuer. Das kann doch unmöglich eine Suppe gewesen sein. Wollte mir Jewgeni etwa wegen meiner häufigen Esserei einen Streich spielen?’
Da das Brennen aber noch stärker wurde, ging er zurück in die Kommandozentrale und fragte Sakralow: „Okay, du hast gewonnen. Ich werde dir nie wieder etwas wegessen. Aber musste der Trick mit der Suppe wirklich sein? Das Zeug brennt nämlich immer noch höllisch in mir.“
„Was für eine Suppe?“, erwiderte Sakralow verständnislos, „ich habe schon seit über einer Woche keine mehr gekocht.“
Yves de la Foncker sah seinen Vorgesetzten prüfend an und sagte: „Du brauchst dich nicht mehr zu verstellen; ich bin doch voll auf deinen Trick hereingefallen!“
„Ich schwöre dir, ich habe überhaupt keinen Trick versucht. Was soll denn das für ein Scherz gewesen sein?“
„Na die leckere braune Suppe, die mir aus der Küche fast direkt in den Mund geschwebt ist, dann aber wie Feuer brannte.“
Sakralow stand auf, stellte sich vor seinen Kollegen und forderte ihn auf: „Öffne mal deinen Mund.“
De la Foncker zuckte zuerst verständnislos mit den Schultern, klappte dann aber doch gehorsam seine Kiefer so weit wie möglich auseinander.
Sakralow verstand beim ersten Blick: „Dein ganzer Mund ist verätzt. Du musst sofort jede Menge Wasser trinken. Warte, ich hole welches.“
Daraufhin rannte der Kommandant, so schnell es eben mit den Magnetschuhen ging, in die Küche und kam nach kurzer Zeit mit mehreren großen Flaschen zurück. Er öffnete eine und reichte sie dem Franzosen mit den Worten: „Am besten, du trinkst die jetzt alle aus. Auf irgendeine rätselhafte Weise hast du dich innerlich verätzt und diese Säure muss jetzt so weit als möglich verdünnt werden. Was hast du denn zuletzt gegessen oder getrunken?“
„Na die braune Suppe, das habe ich dir doch schon gesagt“, stieß de la Foncker zwischen zwei großen Schlucken hervor.
Sakralow erwiderte: „Und ich habe dir bereits vorhin gesagt, dass ich schon lange keine mehr gekocht habe“, und verließ die Kommandozentrale.
Er ging genau den Weg zurück, auf dem de la Foncker in die Kommandozentrale gekommen war. Vielleicht entdeckte er ja noch mehr von den schwebenden Tropfen, die der Franzose versehentlich für Suppe gehalten hatte. Dann konnte er möglicherweise ihre Flugbahn zurückverfolgen und ihre Quelle entdecken. Und tatsächlich: Auf dem Gang vor der Küche trieb ein Meer verschieden großer brauner Tropfen langsam von links nach rechts. Sakralow brauchte nicht lange zu suchen, wo diese herkamen; die zahlreichen Löcher in der Verkleidung der linken Wand waren schließlich nicht zu übersehen. Sie hatten die Wand praktisch in ein Sieb verwandelt.
Der Kommandant überlegte kurz, was sich hinter dieser Wand befand: der Batterieraum! Obwohl sich dessen Tür nur drei Meter vor ihm befand, wählte Sakralow einen Umweg, um dahin zu gelangen. Denn mit diesen ätzenden Tropfen durfte er auf keinen Fall in Berührung kommen!
Vorsichtig öffnete der Russe die Tür des Batterieraums. Wenn er einen zu heftigen Luftzug verursachte, würden ihm womöglich die Säuretropfen direkt ins Gesicht geschleudert. Als er den Raum betreten hatte, stockte dem Kommandanten der ISS fast der Atem. Wie eine riesige Wolke schwebten überall im Raum Tropfen herum. Sie kamen offensichtlich nur aus einer der zahlreichen Batterien. Klar, die anderen mussten noch unbeschädigt sein, sonst hätte es unweigerlich Unregelmäßigkeiten in der Stromversorgung gegeben, die den Astronauten aufgefallen wären.
Die Säurewolke strebte langsam in Richtung Küchengang. Sakralow begriff, welches Glück im Unglück das für sie bedeutete. Nicht auszudenken, was passiert wäre, hätte sich diese Wolke statt durch die Wand zum Küchengang durch die Außenhaut der ISS gefressen, die sich auf der anderen Seite des Batterieraumes befand! Er hatte nun genug gesehen und zog sich vorsichtig zurück.
Die ganze Zeit über war Sakralow darauf bedacht gewesen, keinen Tropfen zur Tür hinaus schweben zu lassen. Einer musste es aber trotzdem geschafft haben, denn beim Rückwärtsgehen spürte er plötzlich etwas Feuchtes am linken Ohrläppchen und gleich darauf ein starkes Brennen. Der Kommandant zuckte zur Seite, worauf das Brennen nachließ, und blickte sich um. Dicht vor seinem Gesicht befand sich ein etwa fingerkuppengroßer Tropfen und steuerte direkt auf sein rechtes Auge zu! Reflexartig blies Sakralow den Tropfen an, der sich daraufhin in mehrere kleinere zerteilte, die aber allesamt von ihm weg schwebten. Der Russe atmete erleichtert auf und ging zurück zur Kommandozentrale.
Dort fand er de la Foncker, umschwebt von einem Haufen leerer Wasserflaschen. „Das hast du gut gemacht“, lobte er den Franzosen, „aber du musst noch mehr trinken, um die Säure in deinem Körper so weit als möglich zu verdünnen, damit sie keinen Schaden mehr anrichtet.“
„Ich kann das noch immer nicht glauben“, erwiderte de la Foncker matt, „woher soll denn die Säure gekommen sein?“
„Eine unserer Batterien ist geplatzt, warum weiß ich nicht. Jedenfalls befindet sich im Batterieraum eine ganze Wolke von Säuretropfen. Es ist wirklich ein Wunder, dass diese Wolke in Richtung Küche zog und nicht die Außenhaut beschädigt hat. Das gibt uns genau die Zeit, die wir für eine Evakuierung brauchen. Denn hier bleiben können wir nicht, weil wir keine Möglichkeiten haben, die Säure zu neutralisieren. Dazu hat sie sich schon zu weit verteilt. Und früher oder später wird die Säure doch irgendetwas Wichtiges - vielleicht sogar unsere Landekapsel - beschädigen. Dieses Risiko werde ich nicht eingehen und deshalb verschwinden wir jetzt von hier.“
Während seiner letzten Worte hatte sich Sakralow bereits den Arm seines Kollegen über die Schulter gelegt, um ihm aufzuhelfen und beim Gehen besser stützen zu können. Unterwegs gingen sie sehr vorsichtig, um ja keinen umherschwebenden Säuretropfen zu übersehen und von ihm verletzt zu werden.
Da sich die Landekapsel auf der dem Batterieraum gegenüberliegenden Seite der ISS befand, hoffte Sakralow, dass sie unbeschädigt war. Die Außenhaut des kleinen Raumschiffes zu untersuchen, blieb keine Zeit, denn dies konnte nur vom Weltall aus geschehen, indem einer von ihnen einen Skaphander anzog und die Oberfläche Stück für Stück absuchte. Statt dessen musste ein Drucktest im Inneren der Landekapsel genügen.
Als sich dabei kein Druckabfall zeigte, nickte Sakralow zufrieden und ließ auch de la Foncker einsteigen. Da die derzeitige Besatzung der ISS nur aus ihnen beiden bestand, verschloss der Kommandant nun die Einstiegsluke und startete den Countdown zum Abdocken.
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Richard Snow trat hinter Olga und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Olga saß auf einem Sessel in ihrer Höhle und hielt das Gesicht hinter ihren Händen verborgen. Jetzt nahm sie die Hände weg und drehte sich zu ihm hin.
Er konnte nun sehen, dass sie geweint hatte. „Was soll jetzt aus uns werden?“, fragte sie schluchzend. „Die wenigen Lebensmittel reichen für uns doch höchstens ein paar Wochen. Und dabei müssen wir doch bis an unser Lebensende hier bleiben.“
Richard überlegte kurz und sagte dann mit sanfter Stimme: „Okay, dann gehe ich jetzt mal einkaufen. Was soll ich außer Brot und Butter noch mitbringen?“ Dabei ging er zu einem Sessel, der Olga gegenüber stand, und nahm dort Platz.
Olga lächelte gequält und wischte sich die Tränen mit den Fingern weg. „Hundert Gramm Salami, eine kleine Teewurst und zwei Burger“, erwiderte sie. Dann wurde sie wieder ernst: „Doch von Galgenhumor werden wir bestimmt nicht satt.“
Richard Snow nickte, fixierte einen imaginären Punkt an der Höhlendecke und erklärte nach einer kurzen Pause: „Das sicher nicht. Aber glaubst du wirklich, dass uns die beiden anderen Besatzungen, die auch noch hier landen sollen, keine Lebensmittel abgeben werden?“
Olga fiel ein Stein vom Herzen. Sie schlug sich mit der Hand vor die Stirn und atmete hörbar auf: „Richtig. Daran hatte ich gar nicht mehr gedacht, weil ich solange nichts mehr von ihnen gehört und gesehen habe.“ Dann schüttelte sie den Kopf, lachte und erklärte: „Ich komme wohl in die Jahre, dass ich vergesslich werde.“
Snow stand auf, ging hinter sie und legte dieses Mal beide Hände auf ihre Schultern. Dann beugte er sich zu ihrem Gesicht hinunter und sagte in dienstlichem Ton: „Für Ihr Alter sind Sie aber noch recht attraktiv, Kollegin Gregowna.“
Olga lachte und antwortete sichtbar geschmeichelt: „Dass ich auch auf dem Mars mal ein Kompliment bekomme, hätte ich nicht gedacht.“
Und Richard fuhr in sanftem Ton fort, in dem er ihre Schultern massierte: „Und hoffentlich haben Sie nicht schon vergessen, Frau Kollegin, was außer dem Aufbau einer Basis auf dem Mars noch zu unseren Aufgaben gehört?“
Sie wandte sich zu ihm um und fragte kokettierend: „Und das wäre?“
Doch Richard ließ sich nicht in Verlegenheit bringen: „Na ganz einfach, den Fortbestand der Menschheit sichern.“
Er kam mit seinem Gesicht dem ihren immer näher und als sie nicht zurückwich, küsste er sie.
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Langsam entfernte sich die Landekapsel von der ISS. Eine höhere Geschwindigkeit ließ das automatische Abdockprogramm auch gar nicht zu. Damit sollte verhindert werden, dass die ISS durch mit vollem Schub laufende Triebwerke ablegender Landekapseln beschädigt würde. Dass es nun nicht mehr darauf ankam, was aus der ISS würde, konnte das Programm ja nicht wissen. So gab es erst in drei Kilometern Entfernung halben Schub auf die Triebwerke und schwenkte dann die Landekapsel auf einen Kurs in Richtung Erde.
De la Foncker und Sakralow war das egal. Sie glaubten sich gerettet und unterhielten sich entsprechend locker, bis der Franzose - dem es zusehends wieder besser ging - mitten im Gespräch halb belustigt fragte: „Sag mal, regnet es draußen?“
Sakralow hielt dies für einen Scherz und erwiderte: „Und wenn schon, dann mach doch einfach die Scheibenwischer an!“ Dabei lachte er grölend und schlug sich auf die Schenkel. Doch sein Kollege ging nicht darauf ein, sondern sagte ernst: „Nein, da ist wirklich etwas gegen unsere Scheibe geflogen und zerplatzt wie ein Regentropfen - ungefähr da“, wobei er mit dem Finger auf die rechte untere Ecke seines Fensters zeigte. Tatsächlich zeigte sich dort jetzt ein blinder Fleck auf dem Spezialglas, der langsam wuchs.
„Du hast Recht“, bestätigte Sakralow, „und das kann nur Säure gewesen sein. Ich frage mich nur, wie die so schnell hierher gekommen ist...“
„Mein Gott“, unterbrach ihn de la Foncker genervt, „das ist doch vollkommen egal. Viel wichtiger ist die Frage, was wir jetzt machen. Noch eine Landekapsel haben wir ja nicht. Und dass wir mit einem Loch in der Scheibe niemals werden landen können, weißt du genauso gut wie ich.“
Doch der Kommandant der ISS ließ sich von der Erregung des Franzosen nicht anstecken; er dachte lieber über eine Lösung nach, als seine Zeit mit lamentieren zu verbringen. Und dann hatte er die rettende Idee: „Wir brauchen keine zweite Landekapsel und wir werden auch kein Loch in der Scheibe haben - jedenfalls dann nicht, wenn wir schnell genug in die Erdatmosphäre eintauchen.“
„Du meinst, wir müssen gelandet sein, bevor sich das Zeug durch die Scheibe gefressen hat? Aber das schaffen wir doch nie, sieh mal, wie schnell sich der blinde Fleck schon vergrößert hat“, meinte de la Foncker zweifelnd und wies mit einem Finger auf das Fenster. Tatsächlich hatte der blinde Fleck in der kurzen Zeit seinen Durchmesser fast verdoppelt.
„Nein, ich meine, die Scheibe muss nur so lange halten, bis wir in die Erdatmosphäre eingetaucht sind. Denn durch die Reibungshitze beim Eintritt wird die Säure verdampfen und kann dann keinen Schaden mehr anrichten.“
Aber der Franzose blieb seinem Pessimismus treu: „Das schaffen wir trotzdem nie!“
„Nicht, wenn wir weiter so langsam fliegen. Aber wenn ich das automatische Landeprogramm deaktiviere und die Kapsel manuell steuere, könnte es reichen.“
Ohne eine Antwort abzuwarten, tippte Sakralow einen Befehl in eine Tastatur ein und ergriff einen joystickähnlichen Steuerknüppel. Dann sagte er: „Du könntest dich ruhig ein wenig nützlich machen und zum Beispiel den kürzesten Weg für einen Landeanflug berechnen.“ Und um seinen Kollegen etwas aufzumuntern, fügte er noch hinzu: „Du bist ja schließlich nicht bloß als Passagier hier.“
De la Foncker gab nur ein kurzes Knurren von sich und begann dann ebenfalls eine Tastatur zu bearbeiten. Kurze Zeit später erschien auf den Monitoren vor ihnen eine Kolonne von Zahlen - die genauen Daten für den Landeanflug.
„Okay“, sagte Sakralow mehr zu sich, und ließ die Triebwerke aufheulen. Dann wollte er wissen: „Wie hoch sind wir?“
„30.000 Kilometer.“
„Hält das Fenster bis 15.000, haben wir es geschafft.“
„Dein Wort in Gottes Ohr!“
„Seine Hilfe können wir in der Tat gut gebrauchen. Wie hoch jetzt?“
„28.500.“
„Was macht das Fenster?“
„Der blinde Fleck wächst weiter. In der Mitte ist bereits ein Absatz zu erkennen. Das heißt, dass die Säure bereits die zweite Glasschicht angreift.“
„Dann bleiben immer noch zwei unversehrte. Höhe?“
Durch die pausenlosen Fragen von Sakralow musste sich de la Foncker auf seine Arbeit konzentrieren und hatte gar keine Zeit mehr, sich Sorgen zu machen. Deshalb klang seine Stimme mit der Zeit auch immer ruhiger: „26.500“.
„Dann überprüf jetzt, ob ich vielleicht etwas vom Kurs abgekommen bin.“
„In Ordnung“.
Nach kurzer Zeit meldete der Franzose: „Du bist zwei Grad vom Kurs abgekommen.“
„Dann berechne jetzt einen neuen!“
„Geht klar“, antwortete de la Foncker und ließ kurz darauf neue Zahlenkolonnen über die Monitore huschen.
Sakralow gab aber immer noch keine Ruhe: „Wie hoch sind wir jetzt?“
„20.000“
„Und wie sieht das Fenster aus?“
„Blinder Fleck weiter gewachsen, aber noch kein neuer Absatz in der Mitte zu erkennen.“
Statt einer Antwort brummte der Russe zufrieden. Er war überzeugt, dass sie gewonnen hatten. Nur noch 5.000 Kilometer tiefer, dann müsste sich ein so heißes Plasma rund um die Landekapsel gebildet haben, dass die Säure auf dem Fenster restlos verdampfen würde.
Die dichter werdende Atmosphäre machte Sakralow zu schaffen. Denn er brauchte immer mehr Kraft, um den Steuerknüppel festzuhalten. Und er musste den errechneten Kurs sehr genau einhalten, denn wenn es ihm nicht gelang, in einem bestimmten Winkel in die Erdatmosphäre einzutauchen, würde die Landekapsel von der Lufthülle der Erde abprallen wie ein Tischtennisball von der Platte - und alles wäre vorbei. Und wie um seine düsteren Gedanken zu bestätigen, ruckte der Steuerknüppel plötzlich so stark, dass er ihm aus den Händen prallte. Doch de la Foncker war auf der Hut; bevor die Landekapsel außer Kontrolle geraten konnte, hatte er das automatische Landeprogramm wieder aktiviert, worauf sich ihr Fluggerät sofort wieder stabilisierte.
Der Russe sah seinen Kollegen dankbar an: „Das war echt knapp - danke. Ohne deine Geistesgegenwart würden wir jetzt bestimmt unkontrolliert durch das All taumeln. Du hast damit sicher mein Leben gerettet.“
„Und meins natürlich auch, vergiss das nicht“, erwiderte der Franzose mit einer abwehrenden Handbewegung. „Aber so sind wir wenigstens quitt, schließlich hast du mir mit deiner genialen Idee, die Säure zu verdampfen, ebenfalls das Leben gerettet. Allerdings würde ich vorschlagen, nun den Autopiloten weiterfliegen zu lassen. In Kürze werden wir so tief in die Atmosphäre eingetreten sein, dass die Säure verdampft und dann kommt es ja nicht mehr auf die Geschwindigkeit an.“
„Du hast Recht. Wie hoch sind wir noch?“
„14.000 Kilometer. Und das Fenster - verdammt, es hat noch immer nicht aufgehört. Der blinde Fleck ist noch größer geworden und die dritte Schicht der Scheibe ist inzwischen auch angegriffen worden. Wo bleibt denn das Plasma bloß?“
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Der Bohrfräser gab ein kurzes Kreischen von sich, verlangsamte dabei seine Drehzahl und heulte dann wieder auf, weil er keinen Widerstand mehr fand. Nach Richard Snows Berechnungen war das Felsmassiv, in das sie ihre Höhle getrieben hatten, hier aber mit Sicherheit noch nicht zu Ende. Er konnte also nur auf irgendeinen Hohlraum gestoßen sein.
Snow fuhr den Bohrroboter ein Stück zurück, so dass der Durchbruch nun frei wurde. Er überlegte erst, ob er Olga holen sollte, doch dann entschied er sich, sie schlafen zu lassen und kroch durch das Loch.
Auf der anderen Seite fand er sich in einer riesigen Höhle wieder, denn der Strahl seiner Taschenlampe reichte nicht einmal bis zum anderen Ende. Als der Lichtstrahl plötzlich auf ein grünliches Wesen traf, bekam er einen riesigen Schreck. Doch da es sich nicht bewegte, gewann Snow den Eindruck, dass es tot sei, zumal es faltig und irgendwie vertrocknet aussah. Er wischte alle Bedenken beiseite und machte einen Schritt darauf zu, um es besser betrachten zu können. Dabei dachte er: ‘Es gibt sie also wirklich - die grünen Marsmännchen -, auch wenn sie nicht so klein sind, wie ich sie mir vorgestellt habe.’
Der Rumpf des Marsbewohners bestand aus einer relativ kleinen Kugel, aus der nach unten und oben jeweils vier lange, ziemlich dünne Arme herausragten. Um den kugelförmigen Mittelteil schlangen sich außerdem mehrere Windungen einer Art dünnen Seils. Auf den beiden oberen inneren Armen saß jeweils so etwas wie ein Auge, während die beiden äußeren hohl waren und als Ohren zu dienen schienen. Die unteren vier Arme bildeten offensichtlich die Beine, denn das Wesen stand darauf. Die Höhe des gesamten Körpers schätzte Snow auf etwa anderthalb Meter.
Während er den Außerirdischen fasziniert betrachtete, begann dieser sich plötzlich zu bewegen. Er hatte wohl geschlafen. Als das Wesen Richard Snow entdeckte, schien es kurz zu erschrecken, dann reckte es ihm neugierig jene beiden oberen Arme entgegen, die er für Ohren gehalten hatte. Dabei vernahm der Astronaut ein schnüffelndes Geräusch. Also stellten die beiden hohlen Arme des Wesens wohl doch nicht die Ohren, sondern eher eine Art Nase dar.
Richard Snow wurde die Sache jetzt etwas zu brenzlig. Er trat einen Schritt zurück und wollte sich umwenden. Das Wesen schien aber etwas dagegen zu haben, denn nun zeigte sich, dass die um die Körpermitte geschlungenen Seile Fangarme waren, die es Snow um den Hals legte und zudrückte, bis er ohnmächtig zusammenbrach.
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Olgas Unruhe steigerte sich von Minute zu Minute. Schon seit einer halben Stunde versuchte sie, Richard Snow über Sprechfunk zu erreichen - bisher vergebens. Schließlich war seine Schicht zu Ende und sie hatten nun für heute Feierabend.
Nach ihm schauen, wollte sie aber auch nicht. Dazu müsste sie erst einen Skaphander anziehen, und das war ihr zu umständlich.
‘Wahrscheinlich hat er einfach die Zeit vergessen’, beruhigte sie sich in Gedanken. ‘Und das Sprechfunkgerät kann er sicher nicht hören, weil der Bohrfräser zuviel Krach macht’.
Nachdem eine weitere halbe Stunde verstrichen war, ohne dass Richard erschien, machte sie sich doch auf den Weg, um ihren Kollegen zu suchen.
‘Seltsam’, wunderte sie sich, als sie den bewohnten Teil der Höhle verließ, ‘hier müsste ich doch längst den Lärm des Bohrfräsers hören.’ Ihr wurde etwas mulmig zumute und sie bereute jetzt, keine Waffe mitgenommen zu haben, verscheuchte aber diesen Gedanken gleich wieder und beschleunigte statt dessen ihre Schritte. Gegen wen sollte sie sich hier auch zu verteidigen haben? Man lernte ja schließlich schon in der Schule, dass der Mars unbewohnbar war, weil es auf ihm keine Atmosphäre gab, die hier Leben ermöglicht hätte.
Als sie den Bohrroboter aber schließlich vollkommen verlassen vorfand, wurde es ihr doch zu unheimlich. Sie sah sich nach etwas um, das sie notfalls als Waffe benutzen konnte, fand aber nichts.
Schließlich fasste sie sich ein Herz und kroch vorsichtig durch das Loch, das zu der von Richard Snow entdeckten Höhle führte. Staunend sah sie sich um und erstarrte plötzlich, als ihr Blick auf Richard Snow fiel: Er stand da wie gelähmt und hatte irgendwelche Seile um den Hals gewickelt, die zu einer Art Kugel führten, die wiederum auf vier Ästen zu stehen schien.
Erleichtert stellte sie fest, dass er noch lebte, denn sein Brustkorb hob und senkte sich rhythmisch. Sie trat näher und wollte ihn untersuchen, als sich die Kugel plötzlich bewegte und Richard Snow mit sich in das Höhleninnere zog. Nach einigen Metern blieb das unheimliche Lebewesen - denn was sollte es sonst sein - plötzlich stehen und versank wieder in einer Art Erstarrung.
Olga fasste sich ein Herz und folgte den beiden. Dieses Mal kam sie etwas näher heran, ehe sich die geheimnisvolle Kugel zusammen mit ihrer Beute wieder ein Stück in Richtung Höhleninneres zurückzog. Dies wiederholte sich noch einige Male, ehe es Olga gelang, Richards Arm zu ergreifen. Doch so sehr sie daran zog, das Ding auf der anderen Seite ließ ihn einfach nicht los - im Gegenteil.
Eines der Seile, das bisher Richard Snow umschlungen hielt, löste sich und legte sich nun auch um ihren Hals. Dann zog es sich immer mehr zusammen, so dass sie zu ersticken drohte. Während ihr fast die Sinne vergingen, schoss es ihr durch den Kopf: „Warum verfolgst du mich?“
„Aber ich verfolge doch niemanden“, antwortete sie in Gedanken automatisch, während sie krampfhaft nach Luft schnappte.
Prompt kam die Antwort: „Aber natürlich, du bist mir ja die ganze Zeit hinterhergekommen.“
Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie sich in Gedanken mit irgendjemandem unterhielt. „Jetzt fange ich schon zu spinnen an“, dachte sie, „muss wohl der Sauerstoffmangel sein.“
„Dann habe ich wohl zu stark zugedrückt?“, kam das Echo.
Prompt antwortete sie unwirsch: „Dumme Frage, natürlich“, worauf sich das Seil um ihren Hals etwas lockerte.
Jetzt kam Olga ein schier unglaublicher Gedanke: „Habe ich mich etwa die ganze Zeit mit dir unterhalten?“ Erstaunt sah sie zu dem kugelförmigen Lebewesen hin.
„Natürlich“, kam es unbekümmert zurück, „oder siehst du sonst noch jemanden hier?“
Es war nicht zu fassen, jetzt wurde dieses Ding auch noch frech! Doch kaum war ihr dieser Gedanke entschlüpft, kam bereits die Antwort: „Entschuldige, wenn ich dich eben beleidigt haben sollte, aber ich komme so selten in Kontakt mit Menschen von der Erde, sodass ich mich mit den dortigen Gepflogenheiten leider nicht auskenne.“
Olga ging nicht weiter darauf ein: „Könntest du jetzt bitte meinen Hals loslassen?“
„Schon, aber dann können wir uns nicht mehr unterhalten.“
„Du kannst ja meinen Arm umschlingen, das geht doch sicher auch.“
„Ich kann es ja mal probieren.“
Daraufhin gab das Seil ihren Hals frei und schlang sich stattdessen um ihr linkes Handgelenk.
„Verstehst du mich noch?“
„Ja, einwandfrei. Wie kommt es, dass du überhaupt meine Sprache sprichst?“
„Als ich vorhin auf deinen Kollegen traf, habe ich ihm auch zwecks Kontaktaufnahme meine Arme um den Hals gelegt. Dabei muss ich wohl leider zu stark zugedrückt haben, weil ich mich mit der menschlichen Anatomie nicht auskenne, denn er wurde ohnmächtig. Trotzdem gelang es mir, all sein Wissen in mein Gehirn zu transferieren, also auch seinen Sprachschatz.“
„Dann kennst du jetzt alle seine Gedanken und Erinnerungen, auch seine geheimsten?“ Olga wurde unheimlich bei dem Gedanken, dass das Wesen inzwischen auch um ihre intimsten Geheimnisse wissen könnte.
„Ja, alles“, kam die Bestätigung.
„Kennst du denn keine Privatsphäre?“
„Nein, bei uns liest jeder die Gedanken seines Gegenüber. Dadurch gibt es keine Missverständnisse und die Kommunikation geht auch viel schneller.“
„Bei euch? Du bist also nicht allein?“
„Nein, wir sind sehr viele. Komm mit, ich stelle sie dir vor.“
Und als Olga zu zögern schien, versicherte die Kugel: „Du brauchst keine Angst zu haben, wir tun euch bestimmt nichts.“
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Die Landekapsel der ISS war inzwischen auf 12.000 Kilometer Höhe gesunken. Zwar hielt die Cockpitscheibe dem Säuretropfen immer noch stand, aber da vom erhofften Plasma weiterhin jede Spur fehlte, hatte nun auch Sakralow jede Hoffnung, die Erde lebend erreichen zu können, aufgegeben. Düster starrte er vor sich hin, als plötzlich ein kleines Glimmen vor dem Fenster seine Aufmerksamkeit auf sich zog. „Sieh doch, Yves“, brüllte er seinen Kollegen so unvermittelt an, dass dieser erschrak, „es geht endlich los!“
Blitzschnell entwickelte sich aus dem Glimmen ein riesiges Flammenmeer, das die Landekapsel schließlich komplett einhüllte. Geblendet von der ungeheuren Helligkeit, schlossen die Astronauten ihre Augen. De la Foncker erwartete nun jeden Augenblick, dass die Cockpitscheibe auf seiner Seite aufgrund der Hitze zersprang und er in einer heißen Plasmawolke verdampfte.
Doch nichts dergleichen geschah. Als der Franzose schließlich nach einiger Zeit durch die geschlossenen Lider feststellte, dass die gleißende Helligkeit draußen wieder nachließ, öffnete er seine Augen und schaute ungläubig das Fenster vor ihm an - es hatte doch gehalten! Nun waren sie gerettet!
Auch Sakralow schaute ungläubig auf die Scheibe und konnte ihr Glück kaum begreifen. Sie sprangen auf, umarmten sich freudig und ließen sich dann wieder entspannt in ihre Sessel fallen. Während de la Foncker nun dankbar die Hände faltete, bekreuzigte sich Sakralow - zum ersten Mal in seinem Leben. Und kurze Zeit später landeten sie unversehrt in der kasachischen Steppe.
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Das Wesen hatte inzwischen seinen Arm vom Hals Richard Snows genommen und statt dessen um seinen Brustkorb geschlungen, damit es ihn mit sich ziehen konnte. Da es alle Arme brauchte, um Richard festzuhalten, bestand momentan keine Verbindung zu Olga, die den beiden folgte und Richard genau beobachtete, ob er inzwischen wieder zu sich kam.
Doch Richards Augen blieben den ganzen Weg über geschlossen, wie tot hing er in den Armen des Marsianers.
Des Marsianers? Oder war dieses Wesen vielleicht gar eine Frau? Olga versuchte sich zu erinnern, wie die Stimme in ihrem Kopf geklungen hatte. War sie tief, oder doch hoch gewesen? Sie konnte sich einfach nicht mehr erinnern.
Langsam beruhigte sich Olga und versuchte, das Erlebte zu verarbeiten. Nur nach und nach wurde ihr bewusst, welches Glück ihr da eigentlich wiederfuhr: der erste Kontakt mit einer außerirdischen Zivilisation! Wie viele Menschen vor ihr hatten davon schon geträumt, es aber nicht erleben können? Und wie würden sie erst ihre Kollegen darum beneiden, wenn sie es ihnen erzählte?
So fand sie schließlich ihre Routine als Wissenschaftlerin wieder und formulierte in Gedanken einen Fragenkatalog, den sie mit den Marsbewohnern im Laufe der Zeit abarbeiten wollte: Wie pflanzten sie sich fort, wovon ernährten sie sich, wie alt wurden sie, wie viele von ihnen gab es?
Olga seufzte. Das würde ein hartes Stück Arbeit werden, denn auf so etwas war sie ja nun überhaupt nicht vorbereitet. Niemand hatte schließlich damit rechnen können, auf dem erdnächsten Planeten fremdes Leben zu finden, nachdem bisherige Untersuchungen keinerlei Hinweise darauf ergaben.
Und dennoch musste sie gründlich arbeiten. Denn wenn ihr erst auf der Erde einfiel, was sie noch alles über die Marsianer hatte wissen wollen, konnte sie ja nicht einfach so mal dort anrufen oder vorbeigehen.
Erst jetzt fiel ihr wieder der eigentliche Grund ihrer Reise zum Mars ein und ihr wurde bewusst, dass sie wahrlich andere Probleme hatte, als die Marsianer zu erforschen. Denn wem sollte sie später davon berichten, wenn die Erde nicht mehr existierte?
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Roger Frear liebte seine kleine Tochter über alles. Die sechsjährige Jessica sah nicht nur wie eine kleine Prinzessin aus, sie erinnerte ihn auch sehr an seine Frau Monica. Und sie war alles, was ihm von Monica übrig geblieben war, seit diese vor einem Jahr bei einem Autounfall ums Leben kam.
Roger liebte aber auch seinen Beruf; er war mit Leib und Seele Lokführer. Als Angestellter der staatlichen australischen Eisenbahngesellschaft musste er zwar kreuz und quer durch den ganzen Kontinent fahren, aber das machte ihm nichts aus. Nur dass er Jessica nicht so oft sehen konnte, wie er wollte, störte ihn dabei.
Heute aber war ein ganz besonderer Tag für ihn, denn er konnte beides haben, nämlich Eisenbahn fahren und die Gesellschaft seiner kleinen Tochter genießen, denn Jessica machte heute mit ihrer Schulklasse mit seinem Zug einen Ausflug!
Lange hatte er sich auf diesen Tag gefreut, denn schon immer träumte er davon, sie mal mit auf eine seiner Reisen zu nehmen. Doch bisher war sie zu klein dafür gewesen.
Natürlich ließ Jessica es sich nicht nehmen, vor ihren Klassenkameraden damit zu prahlen, dass ihr Papi den Zug fahren würde, der sie zu ihrem Ausflugsziel bringen sollte. Und Roger Frear hatte ganz genau gesehen, dass die anderen ein wenig neidisch waren, als Jessica zu ihm in den Führerstand steigen durfte und sie draußen bleiben mussten.
Genau genommen hätte nicht einmal Jessica zu ihm hinein gedurft, denn das verboten die Vorschriften der Eisenbahngesellschaft. Doch Roger Frear brachte es nicht übers Herz, seiner Tochter den Wunsch, einmal im Führerstand einer riesigen Diesellok stehen zu dürfen, abzuschlagen. Und so stand sie neben ihm, konnte zwar kaum durch die große Frontscheibe hindurch schauen, weil sie für sie zu hoch war, hielt dafür aber voller Stolz den Fahrtregler in ihren kleinen Händen.
Roger Frear traute sich kaum, seiner Tochter den Spaß zu verderben, doch er musste schließlich seinen Fahrplan einhalten: „Jessica, mein Schatz, du musst jetzt nach hinten zu den anderen gehen, denn du darfst leider nicht hier vorn mitfahren.“
Daraufhin zog die Kleine eine Schnute - ganz so, wie es auch Monica immer getan hatte, wenn ihr einmal etwas nicht passte - seufzte dann aber schicksalsergeben: „Na gut, Papa. Bringst du mich noch nach hinten?“
„Aber klar doch.“
Roger Frear sprang von seiner Lok auf den Bahnsteig, drehte sich um, hob Jessica herunter und stellte sie so behutsam auf den Boden, als wäre sie aus Glas. Dann nahm er seine Tochter bei der Hand und ging mit ihr den Zug entlang.
Als er den Waggon erreichte, in dem Jessicas Klasse saß, ließ er ihre Hand los, und hob sie in den Wagen. „So, jetzt geh zu den anderen, und mach vor allen Dingen Miss Green keinen Ärger. Bis später, mein Schatz.“
Danach rannte er vor zu seiner Lok und kletterte wieder in den Führerstand. Keine Sekunde zu früh, denn gerade kam die Durchsage: „Achtung auf Bahnsteig fünf, State Express von Melbourne nach Adelaide, bitte die Türen schließen und Vorsicht bei Abfahrt des Zuges.“
‘Das wäre ja ein Ding gewesen’, dachte er bei sich. ‘Sonst bin ich immer pünktlich auf die Sekunde und ausgerechnet dann, wenn meine Tochter dabei ist, verspäte ich mich. Und dabei erkläre ich ihr fast jedes Mal, wenn ich sie sehe, wie unhöflich es auf andere Menschen wirkt, wenn man sich verspätet.’
Jetzt ertönte draußen ein Pfiff des Zugbegleiters. Roger Frear warf einen Blick aus dem Fenster, und blickte nach hinten den Zug entlang. Das gehörte zu seinen Vorschriften; schließlich musste er sich vergewissern, dass alle Türen des Zuges geschlossen waren, bevor er losfuhr. Dann setzte er sich in seinen Führersitz und schob den Fahrtregler sanft nach vorn.
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Olga wurde unsanft aus ihren Gedanken gerissen, als sie gegen Richard Snow prallte, denn der Marsbewohner, der ihn trug, war abrupt stehen geblieben. Anscheinend hatten sie ihr Ziel erreicht, obwohl Olga keine weiteren Marsianer entdecken konnte.
Richard begann, offenbar durch den Anprall wieder zu sich gekommen, mit den Armen und Beinen zu strampeln und schlug die Augen auf. Olga sah, wie er nach seiner Pistole tastete, die sich in einer Tasche am rechten Hosenbein befand.
„Nein!“, schrie sie, „nicht schießen. Sie sind ganz harmlos!“
Richard verzog zweifelnd das Gesicht, zog aber dann doch seine Hand zurück.
Der Marsbewohner, der spürte, dass Richard Snow das Bewusstsein wiedererlangt hatte, stellte ihn behutsam ab und ging ein paar Schritte zurück, um Richard aus der Ferne mustern zu können. Dann trat er wieder näher und streckte einen Arm nach Richard Snow aus, als dieser plötzlich ein Messer zog.
„Komm mir bloß nicht wieder zu nahe. Eine Umarmung von dir reicht mir“, schrie er dabei.
Olga stürzte sich auf ihn, um zu verhindern, dass er auf den Marsbewohner einstach.
Richard, überrascht, von Olga angegriffen zu werden, geriet ins Straucheln und ließ sein Messer fallen. Olga hielt ihn fest, kam dicht vor sein Gesicht und sagte eindringlich: „Sie tun uns nichts. Sie sind unsere Freunde. Außerdem wollte er nur mit dir reden.“
„Nur mit mir reden?“, echote Richard verständnislos.
„Ja, nur mit dir reden. Sie können nicht sprechen und verständigen sich ausschließlich durch Telepathie. Mit uns Menschen geht das aber bloß, wenn sie Körperkontakt zu uns haben.“
Richards Misstrauen schwand bei diesen Worten etwas, denn er erinnerte sich, dass er bei seinem ersten Zusammentreffen mit dem Marsianer keine Ohren entdeckt hatte. Und um sein Misstrauen endgültig zu vertreiben, ging Olga bei diesen Worten auf den Marsbewohner zu und ergriff ihn an einem seiner Arme. „Siehst du, sie sind wirklich ganz harmlos.“
Zögernd kam Richard, der inzwischen wieder aufgestanden war, näher. Als der Marsbewohner zum zweiten Mal einen Arm in Richards Richtung ausstreckte, ergriff Richard diesen mit aller Vorsicht.
Sobald der Kontakt zwischen ihnen bestand, merkte Richard, dass in seinem Kopf Gedanken auftauchten, die nicht von ihm stammten. Er konnte sie aber nicht verstehen. Erst als er all seine Konzentrationskraft zusammennahm, formten sich diese fremden Gedanken zu Wörtern, die er verstand: ‘Ich bin Maratinaja’.
‘Seid ihr alle hier so hässlich?’, dachte Richard unwillkürlich.
Prompt kam die Antwort: ‘Gefallen wir dir etwa nicht?’.
Da erst ging Richard Snow ein Licht auf: ‘Die können ja unsere Gedanken lesen!’
Obwohl das nur eine Feststellung für sich selber war, antwortete Maratinaja: ‘Wir können eure Gedanken lesen und ihr die unseren, solange es Körperkontakt zwischen uns gibt.’
Richard glaubte, in diesen Gedanken einen ein wenig verstimmten Unterton wahrzunehmen, und gab daher etwas beschämt zur Antwort: ‘Das mit dem hässlich war nicht so gemeint. Klar, dass man euch ihr hier oben nicht nach menschlichen Schönheitsidealen beurteilen kann.’ Doch statt einer Antwort entzog ihm Maratinaja ihren Arm und wandte sich Olga zu.
„Na das kann ja heiter werden“, murmelte Richard vor sich hin.
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Roger Frear mochte die Strecke von Melbourne nach Adelaide am liebsten. Ganz besonders jenen Streckenabschnitt, der durch den Alpine-Nationalpark führte, denn dort überquerten die Gleise den Falls Creek auf einem riesigen Viadukt. Da die Brücke nicht nur sehr hoch, sondern auch etwa zwei Kilometer lang war - wobei sie einen großen Halbkreis beschrieb - hatte man von hier oben einen wunderschönen Ausblick auf diesen Nationalpark. Jedenfalls dann, wenn das Wetter mitspielte.
Und das tat es bereits seit Wochen. Der Lokführer konnte sich nicht erinnern, schon einmal einen so heißen und vor allen Dingen langen Sommer erlebt zu haben. Seit mehr als drei Monaten schien die Sonne tagsüber fast ununterbrochen und trocknete alles erbarmungslos aus.
Diese Hitzeperiode blieb natürlich nicht ohne Folgen. Es verging kein Tag, an dem die Medien nicht davon berichteten, dass wieder irgendwo in Australien ein Waldbrand ausgebrochen, die Ernte vertrocknet oder eine Viehherde mitten auf der Weide verdurstet war.
Roger Frear interessierte sich für die Schattenseiten dieses Jahrhundertsommers - oder sollte man besser schon Jahrtausendsommer sagen? - nicht weiter. Schließlich betrafen sie ihn ja nicht direkt. Und da sein Führerstand über eine Klimaanlage verfügte, bekam er die unerträgliche Hitze draußen den größten Teil des Tages nicht einmal zu spüren, so dass er das schöne Wetter in vollen Zügen genießen konnte. Und außerdem, so dachte er bei sich, würde der Winter bestimmt noch früh genug kommen.
Langsam näherte sich der Zug dem riesigen Viadukt. Obwohl auf der Brücke eine Geschwindigkeit von 80 Meilen erlaubt war, bremste Roger Frear seinen Zug auf knapp 40 Meilen herunter. Jessica, ihre Klassenkameraden, und all die anderen Fahrgäste sollten den einmaligen Ausblick von hier oben in aller Ruhe genießen können. Die dabei entstehende Verspätung wäre kein Problem, die könnte er dann auf der weiteren Strecke durch eine etwas höhere Geschwindigkeit leicht wettmachen. Nachfolgende Züge würden davon auch nicht behindert, da der nächste erst in rund zwei Stunden über den Viadukt fuhr. Es sprach also überhaupt nichts dagegen, wenn Roger Frear mit seinem Schnellzug heute ausnahmsweise mal über die Brücke zuckelte.
Was er nicht wissen konnte: Die Schienen auf dem Viadukt - und auch die sie haltenden Schrauben - waren durch die wochenlange Sonneneinstrahlung weich geworden. Wäre er mit seinem Zug das übliche Tempo gefahren, hätten sie dieser kurzen Belastung wahrscheinlich noch standgehalten. Doch die langsame Fahrt des tonnenschweren Zuges, zusammen mit der zusätzlichen seitlichen Belastung während der Kurvendurchfahrt, konnten sie nicht mehr aushalten.
Ungefähr in der Mitte des Viadukts brachen unter der Lokomotive mehrere Halteschrauben einer Schiene, die daraufhin zur Seite kippte. Auf diese Weise urplötzlich ihrer Führung beraubt, rutschte die schwere Lok auf dem Schotter geradeaus weiter auf ein kleines Geländer zu.
Davon ließ sich die schwere Diesellok aber nicht aufhalten. Und so stürzte die Zugmaschine mehrere hundert Meter tief in den Falls Creek.
Dabei riss die Kupplung zum ersten Wagen, so dass die Lok diesen nicht mehr in die Tiefe zog. Durch den Schwung der nachfolgenden Wagen wurde der erste Waggon aber trotzdem über den Brückenrand geschoben. Diesem Gewicht konnte der zweite Wagen - dieses Mal hielt die Kupplung - nicht standhalten und riss in einer Kettenreaktion dann auch die restlichen mit sich.
Das letzte, was die in den Waggons eingeschlossenen Passagiere mitbekamen, war, wie der Zug auf dem steinigen Bett des fast ausgetrockneten Falls Creek zerschellte.
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Maratinaja schlurfte davon. Olga sah ihr lächelnd nach. Und in der Tat hatte der Gang Maratinajas etwas urkomisches: Zum einen lief sie auf vier Beinen, weshalb sie sehr schnell vorankam, zum anderen aber schlenkerte sie mit ihren vier Armen beim Gehen so stark, dass es aussah, als ob sie ständig wild gestikulieren würde.
Richard hatte für diesen ulkigen Anblick keinen Sinn. Argwöhnisch schaute er Maratinaja nach, bis sie aus dem Lichtkreis ihrer kleinen Taschenlampe verschwunden war. „Wohin krabbelt denn das Ding jetzt?“, wollte er wissen.
„Maratinaja will uns mit ihren Freunden bekannt machen. Damit aber der Schreck für sie nicht gar so groß ist, sollen wir hier warten, bis sie uns holt“.
„Ich glaube, der Schreck wäre eher auf unser Seite. Diese vielen Arme - einfach widerlich.“
Olga lachte. „Schön und elegant ist Maratinaja wirklich nicht. Aber du entsprichst sicher auch nicht ihren Schönheitsidealen. Dafür hast du bestimmt viel zu wenige und zu kurze Arme.“
Doch Richard Snow verstand seit dem Zusammentreffen mit den Marsianern offenbar keinen Spaß mehr, denn er brummte daraufhin verdrossen: „Deinen Sinn für Humor möchte ich haben. Siehst du denn nicht, was da auf uns zukommen kann? Vielleicht haben die ansteckende Krankheiten, gegen die unsere Medizin machtlos ist? Vielleicht benutzen sie uns auch als Versuchskaninchen, um die menschliche Rasse zu erforschen? Außerdem sind wir für Kontakte mit Außerirdischen gar nicht vorbereitet, schließlich sollten wir hier nur das Überleben der Menschheit sichern.“
„Du hast ja Recht“, auch Olga wurde jetzt ernst, „aber siehst du denn nicht auch die große Chance, die wir bekommen? Wie viele Menschen vor uns haben nicht schon versucht, mit Außerirdischen Kontakt aufzunehmen, aber ausgerechnet wir zwei sind die ersten Menschen, denen das gelingt! Das ist doch fantastisch.“
Richard wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, als Maratinaja zusammen mit einem zweiten Marsbewohner wieder auftauchte. Sie legte Olga und Richard je einen Arm auf die Schulter und stellte dann den Neuankömmling vor: ‘Das ist Maratiza, man könnte sie nach euren Maßstäben als Regierungsmitglied bezeichnen.’
Daraufhin berührte Maratiza die beiden Menschen ebenfalls mit je einem Arm an der Schulter. Richard empfand die Stimme, die nun seine Gedanken erfüllte, als wesentlich angenehmer als die von Maratinaja: ‘Sie brauchen sich wirklich nicht zu fürchten. Wir tun Ihnen nichts und haben nicht die Absicht, aus Ihnen irgendwelche Forschungsobjekte zu machen.’
Richard war verblüfft, das hörte man auch seinen Gedanken an:’ Ich denke, wir können uns nur verständigen, solange Körperkontakt besteht?’
Maratizas Antwort schockte Richard erneut: ‘Ihr könnt uns ohne Körperkontakt nicht verstehen, das heißt aber nicht, dass wir diesen Kontakt auch brauchen.’
‘Ui, dann muss ich mich ja jetzt echt zusammenreißen. Ich bin bloß froh, dass Olga nicht auch über diese Gabe verfügt’, meinte er erleichtert und zeigte ein verlegenes Lächeln.
Maratiza kannte natürlich auch den Grund für Richards Stimmungsumschwung: Er war heilfroh, dass aus ihm kein Forschungsobjekt der Marsianer werden würde.
Olga hatte den Dialog zwischen Maratiza und Richard nicht mitbekommen. Allerdings sah sie das Lächeln auf Richards Gesicht und war erleichtert. Offenbar begriff nun auch Richard, dass das Treffen mit diesen Marsianern ein großes Glück für sie bedeutete.
Froh darüber, dass nun endlich das Eis zwischen den Menschen und den Marsianer gebrochen schien, schlug sie vor: ‘Wollt ihr uns jetzt nicht ein bisschen herumführen? Schließlich seid ihr ja hier die Hausherren!“
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Es war einer dieser Tage, an denen Richard Craydon seinen Job aus tiefstem Herzen hasste. Aber er hatte sich diesen Beruf schließlich selber einmal ausgesucht und schon von Anfang an gewusst, dass dazu auch die Ermittlung der Ursachen von Zugunglücken gehörte.
Dabei war es nicht so, dass ihn ein derartiges Unglück kalt ließ. Im Gegenteil, er steckte jedes Mal seine ganze Energie in die Ermittlungen, damit sich künftig so etwas nicht wiederholte. Nur litt er furchtbar darunter, in aller Öffentlichkeit - und vor allem den Angehörigen - erklären zu müssen, wie so ein Unglück überhaupt hatte passieren können. Denn dabei überkamen ihn als leitenden Angestellten der Bahngesellschaft regelmäßig Schuldgefühle, obwohl er genau wusste, dass er sich persönlich überhaupt nichts vorzuwerfen hatte. Aus diesem Grund überließ er diese unangenehmen Aufgaben lieber seinen Mitarbeitern.
Aber bei einer solch großen Katastrophe wie der vom Falls Creek konnte er nicht einfach einen seiner Mitarbeiter schicken, nein, da musste er schon selbst erscheinen. Sonst hätte seine Abteilung unweigerlich den Eindruck erweckt, sie nehme die Angelegenheit nicht ernst genug. Also reiste Richard Craydon höchstpersönlich zu der Unglücksstelle im Alpine-Nationalpark, um sie in Augenschein zu nehmen und der Katastrophe auf den Grund zu gehen.
Gerade schritt er - aufmerksam jeden Meter des Schienenstrangs betrachtend - jenen Viadukt entlang, von dem ein ganzer Reisezug in die Tiefe gestürzt war. Als er zu jener Stelle kam, an der das Unglück geschah, erwartete ihn ein inzwischen schon bekannter Anblick: Auch hier - wie schon zuvor an mehreren anderen Unglücksstellen - hatte sich mindestens eine Schiene von ihren Halterungen gelöst und war umgekippt. Nur gab es bisher keine Opfer zu beklagen; stets kamen die Passagiere bloß mit einem Schrecken davon, mal hier eine Beule, mal da einen blauen Fleck ausgenommen.
Richard Craydon hockte sich hin und nahm eine jener Schrauben in die Hand, die früher die Schiene hielten. Gleich darauf ließ er das Metallstück wieder fallen, weil er sich die Finger daran verbrannt hatte. Er kramte nun sein Taschentuch aus der Hosentasche, faltete es zu mehreren Lagen zusammen und nahm damit die Schraube erneut in die Hand. Er betrachtete sie gründlich, nickte beiläufig und warf dann die Schraube wieder weg. Diese Prozedur wiederholte er anschließend noch einige Male mit anderen Schrauben.
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Mittlerweile hatten sie einen großen Teil der Höhle erkundet, wobei Maratinaja und Maratiza geduldig auf jede Frage Auskunft gaben, die den beiden Menschen einfiel. Und ihnen fielen viele Fragen ein, wie das Wissenschaftler eben an sich haben, die alles ganz genau wissen wollen. So erfuhren sie unter anderem, dass sich Maratinajas Volk in ihrer eigenen Sprache Tscherkula nannte und auch die Tscherkula glaubten, dass ihre Welt von einem höheren Wesen geschaffen worden war.
Olgas wissenschaftlich trainierter Verstand - nur das zu akzeptieren, was sich auf irgendeine Weise auch beweisen lässt - wehrte sich anfangs gegen die zwangsläufige Schlussfolgerung daraus: Was musste das für ein Zufall sein, dass die Marsbewohner, die noch nie mit Menschen in Berührung gekommen waren, ausgerechnet die gleiche Vorstellung von der Entstehung der Welt besaßen? Nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung müssten sie doch irgendeine andere Ansicht als die Menschheit haben, aber ausgerechnet haargenau die Gleiche? Daher entschied sie sich, ihr bisheriges Weltbild aufzugeben und zu akzeptieren, dass eben auch Dinge Wirklichkeit sind, die sich nicht wissenschaftlich erklären lassen.
Dann hatte Olga versucht, die Marsianer zu zählen, die sie während ihres Rundganges zu Gesicht bekamen. Das war nicht einfach, glichen sie sich doch wie ein Ei dem anderen - bis auf die Anzahl der Arme. Die in der Höhle herrschende Finsternis erschwerte ihr die Arbeit zusätzlich, denn dadurch konnte sie nur jene Individuen zählen, die der Strahl ihrer Taschenlampe zufällig traf. Aber auch wenn ihr Ergebnis - Olga kam auf 133 - nicht ganz stimmte, besaß sie immerhin eine ungefähre Vorstellung von der Größe des Volks der Tscherkula.
Außerdem erfuhren Olga und Richard, dass die um den Mittelteil des Körpers der Marsianer geschlungenen dünnen Seile - jene Fangarme, mit denen sie anfangs von Maratinaja festgehalten worden waren - eigentlich als Geschlechtsteile dienten, von denen im Laufe der Zeit immer mehr wuchsen. Da Maratinaja nur zwei davon besaß, konnte sie also - zumindest nach Mars-Maßstäben - noch nicht sehr alt sein.
Mit jedem dieser Geschlechtsteile musste sich eine Frau - Krida hieß das auf tscherkulisch - mit einem anderen Mann - einem so genannten Vrida - verbinden. Und da eine Krida eine ganze Menge dieser Seile besitzen konnte, wurden entsprechend viele Vrida gebraucht, damit schließlich ein Brida - ein Kind - entstand. Maratinaja und Maratiza entging dabei nicht, dass die Menschen froh waren, dass die Fortpflanzung auf der Erde anders funktionierte, taten aber, als ob sie diese Gedanken einfach ‘überhört’ hätten.
Auch über die Art, wie die Tscherkula untereinander kommunizierten, erfuhren sie Neues. Zwar wussten sie bereits, dass sich die Marsbewohner ausschließlich telepathisch austauschten, konnten sich das aber nicht genau vorstellen. Denn wenn jeder jederzeit die Gedanken der anderen las, gab das doch bestimmt ein furchtbares Durcheinander in den Köpfen. Doch Maratinaja klärte dieses Missverständnis auf: Bevor eine telepathische Verbindung zustande kam, musste man sie auf die biometrischen Daten jenes Individuums abstimmen, mit dem man in Kontakt treten wollte. So empfing jeder nur die für ihn bestimmten Signale.
Am merkwürdigsten aber war den Menschen die Art der Nahrungsaufnahme vorgekommen. Denn da die Tscherkula keinen Mund besaßen, konnten sie auch nicht nach menschlicher Manier essen und trinken. Statt dessen ernährten sie sich durch das Baden in einem mineralstoffhaltigen See in der Höhle, dessen Nährstoffe sie durch die Haut aufnahmen.
Richard hatte inzwischen alle Scheu vor den Marsbewohnern verloren. Das merkte Olga daran, dass er zunehmend zum Scherzen aufgelegt war. Zum Beispiel als er erfuhr, wozu der See diente, meinte er: ‘Nichts für ungut, aber da lobe ich mir doch das Leben auf der Erde. Wir haben nicht nur besseren Sex, sondern auch jeden Tag etwas anderes zu essen, statt immer nur wie ihr diese Wassersuppe.’ Beteuerungen von seiten ihrer Gastgeber, dass jeder Nährstoff, von dem das Wasser ja verschiedene enthielt, anders schmecken würde, so dass auch sie Abwechslung beim Essen hätten, schenkte er einfach keinen Glauben.
Als dann Maratiza unvermittelt noch einmal nachhakte: ‘Und woher willst du eigentlich wissen, dass ihr Menschen bei der Fortpflanzung mehr Spaß habt als wir?’, schlich sich plötzlich eine trotz der schlechten Beleuchtung deutlich sichtbare Röte in sein Gesicht. Er zog verlegen an seinen Bartstoppeln, als könne er daraus eine schlagfertige Antwort herauszupfen, doch mehr als: ‘Na ja, ich stelle mir bloß vor, wie das ist, wenn dabei so viele zugucken ...’, kam dabei nicht heraus. Auch Olga ließ ihn schmählich im Stich, indem sie seinen Hilfe suchenden Blick schlicht ignorierte und sich einfach abwandte, obwohl sie das ganze Gespräch über die Verbindung zu Maratiza mitbekommen hatte.
Maratiza genoss es wahrscheinlich, zum ersten Mal ein menschliches Opfer in der Falle zu haben, denn sie gab sich damit noch nicht zufrieden: ‘Denn um das vergleichen zu können, müsstest du ja erst einmal erleben, wie es bei uns zugeht.’
Aber zu ihrer großen Enttäuschung war Richards Verlegenheitsphase bereits wieder vorbei: ‘Vielen Dank, ich würde das natürlich gern mal ausprobieren - natürlich nur aus rein wissenschaftlichem Interesse - aber da gibt es im wahrsten Sinne des Wortes ein ‘kleines’ Problem. Denn die männlichen Erdenbewohner besitzen keine so großen Rüssel wie eure Vrida und dann auch nur einen einzigen. Mit anderen Worten, eine Tscherkula-Krida und einen Erden-Mann sind irgendwie nicht fortpflanzungskompatibel.’
Olga sah Richard bei diesen Worten übers ganze Gesicht grinsen. Offensichtlich mit sich selbst zufrieden, weil er sich seiner Meinung nach so gut aus der Affäre gezogen hatte.
Doch plötzlich gefror das Grinsen in Richard Snows Gesicht und Olga erschrak. Dann begann Maratiza zu schwanken und kippte schließlich um. Dabei wanden sich ihre vielen Arme und Beine wie in einem furchtbaren Krampf, was aber nur kurz anhielt. Schließlich bewegte sich Maratiza überhaupt nicht mehr.
Richard versuchte krampfhaft, sich an einem Felsvorsprung an der Wand festzuhalten, doch dann glitten seine Finger ab und er stürzte auf Maratiza.
In Olga, zunächst vom Entsetzen gelähmt, kam nun Bewegung. Sie beugte sich zu Richard hinunter und hielt ihr Ohr an seine Brust, um nach seinem Herzschlag zu hören. Als aber kein einziger Pulsschlag an ihr Ohr drang, wurde sie von Panik erfasst.
Sie richtete sich wieder auf und sah jetzt, dass aus Richards Mund, Nase und Ohren Blut lief. Erst ein dünner Strom, dann plötzlich ein dicker Strahl, der dann rasch wieder versiegte.
Da war es mit Olgas Beherrschung endgültig vorbei: Sie hielt die Hände vors Gesicht, hockte sich neben Richard und ließ ihren Tränen freien Lauf. Denn die Expedition zum Mars hatte nun auch unter der Besatzung der „Explorer“ ihr erstes Opfer gefordert.
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Richard Craydons Urteil stand fest: Der Stahl der Befestigungsschrauben der Schienen hatte den Belastungen nicht mehr standgehalten und war gerissen. So etwas kam zwar hin und wieder durch Fehler im Material vor, aber wenn die Schrauben gleich reihenweise ausfielen, musste das eine andere Ursache haben. Da es keine Anzeichen von Sabotage gab, blieb als einleuchtender Grund nur die lange Hitzewelle übrig, die den Stahl offenbar weich machte und seine Festigkeit soweit herabsetzte, dass die Schrauben die Schienen nicht mehr halten konnten, wenn ein Zug darüber fuhr. Und weil die Belastungen für die Schrauben in den Kurven am höchsten waren, passierten stets dort die Unglücke - wie auch hier auf dem Viadukt geschehen.
Craydon erhob sich wieder und holte nun ein kleines Funkgerät aus der Brusttasche seines Hemdes.
„Wie sieht es bei euch aus?“, wollte er von dem Trupp wissen, der unten in der Schlucht, durch die sich der Falls Creek schlängelte, die Aufräumarbeiten durchführte.
„Bis jetzt keine Überlebenden - und ich glaube auch nicht, dass wir überhaupt noch welche finden werden. Die Absturzhöhe war einfach zu groß.“
„Alles klar, macht trotzdem weiter, vielleicht findet ihr ja doch noch jemanden - Ende.“
Dann griff Richard Craydon zu seinem Handy und wählte die Nummer seines Vorgesetzten. Als dieser sich meldete, sagte er: „Also Jim, es ist so, wie ich es schon bei den anderen Fällen vermutet habe - Materialermüdung wegen der großen Hitze. Wir müssen jetzt unbedingt etwas unternehmen.“
„Und was schlägst du vor?“
„Generelles Tempolimit auf zwanzig Meilen die Stunde und alle Züge so umleiten, dass die Strecken nicht mehr über Brücken führen.“
„Das ist unmöglich. Stell dir doch bloß mal die Auswirkungen auf den Fahrplan vor!“
„Besser, die Leute kommen verspätet an ihr Ziel als gar nicht“, erwiderte Craydon hart, „ich übernehme dafür nicht länger die Verantwortung.“
Und ohne die Erwiderung seines Vorgesetzten abzuwarten, beendete er die Verbindung. Dann ging er weiter zu jener Stelle des Geländers, die der Zug durchbrochen hatte. Dabei hörte er aus der Tiefe so etwas wie Jubelrufe. Er wollte gerade zu seinem Funkgerät greifen, um nachzufragen, als es auch schon aus dem kleinen Lautsprecher knarrte: „Richard, Richard, stell dir vor, wir haben gerade ein kleines Mädchen aus den Trümmern geholt - lebend!“
„Ist sie schwer verletzt?“
„Äußerlich ist nichts festzustellen. Sie verlangt nur immer wieder nach ihrem Daddy. Nach dem, was wir bisher von ihr erfahren konnten - sie steht natürlich unter Schock -, war er wohl der Lokführer dieses Zuges gewesen.“
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Olga hatte gar nicht bemerkt, wie Maratinaja ihr einen Arm auf die Schulter legte: ‘Das waren die Olterzantos. Sie führen schon lange Krieg gegen uns - auf telepathischem Wege. Sie stellen sich jeweils auf die biologischen Strukturen eines Tscherkula ein, schließen sich zu einer Gruppe zusammen und dringen dann mit vereinten Kräften in unseren Geist ein. Gegen diese Übermacht kann unser Geist nichts ausrichten und wird praktisch aus unserem Körper vertrieben - das ist dann das Ende. Deinem Freund wird es ebenso ergangen sein, weil er gerade mit Maratizas Geist verbunden war. Sonst wäre ihm wohl nichts passiert, weil ihr ohne Körperkontakt für Telepathie nicht zugänglich seid.’
‘Könnt ihr denn gar nichts dagegen tun?’, fragte Olga, immer noch schluchzend.
‘Wir ändern jeden Tag in irgendeiner Form unsere biologische Struktur. So können sie sich nicht mehr so einfach auf uns einstellen.’
‘Und wenn ihr euch auch in Gruppen zusammenschließt, so dass sie keine Übermacht mehr besitzen?’
‘Das haben wir schon versucht - leider ohne Erfolg. Offenbar schließen sie sich zu sehr großen Gruppen zusammen. Und mittlerweile wurden schon so viele von uns getötet, dass wir keine größere Gruppe mehr bilden können.’
‘Wo kommen diese Ö.. O, na ja diese Dinger eben, eigentlich her?’
Inzwischen hatte sich Olga schon so gut auf Maratinaja eingestellt, dass sie sogar ‘hören’ konnte, wie die Krida seufzte, ehe sie antwortete: ‘Das ist eine lange Geschichte. Sie kamen von einem anderen Planeten, der offenbar durch irgendeine Katastrophe zerstört worden war. Sie baten uns, hier bleiben zu dürfen, was wir ihnen auch gestatteten. Im Laufe der Zeit vermehrten sie sich aber sehr stark und beanspruchten immer mehr Platz und Ressourcen, bis wir uns schließlich ihretwegen einschränken mussten. Als wir sie dann ersuchten, ihre Fortpflanzungsrate zu reduzieren, damit auch für uns noch genügend Platz und Nahrung übrig bliebe, begannen sie uns zu töten. Seit damals starben mehr als drei Viertel meines Volkes, und bald wird keiner mehr von uns übrig sein.’
‘Das ist ja schrecklich.’
Olga hatte sich mittlerweile gefasst und weinte nun nicht mehr. ‘Haben diese Otto ...,eure Feinde sonst noch irgendwelche Waffen oder Technologien?’
‘Davon ist mir nichts bekannt.’
‘Wisst ihr, wo sie sich aufhalten?’
‘Ja, wir haben ihnen ja schließlich einmal diese Wohnstätten geschenkt.’
‘Das ist gut.’
In Olga kehrte nun endgültig die alte Entschlossenheit zurück. Sie hatte jetzt eine Aufgabe zu lösen und daher keine Zeit zum Trauern, denn sie musste den Tscherkula unbedingt helfen. Und sie wusste auch schon wie.
‘Bring mich dahin zurück, wo du mich gefunden hast!’
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Scott Wilder machte die schon seit Wochen in den USA anhaltende Hitze wenig aus. Schließlich war er durch seine tägliche Arbeit als Gießer in einem Stahlwerk noch viel höhere Temperaturen gewöhnt. Und so konnten selbst Außentemperaturen von 40 Grad sein Wohlbefinden kaum trüben. Schon gar nicht jetzt am Abend, als er auf der Terrasse seines kleinen Hauses saß, gespannt ein Baseballspiel im Fernsehen verfolgte und nebenbei einige Flaschen mit eiskaltem Bier leerte.
Das Haus, das er zusammen mit seiner Frau und seinen beiden Kindern bewohnte, hatte er erst vor zwei Jahren gekauft. Vor allem dessen Lage gab damals den Ausschlag für den Kauf: es stand auf einer großen Lichtung mitten im Wald, relativ weit entfernt von der nächsten Ortschaft. Denn wenn Scott Wilder während seiner Arbeitszeit schon allerhand zum Teil giftige Dämpfe einatmen musste, wollte er dies nicht auch noch in seiner Freizeit tun. Und da das weitläufige Gelände auch einen idealen Spielplatz für die Kinder darstellte, hatten Scott und Cheryl Wilder nicht lange überlegt, als sie damals von diesem Angebot erfuhren.
Im Moment war Scott noch allein, da seine Frau zusammen mit den Kindern in den nächstgelegenen Supermarkt gefahren war, doch mussten sie schon bald zurückkommen. Und genau in diesem Moment ertönte in der Ferne ein leises Motorengeräusch, das rasch lauter wurde. Kurz darauf sah Scott den Geländewagen seiner Frau aus dem Wald auftauchen und auf jenen Feldweg einbiegen, der zu ihrem Haus führte.
Was er nicht sehen konnte: Der heiße Auspuff des Fahrzeugs berührte hin und wieder verdorrtes Gras, das auf dem Feldweg zwischen den Fahrspuren wuchs, woraufhin einige Halme kurz aufglommen. Da es aber noch nicht dunkel war und auch keine Rauchentwicklung gab, bemerkte Scott Wilder nichts davon.
Kurz darauf hielt der Geländewagen vor dem Haus und die Kinder sprangen lärmend heraus. Ihnen war sicher das lange Stillsitzen zu langweilig gewesen und so tobten sie in den Wald, nachdem sie ihren Vater kurz begrüßt hatten.
Die Begrüßung zwischen Cheryl und Scott dauerte auch nicht länger, denn da sich Cheryl gleich mit allerhand Einkaufstüten bepackte, blieb es für Scott bei einem Küsschen auf die Wange. Er bedauerte dies zwar, sah aber letztlich ein, dass eine große Begrüßungszeremonie nach einer nur zweistündigen Abwesenheit seiner Frau doch etwas übertrieben gewesen wäre. So sagte er nur: „Komm, ich helfe dir tragen“, nahm ihr die größten Tüten ab und trug sie ins Haus.
Cheryl nickte dankbar und ließ sich dann in der Küche gleich auf einen Stuhl fallen, nachdem sie ihre Last abgeladen hatte. „Uh“, seufzte sie, „diese Hitze macht mich einfach alle. Obwohl im Auto ständig die Klimaanlage lief, bin ich völlig durchgeschwitzt – nur von dem kurzen Weg vom Auto bis hierher in die Küche! Hoffentlich schlägt das Wetter bald mal um und wird kühler.“
„Daraus wird leider nichts. Jedenfalls nicht bis zum nächsten Wochenende“, erwiderte Scott. Und als sie ihn entsetzt anschaute, fügte er hinzu: „Sagt der Wetterdienst – nicht ich. Aber es wäre ja nicht das erste Mal, dass die sich irren.“
Cheryl schüttelte zweifelnd den Kopf: „Das glaube ich erst dann, wenn es tatsächlich kühler wird. Am besten, ich gehe erst mal duschen und ziehe mir etwas frisches an. Machst du inzwischen Abendessen und rufst die Kinder?“
„Natürlich, Schatz, geh nur.“
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‘Und das braucht ihr alles zum Leben?’, fragte Maratinaja ungläubig, während sie sich in der Höhle, die das Zuhause der beiden Astronauten war, neugierig umschaute. Olgas neue Bekanntschaft hatte es sich nämlich nicht nehmen lassen, sie bis zu ihrer Unterkunft zu begleiten, um dort einmal sehen zu können, wie Menschen so leben.
Während Olga in irgendwelchen Kisten herumkramte, untersuchte Maratinaja verschiedene Gegenstände. Das ging ganz einfach, denn da ihre Augen an den Enden ihrer Arme saßen, brauchte sie nur diese Arme auszustrecken, um alles ganz genau sehen zu können. Dabei hatte sie stets einen anderen Arm auf Olgas Schulter liegen, um sie gleichzeitig über den Verwendungszweck all dieser merkwürdigen Dinge auszufragen.
Olga störte das zwar, aber sie versuchte krampfhaft, sich auf ihre Suche zu konzentrieren, um Maratinaja nicht mit solchen Gedanken zu beleidigen. Deshalb klang sie etwas unkonzentriert, als sie antwortete: ‘Vieles brauchen wir nicht unbedingt, aber es macht das Leben einfacher und angenehmer.’
Endlich hatte Olga gefunden, was sie suchte: Kleine, eiförmige, etwa faustgroße Gegenstände aus Metall. ‘Handgranaten’, erklärte sie Maratinaja.
‘Ich weiß’, nickte sie und zum ersten Mal glaubte Olga im ‘Gesicht’ der Marsianerin eine Veränderung wahrzunehmen. Ihr kam es vor, als lächele Maratinaja nachsichtig. Gleich darauf erklärte die Krida: ‘Ich kenne nicht nur deine ganzen Gedanken, ich kann mir auch alles Wissen erschließen, das in deinem Kopf gespeichert ist. Bei diesen Handgranaten handelt es sich um amerikanische M 67-Splitterhandgranaten, die über einen besonders exakten Zündmechanismus verfügen und alles im Umkreis von mindestens fünf Metern auslöschen.’
Und als Olga sie immer noch ungläubig anschaute, fuhr sie fort: ‘Bei der hellgrauen Knetmasse, die neben den Handgranaten liegt, handelt es sich um C4 - bekannt auch als Plastiksprengstoff. Er entfaltet seine Wirkung nicht durch eine Druckwelle, sondern durch seine große Hitze. Im Gegensatz zu TNT kann er sich so durch viele Materialien regelrecht hindurchbrennen - sogar durch Stahl.’
‘Und das alles soll in meinem Kopf sein?’, fragte Olga, noch immer nicht ganz überzeugt. ‘Ich weiß gerade mal, dass sich in dieser Kiste gefährliches Zeug befindet, mit dem man etwas in die Luft jagen kann, weiter nichts.’
‘Natürlich ist das alles in deinem Kopf drin, sonst wüsste ich es ja nicht. Es ist nur von anderem Wissen überlagert, so dass es für dich nicht mehr auffindbar war.’
‘Gut, dann kannst du mir ja sicher auch sagen, wie viele Sekunden ich Zeit habe, so eine Handgranate wegzuwerfen, bevor sie explodiert. Denn das habe ich nämlich ebenfalls vergessen.’
‘Kein Problem, der Sprengkörper detoniert vier Sekunden nach seiner Aktivierung.’ Olga glaubte dabei einen Ausdruck der Missbilligung auf Maratinajas ‘Gesicht’ wahrzunehmen.
Zugegeben, es machte ja wirklich keinen sehr professionellen Eindruck, wenn ihr erst eine Marsianerin erklären musste, wie eine Erdenwaffe funktioniert. Deshalb erklärte sie, um ihr Unwissen wenigstens einigermaßen zu entschuldigen: ‘Bei uns Menschen ist es normal, sich nicht mehr an alles zu erinnern, was man einmal gewusst hat. Vor allen Dingen dann, wenn das Wissen nicht häufig gebraucht wird. Und da ich nicht zum Militär gehöre, sondern Wissenschaftlerin bin, komme ich nur äußerst selten mit Handgranaten in Berührung.’
‘Kommst du auch nur selten mit deiner Kellerbeleuchtung in Berührung?’
‘Na ja ..., nein, eigentlich jeden Tag, aber warum fragst du?’ Olga war von diesem urplötzlichen Themenwechsel sichtlich irritiert.
‘Weil du vergessen hast, sie vor deiner Abreise auszuschalten!’
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Inzwischen waren sie wieder in der Höhle der Tscherkula angelangt. Olga musste am Eingang warten, während Maratinaja zu einer Gruppe von etwa dreißig anderen Tscherkula ging.
Diese Marsianer hatten besonders viele der seilartigen Geschlechtsteile um ihren Körper gewickelt. Da sich Olga erinnerte, dass man aus deren Anzahl das ungefähre Alter eines Tscherkula bestimmen könne, vermutete sie, hier so eine Art Ältestenrat vor sich zu haben. Wie sie von Maratinaja später erfuhr, gehörte Maratiza früher auch dazu.
Olga konnte die Ratssitzung leider nicht mitverfolgen, da im Moment kein Kontakt zu Maratinaja bestand. Dabei würde sie so gern zuhören und dann ihren Plan, die Olterzantos mittels Handgranaten so weit zu dezimieren, dass sie keine Übermacht mehr über die Tscherkula besaßen, selber vorbringen. So aber musste sie sich darauf verlassen, dass Maratinaja die richtigen Worte fand.
Auch interessierte sie, wie lebhaft es bei einer Sitzung der Tscherkula zuging. Ob es dabei auch manchmal zu solchen Tumulten kam, wie sie es schon einige Male im Fernsehen von Parlamentssitzungen auf der Erde gesehen hatte?
Äußerlich war den Tscherkula gar nichts anzumerken. Sie saßen die ganze Zeit über wie erstarrt in einem Kreis und blinzelten nicht einmal mit ihren Augen - kein gestikulieren, nichts. Daher wusste Olga nicht einmal, ob die Sitzung überhaupt schon begonnen hatte.
Ganz wohl war Olga bei ihrem Plan übrigens nicht. Durfte sie denn so einfach in einen Krieg eingreifen, der sie eigentlich nichts anging? Nun gut, Richard war von den Olterzantos getötet worden, aber handelte es sich dabei nicht bloß um einen Unfall?
Andererseits: Die Olterzantos stellten für Maratinaja und ihr Volk eine wirkliche Bedrohung dar, das hatte sie mit eigenen Augen gesehen. Die Tscherkula wirkten auch überhaupt nicht feindselig, als dass dieser Krieg von ihnen ausgegangen sein könnte. Außerdem fand Olga die Erzählung glaubwürdig, dass Maratinajas Volk zuerst hier lebte und die anderen später als Gäste aufnahm, also die älteren Rechte auf diesen Planeten besaß. So gesehen, stand sie auf der richtigen Seite und konnte es vor ihrem Gewissen verantworten, zu Gunsten ihrer neuen Freunde in den Krieg einzugreifen.
Nun hing alles von der Entscheidung der Tscherkula ab, ob sie sich überhaupt von Olga helfen lassen wollten. Denn der Rat müsse erst sein Einverständnis erklären, hatte Maratinaja gesagt, vorher dürfe Olga nichts tun.
Offenbar war nun die Besprechung der Marsianer beendet, denn Maratinaja kam zu Olga, legte ihr wie gewohnt einen Arm auf die Schulter und sagte: ‘Ich konnte mein Volk nicht von deinem Vorschlag überzeugen. Sie wollen kein Blutvergießen und hoffen, dass es noch einen anderen Weg gibt.’
‘Haben sie denn bereits einen anderen Plan?’
‘Nein, das nicht, aber sie arbeiten daran.’
‘Es ist eure Entscheidung und ich hoffe, ihr werdet sie nicht bereuen. Doch wie lange wollt ihr noch warten, bis ihr euch wehrt?’
‘Das muss unser Volk für sich selbst entscheiden.’
‘Schau mal, eure Feinde wohnen doch auf der anderen Seite des Planeten. Ehe ich mit meiner Ausrüstung dorthin gefahren bin und mir einen Zugang zu ihrer Höhle geschaffen habe, vergeht mindestens ein Vierteljahr’, wagte Olga einen neuen Anlauf. ‘Warum gebt ihr ihnen diese Zeit nicht als Galgenfrist, in der sie sich noch mit euch einigen können? Erst wenn es zu keiner Einigung kommt, zünde ich die Granaten.’
‘Du bräuchtest nicht einmal einen Tag bis zu ihnen, denn wir würden dich hinbringen.’
‘Wie denn das? Unser Shuttle ist durch einen Sturm zerstört worden, also kann ich auch nicht mehr fliegen.’
‘Wir hätten dich mit unseren telepathischen Kräften zu ihnen geschafft. Wir können nämlich im Gegensatz zu den Olterzantos auch Gegenstände telepathisch transportieren.’
‘Willst du nicht doch noch einmal mit ihnen sprechen?’
‘Nein, die Entscheidung ist bereits endgültig gefallen.’
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Es hatte lange gedauert, bis Cheryl Wilder endlich einschlafen konnte – so wie schon fast jede Nacht in den letzten vier Wochen. Ihr graute schon vor dem nächsten Tag, wenn sie wieder so unausgeschlafen im Büro erschien. Dabei musste sie als Rechtsanwältin doch ständig einen klaren Kopf haben.
Sie bereute es auf das heftigste, vor einigen Wochen den Kauf einer Klimaanlage abgelehnt zu haben, als Scott ihr dies anbot. Denn sie hatte geglaubt, die Hitzeperiode wäre nur von kurzer Dauer. Aber nun ging das schon seit Wochen so und inzwischen waren diese Dinger im Umkreis von mindestens fünfzig Meilen ausverkauft. In wie vielen Geschäften auch immer sie nachgefragt hatte, immer erhielt sie die gleiche Antwort: Tut uns Leid, wir haben keine Klimaanlagen mehr.
Es gelang ihr dann endlich doch einzuschlafen – aber der Schlaf war unruhig und nur von kurzer Dauer. Denn schon wenig später schreckte sie ein fürchterlicher Traum wieder auf: Der Propangasherd in ihrer Küche flog in die Luft und entflammte das ganze Haus.
Das Schlimmste an ihrem Traum war jedoch der stechende Geruch des Brandes gewesen. Diesen widerlichen Gestank spürte sie sogar jetzt noch in der Nase, obwohl sie schon einige Minuten lang wach lag.
Und das machte sie plötzlich stutzig. Sie sog ein paar Mal tief Luft ein – doch der Geruch verschwand nicht, sondern wurde im Gegenteil noch stärker. Auch bemerkte sie jetzt, dass es in ihrem Schlafzimmer sehr warm war und sie furchtbar schwitzte – nur vom Traum und der Hitze konnte das doch nicht sein!
Deshalb stand sie auf, und schaute aus dem offenen Fenster. Draußen roch es noch beißender und es lag ein rötlicher Schimmer am Nachthimmel, der von der anderen Seite des Hauses zu kommen schien. Sie stürzte zur Tür und öffnete sie, musste die Tür aber gleich wieder zuwerfen, weil dahinter eine Flammenwand loderte, die schon das gesamte Treppenhaus erfasst hatte.
Sie rannte zu Scott und rüttelte ihn wach. „Scott, wach auf, um Himmels Willen, wach endlich auf, unser Haus brennt“, schrie sie.
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Olga wälzte sich schlaflos auf ihrem Lager hin und her. Nachdem Maratinaja sie in ihre Unterkunft zurückgebracht hatte, war sie fast schlagartig von einer bleiernen Müdigkeit überfallen worden - kein Wunder bei den Anstrengungen und Aufregungen der letzten Tage. Also legte sie sich schlafen.
Aber anstatt nun Ruhe zu finden, kreisten ihre Gedanken ständig um ihr letztes Gespräch mit Maratinaja, gerade so, als wollten sie sie auf etwas aufmerksam machen. Dabei kam ihr immer wieder die Formulierung ‘Wir hätten dich mit unseren telepathischen Kräften zu ihnen geschafft. Wir können nämlich im Gegensatz zu den Olterzantos auch Gegenstände telepathisch transportieren ...’ in den Sinn. Und ärgerte sich gleichzeitig laufend wieder über die wenig schmeichelhafte Bezeichnung als zu transportierender Gegenstand. Vielleicht vergaßen ja die Marsianer nie etwas, aber dafür besaßen sie garantiert weniger Taktgefühl als die Menschen auf der Erde.
Moment mal, hatte Maratinaja wirklich gesagt, sie könnten sie einfach mit ihren telepathischen Fähigkeiten wie einen Gegenstand auf die andere Seite des Marses transportieren? Vielleicht wäre es ihnen sogar möglich, sie noch weiter weg zu transportieren, etwa zur Erde? Dann könnte sie auch ohne Shuttle doch noch dahin zurückkehren! Aber was nützte das, wenn es die Erde in wenigen Jahren nicht mehr gab?
Und was würde aus Maratinaja und ihrem Volk, wenn Olga sie einfach so ihrem Schicksal überließ? Käme das nicht ihrem sicheren Untergang gleich?
Im Übrigen hatte die Friedfertigkeit der Tscherkula Olga inzwischen vollständig davon überzeugt, dass es richtig gewesen wäre, ihnen im Krieg gegen die Olterzantos beizustehen. Aber was nützte diese Einsicht, wenn sie ihnen nicht helfen durfte? Weil sie ihre Feinde nicht töten wollten?
Mit einem Mal fiel es ihr wie Schuppen von den Augen: Wie wäre es denn, wenn sie einfach die Olterzantos durch Telepathie auf einen anderen Planeten schicken würden? Auf einen Planeten, auf dem sie gut leben könnten. Denn dann hätten diese keinen Grund mehr, Krieg gegen die Tscherkula wegen der knappen Ressourcen auf dem Mars zu führen. Und danach konnte Olga vielleicht auch zur Erde zurückkehren ...
Mit einem Mal war ihre Müdigkeit verflogen und sie sprang auf. ‘Jetzt werde ich den Tscherkula mal zeigen, dass Menschen zwar vergesslich sind, dafür aber auch ganz gute Ideen haben können’, dachte sie nicht ohne Stolz.
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Olga hatte noch schnell geduscht und sich frische Sachen angezogen, bevor sie sich auf den Weg zu den Tscherkula machte, um Maratinaja von ihrem neuen Plan zu erzählen.
Doch sie kam nicht weit. Fast wäre sie über eine der vielen kleinen Kugeln gestolpert, die plötzlich überall auf dem Weg herumlagen. Kein Wunder, waren sie doch farblich kaum von den Felswänden zu unterscheiden. Olga könnte schwören, dass diese etwa kopfgroßen Gebilde vorhin noch nicht dagelegen hatten. Sie würde sich mit Sicherheit an diese Hindernisse erinnern.
Doch sie wäre keine echte Wissenschaftlerin gewesen, hätten diese Dinger nicht ihre Neugier erweckt. Sie beugte sich über eine solche Kugel, um sie näher betrachten zu können. Plötzlich schoss unter der Kugel ein kleiner Tentakel hervor und legte sich ihr um den Hals.
Das Gefühl, wie fremde Gedanken von ihrem Geist Besitz ergriffen, kannte sie bereits durch die Gespräche mit den Tscherkula und so erschrak sie nicht, als ihr nun fremde Worte durch den Kopf hallten: ‘Wir wollten schon lange mal deine Bekanntschaft machen. Allerdings gefällt uns gar nicht, was du mit uns vorhast, um den Tscherkula zu helfen’.
‘Die Olterzantos’, schoss es ihr noch durch den Sinn, dann kam eine tiefe Schwärze wie eine Erlösung über ihr Bewusstsein.
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Scott Wilder schlief immer wie ein Bär und war nicht so leicht wachzukriegen. Noch halb benommen murmelte er vor sich hin: „Das hast du sicher bloß geträumt. Lass mich jetzt weiterschlafen, ich muss doch morgen wieder zeitig raus.“
Doch Cheryl ließ nicht locker und rüttelte ihn so lange, bis er sich endlich aufsetzte: „Scott, hast du nicht gehört, unser Haus brennt! Steh endlich auf und tu etwas!“
Scott erhob sich schließlich mit einem Seufzer und schaute sich um, wobei ihm ständig die Augen zuzufallen drohten: „Ich sehe nichts brennen.“
Er wollte schon wieder ins Bett zurücksinken, da rannte Cheryl zur Tür des Schlafzimmers und öffnete sie noch einmal. Scott wurde von der Helligkeit der Flammen geblendet und hielt sich in einem Reflex einen Arm schützend vor die Augen. Dann war er mit einem Schlag hellwach und stotterte entsetzt: „Wie konnte denn das bloß passieren?“
„Das weiß ich auch nicht. Aber zuerst müssen wir mal hier raus.“
Scott hatte inzwischen den ersten Schock verdaut und begann wieder klar zu denken: „Du hast Recht. Bring dich erst mal in Sicherheit. Ich hole inzwischen die Kinder.“
Doch Cheryl widersprach: „Du kannst die Kinder nicht holen, der ganze Flur steht schon in Flammen.“
Scott überlegte kurz, dann sagte er: „Okay, dann rette ich sie über die Fenster.“ Er ging zum Fenster ihres Schlafzimmers, öffnete es noch weiter und kletterte dann hinaus.
Obwohl sie sich im ersten Stock befanden, ging das ohne Schwierigkeiten, denn direkt unter ihrem Fenster befand sich das Dach der Garage. Als Scott sicher darauf stand, streckte er seine Arme nach oben, um Cheryl beim Herausklettern zu helfen. Dann legte er sich auf den Bauch und hielt Cheryl, während sie an der Dachrinne weiter nach unten kletterte.
Als sie unten angekommen war, wollte Scott als nächstes auf einem schmalen Sims zum Fenster der Kinder balancieren - denn das Garagendach reichte nicht so weit - doch Cheryl rief ihm zu: „So wird das nichts, du stürzt höchstens noch ab. Und wie willst du dann die Kinder hinuntertragen? Nimm lieber die lange Leiter aus der Garage!“
Scott sah ein, dass dies vernünftiger war und stieg nun ebenfalls von der Garage. Er zerschlug das Garagenfenster – der Schlüssel lag ja noch im Haus – und kroch hinein. Kurze Zeit später schob er die Leiter durch das Fenster und kroch dann wieder hinaus. Anschließend rannte er mit der Leiter zur Hauswand, stellte sie unter das Fenster des Kinderzimmers und kletterte darauf schnell empor.
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Als Olga wieder zu sich kam, lag sie auf dem Fußboden ihres Quartiers. Sie schlug die Augen auf und sah sich um, so gut das aus dem Liegen heraus ging.
Mit ihr befanden sich drei der kugelförmigen Geschöpfe in dem Quartier. Zwei davon nahmen offenbar die Einrichtungsgegenstände unter die Lupe, denn sie befühlten mit ihrem Tentakel verschiedene Dinge. Da ihr Tentakel nur etwa einen halben Meter lang war, mussten sie sich dabei auf Gegenstände beschränken, die sich innerhalb ihrer Reichweite befanden. Klettern oder springen konnten sie also offenbar nicht. Auch bewegten sie sich ziemlich behäbig.
Eine dritte Kugel lag unmittelbar neben Olga und hatte ihren Tentakel um Olgas Hals geschlungen. ‘Wie schön, dass du wieder wach bist’, klang es in ihrem Kopf und ihr entging der höhnische Unterton dabei nicht, ‘obwohl wir uns solche Mühe gegeben haben, deinen Geist davon zu überzeugen, dass er deine Lebensfunktionen einstellt. Aber bis jetzt hat es leider nicht geklappt.’
‘Ihr wollt mich umbringen? Wieso denn das?’, entfuhr es Olga entsetzt.
‘Du willst unseren Feinden helfen, uns zu vernichten. Deshalb bist auch du unser Feind und musst sterben. Nur ist das bei dir nicht ganz so einfach wie bei diesen überflüssigen Tscherkulas. Bis jetzt hattest du einfach nur Glück, dass wir mit den Besonderheiten der menschlichen Anatomie noch nicht zurecht gekommen sind. Aber das wird schon noch“, kam prompt die Antwort, dem so etwas wie ein Gähn-Geräusch folgte.
Olga war zunächst geschockt, fing sich aber schnell wieder. Sie musste unbedingt einen Ausweg finden. Aber wie konnte sie in Ruhe nachdenken, wenn die Kugel neben ihr alle ihre Gedanken lesen konnte?
Vielleicht half es ja, wenn sie sich ein lautes Geräusch vorstellte und darin ihre eigentlichen Gedanken versteckte. Sie dachte intensiv an den Lärm eines Düsentriebwerks und entwickelte nebenbei ihren Plan: Da sich die Olterzantos nur langsam fortbewegen konnten, wäre es doch sicher das einfachste, wenn sie plötzlich aufsprang und davonrannte. Olga versuchte probeweise, die Beine zu bewegen, aber es tat sich nichts. Ihre Arme ließen sich ebenfalls nicht einmal um einen Millimeter anheben, so sehr sie sich auch anstrengte.
‘Gib dir keine Mühe’, gähnte die Kugel in ihrem Kopf, ‘solange mein Tentakel deinen Körper berührt, kann ich nicht nur alle deine Gedanken lesen, sondern beherrsche außerdem alle deine Muskeln. Wenn ich nicht will, dass du dich bewegen kannst, dann bewegst du dich auch nicht’.
Dieses Mal dauerte es etwas länger, bis Olga den Schlag verdaut hatte. Doch da sie wusste, dass sie nach dem Willen der Olterzantos sowieso sterben sollte, wollte sie ihr Leben wenigstens so teuer wie möglich verkaufen und begann erneut, nach einem Ausweg zu suchen. Und wieder kam ihr eine Idee: ‘Wenn ich mir nacheinander verschiedene Möglichkeiten vorstelle, dann weiß dieses Ding ja nicht, welche ich davon schließlich auswähle. Also nützt ihm dieses Wissen gar nichts’.
Bei diesem Gedanken schöpfte sie ein wenig Hoffnung und malte sich mehrere Rettungswege aus. So könnte sie zum Beispiel eine Pistole nehmen und sich damit den Weg frei schießen. Oder sie nahm einen Feuerlöscher und sprühte die Kugeln mit tiefgekühltem Kohlendioxid ein, was sie vereisen musste ...
‘Es hat keinen Zweck’, wurde sie plötzlich von der Stimme der Kugel in ihren Gedanken unterbrochen, ‘wir können einfach alle diese Möglichkeiten der Reihe nach unterbinden. Pass mal auf.’
Kurz darauf öffnete sich die Tür und weitere Kugeln kamen herein. Sie bewegten sich alle auf die Schublade zu, in der die Pistole lag. Da die Olterzantos die Schublade aber nicht so ohne weiteres erreichen konnten, bildeten sie eine Pyramide. Dazu stellten sich etliche in mehreren Reihen nebeneinander auf und reckten dann ihre Tentakel in die Höhe. Ein paar der übrigen Kugeln zogen sich nun an diesen aufrecht gestellten Tentakeln in die Höhe, legten sich anschließend so in die Zwischenräume der untersten Reihe, dass sie nicht wieder herunterkullerten, und bildeten auf diese Weise die zweite Schicht. Danach halfen sie mit ihren Tentakeln der dritten Gruppe hinaufzuklettern.
Als die Pyramide vier Schichten hatte, konnte schließlich die oberste Kugel die Schublade öffnen und die darin befindliche Pistole herausnehmen. Dann rutschte die Pyramide in sich zusammen und jener Olterzanto, der die Pistole am Tentakel hatte, verließ den Raum wieder.
Die anderen formierten sich erneut zu einer Pyramide und holten so auch noch den Feuerlöscher von der Wand.
Um diesen abzutransportieren, waren fast alle Olterzantos nötig. Nur die Kugel, die Olga bewachte, blieb im Raum.
‘Siehst du’, ließ sich der Olterzanto nun wieder vernehmen, ‘du hast keine Chance, uns zu entkommen. Und wie willst du überhaupt an eine Waffe kommen, wenn du dich nicht bewegen kannst?’
‘Dann helfen mir eben die Tscherkula’, schrie sie verzweifelt, ‘sie hören bestimmt meine Gedanken und kommen dann, um mich zu befreien’.
‘Sicher nicht’, antwortete die Kugel mit einem erneuten Gähnen, denn da ich über deinen Geist herrsche, können deine Gedanken die Tscherkula gar nicht erst erreichen.’
Olga begriff, dass sie nur noch ein Wunder retten konnte und schlief vor Erschöpfung ein.
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Als Olga erwachte, spürte sie einen heftigen Schmerz im Rücken. Sie hatte wohl die ganze Zeit auf einem kleinen Steinchen gelegen.
Also drehte sie sich auf die Seite, damit der Schmerz nachließ. Dabei geriet der neben ihr liegende Olterzanto in ihr Blickfeld und sie erinnerte sich wieder an ihre ausweglose Situation.
Die Verzweiflung wollte gerade erneut von ihr Besitz ergreifen, als sie plötzlich stutzte: Hatte sie sich nicht gerade beim Umdrehen bewegt? Und sagte ihr nicht der Olterzanto vorhin, dass sie das nur könne, wenn er es ihr erlaube? Aber wieso sollte er es ihr jetzt erlauben?
Dann fiel ihr auf, dass sie den Tentakel des Olterzantos nicht mehr um ihren Hals spürte. Zur Sicherheit betastete sie noch ihren Hals, fand da aber nichts mehr. Offenbar war der Olterzanto eingeschlafen und sein Tentakel dabei von ihrem Hals gerutscht.
Das musste ihre Chance sein, jenes Wunder, das sie unbedingt brauchte, um ihr Leben doch noch retten zu können.
Olga sprang auf, lief zu einem Waffenschrank, den die Olterzantos noch nicht entdeckt hatten, und griff sich eine Maschinenpistole. Sie visierte den schlafenden Olterzanto an, sagte: „Und jetzt werde ich mal deine Anatomie untersuchen“, und drückte ab.
Als sie die kleine Kugel durch die Einschüsse regelrecht zerplatzen sah, durchflutete sie eine Welle der Genugtuung. „Siehst du“, meinte sie dann zu dem zerfetzten, leblosen Körper, nachdem sie den Rauch von der Mündung der Maschinenpistole nach Westernmanier weggeblasen hatte, „wir Menschen haben doch mehr Ahnung von eurem Körper, als ihr von unserem“.
Ihr weiterer Plan stand schnell fest: Sie würde sich den Weg zum Bohrfahrzeug freischießen, sich dort im Führerhaus einschließen und dann zu den Tscherkula fahren.
Sie nahm vorsichtshalber noch eine zweite Maschinenpistole aus dem Waffenschrank, steckte außerdem mehrere Ersatzmagazine ein und verließ dann ihr Quartier.
Den ersten Olterzanto entdeckte sie erst außerhalb ihrer Station. Ein kurzer Feuerstoß aus einer Maschinenpistole, und die Kugel zerplatzte.
Sie schritt vorsichtig weiter, um ja keinen Olterzanto zu übersehen. Denn sobald es einer von ihnen schaffte, mit ihr in Berührung zu kommen, war ihre Flucht zu Ende.
So tastete sie sich Schritt für Schritt in Richtung Bohrfahrzeug vor und konnte die Maschine schon sehen, als sich plötzlich eine Pyramide von Olterzantos vor ihr aufbaute. Ihr fiel es nun wie Schuppen von den Augen: Die Feinde hatten ihre Gedanken gelesen und sich hier versammelt, um sie mit vereinten Kräften aufzuhalten. Deshalb war ihr auf dem Weg hierher auch nur eine einzige Kugel begegnet.
Olga stieß einen Schrei aus und feuerte beidhändig wahllos in die Menge der Olterzantos. Die getroffenen zerplatzten mit einem schmatzenden Geräusch und hinterließen feuchte schleimige Flecke an den Felswänden. Sie hörte nicht eher auf, bis sie beide Magazine leergeschossen hatte. Dann lud sie nach und betrachtete ihr Werk. Voller Hass blickte sie auf die gelartige Masse, die von der Pyramide übriggeblieben war. Hier und da sah sie noch einen Tentakel zucken, aber sie konnte keine unbeschadete Kugel mehr entdecken.
Mit einem Sprung - um nicht mit den zuckenden Tentakeln in Berührung zu kommen, setzte sie über die Gelpfütze, rannte zum Bohrfahrzeug, riss die Tür des Führerstandes auf und setzte den rechten Fuß hinein. Als sie den linken nachziehen wollte, merkte sie, wie sich ein Tentakel darum schlang. ‘Hallooo’, schoss es ihr durch den Kopf, ‘wo willst du denn so schnell hin?’
‘Zu den Tscherkula’, antwortete sie, ‘aber du kannst leider nicht mitkommen.’
Bevor der Olterzanto ihre Muskeln blockieren konnte, setzte sie die Mündung einer Maschinenpistole auf die Kugel und drückte ab.
Dann setzte sie sich in den Fahrersitz, verriegelte die Tür und startete den Motor. Der Zwölfzylinder sprang grummelnd an und röhrte folgsam auf, als Olga das Gaspedal durchtrat. Nun würde sie bestimmt nichts mehr aufhalten.
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Cheryl stand in einiger Entfernung vom Haus und sah voller Angst zu. Denn nun brannte auch schon der Dachstuhl. Und im Hintergrund ihres Schlafzimmers waren inzwischen - ebenso wie im Kinderzimmer - züngelnde Flammen zu sehen.
Das Feuer hatte sich also recht schnell weiter vorgearbeitet. Wie durch ein Wunder war aber genau jene Seite des Hauses, über die sie sich als einzige retten konnten, bis jetzt noch verschont geblieben. Und als ihr bewusst wurde, welches Glück sie hatten, dass sich ausgerechnet unter ihrem Fenster das Garagendach befand und so ihre Rettung erleichterte, fasste sie neuen Mut.
Doch der verschwand gleich wieder, als sie bemerkte, dass sie von ihren Kindern weder etwas hören oder sehen konnte. ‚Sie müssten doch inzwischen längst aufgewacht sein’, dachte sie beunruhigt. ‚Hoffentlich ist ihnen nichts passiert.’
Scott hatte inzwischen das Fenster erreicht und schlug mit seinem Ellenbogen die Fensterscheibe ein – und das war ein großer Fehler. Denn angefacht durch den plötzlichen Luftzug schlug nun eine riesige Lohe durch das Fenster und stach Scott mitten ins Gesicht.
Er schrie auf und fiel von der Leiter. Am Boden wälzte er sich dann vor Schmerzen hin und her und hielt sich die Hände vors Gesicht, als könne er so die Verbrennungen kühlen.
Cheryl wurde übel, als sie der Geruch verbrannten Fleisches erreichte. Bis jetzt hatte sie sich – vor Entsetzen gelähmt – keinen Schritt bewegen können. Nun wollte sie gerade zu Scott laufen, um ihm irgendwie zu helfen, als das Haus zu ächzen begann und die Wände nacheinander einstürzten. Sie konnten – geschwächt von den nagenden Flammen – die Last des Daches nicht mehr länger tragen. Scotts Schmerzensschreie verstummten sofort, als ihn einige der Trümmer trafen.
Cheryl starrte zuerst fassungslos auf die Reste ihres Hauses, dann sank sie in sich zusammen, schlug die Hände vors Gesicht und begann hemmungslos zu schluchzen.
In der Ferne waren nun die ersten Sirenen zu hören. Sie näherten sich zwar rasch, kamen aber für Scott Wilder und seine beiden Kinder viel zu spät.
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Maratinaja erwartete Olga schon am Höhleneingang. Fast fürsorglich legte die Tscherkula-Krida einen ihrer Arme um die Astronautin und meinte: ‘Wir haben gemerkt, dass die Olterzantos etwas vorhatten, aber wussten nichts genaues. Was ist denn passiert?’
‘Sie haben mir einen Besuch abgestattet, um mich zu töten. Weil mir nämlich eine neue Idee kam, wie ihr sie wieder los werden könnt.’
‘Schön, dass dir offensichtlich nichts weiter passiert ist. Was für einen Vorschlag hast du denn dieses Mal?’
‘Wieso fragst du?’, wunderte sich Olga, ‘du konntest doch bisher alle meine Gedanken lesen.’
‘Na ja, jetzt kann ich das nur noch unter großen Schwierigkeiten’, gestand Maratinaja zögernd. ‘Offenbar wurde durch deinen Kontakt mit den Olterzantos irgendetwas in deinem Kopf blockiert. Aber das gibt sich bestimmt bald wieder. Also, was ist nun mit deinem neuen Plan?’
‘Er ist verblüffend einfach. Du hast mir doch einmal erzählt, dass ihr mit euren telepathischen Kräften auch Gegenstände bewegen könnt, im Gegensatz zu den Olterzantos ...’
‘Ja schon, aber wie kann uns das weiterhelfen?’
‘Setze einfach ‘Gegenstand’ mit ‘Olterzanto’ gleich. Dämmert es jetzt bei dir?’
‘Gut, aber was nützt uns das, wenn wir sie hier hin und her transportieren?’
‘Nein, nicht hier, sondern zu einem anderen Planeten. Zu einem, wo sie genügend Platz und Ressourcen zum leben finden. Denn dann haben sie keinen Grund mehr, euch etwas zu tun.’
‘Und wenn sie trotzdem keine Ruhe geben?’, zweifelte Maratinaja.
‘Dann könnt ihr sie immer noch auf einen unwirtlichen Planeten verbannen, wo sie sterben. Oder gleich ins Weltall setzen.’
Maratinaja überlegte kurz, ehe sie antwortete: ‘Das könnte tatsächlich die Lösung all unserer Probleme bringen. Ich werde deinen neuen Vorschlag so schnell wie möglich unserem Rat unterbreiten. Und danke, dass du dir wegen uns deinen vergesslichen Menschenkopf zerbrochen hast.’
Olga hätte schwören mögen, dass Maratinaja bei diesen Worten lächelte, soweit ihre Physiognomie das eben zuließ.
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Olga verbrachte die ganze Zeit bei den Tscherkula, denn sie wollte nicht das Risiko eingehen, dass der nächste Überfall der Olterzantos möglicherweise erfolgreicher war. So hatte sie es sich auf dem harten Boden der Höhle so bequem wie möglich gemacht und gewartet, bis die Tscherkula mit den Beratungen über ihren neuen Vorschlag beginnen würden.
Wie schon bei der letzten Ratssitzung bildete der Ältestenrat erst einen Kreis, bevor die Beratungen begannen. Olga durfte auch dieses Mal nicht daran teilnehmen, denn die Tscherkula waren nach wie vor der Meinung, dass nur Angehörige ihres Volks über dessen Zukunft bestimmen sollten. Deshalb musste sie sich wieder auf Maratinajas Überredungskünste verlassen.
Allerdings überkamen Olga in dieser Hinsicht einige Zweifel, schließlich hatten die Tscherkula ja schon einmal einen Vorschlag von ihr abgewiesen, trotz der Unterstützung durch Maratinaja. Das war hier wohl genauso wie auf der Erde: Nur man selbst vertritt seine Ideen am überzeugendsten, weil man aus tiefstem Herzen an sie glaubt und deshalb stets die besten Argumente dafür findet.
Aber hier ging es nicht um ihren Ruhm, sondern um das Überleben der Tscherkula! Allein aus diesem Grund hoffte sie, dass Maratinaja dieses Mal erfolgreicher sein und ihr Vorschlag angenommen werden würde.
Die Sitzung schien abrupt zu enden, denn plötzlich liefen die Tscherkula wie auf ein Kommando auseinander. Maratinaja kam auf Olga zu, legte einen Arm um ihr Handgelenk und begann zu berichten: ‘Der Ältestenrat hat seine Beratungen erst einmal unterbrochen, damit jeder noch einmal für sich darüber nachdenken kann. Allerdings ist Marazamos, der Älteste unter uns, gegen deinen Vorschlag, weil er seiner Meinung zu viele Risiken für die Olterzantos in sich birgt.’
‘Zu viele Risiken für die Olterzantos?’ Olga glaubte nicht richtig zu hören. ‘Die bringen euch reihenweise um und ihr sorgt euch noch um deren Wohlergehen?’
‘Marazamos wägt bei jedem Interessenskonflikt die Belange aller Beteiligten sorgfältig ab. Deswegen ist er bei uns auch sehr geachtet und hat daher großen Einfluss. Viele Ratsmitglieder schließen sich letztendlich seiner Meinung an. Ich fürchte deshalb, dass auch dieser Vorschlag von dir abgelehnt werden wird.’
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Die Krügers waren fast am Ziel. Soeben verkündete ein Wegweiser am Straßenrand, dass sie bis nach Riesa nur noch fünf Kilometer fahren mussten. In dieser sächsischen Stadt lebte Jochen Krüger, den sein Bruder Manfred Krüger zusammen mit seiner Frau Anita für eine Woche besuchen wollte.
Manfred und Jochen waren gebürtige Riesaer. Doch nach der Wiedervereinigung Deutschlands schloss das hiesige Stahlwerk, in dem beide bis dahin gearbeitet hatten. Während Jochen danach relativ schnell wieder eine Anstellung in der näheren Umgebung fand, wollte es bei Manfred einfach nicht klappen. Nach mehreren Jahren Arbeitslosigkeit entschloss er sich dann schweren Herzens, dem Osten Deutschlands den Rücken zu kehren und statt dessen in Hamburg sein Glück zu versuchen.
Dieser Schritt fiel ihm weiß Gott nicht leicht, schließlich ließ er hier alle seine Bekannten und Verwandten zurück, doch es sollte sich lohnen: In der Hansestadt bekam er nicht nur einen gut bezahlten Job, er lernte dort auch seine spätere Frau Anita kennen.
Mittlerweile war er nun schon mehr als zehn Jahre mit ihr verheiratet und hatte sich außerdem einen Freundeskreis aufgebaut, sodass er sich in Hamburg überhaupt nicht mehr fremd fühlte. Dennoch trieb es ihn in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen in seine alte Heimat zurück - ohne dass es dafür einen besonderen Anlass geben musste - wobei Anita ihn stets begleitete.
Im Radio kamen gerade Nachrichten. Darin wurde unter anderem vor einem außergewöhnlich heftigen Orkan gewarnt, der zurzeit über Sachsen hinwegfege und höchstwahrscheinlich eine Folge der Klimaerwärmung sei. Außerdem war zu hören, dass die Sturmböen schon mehrere Bäume entwurzelt und einige Dächer abgedeckt hatten, wobei es aber bisher glücklicherweise noch keine Opfer zu beklagen gab. Laut Wetterbericht sollte die Windstärke im Tagesverlauf sogar noch weiter zunehmen.
„Bloß gut, dass wir gleich da sind“, meinte Manfred. „Der Sturm hat uns ja einige Male fast von der Straße geweht.“
„Das ist mir nicht entgangen“, entgegnete Anita lächelnd, „schließlich ist es ja sonst auch nicht deine Art, auf der Gegenspur auf andere Autos frontal zuzufahren.“
„Erinnere mich bloß nicht an diese Situation. Wenn ich noch mal daran denke, wie uns plötzlich eine Böe erfasst und auf die Gegenfahrbahn direkt vor einen 40-Tonner getrieben hat, bekomme ich gleich wieder Schweißausbrüche am ganzen Körper.“ Bei diesen Worten strich sich Manfred mit einer Hand über die Stirn, um anschließend mit einer schnellen Bewegung jede Menge imaginären Schweißes davon abzuschütteln.
„Was mich nur immer wieder wundert“, wechselte seine Frau jetzt das Thema, „wie all die Windkrafträder einem solchen Sturm trotzen können.“ Dabei deutete sie mit der rechten Hand auf ein gutes Dutzend riesiger Windgeneratoren, die auf einem Feld gleich neben der Straße standen. Anita schätzte, dass deren Flügel, von denen jeder mehrere Blätter besaß, mindestens 50 Meter im Durchmesser maßen.
„Ach was“, winkte Manfred ab, „das haben die bei der Planung garantiert mit berücksichtigt. Da passiert bestimmt nichts.“
Anita überzeugte diese Antwort keineswegs, doch sie schwieg. Zwar hatte man die Windräder aus dem Wind gedreht, zwei davon liefen aber trotzdem. Und jedes Mal, wenn eine Böe kam - Anita konnte das genau beobachten, weil dabei immer lose Erde vom Feld aufgewirbelt wurde - blieben die Flügel fast stehen, drehten sich danach jedoch für kurze Zeit fast doppelt so schnell als vorher.
„Ist ja auch egal“, unterbrach sie jetzt das Schweigen. „Was hast du dieses Mal überhaupt für deinen Bruder dabei?“
„Das wirst du nie erraten.“
Typisch Manfred, er ließ sich kein Geheimnis - und sei es auch noch so unbedeutend - gleich entlocken. Immer musste er erst die Rate-doch-mal-Nummer abziehen.
Anita seufzte. „Also gut, du hast ihm bestimmt ein Paar Ski für seinen Sohn mitgebracht.“
„Falsch geraten, Anitachen“, Manfred klang regelrecht befriedigt, weil sie daneben gelegen hatte, „aber das hättest du dir doch selbst denken können: Wie sollte ich wohl so sperrige Dinger unterbringen, ohne dass sie dir aufgefallen wären? In unseren kleinen Kofferraum passt so was schließlich nicht hinein. Also, lass dir nun eine bessere Antwort einfallen.“
Anita wollte gerade etwas erwidern, als sie neben sich ein lautes Krachen vernahm. Sie schaute aus dem Seitenfenster und sah, wie sich der Flügel von einem Windrad löste und auf seinen Spitzen - angetrieben von einer neuen Windböe - direkt auf ihr Auto zurollte. Sie riss vor Entsetzen die Augen weit auf, bekam aber keinen Laut aus ihrer Kehle, um Manfred zu warnen. Einen Augenblick später verriet ein furchtbares Kreischen, dass ein Blatt dieses Flügels das Autodach durchstieß. Und es war das letzte Geräusch, was die Krügers je in ihrem Leben hörten.
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Als Olga am nächsten Morgen - sie nahm jedenfalls an, dass es morgen war, schließlich gab es ja in der Höhle kein Tageslicht - aufwachte, hatte sie die Enttäuschung über Marazamos’ Haltung noch immer nicht verwunden. Sie hielt ihren Vorschlag nach wie vor für die beste Lösung für alle Seiten, da er nicht mal für die Olterzantos große Nachteile haben würde - und trotzdem wollten ihn die Tscherkula ablehnen. Nein, Olga konnte Marazamos’ Bedenken beim besten Willen nicht verstehen.
Sie überlegte, was sie als nächstes tun solle. Zu ihrer Station zurückzukehren - das hielt sie für ein zu großes Risiko, aber was blieb ihr andererseits übrig? Denn ihre Vorräte, die sie sich mitgebracht hatte, gingen langsam zur Neige. Und wenn die Tscherkula sich ohnehin nicht von ihr helfen lassen wollten, war sie hier sowieso überflüssig.
Dann kam ihr eine Idee: Sie würde sich in ihrer Station verbarrikadieren und warten, bis die anderen zwei Shuttle-Besatzungen eintrafen, denn lange konnte das ja nun wirklich nicht mehr dauern. Nur zu dumm, dass zusammen mit der „Explorer“ auch ihr einziges leistungsstarkes Funkgerät verloren gegangen war, sonst hätte sie dann gleich Kontakt zu ihnen aufnehmen und genaue Anweisungen für die Landung geben können.
Das Ende der Beratungen der Tscherkula wollte Olga nun nicht mehr abwarten. Falls ihr Vorschlag endgültig abgelehnt wurde, wäre weiteres Warten nur Zeitverschwendung, und wenn es sich die Marsianer wider Erwarten doch noch anders überlegen sollten, brauchten sie sich nur an Maratinaja zu wenden, denn Olga hatte sie ausführlich instruiert.
Die Astronautin warf noch einmal einen Blick auf den Ältestenrat und wollte sich gerade abwenden, als unter den Versammelten plötzlich eine Art Tumult ausbrach. Olga erfasste den Grund schnell: Einer der Tscherkula wand sich am Boden liegend wie in Krämpfen. Sie rannte hin - vielleicht konnte sie ja irgendwie helfen - doch zu spät; der Marsianer lag nun tot am Boden.
Sie fühlte einen Arm auf ihrer Schulter und hörte kurz darauf Maratinajas traurige Stimme: ‘Das war Marazamos. Warum musste es ausgerechnet ihn treffen?’
‘Hättet ihr meinen Vorschlag bereits gestern angenommen und sofort umgesetzt, wäre er sicher noch am Leben’, antwortete sie heftig, erfüllt von Bitterkeit.
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Die Tscherkula setzten trotz des Todes von Marazamos ihre Beratungen fort. Doch der Zwischenfall brachte die entscheidende Wende; es war eine Ironie des Schicksals, dass die Olterzantos ausgerechnet ihren größten Fürsprecher getötet hatten. Nun stimmten die restlichen Ratsmitglieder einstimmig Olgas Vorschlag zu, ihre Feinde telepathisch auf einen anderen Planeten zu bringen, der ihnen aber genügend Lebensraum und ausreichende Ressourcen bot.
Eines der Ratsmitglieder wurde bestimmt, nach einem passenden Planeten zu suchen, vier weitere sollten es dabei unterstützen, in dem sie es telepathisch von einem Planeten zum anderen schickten.
Kurz darauf fragte Maratinaja Olga, ob sie eine Idee hätte, wie sich die Tscherkula bei ihr für die Hilfe erkenntlich zeigen könnten. Die Astronautin überlegte nicht lange: ‘Ja, ich habe eine große Bitte an euch. Mein Heimatplanet wird von einer großen Katastrophe bedroht. Unsere Sonne vergrößert sich immer mehr, weil sie langsam stirbt. Dadurch nimmt die Temperatur auf unserem Planeten so zu, dass in wenigen Jahren die ganze Oberfläche verbrannt sein wird, wenn nichts geschieht. Aber dank eurer telepathischen Kräfte könnte es möglich sein, die Erde zu einer anderen, jüngeren Sonne zu verschieben, die einen großen Teil ihres Lebens noch vor sich hat ...“
Olga schaute gespannt in die Runde, konnte aber den Gesichtern der versammelten Tscherkula nichts entnehmen. Denn sie wusste ja nicht, ob es den Marsianern tatsächlich möglich war, einen ganzen Planeten zu bewegen, weil dazu viel mehr gehörte, als nur ein paar kleine Olterzantos auf die Reise zu schicken.
Olgas Herz schlug in diesen Sekunden vor Aufregung wie wild. Schließlich hing von der Antwort der Tscherkula nicht nur ihre Zukunft, sondern die der gesamten Menschheit ab.
Maratinaja spürte das und beruhigte sie sogleich: ‘Natürlich helfen wir dir. Wir haben zwar noch nie einen ganzen Planeten verschoben, aber das dürfte kein Problem sein. Denn bei telepathischen Transporten spielt die Größe des Objektes keine Rolle - ob Erde oder Olterzanto, das kostet beides die gleiche Energie. Man muss es nur beherrschen - und wir tun das.’
Olga wäre Maratinaja am liebsten um den Hals gefallen, unterließ es aber, vor allem deshalb, weil sie nicht so recht wusste, wo Maratinajas Hals - wenn sie denn einen hatte - überhaupt saß. Sie konnte es auch noch gar nicht richtig fassen: Erst war sie in der Gewissheit ausgezogen, die Erde nie wieder zu sehen und den Rest ihres Lebens mit fünf anderen Astronauten auf dem Mars verbringen zu müssen - nun würde sie nicht nur zur Erde zurückkehren, sondern sie sogar retten!
Maratinaja bemerkte ihre Verlegenheit: ‘Du brauchst dir keine Gedanken darüber zu machen, wie du uns danken kannst, denn du hast uns einen mindestens ebenso großen Gefallen erwiesen. Schließlich hast du unser Volk vor dem sicheren Untergang gerettet, da ist es nur recht und billig, wenn wir das Gleiche für dein Volk tun.’
‘Ich werde euch das trotzdem nie vergessen, Maratinaja’, erwiderte Olga voller Dankbarkeit. ‘Danke, Maratinaja, danke Tscherkula!’
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Der Tscherkula, der einen passenden Planeten für die Olterzantos aussuchen sollte, war schnell fündig geworden. Schon im übernächsten Sonnensystem gab es einen Mond mit vielen Höhlen und Umweltbedingungen, die denen des Marses sehr ähnelten, dazu noch Ressourcen fast im Überfluss.
Nun wurde unverzüglich mit der Evakuierung der Olterzantos begonnen. Dazu versetzten sich die Tscherkula in eine Art Trance, um sich genau auf die biometrischen Signaturen der Olterzantos konzentrieren zu können. Denn wenn diese nicht haargenau mit der wegzutransportierenden Signatur übereinstimmten, blieb der betreffende Olterzanto auf dem Mars und könnte weiteres Unheil anrichten.
Olga hatte keine Ahnung, wieviel Zeit inzwischen verstrichen war und wie viele Olterzantos bis jetzt schon den Mars unfreiwillig verlassen mussten, als es plötzlich geschah: Maratinaja fiel zu Boden und begann sich qualvoll zu winden, weil sie offenbar angegriffen wurde. Die anderen Tscherkula unterbrachen die Evakuierung der Olterzantos, bildeten einen Kreis um Maratinaja und schauten hilflos auf sie nieder.
Im Gegensatz dazu sah Olga nicht einfach nur tatenlos zu, sie fasste einen Tscherkula nach dem anderen an, damit sie sie verstehen konnte und schrie sie an: „Macht weiter, vielleicht könnt ihr gerade einen jener Olterzantos abtransportieren, die sie eben angreifen. Na los doch, steht nicht so herum, macht endlich weiter!“
Dann kniete sie sich neben Maratinaja und ergriff einen ihrer Arme, um sich mit Maratinajas Geist zu verbinden und gemeinsam mit ihr gegen den Olterzanto zu kämpfen. Schließlich hatte sie schon einmal dem Angriff eines Olterzantos erfolgreich widerstehen können.
Kaum hatte sie Maratinaja berührt, fühlte sie ein furchtbares Durcheinander in ihrem Kopf. Ihre Gedanken wurden hin- und hergestoßen, auseinandergerissen und die Bruchstücke wieder verkehrt zusammengesetzt. Doch sie zwang sich mit aller Macht, sich auf schöne Erinnerungen zu konzentrieren, denn wo ein Gedanke ist, kann schließlich nicht gleichzeitig ein anderer sein. Wenn es ihr also gelang, mit ihren schönen Gedanken Maratinajas Geist zu erfüllen, konnte ihr der Olterzanto sicher nichts mehr anhaben.
Aber sie bemerkte ihren Irrtum zu spät: Dieses Mal hatte sie es nicht nur mit einem Olterzanto zu tun, sondern mit einer ganzen Gruppe. Und sie spürte instinktiv, dass sie dem Angriff einer größeren Gruppe nicht gewachsen war, und dann für immer den Verstand verlieren würde.
Doch mit einem Mal kehrte Ruhe in ihrem Kopf ein. Ungläubig schüttelte sie ihr Haupt und zwickte sich dann in den Arm, um sich zu überzeugen, dass sie noch sie selbst sei. Anschließend blickte sie sich um und sah auf einmal Maratinaja neben sich stehen. Staunend, und plötzlich von unbändiger Freude erfüllt, ergriff sie den Arm der Tscherkula: ‘Du lebst noch, Maratinaja?’
‘Ja, dank deiner Hilfe. Während dein Geist die Olterzantos ablenkte, konnte ich einen von ihnen vom Mars befördern und so die Gruppe stören. Allerdings habe ich ihn in den Weltraum geschickt und nicht auf den Planeten. Denn im All kann ein Olterzanto genauso wenig wie ein Tscherkula oder ein Mensch überleben und ich musste doch sichergehen, dass sie den Angriff in jedem Fall abbrechen.’
Olga konnte nur noch nicken, dann versank sie in einen tiefen Schlaf, erschöpft von den fast unmenschlichen Anstrengungen der letzten Minuten.
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Gene Murphy und Roger Burton wanderten ab und zu auf dem kleinen Wachturm herum, wechselten hier und da ein paar Worte und steckten sich dann und wann eine Zigarette an. Nach einer Weile wiederholte sich das Ganze.
Die beiden Männer gehörten zu einer kleinen Kompanie Soldaten, die einen Bunker in Florida bewachen musste, der vor allem für Regierungsmitglieder und ihre Angehörigen als Zuflucht dienen sollte, wenn es auf der Erdoberfläche zu heiß werden würde.
„Mir läuft der Schweiß in Strömen“, bemerkte Murphy, als er auf seinem Rundgang wieder einmal mit Roger Burton zusammentraf.
„Es ist wie in einem Backofen“, stimmte der andere zu.
Und es schien tatsächlich, als ob die Hitze niemals nachließ. Schließlich war es schon kurz vor Sonnenuntergang, aber das Thermometer hatte sich seit seinem Tageshöchststand kaum nach unten bewegt.
Burton wollte sich gerade eine neue Zigarette anstecken, als ein Motorengeräusch seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Es kam von der neben dem Wachturm entlangführenden Straße, die in etwa einem Kilometer Entfernung am Bunkereingang endete.
Das Geräusch wurde immer lauter und vielstimmiger. Schließlich kam ein ganzer Konvoi von Fahrzeugen in Sicht.
„Hast du eine Ahnung, wer das sein könnte?“, fragte Burton.
Murphy schüttelte den Kopf: „Nein, scheinen aber alles Zivilisten zu sein. Komm, wir sehen mal nach, was die wollen.“
Die beiden stiegen vom Turm und gingen zu einem Schlagbaum, der die Straße genau neben dem Wachturm absperrte.
Inzwischen hatte das erste Fahrzeug die Sperre erreicht und hielt. Auch die nachfolgenden Wagen stoppten. Die Fahrer stiegen aus und gingen vor an den Schlagbaum, so dass schließlich eine große Gruppe den beiden Soldaten gegenüberstand.
„Militärisches Sperrgebiet, Sie dürfen hier nicht weiter“, bellte Burton und hoffte, durch seinen energischen Ton gehörig Eindruck zu machen. „Bitte kehren Sie wieder um!“
„Nein“, erwiderte der Mann, der aus dem ersten Fahrzeug gestiegen war, „wir wollen in den Bunker und Sie werden uns gefälligst durchlassen!“
„Das kommt überhaupt nicht in Frage“, widersprach Burton. „Ich fordere Sie jetzt zum letzten Mal auf, den Platz zu verlassen, sonst machen wir von unseren Schusswaffen Gebrauch.“
„Ja ja, uns abknallen, das könnte euch so passen“, empörte sich nun ein anderer aus der Menge, „nur damit für euch mehr Platz in dem Bunker ist.“
„Was wollen Sie denn überhaupt in dem Bunker?“, mischte sich jetzt Murphy ein und versuchte, mit einem Scherz die Lage zu entkrampfen: „Ist denn schon der dritte Weltkrieg ausgebrochen, ohne dass wir davon etwas erfahren haben?“
„Wollen Sie uns verarschen?“, fragte jetzt wieder der Fahrer des ersten Wagens der Kolonne. Er schwenkte eine Zeitung und sagte: „Hier steht schwarz auf weiß, dass uns unsere Sonne bald mächtig einheizen und schließlich verbrennen wird. Glauben Sie, wir warten erst, bis es wirklich dazu kommt, der Bunker dann aber schon wegen Überfüllung geschlossen ist? Nein, wir wollen jetzt und sofort unseren Platz einnehmen.“ Um zu zeigen, dass er sich davon auch nicht abbringen lassen werde, verschränkte er bei diesen Worten herausfordernd die Arme vor seiner Brust.
Murphy bemerkte das schnell näher kommende Motorengeräusch hinter ihnen als erster. Fragend sah er Burton an, worauf dieser erklärte: „Ja, ich habe vorhin noch schnell Verstärkung angefordert.“ Und mehr zu den Zivilisten hin betonte er: „Nur für den Fall der Fälle.“
Kurz darauf bogen vier Jeeps, alle voll besetzt mit bewaffneten Soldaten, um eine Kurve und hielten hinter dem Schlagbaum. Die Soldaten sprangen heraus, entsicherten ihre Waffen und gingen hinter ihren beiden Kameraden in Stellung.
Nun wandte sich Murphy wieder an die Menge: „Seien Sie vernünftig und fahren Sie wieder nach Hause. Wir dürfen Sie hier nicht reinlassen. Bitte verstehen Sie das doch!“
Aber sein Appell verpuffte. „Ihr werdet doch nicht wagen, auf uns zu schießen. Dies ist ein freies Land und wir wollen nur unser Recht in Anspruch nehmen. Der Bunker ist von unseren Steuergeldern gebaut worden und folglich ist es unser Recht, dort Unterschlupf zu finden“, beharrte der Fahrer des ersten Wagens. „Deshalb werden wir jetzt auch in den Bunker fahren, ob Sie den Schlagbaum hoch machen oder nicht.“
Für ihn war die Diskussion nun offenbar beendet, denn er wandte sich ab, stieg in seinen Wagen und startete den Motor. Die anderen Zivilisten taten es ihm gleich.
Als der Konvoi wieder in Richtung Schlagbaum zu rollen begann, legten die Soldaten ihre Gewehre auf die Fahrzeugkolonne an. Sie würden schießen, sobald der erste Wagen den Schlagbaum durchbrach.
Doch plötzlich begann die Erde zu beben. Die Soldaten verloren das Gleichgewicht und fielen hin.
Die Menschen in den Fahrzeugen wurden kräftig durchgeschüttelt und stürzten panikartig ins Freie, konnten sich aber ebenso wenig auf den Beinen halten. Alle klammerten sich angstvoll an den Boden, als befürchteten sie, sonst noch tiefer zu fallen.
Nach scheinbar endloser Zeit - in Wirklichkeit waren nur wenige Sekunden vergangen - hörte das Beben ebenso schlagartig auf, wie es begonnen hatte.
Langsam erhoben sich die Menschen wieder, trauten aber der Ruhe noch nicht ganz, denn sie stellten sich so breitbeinig wie möglich hin, um im Falle eines erneuten Bebens einen sichereren Stand zu haben. Doch nichts geschah.
Es dauerte aber noch eine Weile, bis sich alle beruhigt hatten und auch ihre Umwelt wieder wahrnahmen. Die, die schon wieder standen - egal ob Zivilist oder Soldat -, liefen nun zu denen, die noch am Boden lagen und fragten besorgt: „Sind Sie verletzt? Brauchen Sie einen Arzt?“
Meistens war die Antwort ein Kopfschütteln, nur einer antwortete: „Ich hätte gern eine Decke, mir ist kalt.“
Roger Burton wollte gerade auflachen und fragen, wie man bei der Hitze noch nach einer wärmenden Decke verlangen könne, als er merkte, dass ihn selbst fröstelte. Er fürchtete schon, krank zu sein, doch dann beruhigte ihn, auch von anderen zu hören: „Ja, ich friere auch, bringen Sie mir doch bitte ebenfalls eine Decke.“
Mitten in diesem allgemeinen Gemurmel ertönte dann ein Schrei: „Da, seht doch!“
Roger Burton blickte in die Richtung, aus der der Schrei kam und sah dort einen Mann am Boden sitzen, der aufgeregt zum Himmel zeigte. Er wandte seinen Blick in die angegebene Richtung, sah aber nur die untergehende Sonne.
„Was soll da sein?“, fragte er verständnislos.
„Na, die Sonne! Sehen Sie denn nicht, dass die viel kleiner ist als sonst?“
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Olga ging mit bedächtigen Schritten auf das unscheinbare Haus am Ende des Newskii-Prospektes in St. Petersburg zu. Eben noch hatte sie sich von den Tscherkula verabschiedet und im nächsten Moment stand sie schon vor ihrem Elternhaus.
Wenn sie das ihren Eltern erzählen wollte, würde ihr bestimmt niemand glauben. Ganz zu schweigen von ihren restlichen Erlebnissen.
Der Abschied von den Tscherkula war übrigens sehr herzlich gewesen. Alle hatten Olga berühren und ihr noch einmal persönlich Dank sagen wollen. Am schwersten fiel ihr aber der Abschied von Maratinaja. Sie hatten sich umarmt, was bestimmt sehr komisch ausgesehen haben musste: Olga von vielen Armen regelrecht umgarnt, Maratinaja hingegen lediglich von den zwei verhältnismäßig kurzen Menschenarmen festgehalten. Die Erinnerung an diese Szene entlockte Olga unwillkürlich ein Lächeln.
Inzwischen hatte sie die Haustür erreicht und läutete. Sie überlegte, was für eine Geschichte sie ihren Eltern auftischen sollte. Als sich dann die Tür öffnete und ihr Vater erschien, stand ihre Entscheidung fest: die Wahrheit.
„Olga? Nein, das kann doch gar nicht sein, bist du es wirklich?“
„Ja, Papa, ich bin es, deine Olga.“
„Aber ich denke, du bist auf einer sehr langen Mission im Weltall unterwegs?“
„Ach, Paps, das ist eine sehr lange und eine wirklich unglaubliche Geschichte. Aber willst du mich denn nicht erst einmal hereinlassen?“
„Oh, entschuldige, aber natürlich, komm doch herein.“
Und als die Tür sich hinter ihr schloss, war Olga unendlich froh, wieder zu Hause zu sein.
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Texte: Holger Rausch
Bildmaterialien: Holger Rausch
Tag der Veröffentlichung: 28.03.2014
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