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DNA

 

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Vivi Ane   -   Vivi ANE

Eine Diskussion unter BookRix-Autoren hat mich dazu angestachelt, ein mir liebes, polarisierendes Thema aufzugreifen und in eine Kurzgeschichtenreihe zu packen. Ich hoffe ich kann damit gut unterhalten.

Sollte jemand an meiner sonstigen Arbeit als Autorin interessiert sein, kann er mich ja auf meinem Blog: viviane-ebooks.blogspot.de heimsuchen.

Wir lesen uns hoffentlich bald wieder!

Vivi Ane   -   Vivi ANE

DNA – „Was bist du wert?“

„Wo ist meine Tochter Jenny?“

Claire Hampton war, ohne weiteres Federlesen an der Empfangsdame vorbei, direkt in das Chefbüro der Vertriebsabteilung gestürmt. Die in Sorgen durchwachte Nacht hatte ihre Handschrift auf Körper und Seele hinterlassen und ihr Nervenkostüm bis hin zur Zerrreisgrenze strapaziert. Höflichkeiten, wie sie ihr sonst so wichtig erschienen, waren auf einmal das Letzte womit sie sich aufhalten wollte. So steht sie nun inmitten von fragenden Gesichtern, die wohl Besprechungsteilnehmern gehören, und will endlich Antworten.

„Entschuldigen Sie bitte, Herr Kickflowers, aber diese Dame ließ sich partout nicht aufhalten! Der Sicherheitsdienst ist schon verständigt.“

„Schon gut, wir, und dabei blickt er sich forschend in der sitzenden Runde um, sind ohnehin fertig mit unserer Sitzung. Ich kümmere mich selbst um diesen Fall. Besetzen Sie bitte wieder das Vorzimmer und sorgen sie dafür, dass sich sowas nicht wiederholt.“

Zerknirscht verschwindet die Sekretärin wieder aus dem Büroraum, gefolgt von einer Reihe Anzugträgern, und winkt schließlich Alexander Hampton zu seiner Frau zu stoßen.

Herr Kickflowers verschließt die Türe und geht gelassen zurück zu seinem Schreibtisch, um sich zu setzen.

„Würden Sie sich bitte setzen und mir ihre Namen nennen!“

„Hampton, Claire und Alexander! Es geht um unsere Tochter Jenny, die gestern von ihren Leuten verschleppt wurde!“ antwortet der Vater, der erkannt hat, dass Claire kurz davor ist völlig die Fassung zu verlieren.

„Gut, nun weiß ich wenigstens, um welches Produkt es geht. Setzen Sie sich doch bitte, ich muss mir noch die Daten einsehen und das Material zu der Lieferung bringen lassen, bevor ich ihnen ihre Fragen beantworten kann.“

Alexander muss seine Frau festhalten, um zu verhindern, dass sie über den Schreibtisch hinweg den aalglatten Geschäftsmann mit bloßen Händen attackiert.

Er tippt auf sein Bedienfeld und kurz darauf kommt die immer noch vergrämte Vorzimmerdame herein mit einem Handwagen, auf dem drei Kartons platziert sind.

„Hier ist erst einmal ihr Eigentum. Wie sie sehen werden, hat ELITEGEN darauf geachtet, dass Nichts beschädigt worden ist. Alle Textilien, etc. sind unversehrt und können wiederverwendet werden. Quittieren sie bei meiner Sekretärin bitte nach unserem Gespräch den Empfang, ja?! Die Quittung für den Empfang des unbeschädigten Produkts von uns erhalten sie auch dort.“

„Was?!....Aua! Lass mich los, Alex!“

Abrupt lässt ihr Mann seine Arme sinken und blickt fassungslos auf die grauen Schachteln vor sich, hebt einen Deckel hoch und sieht darin Jennys Jacke säuberlichst zusammengefaltet liegen.

„Nein, nein! – Wo ist mein kleines Mädchen?!“

„Ich muss sie in dem Punkt korrigieren. Das Produkt ist nicht ihr Eigentum, sondern sie sind lediglich Verwender und Lizenznehmer. Sie beide.“

Claire fällt wie ein Sack Kartoffeln in den Sessel, der vor dem riesigen marmornen Schreibmöbel des Geschäftsmannes steht, und Alexander folgt, mit der Kinderjacke in der Hand kurz darauf ihrem Beispiel.

„Jetzt wo sie sich beruhigt haben, können wir auch vernünftig miteinander sprechen, so hoffe ich zumindest.“

Das abwartende, sadistische Lächeln in der Kunstpause danach, lässt vermuten, dass der Herr im noblen Zwirn, Vergnügen empfindet, soweit man das hinter der künstlich gestrafften Haut noch erkennen kann.

Seinen Blick nun auf den Schirm richtend, fährt er fort zu konstatieren: „So, nun lassen sie uns mal sehen, welche Produktreihe und welche Konditionen sie beim Erwerb gewählt haben. – Aja! Hier ist es. – Hier fehlt der Hacken bei dem automatischen Kopierschutz und der beim Widerspruch der weiterführenden Nutzung der Produktbausteine durch ELITEGEN. Damit ist klar, dass der Fehler auf ihrer Seite zu suchen und zu finden ist.“

„Was?! Darauf hat uns niemand hingewiesen! Woher sollten wir das denn wissen?!“

„Nun, in diesem Fall besteht eine Holschuld des Käufers und nicht eine Bringschuld des Verkäufers.“

„Wiebitte?!“

„Simpel ausgedrückt: Sie hätten sich über die Konditionen besser informieren sollen, bevor sie ein Produkt unseres Hauses erwerben.“

„Wenn sie meine Tochter noch ein Mal Produkt nennen, vergesse ich mich!“, bricht es aus der panischen Mutter heraus.

„Contenance, Frau Hampton! Wir können ja über ein nachträgliches Upgrade reden. Dazu muss allerdings ein Zustandscheck und eine Aufwandsermittlung durchgeführt werden. Aus diesem Grund wurde eben das Pr…, ich meine Jenny, eingezogen und nicht, wie sie sich unkorrekt ausdrücken, „verschleppt“. Dieser Vorgang dauert in der Regel nicht länger als eine Woche. In dieser Zeit können sie sich ja einen juristischen Beistand suchen und wir in Verhandlungen über neue Konditionen eintreten. Je schneller sie sich entschließen gesprächsbereit zu sein, desto schneller ist das P…, äh ich meine Jenny, wieder zurück in ihrer Obhut.“

Es klopft an der Türe und kurz darauf stehen vier Uniformierte in der Türe um die Hamptons zum Haupttor zu eskortieren.

 

ZUR SELBEN ZEIT IN DER ELITEGEN-MANUFAKTUR, IRGENDWO IM NIRGENDWO.

 

Jenny hat gerade ihr beinahe noch unberührtes Frühstückstablett zurückgebracht. Bei dem Gespräch mit den anderen grauen Overalls war ihr der Rest Appetit gründlich vergangen. Ihr Blick ist wie gebannt auf die Lampenbatterie an der Decke vor ihr gerichtet. Es will und will einfach nicht auf Grün schalten. Sie muss über all das nachdenken, was sie hier erfahren hat, aber das kann sie nicht hier. Dazu muss sie einfach alleine sein. So alleine, wie man in einem Gebäude voller Überwachungsapparatur nur sein kann. Auf die Pritsche liegen und versuchen eine Lösung zu finden, irgendwie.

Es ist Grün und die Türe öffnet sich vor ihr, allerdings wird sie nicht wie erwartet nach links in Richtung ihres Raumes geleitet, sondern nach rechts. Nach zahllosen Fluren und Türen, die für sie mittlerweile alle gleich aussehen erreicht sie ein Zimmer mit medizinischen Apparaten, in dem eine Krankenschwester mit Atemmaske steht. Sie weist sie kurz angebunden an, erst in einer Glaskammer Platz zu nehmen, um in ein Röhrchen zu pusten und danach auf einem Fahrrad zu treten. Nach einem schweißtreibenden Programm von 12 Minuten steigt sie wieder ab und findet sich kurz darauf mit Kopfhörern versehen in einem Hörtest wieder. Die nächste Station ist ein automatisierter Test ihrer Sehkraft. Ihre Fragen nach dem Warum werden nur mit eisernem Schweigen quittiert und schließlich gibt sie auf zu reden, bis sie aus Testlabor heraus ist und in den nächsten Raum gelotst wird, in dem eine Art Parcours aufgebaut ist, den sie begehen muss. Sie muss balancieren, klettern, krabbeln, hangeln und unter Hindernissen wegtauchen um ihre Ziele zu erreichen und kommt völlig geschafft schließlich am Ausgang an. Sie war noch nie eine Sportskanone gewesen und das rächt sich eben jetzt. Zurück auf dem Gang hofft sie inständig, nun endlich zurück in ihr Zimmer zu kommen, wird aber bitter enttäuscht, denn das nächste Tor gibt den Weg in eine Schwimmhalle frei. Als sie zögert hineinzugehen trifft sie ein elektrischer Schlag, um sie anzutreiben.

Sie kann sowohl in der Umkleide als auch im Schwimmbereich kaum mehr als zwei Handvoll Mädchen ausmachen und beginnt auch hier im Becken dem Takt der Lämpchen ihre Bahnen ziehend zu folgen.

Jedes Zeitgefühl geht ihr langsam verloren. Die einzige bestimmende Einheit wir mehr und mehr der Wechsel von rotem und grünem Licht. Und als sie schließlich aus dem Schwimmbereich entlassen wird, muss es wohl schon Mittag sein, denn sie wird in den Speisesaal gelenkt. Keine Minute zu früh, denn sie hat nach dem vielen Sport richtig Hunger.

„So wie du reinhaust, warst Du wohl beim physischen Test?! Da hat Jede Kohldampf.“

Jenny blickt nicht auf, denn sie hat beinahe Angst, das die vorgegebene Essenszeit nicht ausreichen könnte ihren Hunger zu stillen, wenn sie noch zusätzlich reden muss.

„Sicher war die beim Physiotest! Ist doch der Standard bei neuen Grauen.“ Kommt es von schräg gegenüber.

„Sprich leiser, sonst kriegst du weniger zu essen, Morgen.“

„Ist ja schon gut. Ich weiß. Bin ja schon länger hier. Nicht so kurz wie euer neuer verfressener Frischling hier.“

Es kichert leise rund um Jenny und reizt sie dazu doch noch aufzusehen. Sehr viel Grau und nur ein paar Rote. Gesichter sieht sie in dem Moment nicht mehr. Erst als ihr Tablett leer ist, lehnt sie sich in ihrem unbequemen Stuhl zurück um die anderen Produkte genauer zu betrachten.

Ihr gegenüber sitzt ein brünettes Mädchen mit Sommersprossen und sieht sie herausfordernd an. „Und, wie waren deine Ergebnisse?!“

„Keine Ahnung. Hab nicht gefragt. Muss man das denn?!“

„Muss man das denn?!“, äfft sie ihr Gegenüber gleich nach. „Frischling, die Werte bestimmen deinen Marktwert, sprich, das, was deine Eltern oder sonst wer zahlen muss um dich wieder zu kriegen. Oder wie die Firma sagt: Dich anzuwenden.“

„Äh, wie jetzt?!“

„Je schlechter deine Werte, desto niedriger der Preis, Comprendé?!, frägt es abschließend von der Seite.

„Du könntest aber eh im unteren Bereich sein, denn du bist nur eher durchschnittlich hübsch.“ Ergänzt die Brünette.

Eine Graue mit aschblondem Haar und hellgrünen Augen klinkt sich in das Gespräch ein: „Ich bin hier, weil meine Eltern kein Kind mit Gaumenspalt wollten. Und jetzt ist mein Preis so hoch, weil ich wohl hübscher bin, als das Durchschnittsmädchen. Wieso wollten deine Eltern dich denn nicht normal kriegen?“

„Mukoviszidose“

In dem Moment betrachtet Jenny das Gaumenspaltmädchen genauer und frägt sich allen Ernstes, warum sie hübscher sein sollte, als der Durchschnitt. Das konnte sie beim besten Willen nicht bestätigen. Aber was wusste sie denn schon mit ihren gerade mal 12 Jahren?!

„Naja, das war ja dann wohl nicht nur ein optischer Grund, oder nicht?!“

„Nein, das ist sowas mit der Lunge. Da muss man immer mit ner Sauerstoffflasche rumlaufen, Schleim hochwürgen und warten, bis einem ne neue Lunge gespendet wird. Alles muss sauber sein, man kann noch nicht mal mit Tieren oder Pflanzen engen Kontakt haben, sonst fängt man sich gleich ne Infektion. Die werden normal nicht besonders alt“ erläutert die Braunhaarige begleitet von einem gemäßigten Raunen durch den Saal.

Jenny steht auf, denn ihr wird das Gespräch schlagartig extrem unangenehm. Sogar wesentlich unangenehmer, als die Bezeichnung Produkt. Woher nehmen sich die Mädchen hier das Recht, über sie und ihre Eltern zu urteilen?! Das geht die gar nichts an!

Der Weg nach dem Essen geht zurück in ihren Raum. Als Jenny entdeckt, dass ihre Alltagskleidung entfernt wurde, kann sie die Tränen nicht mehr zurückhalten. Die letzten Stücke aus dem Leben vor der Manufaktur waren fort und sie würde sie nie wieder sehen. Die letzten Erinnerungen an ihr Leben mit ihren Eltern und Oskar einfach weg!

Auf dem Bett sitzend, tropften ihre Tränen auf die Unterarme und Schenkel und sie hörte auf einmal die Seite des aschblonden Mädchens neben sich.

„CF508, du darfst keine Angst haben. Es wird alles gut!“

Als Jenny aufblickt, streift ihr Blick die Gasflasche auf dem Boden und sieht in ein Gesicht, in dem eine riesige Lücke klafft. Sie sieht direkt auf die Zunge ohne auch nur angedeutete Lippen zu bemerkten. Der erste Schreck sitzt tief, aber sie reißt sich zusammen und lächelt ihrer Freundin im Geiste zu, die sie ihrerseits vorsichtig herzlich in die Arme nimmt, um ihre Beatmungsschläuche nicht abzureißen.

„Ich verspreche dir, wir werden immer füreinander da sein!“ hört Jenny in ihrem rechten Ohr und beginnt zu vertrauen.

Die Sirene tönt. Jenny steht schnell auf und setzt ihre Füße an die Startmarkierung. Der Farbwechsel erfolgt und sie darf gehen.

Sie absolviert nun die Schultests ihrer Jahrgangsstufe und einen ihr unbekannten IQ und EQ-Test, dessen Sinn sie nicht wirklich versteht, um sich schließlich im sehr spärlich besetzten Speisesaal wiederzufinden. Allerdings ist dieses Mal sehr wenig auf ihrem Tablett und sie ist schneller fertig, als ihr die Tischlampen vorgeben. Ihr Blick schweift umher und entdeckt wieder das blond gelockte Mädchen in seinem blutroten Overall. Sie konzentriert sich und sieht intensiv in ihre Richtung und dann treffen sich die Blicke der Zwei.

Der blonde Engel erschrickt und versucht erst sich abzuwenden, kann aber nicht anders als noch einmal hinzusehen und lächelt sehr vorsichtig.

Sie ist nicht verrückt, sie hat nur Angst! Jede hätte hier Angst! Selbst meine Mum, Claire! Wie es ihr wohl geht, ob sie Angst um mich hat und ob sie nach mir sucht?!

In diesem Moment wird ihr Gesichtsausdruck wohl so traurig, dass der Engel es bemerkt und ernst zu blicken beginnt.

Die Lampe auf Jennys Tisch geht auf Orange und sie muss sich sputen aufzustehen, um keinen Schlag zu bekommen.

Zurück in ihrem Zimmer, fängt sie an, die Puzzleteile zusammenzusetzen. Der Preis eines Produkts soll sich also aus den Testergebnissen ergeben. Gut bedeutet einen hohen Preis. Aber Schönheit ist beispielsweise vom subjektiven Empfinden abhängig. Was muss man also dann für ein „Produkt“ zahlen, dessen Leben ohne ELITEGEN kürzer gewesen wäre?! Zahlt man nun den Preis für das verlängerte Leben oder für die nicht nötige Transplantation?! Schwierig. Was ist mein Leben, mein gesunder Körper, mein Leben, ich wert?! Was ist es wert, dass ich über mich selbst bestimmen kann?! Dass ich so wie ich jetzt bin ohne Einschränkungen leben darf?!

Sie legt sich auf ihr Bett, weil ihr schwindelig wird vom Grübeln, und merkt plötzlich Jemanden neben sich. Als sie ihren Kopf zur Seite neigt, sieht sie sich selbst mit den Schläuchen in der Nase und dem ungesunden Teint. Der Schock weicht einem Gefühl der Vertrautheit und sie lächelt sich selbst zu. Beide halten dem Blick stand und lassen sich darauf ein. Jenny merkt, wie der Abstand immer geringer wird und mit einem Mal verschmilzt die „kranke Jenny“ mit dem „Produkt Jenny“ und sie beginnt sich, das erste Mal in ihrem Leben, ganz zu fühlen. Ein tiefer Friede durchzieht ihr Herz, denn sie vorher nicht kannte. So muss es wohl sein, wenn man weiß, wer man im Inneren wirklich ist. – Danke, CF508! Ich liebe dich! Du bist ein Teil von mir.

Die Sirene schreckt sie erneut auf und sie wird in einen zweigeteilten Raum geführt. Durch eine Scheibe hindurch kann sie den Freund ihrer Eltern sehen. Er stellt sich als ihr Anwalt vor und frägt sie nach ihrem Befinden.

„Mir geht es so weit gut. Wieso bin ich eigentlich hier?!“

„Deine Eltern haben wohl das Kleingedruckte im Vertrag damals nicht genau durchgelesen. Sie versuchen aber jetzt alles irgend Mögliche, um dich so schnell wie möglich hier rauszuholen. Glaub mir das!“

„Wie wollen sie denn das schaffen?!“

„Es wird Verhandlungen über ein Upgrade für dich geben.“

„Wie bitte?! Ein Upgrade?! Seit wann, bin ich denn eine seelenlose Software?! Hier gibt es Mädchen, die schon ewig hier drin sind und das halte ich bestimmt nicht so lange aus! Ich habe keine Ahnung, was die noch alles mit mir vorhaben!“

„Jenny, ich weiß, dass du Angst hast! Beruhige dich erst mal. Wir versuche wirklich alles, damit du schnell rauskommst, glaub mir das!“

„Beruhigen am Arsch! Du weißt gar nicht, wie es mir geht!“

Stirnrunzelnd antwortet es von der Gegenseite: “Du bist wirklich Claires Tochter! Die wurde heute Mittag wirklich zur Furie, als sie mich konsultiert hat.“

„Meine Mum hat sich wirklich aufgeführt?!“ schmunzelt Jenny in einem leichten Anflug von Genugtuung.

„Ja, sie haben mich extra hergeschickt, um nach dir zu sehen. Du weißt doch, wie sehr sie dich lieben!“

„Aber wohl nicht stark genug um mich auch mit Muko zu nehmen!“

Das rote Leuchten beendet die Konversation durch die Scheibe und Jenny steht auf zum Gehen. Das Klopfen an der Scheibe veranlasst sie aber noch einmal umzuschauen und sie sieht den Anwalt ein Herz mit den Fingern formen und dabei heftig nicken.

Wie den Abend zuvor weint sie sich auch heute in den Schlaf in ihrer grauen Zelle. Wie gerne würde sie Oskars warmes Fell zwischen den Fingern spüren und sein beruhigendes, leises Schnarchen hören. Oder ihm dabei zuhören, wie er im Traum Nachbars Katze durch die Balkongrenze verbellt. Sie will einfach nur nach Hause! Zu ihrer strengen Mum, die sie immer wieder schimpft, wenn sie ihre Fassung verliert und zu ihrem Dad, mit dem sie immer wieder geheime Mutproben für die Vater-Tochter-Ausflüge ausheckt, die ihre Mutter beinahe in den Wahnsinn treiben. Selbst die Schule und die Leute dort fehlen ihr. Wie gern würde sie jetzt mit ihrer Lerngruppe selbst Mathe büffeln, anstatt hier eingesperrt zu sein. Sie hasst diesen Ort! Sie will nicht mehr hier sein! Aber wie kann sie den fliehen, vor sich selbst?! Selbst wenn sie hier herauskäme, würde sie an jedem öffentlichen Ort erkannt werden. An jedem Kontrollpunkt, würde man erkennen, dass sie ein illegal freies Produkt ist, das nicht frei herumlaufen darf. Wie konnte es nur so weit kommen?! Sie kommt sich beinahe vor, wie ein Ei aus einer Legebatterie. Ein Gegenstand mit einem unsichtbaren Barcode, der bestimmt für was ich tauge und für, wie viel ich verkauft werden kann. Ja, sie ist eine Art Ei, das erst die Erlaubnis zum Reifen und Schlüpfen hat, wenn ELITEGEN die Erlaubnis dazu erteilt. Wie pervers?! Aber offensichtlich gesetzlich erlaubt. Niemand hat sie gefragt, ob sie das will. Ob sie nicht lieber mit dieser Krankheit kurz glücklich leben will oder lange weggesperrt gesund zu sein. Jetzt ist sie beides: Krank und gleichzeitig gesund eingesperrt! Ob diese Gefühle einen Sinn ergeben weiß sie nicht, aber sie spürt nur einen Kampf in ihrem Inneren immer stärker werden, dessen Gegner sie selbst zu sein scheint. - Der Verlierer kann in jedem Fall nur sie selbst sein! Das war absolut sicher.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 24.05.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Allen gewidmet, die immer an mich geglaubt haben. Im liebevollen Gedenken an Silke G. (1976 – 2014).

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