CES’T LA MORT
Erfrorenes Herz
Vivi Ane - Vivi ANE
Ich wollte mich mit dieser Kurzgeschichte in die Krimiecke wagen. Diesem Genre eine Chance zu geben, hat mir sehr viel Mut abgerungen. Ich hoffe ich kann damit gut unterhalten.
Sollte jemand an meiner sonstigen Arbeit als Autorin interessiert sein, kann er mich ja auf meinem Blog: viviane-ebooks.blogspot.de heimsuchen.
Wir lesen uns hoffentlich bald wieder!
Vivi Ane - Vivi ANE
Wie kann man es nur wagen, ihn aus seinem Stammlokal zu rufen! Nur wegen eines toten, namenlosen Balgs das irgendwer in eine Kirchenbank gelegt hat?! Eines, wie jeden Tag Hunderte in diesem Moloch in schmutzigen Betten oder auf dreckigen Gassen gezeugt werden, und beinahe auch genauso oft dort verrecken. Seit wann war es die Aufgabe der Polizei, sich um solche Nichtigkeiten zu kümmern?! Noch nicht einmal die Kirchen wollen sich dieser Kinder annehmen. Kein Platz auf dem Gottesacker, nur Löcher zum Verscharren in ungeweihter Erde, neben Kindsmörderinnen, Selbstmördern, Ehebrechern und den anderen ungetauften armen Teufeln. Wahrscheinlich war es nur ein Dirnenkind, das die Mutter nicht mehr durchbringen wollte oder konnte. Selbst das älteste Gewerbe der Welt hatte in diesem Winter weniger gut zahlende Kundschaft. Die schlechte Ernte des Jahres hatte auch den Städtern den Geldhahn zugedreht, die Lohntüten der Arbeiter leicht und die Warteschlangen der Tagelöhner an den Straßen lang werden lassen. Und jetzt soll ein erfrorenes Waisenkind zu seinem Fall werden?! Er ist zuständig für Mord, nicht für verspätete Abtreibungen! Sicher, sein neuer Vorgesetzter kann ihn nicht leiden, aber selbst dieser aufgeblasene Schnösel und unehelicher Sohn eines Adligen sollte wissen, dass so etwas keine Aufgabe der Polizei, sondern der Totengräber ist. Gerade in dieser Nacht wollte er diesen von billigem Weihrauch und Angstschweiß der Beichtenden erfüllten Prunkbauten so fern wie möglich bleiben. Das letzte Mal war er von seiner bigotten schwindsüchtigen Mutter in die Christmette gezerrt worden, bis sie durch die Krankheit körperlich zu geschwächt dafür war und die Spielsucht ihres zweiten Mannes der Hauswirtschaftsbörse keine einzige Münze für den Klingelbeutel mehr übrig gelassen hatte, kümmerten sich nicht mal mehr die kleinen möchskuttigen Kirchenhandlanger mit ihren Marienkränzen um sie oder ihre unterernährte Brut.
Rausch und klamme Beinkleider machen in dieser Eiseskälte die Stufen zur Kathedrale zu einer wirklichen Tortur für ihn und verbessert seine Laune in keinster Weise. Der Gendarm, der ihn aus der Kneipe holen durfte, musste bereits ein Dauersalut aus ordinären Schimpfwörtern über sich ergehen lassen und war sichtlich froh, den Tatort endlich zu erreichen. Er entlässt den Inspektor an die hagere Äbtissin, die neben dem kunstvoll geschnitzten Chorgestühl auf ihre Befragung wartet.
„Sie haben das Kind gefunden?“
Als sie sich der Alkoholfahne ihres Gegenübers entzogen hat, überwindet sich die streng dreinblickende Frau in Ordenstracht zu einer Antwort auf die gestellte Frage.
„Nein, unsere Schwester im Schweigen hat es gefunden. Sie kann mit ihnen aber nicht sprechen. Sie hat aber wohl sofort, nachdem sie das kleine Geschöpf gesehen hat, einer Mitschwester gezeigt, wo es liegt. Die können sie aber befragen.“
Der Inspektor blickt sich unschlüssig um, denn außer Uniformierten und der Äbtissin ist niemand zu sehen.
Ein leichtes Schmunzeln hat ein kurzes Gastspiel im Gesicht der Kirchenfrau. „Sie hat es mir gezeigt.“
So eine Ulknudel, diese scheinheilige Tempelflitzerin! Mit einem nach unten gerichteten Nicken, versucht er seinen Ärger zu überspielen, dass er sich von einer dieser selbst ernannten Gottesbräute zum Narren halten lassen muss.
„Wir kontrollieren immer noch alle Bänke, bevor wir das Gebäude schließen, um ungewollte Übernachtungsgäste zu vermeiden. Wir haben einige wertvolle Dinge in der Sakristei und müssen darauf achten, dass der Besitz unserer heiligen Mutter Kirche nicht abhandenkommt. Ich bin sicher, das können sie gut nachvollziehen.“
„Natürlich, auf das Tafelsilber oder in diesem Fall eher Monstranzen und Kelche, die Investitionen der Mitgift, achtet doch jede gute Hausfrau. Dann war es wohl eher ungewöhnlich, zusätzlich zum schnöden Mammon, noch eine lebendige Opfergabe zu finden. Heute in der Nacht von Christi Geburt?!“
Zusammengekniffene Augen funkeln jetzt den gottlosen Ketzer an.
„Wir haben uns an die weltliche Gerichtsbarkeit gewandt, weil wir uns nicht unrechtmäßig an einem Findling bereichern wollten. Wenn sie andeuten wollen, dass unser Orden ein hilfloses Neugeborenes beraubt, dann irren sie sich. Das Geld liegt genauso wie der Brief unangetastet neben dem kleinen Erdenbürger“ entgegnet die Dame im Ornat mit einem säuerlichen Gesichtsausdruck.
Geld und ein Brief, das ist in der Tat ungewöhnlich! Es scheint sich wohl doch mehr hinter diesem himmlischen Opfer zu verbergen, als er bis jetzt geglaubt hat. Bohrende Blicke seiner Kollegen in seinem Rücken, veranlassen den Inspektor, dass er nun versucht die Wogen etwas zu glätten.
„Nein. Das war in keinster Weise meine Vermutung in diesem Fall, das kann ich ihnen versichern. – Wie lange war denn das Kind noch am Leben?“
„Es war schon sehr schwach, als wir es fanden. Da war die Zeit, die wir brauchten, um einen Mediziner aufzutreiben wohl schon zu lange für das kleine Herzchen. Das tut den Mitgliedern unseres Ordens sehr leid und wir haben bereits in der Gemeinschaft für seine ungetaufte Seele gebetet.“
„Eine Nottaufe war wohl nicht möglich?“, fragt der Inspektor etwas herausfordernd nach.
Sichtlich überrascht über die Anmerkung, reagiert die Vorsteherin etwas unwirsch:“Wir wissen doch gar nicht, woher es kam. Wir hätten nie die Erlaubnis von unserer heiligen Mutter Kirche bekommen, für so ein unorthodoxes Vorgehen! Auch wenn es mir als Frau und gläubiger Christin persönlich sehr leid tut.“
Genugtuung über den zielsicheren Treffer in das Kontor dieser vertrockneten, alten Schachtel empfindend, dreht er sich von ihr weg und läuft den Gang hinunter zum Tatort, oder besser gesagt, der Fundstätte.
„Ist schon gut. War doch nur eine Frage, kein Vorwurf.“
Sein Blick geht nach unten auf die Sitzfläche einer der dunklen Holzflächen, entdeckt ein Leinenbündel dort liegen, und fängt an zu zitieren.
„Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe; denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge.“
„Woher wissen sie, dass es ein Junge ist?“, fragt ihn der Gendarm, der nun erneut das zweifelhafte Vergnügen der Zusammenarbeit mit dem knurrenden Kollegen hat, und reicht ihm das, durch ein Haarband zusammengehaltene Bündel Geldscheine und das zusammengefaltete Blatt Papier. Die Schrift darauf wirkt zitterig aber auch beinahe kindlich verschnörkelt. - „Bitte sorgt für mein Christkind.“
„War nur so eine spontane Eingebung und jetzt machen sie, anstatt mir dumme Fragen zu stellen, lieber das Gesicht des Kindes frei, damit ich es mir ansehen kann.“
Kurz darauf, ist das weiße Tuch aufgeschlagen und enthüllt ein wirklich hübsches Kindergesicht, das beinahe schlafend aussieht und für einen ganz minimalen Zeitraum spürt der Inspektor ein Zwicken in seinem Brustkorb, das aber sofort selbsttätig erstickt wird, bevor es zu einer Regung in seinen Augen wird. Um sicherzugehen, dass man ihm nichts anmerken kann räuspert er sich ,bevor er wieder anfängt zu sprechen.
„Was ist das für eine Brosche, mit dem die Tücher festgemacht sind?“
„Ein Email-Marienkäfer. Der ist momentan sehr beliebt unter den Töchtern der wohlhabenderen Familien. Das kann sich keiner von der Straße leisten.“
„Lassen sie mich raten, aber der Stoff ist sicher auch nicht gerade billig gewesen, oder?!“
Ohne die Antwort auf seinen letzten Satz abzuwarten, läuft er den Mittelgang hinunter und tritt auch schon heraus auf den Vorplatz. Es beginnt wieder leise zu schneien und die Flocken tanzen in den Windwirbeln, bis sie sich in Ecken und Stufen zur letzten Ruhe begeben. So sehr er das Weihnachtsfest auch hasst, den Winter mag er. Schnee hat immer wieder eine beruhigende Wirkung. Für kurze Zeit wird der Dreck und Staub des Straßentreibens mit einem kalten samtig weißen Tuch überdeckt, wie die Matratzen in etwas edleren Etablissements, als er sie normalerweise aufsucht. Schäbiges wird mit einem Mal vor aller Augen unsichtbar. Die allumfassende Ignoranz, normalerweise ein Privileg der Reichen, wird dadurch zu Allgemeingut. Eine meteorologische Form einer Gerechtigkeit. Allerdings ist selbst diese Gerechtigkeit stark beschränkt, denn bei dem zugehörigen Frieren ist die übliche Ordnung wieder hergestellt. Wer sich keine warme Kleidung, Brennmaterial oder ein Dach über den Kopf leisten kann, schlottert wie ein Schneider und nicht wie ein König.
Es ist zu spät für die Kneipe, denn jetzt ist Sperrstunde, und in sein leeres ungeheiztes Mietszimmer will er auch nicht. Also beschließt er, die Nacht im Amüsierklub im Rotlichtviertel zu beenden. Nach der Begegnung mit diesem zwangsprüden Kardinalsliebchen war es sicherlich gesund seinem natürlichen männlichen Trieben freien Lauf zu lassen. Was diese schnippische Alte wohl unter ihrem wallenden Gewand früher so zu verbergen hatte?! Pfeifend begibt er sich auf seine Schleichwege zur „Schönen Dame“.
Mit den ersten zögerlichen Sonnenstrahlen tritt er wieder ins Freie, hat er neben so manchen schönen Dingern sogar noch ein paar Stunden Schlaf genossen. Ungewöhnlich gut gelaunt macht er sich auf den Weg ins Revier und geht dabei noch mal die Eckdaten des neuen Falls im Kopf durch. Neugeborener männlicher Säugling auf einer der hinteren Bänke in der Kathedrale abgelegt, Geld, ein Zettel, eine Brosche. Nicht viele Indizien, aber er hatte auch schon mal weniger. - Nun, auf zur Rabenmutterjagd!
Sein Chef empfängt in schon im Gang und will auf den neuesten Stand gebracht werden.
„Sie sind spät dran, Inspektor. Haben sie die Nacht mit Recherchearbeit verbracht?“
„In gewisser Weise schon.“
„Ach, führt eine heiße Spur ins Bella Donna?“
Wie er diesen Klugscheißer verabscheute. Er war nie mit seinen Chefs auf du-zu-du gekommen, aber dieser neue hatte auch noch die dumme Angewohnheit sein Privatleben zu beobachten, zu kommentieren und offensichtlich zu bewerten.
„Nach dem Geld am Tatort zu urteilen, könnte eine weitere heiße Spur in höhere Kreise führen. Ich kann dabei hoffentlich mit ihrer aktiven Mithilfe rechnen. Sie haben dort sicher mehr Möglichkeiten mit ihren hervorragenden privaten Beziehungen als ich.“
Mit einem süffisanten Lächeln öffnet der Inspektor seine Türe und bittet seine Begleitung einzutreten.
„Schluss mit unseren üblichen morgendlichen „Höflichkeiten“. Was macht der neue Fall? Der kleine Jon Do von heute Nacht.“
„Ich würde ihn ja Josua oder Immanuel nennen, aber wie sie meinen.“
„Ich sagte Schluss mit dem Geplänkel!“
Nachdem er Platz genommen hat, hebt er die beschrifteten braunen Kartonumschläge von seinem Schreibtisch auf und schwenkt sie vor seinem Gesicht hin und her.
„Noch kann ich ihnen nichts Neues sagen. Gleich werde ich mir die Beweise etwas genauer ansehen und mich dann auf den Weg machen, bevor die Spur eiskalt werden kann. Sie können sich darauf verlassen!“
Abrupt dreht sich der Mann in gesteifter Uniform um und ist kurz darauf aus dem Zimmer verschwunden.
So eine Nervensäge! Hätte ich denn sofort loslaufen sollen, um alle möglichen ungewollten Mütter der Stadt festzunehmenen?! Lächerlich. Die Frau, die das Kind ausgesetzt hat, wollte nur schnell den Säugling anonym loswerden. Sie hat keinen Grund zu flüchten, wenn sie davon ausgeht, dass die Nonnenbrut sich um alles Weitere kümmert. Im Gegenteil, er vermutet sogar eher, dass sie an den Ort des Geschehens zurückkehren wird, um sicherzugehen, dass es ihrem Kind gut geht. Gesetz den Fall, ihr ist es möglich und sie ist noch am Leben. Kindbettfieber hat schon so manch frischgebackene Mutter dahin gerafft. Vor allem wenn weder Hebamme noch Arzt in der Nähe ist. Und bei einer heimlichen Entbindung war die Mutter sicher alleine gewesen.
Der Inhalt der Kuverts ergießt sich auf die Tischplatte. Mit dem ersten Griff findet die Notiz ihren Weg in seine Hand.
„Bitte sorgt für mein Christkind.“ Liest er laut, legt das Papier auf den Schreibtisch und streicht glättend über den beschriebenen Zellstoff. Er bemerkt kaum wahrnehmbare feine Unebenheiten.
„Ah, wusste ich es doch. Da ist noch mehr zu finden.“
Scharrend geht die Schublade auf und in einem Wirrwarr von vielen unnützen und nützlichen Dingen findet sich ein zerkauter Bleistift. Er steckt ihn in den festgespannten Spitzer, nachdem er die Wahlscheibe auf das Loch mit der richtigen Größe gedreht hat und betätigt die Kurbel.
Mit der jetzt langen Grafitspitze gleitet er nun vorsichtig über das Papier und es werden zahlreiche geschriebene Wörter und Symbole sichtbar. Als die Orientierung eindeutig klar ist, konzentriert sich die Pausarbeit auf den Fußbereich und es wird Grußformel und Name sichtbar. Der Name einer der wohlhabendsten Familie der Stadt, Besitzer einer Reederei. Angesehen Geschäftsleute, Ehrenbürger der Stadt, Mäzene der Kunst und Bildung, mit Frauen und Töchtern, die als tugendhafte, angepasste Feingeister bekannt sind. Aber all das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass ein cholerischer Patriarch mit eiserner Hand sowohl Geschäft als auch Familie beherrscht, dessen Kontrollwahn überall bekannt und gefürchtet ist. Ohne seine Erlaubnis darf nichts geschehen und Zuwiderhandlung wird drakonisch bestraft. Nicht einmal die Erziehung seiner Kinder überlässt er Anderen. Selbst Internate sind in seinen Augen inakzeptabel. Nur handverlesenes aber schlecht bezahltes Personal ist für ihn tätig. Und genau dieser Despot hatte indirekt auf diesem Blatt Papier unterzeichnet.
„Das wird nicht leicht werden, etwas herauszubekommen. Aber versuchen muss ich es!“ spricht er zu sich selbst, bevor er sich wieder erhebt, um sich auf den Weg zu machen.
Das Quartier der reichen Bürger ist weit entfernt von der Wache und er muss sich, entgegen seiner sonstigen Gewohnheit, eine Kutsche nehmen. Der Kutscher lenkt nach einem ungläubigen Blick auf den schäbigen, alten, grauen Wollmantel und die schmutzigen, abgelaufenen Stiefel des neuen Gastes sein Gefährt zielsicher durch eine romantisch verschneite Kulisse in die nobelste Prachtstraße der Stadt. Um dem Zweifel des Mannes auf dem Bock nicht weitere Nahrung zu geben, entschließt sich der Inspektor sofort zu zahlen, denn es ist zu kalt um zu laufen.
„Ich brauche in spätestens einer Stunde eine Rückfahrgelegenheit. Wenn sie bis dahin keine anderweitigen Verpflichtungen haben.“
Die gereichten Münzen steckt der Fahrer nach einer kritischen Prüfung in seine Jackentasche und murmelt etwas Unverständliches in seinen Vollbart.
Es ist kaum Verkehr auf den Straßen, an diesem Weihnachtsmorgen und der beißende Wind lässt jeden Mutigen, der sich trotzdem ins Freie wagt, seine Kleidung eng um sich ziehen, um so wenig nackte Haut wie möglich als Angriffsfläche zu bieten.
Nachdem er die Steintreppe hinauf zum herrschaftlichen Haupteingang emporgestiegen ist, betätigt er die Zugstange der Glocke und vernimmt einen metallischen Läuten. Kurz darauf öffnet ein Butler mit hochnäsig versteinerter Miene und fragt ihn nach seinem Namen und dem Anlass des Besuches.
„Inspektor Henry aus dem Morddezernat 7. Ich hätte ein paar Fragen an die Herrschaft.“
Das Gesicht des Hausangestellten verliert kurz etwas an der eh schon minimal vorhandenen Farbe und er bittet den Ermittler in den Vorplatz und nimmt ihm Hut und Mantel ab, um damit zu verschwinden.
Zum Warten veranlasst, betrachtet er reich verzierte Wandtäfelungen, wertvolle Einrichtungsgegenstände und ein Treppenaufgang, der, so vermutet er, seines gleichen nur noch in der Universitäts- oder Klosterbibliothek finden kann. Viele üppige Ölbilder von Segel- und Dampfschiffen an den Wänden zeugen vom Ursprung dieses offen zur Schau gestellten Reichtums.
Es hüstelt hinter dem Gesetzeshüter und er dreht sich um.
„Die Herrschaft ist jetzt bereit sie im Salon zu empfangen. Wenn sie mir bitte folgen wollen.“
Über wundervoll bunt gewebte Teppiche hinweg geht es bis zu einer Türe des Erdgeschosses, aus dem deutlich Zigarrenrauch wahrzunehmen ist.
Ein kurzes Klopfen, eine Ankündigung durch den Dieners und der Inspektor wird vom Herrn des Hauses empfangen.
„Guten Morgen Herr Inspektor. Was genau ist für die Polizei so wichtig, dass ich in meinem Heim an einem Weihnachtsmorgen von jemandem wie ihnen besucht werde?! Ich finde es, gelinde gesagt, unpassend. So wichtig kann eigentlich Nichts sein!“
„Entschuldigen Sie vielmals die Störung, aber Mordermittlungen sind in meinen Augen immer wichtig. - Genauso wie die Täter, spare ich die Feiertage bei meiner Arbeit nicht aus! Das lässt mein Pflichtgefühl nicht zu und das müssten sie ja nachvollziehen können.“
„Mord?! An wem? Einem Geschäftspartner?! Einem Bekannten?! Einem Familienmitglied?!“
Seltsame Reihenfolge, denkt sich der Inspektor, kurz bevor er fortfährt.
„An einem Neugeborenen.“
„Wie, sie kommen hier her, wegen eines toten Kindes?! Das ist jetzt nicht ihr Ernst!“
Der Mann im Stresemann schüttelt verständnislos den Kopf und dreht sich zum Kaminsims um sich mit der noch freien Hand abzustützen. Die andere führt die Tabakware wieder zurück zum Mund, der sofort daran zieht.
„Bei dem Säugling wurde Papier gefunden, das zweifelsfrei aus ihrem Besitz stammt. Dementsprechend wollte ich sie fragen, was sie über dieses Kind wissen.“
Vor Irritation beginnt der Gefragte Rauch zu husten.
„Ich weiß nichts von einem Kind! Ich habe nur zwei eheliche Kinder, die beide nicht mehr auf eine Amme angewiesen sind. Ane Marie und Louis. Keine Ahnung was sie von mir wollen und welche Art Beweise sie haben mögen, ist mir auch nicht klar. Das können nur Fälschungen sein.“
„Das können wir sehr schnell feststellen, indem sie mir ihren Namen auf einen Zettel schreiben, und zwar so, wie sie ihre Korrespondenzen signieren.“
Unverständnis weicht nun Zorn und richtet sich bemüht gebremst gegen den ungebetenen Gast.
„Ich sage das jetzt nur einmal. Sie verlassen sofort mein Haus!“
Das Band der Zimmerglocke wird gleichzeitig so stark gezogen, dass sie sich löst und gleich darauf in die nächste Ecke fliegt.
Der steife Hausangestellte kommt mit Hut und Mantel bewaffnet in den Salon und begleitet den Inspektor zur Türe hinaus. Auf dem Gang begegnen sie zwei, etwa gleichaltrigen Mädchen, einem kleinen Zimmermädchen und einem vornehm gekleideten Fräulein, die auseinanderschrecken, als sie die zwei Männer kommen sehen.
Dem Inspektor kommt das in weißen Spitzenrüschen gekleidete Kind mit den aschblonden Haaren und den intensiven Augen für einen ganz kurzen Moment seltsam bekannt vor, verwirft dieses Gefühl aber sofort wieder. Es entspricht nicht seiner Natur, nach irgendwelchen Gefühlen zu gehen, er verlässt sich auf Fakten.
Der Wind hat derweil sein Werk vollendet und aus Stufen und Pflaster eine Eislaufbahn gemacht. Vorsichtig hält er sich an den Handläufen fest und ist wirklich froh, dass sich der Kutscher, mangels Aussicht auf andere lukrative Kundschaft, dazu entschlossen hat, auf ihn zu warten.
Er nimmt Platz in der Kabine und zieht einen Zettel aus seiner Hosentasche und einen anderen innen aus seinem Mantel. Zum Glück hatte sein Verdächtiger ihm die Zeit gelassen, eines der Papiere auf einem Beistelltisch an sich zu nehmen. Nun betrachtet er die feinen Linien der Signatur und vergleicht die Details der Federführung.
„Wusste ich es doch! Identisch.“ Spricht er leise zu sich selbst und steckt die Beweise zurück in seine Kleidung. Er klopft an die Wand und weißt den Kutscher an, einen kleinen Umweg für ein überfälliges Frühstück zu machen. Wenn er schon durch die halbe Stadt muss, kann er sich auch noch, seiner Ansicht nach, beste Hausmannskost gönnen, bevor er sein Tagwerk fortsetzt.
An der Wache steht, zum zweiten Mal an diesem Morgen, sein Vorgesetzter am Fureingang. Widerwillen erfüllt ihn, denn er will nicht noch einmal mit dem Besserwisser reden und er versucht Schal und Kragen so hoch zu ziehen wie möglich, bevor er aussteigt. Es hat aber leider nicht den erhofften Erfolg und er wird trotzdem erkannt.
„Ich gratuliere Ihnen zur heißen Spur?“
„Ich gratuliere ihnen zum warmen Büro, in dem sie wie sonst auch sitzen, statt in der Kälte auf mich zu warten?!“
„Ich warte doch nicht auf Sie! Ich warte auf die Mutter des toten Kindes.“
Erstaunt bleibt der Inspektor nun doch freiwillig vor den blank polierten Uniformknöpfen stehen und wartet neugierig auf eine weitere Erklärung.
„Ja, Inspektor. Es hat sich herausgestellt, dass eines der Zimmermädchen seine Schwangerschaft verheimlicht hat, um seine Anstellung nicht zu verlieren. Und eben diese Frau wird gleich hergebracht.“
Ein anerkennendes Schulterklopfen entlässt den etwas verwirrten Beamten, der erst wieder seine Gedanken geordnet hat, als er in seinem Stuhl Platz genommen hat.
„Ich brauche eine Hebamme oder eine andere Person, die sich mit Schwangeren und Geburten auskennt. Denn es muss ja erkennbar sein, ob eine Frau vor Kurzem entbunden hat, oder nicht„ weist er den Laufburschen der Wache ruppig an, der gerade eben noch den Boden gefegt hat. Als dieser kurz darauf abgehetzt mit einer älteren Frau im Schlepptau zurückkehrt, fährt auch schon der Polizeiwagen mit der Verdächtigen vor.
Der Inspektor staunt nicht schlecht, als das junge Zimmermädchen namens Marie vom morgendlichen Flur aussteigt und er begleitet sie in den Verhörraum.
„Du hast also das Kind geboren?!“
„Ja.“
„Warum hast du es denn weggegeben?“
Der kindliche Blick wandert nervös im Raum hin und her, um dem des Mannes auszuweichen.
„Ich dachte in der Kirche würde es sicher sein und ein gutes Zuhause kriegen.“
„Wer ist der Vater?!“
Sie leckt sich über die Lippe und sieht schräg nach oben, als würde sie auf eine himmlische Eingebung warten.
„Ich weiß nicht.“
Irgendetwas stimmt da nicht, das ist ihm sofort klar. Was es aber genau ist, das ist ihm noch schleierhaft. Allerdings ist in manchen Fällen Geduld der Schlüssel zum Erfolg, das hat ihn seine Erfahrung gelehrt, und in diesem Speziellen würde es wohl ein wenig Vertrauensaufbauarbeit benötigen.
„Ich werde jetzt eine Frau zu dir bringen, die dir mit diesen Nachgeburtsproblemen helfen wird. Also hab keine Angst. Es wird alles wieder gut.“
Nach ein paar Minuten steht die zornige Geburtshelferin wieder vor dem verblüfften Inspektor.
„Ich weiß nicht, was ihr hier für ein Spiel spielt, aber wenn ihr mich das nächste Mal für Nichts und wieder Nichts am Weihnachtstag hierher ruft, könnt ihr was erleben! Das Kind da drin, hat weder ein Kind geboren, noch das getan, was vorher dazu notwendig wäre! Und jetzt gehe ich nach Hause, verstanden?!“
Keine Geburt, keine Schwangerschaft, kein Mann. Warum sollte ein Dienstmädchen so lügen und für wen. Ihr muss doch klar sein, was sie als Kindsmörderin erwartet?!
„Da sprach Maria zu dem Engel: Wie soll das zugehen, da ich doch von keinem Mann weiß?“
Er schaut ihr dabei fest in die Augen und hält ihre zitternden Hände fest.
„Marie du lügst! Du bist gläubig, das weiß ich, denn sonst hättest du das Kind nicht in die Kirche gebracht. – Du sollst nicht falsch gegen deinen Nächsten aussagen! Das ist das achte Gebot, also sag mir bitte die Wahrheit! Willst du irgendjemanden schützen?! Geht es um den Vater des Kleinen. Will er es nicht?!“
„Neinneinnein!“ und dicke Tränen laufen immer schneller über das kleine Gesicht.
„In der Bibel steht geschrieben: Josef aber, ihr Mann, war fromm und wollte sie nicht in Schande bringen, gedachte aber, sie heimlich zu verlassen. – Du musst keinen Mann decken, glaub mir! Du bist nicht schuld am Tod des Kindes, sondern er, dieser Gottlose!“
Er traut seinen eigenen Ohren kaum, wie sanft, ja beinahe liebevoll er auf das Mädchen einzureden beginnt.
„Es ist tot, und ich bin schuld! So klein und wunderschön, wie ein Engelchen.“
„Du hast es dort hingelegt, du bist aber keine Mörderin. Sag mir den Namen der Mutter und des Vaters. Männer, die zu feige sind, zu ihrer Frau und einem Kind zu stehen, gehören ins Gefängnis! Vertrau mir.“
Die Schürze wird als Taschentuch verwendet, als sie weiter auf ihrer Schuld beharrt.
„Nun gut, dann machen wir die Sache anders.“
Er zieht einen Block aus der Jacke, schreibt etwas darauf und legt es vor sie auf den Tisch.
„Was steht da, Marie?“
Am ganzen Körper zitternd hebt sie den Block vor ihr Gesicht und fängt an zu stottern.
„Du kannst weder lesen noch schreiben, stimmt’s?!“
„Doch, ich kann das!“
Die Tür geht auf und die gesteifte Uniform steht im Raum und fordert den Inspektor wortlos auf sie aus dem Zimmer zu begleiten.
„Was dauert da so lange? Ich dachte sie hat gestanden. Warum um Himmels willen sitzt sie noch nicht im Zuchthaus?!“
„Sie ist Analphabetin“, erwidert der Gefragte erkämpft ruhig.
„Woher wollen sie das denn schon wieder wissen?!“
„Sie hält den Block falsch herum, deshalb! Sie kann die Notiz nicht geschrieben haben. Und jetzt lassen sie mich meine Arbeit machen und den richtigen Mörder finden.“
Spricht es und lässt den lästigen Drängler einfach stehen. Ein karrieregeiler Idiot, wie der wird ihm nicht in seinen Fall reinpfuschen, so viel ist für ihn sicher. Er wird sowohl die Mutter als auch den Vater finden und die zur Rechenschaft ziehen. Dieses arme Kind wird kein Bauernopfer für eine reiche Familie werden, nicht solange er der Ermittler ist!
„Ich werde dich jetzt gehen lassen, Marie!“
„Aber ich kann doch nirgends hin! Was soll ich denn machen, ohne eine Anstellung?!“
Er zuckt mit den Schultern und blickt sie erwartungsvoll an. Schweigen erfüllt die Luft, nur unterbrochen von Schluchzen, und nach ein paar Augenblicken macht der Inspektor den Vorschlag sie zurückzubringen und mit ihrem Dienstherren zu sprechen. Weit aufgerissene Augen und heftigeres Weinen sind die Folge.
Sie will also lieber ins Gefängnis, als zurück in dieses Haus. Sehr aufschlussreich!
„Willst du mir nicht vielleicht doch sagen, was passiert ist?!“ startet er noch einen letzten, vergeblichen Versuch, als sie in der Kutsche zurück zum herrschaftlichen Haus sind, scheitert aber. Sie redet kein einziges Wort mehr auf dem ganzen Weg und als sie vom Butler empfangen werden, bleibt auch ihr Blick gesenkt.
„Die Herrschaften sind ihm großen Salon bei ihrem Nachmittagstee. Sie wärmen sich auf, nach dem Kirchgang.“
Sie folgen dem steifen Dienstboten in einen reich geschmückten, weihnachtlichen Raum, in dem die Familie versammelt ist. Großmutter, Vater und zwei Kinder. Dass die Dame des Hauses vor zwei Jahren nach längerer Krankheit verschieden ist, war allgemein bekannt, also war ihr Fehlen keine Auffälligkeit im ermittlerischen Sinne, beschließt der Kriminalist bei sich.
„Sie haben mir eine Jungfrau als Täterin geopfert, die definitiv nicht die Täterin sein kann! Sie nehmen das Mädchen entweder wieder in ihre Dienste oder besorgen ihr eine neue Anstellung.“
„Wie können Sie es wagen?!“
„Ich kann es wagen, weil das Gesetz auf meiner Seite ist und ich will jetzt wissen, wer die wirklichen Eltern des Kindes sind!“ während er seine Forderung ausspricht, wandert sein geschultes Auge vorbei an Flitter, Geschenkpapier, haufenweise Geschenke auf den handgeknüpften Orientteppich und entdeckt Rot, das irgendwie nicht ganz ins Muster passt. Er bewegt sich nach unten und tupft mit dem Finger auf etwas Feuchtes. Er hört es schaben und sieht gerade noch rechtzeitig, das der Hausherr mit dem Schürhacken zum Streich gegen ihn ausholt, und kann ihn mit einem blitzschnellen Faustschlag aus dem Gleichgewicht bringen. Das Feuereisen gleitet im Rückwärtstaumeln aus der Hand und trifft dumpf auf die Auslegeware mit der Blutspur. Beinahe im selben Augenblick stürmt jemand aus dem Zimmer. Der Inspektor blickt sich um und erkennt, dass es das Fräulein sein muss. Er legt dem Reeder die Handschellen an und folgt den Tropfen durch das kalte Weiß. Laufend, rutschend und beinahe fallend verfolgt er die Flüchtige und hört es plötzlich von der Brücke her platschen.
„Nein!“
Er springt hinterher in den eisigen, industrieabwasserschwangeren braunen Strom, kann aber nur noch einen leblosen Körper an Land ziehen. Einen Körper, der beinahe friedlich zu schlafen scheint. Er blickt in das Gesicht eines Engels, das Gesicht des Kindes aus der Kathedrale mit einem kleinen Unterschied. Ein Muttermal am Haaransatz, das dem des Reeders gleicht.
„Kann es wirklich sein?! Das würde niemand glauben!“
Er legt die Leiche sorgsam neben sich in den Schnee und macht sich auf den Rückweg. Im Haus angekommen, findet er den Gefesselten noch immer so vor, wie er ihn verlassen hat, richtet ihn auf und setzt ihn auf eine Couch und sieht ihm fest in die Augen.
„Sie sind der Vater des toten Kindes! Ihre Tochter hat gestanden.“
„Wer glaubt einer Hure und Kindsmörderin?! Ich sage ihnen niemand!“
Das Dienstmädchen geht in schleichenden Schritten auf die Zwei zu und sagt sehr langsam und mit leiser Stimme aber unheimlich durchdringenden: „So redest du nicht von meiner Freundin Marie! Ich hab gehört, wenn du zu ihr gegangen bist in der Nacht und wie sie dabei geweint hat.“ Und merklich lauter werdend ergänzt sie: „Rede nie wieder so von ihr!!! Du bist Schuld, du feiger Teufel! In der Hölle sollst du schmoren dafür!“
Das Gesicht der Großmutter wendet sich versteinert ab von ihrem Schwiegersohn. Sie nimmt den Jungen und das Zimmermädchen und verlässt den Salon ohne ein einziges Wort.
Der Inspektor kehrt an die Brücke zurück, um das Fräulein dem Laufburschen zu zeigen.
„Oh, je. Eine ledige Mutter und Selbstmörderin!“
„Wer sagt, dass sie eine Selbstmörderin ist?! Bei den glatten Pflastersteinen kann doch jeder ausrutschen! Und den anderen Umstand lass meine Sorge sein. Tu was ich dir gesagt habe, und pass auf, dass dich dabei niemand sieht!“
Am selben Abend in der Kathedrale
Die Äbtissin wird zur abendlichen Kontrolle des Gotteshauses hinzugerufen und steht nun fassungslos vor dem, Seitenaltar der Mutter Gottes, behutsam abgelegten Leichnam eines jungen Mädchens. Er ist in einen steifgefrorenen alten grauen Wollmantel eingeschlagen und glitzert durch Eis und Schnee, wie nicht von dieser Welt. Es wurde ein Zettel, ein Bündel Geldscheine und eine Maikäferbrosche auf die ineinander gefalteten Händen gelegt.
Sie hat beinahe Angst zu lesen, tut es aber doch.
„Ich bin Maria, bitte bringt mich zu meinem Christkind. Das Geld ist für unsere angemessene Beerdigung im Schweigen und eine letzte Ruhestätte im Kloster.“
Sie blickt auf und sieht eine dunkle Gestalt das Gebäude verlassen und sie versteht. „Ja, das geht in Ordnung, ich verspreche es!“
Tag der Veröffentlichung: 29.06.2014
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Allen gewidmet, die immer an mich geglaubt haben.