DNA
all rights reserved
Vivi Ane - Vivi ANE
Eine Diskussion unter BookRix-Autoren hat mich dazu angestachelt, ein mir liebes, polarisierendes Thema aufzugreifen und in eine Kurzgeschichtenreihe zu packen. Ich hoffe ich kann damit gut unterhalten.
Sollte jemand an meiner sonstigen Arbeit als Autorin interessiert sein, kann er mich ja auf meinem Blog: viviane-ebooks.blogspot.de heimsuchen.
Wir lesen uns hoffentlich bald wieder!
Vivi Ane - Vivi ANE
„Sie haben Post von ELITEGEN. Bestätigen sie den Empfang mittels Spracherkennung.“
„Alexander Hampton“
„Spracherkennung kann nur dual erfolgen. Wiederholen sie die Eingabe.“
Seltsam, gab es ja noch nie, dass Claire und ich gemeinsam bestätigen mussten?! - Dann muss die Post dieses Mal eben bis später warten.
„Zurückstellend der Spracherkennungsroutine für diese Nachricht, nächste öffnen.“
„Bestätige.“
ZUR SELBEN ZEIT AN DER PERSONENSCHLEUSE DER BIBLIOTHEK IM SCHULBEZIRK DER GLOBALEN AKADEMIE.
„So ein Schrott! Wieso erkennt mich der Venenscanner denn nicht?! Ich steh hier schon eine Ewigkeit und der will mich einfach nicht reinlassen.“
„Jennifer Hampton, sie können den Komplex leider nicht betreten, solange der Sicherheitstest nicht positiv ausfällt.“
Ungläubig blickt Jenny den, ihr seit Jahren vertrauten, Wachmann an.
„Wie meinst du das Murphy?!“
Mit den Schultern zuckend und kopfschüttelnd unterstreicht der Uniformierte noch mal seine Eintrittsverweigerung.
“Es tut mir leid, aber ich muss mich an die Vorschriften halten.“
Ihr Blick wechselt, immer noch ungläubig, vom Wachmanngesicht zur eigenen Handfläche und zurück, als sie von nachfolgenden Schülern bereits zur Seite gedrängelt wird.
„Frag mal in der Verwaltung nach, vielleicht ist wieder ein Bug unterwegs und deine Erkennungskriterien wurden aus Versehen gelöscht, wer weiß!“
Murphys aufmunterndes, strahlend weißes Lächeln, das jeden Zahncremewerbespot vor Neid erblassen lassen würde, und die großen fröhlich verschwörerisch zwinkernden Augen hatten noch immer ihre Stimmung wieder heben können, egal wie schlecht der Tag war und so ist es auch dieses Mal.
Die Verwaltung ist am anderen Ende des Campus, und es ist schon zu spät um vor Büroschluss dort anzukommen. Also kann das wohl erst Morgen erledigt werden und sie heute früher nach Hause. Und genau diese Erkenntnis zaubert ihr jetzt ein breites Grinsen ins Gesicht. – Nach Hause, zu Mum, Dad und Oskar! Wie toll!
Trotz schwerem Rucksack hüpft sie zum Schwebebahnsteig um nach ein paar Augenblicken auch schon in einem Abteil zu sitzen. Unüblich, dass so wenige Passagiere hier sind. Aber sie ist auch noch nie so früh Heim gefahren. Sie holt ihr Lernpad heraus und versucht ein paar Aufgaben zu lösen. Allerdings ist ihre Motivation ohne die Anwesenheit der anderen in ihrer Lerngruppe deutlich gedämpft. Bis zur dritten Station kämpft sie tapfer dagegen an, wechselt danach aber zum Musikhören. Weitere fünf Stationen später sieht sie auch schon die ersten Wolkenkratzer ihres Stadtviertels in der Nachmittagssonne blitzen und fängt an die Songs leise mitzusingen, was ihr einige tadelnde Blicke der anderen Fahrgäste einbringt, bevor sie schließlich aussteigt. Nur noch ein paar Minuten und Oskar wird sie, laut bellend und wie verrückt mit dem Schwanz wedelnd, begrüßen. Sie liebt ihren verrückten Corgi einfach! Ihre Eltern hatten ihr zwar kein Geschwisterchen geschenkt, aber dafür dieses kleine, beigefarbene Energiebündel. Sicher, am Anfang war sie schon etwas enttäuscht gewesen, dass sie keinen kleinen Bruder oder Schwester haben konnte, aber vielleicht war es ja auch besser so. Jedenfalls sind ihre Eltern nach wie vor dieser Ansicht und die müssen es ja eigentlich am besten wissen.
„Jenny Hampton, Wohnung 836, Fahrstuhl an.“
Sie atmet erleichtert auf, als sich die Türe öffnet und sie hinter ihr langsam hörbar wieder zu geht, nachdem sie den kleinen Raum mit der Gefrierschrankatmosphäre betreten hat. Plötzlich wird der Schließvorgang abrupt unterbrochen und der Schreck kehrt in das Mädchenherz zurück. Der Blick aus dem Augenwinkel nach hinten entdeckt eine große Hand, die sich in den nur noch zentimeterbreiten Spalt geschoben hat und die Schieber nun dazu zwingen den Eingang, für ein nachtblau gekleidetes Pärchen, freizumachen.
„Entschuldigung!“ kommt abgehackt und kalt aus einem schmalen, männlichen Lippenpaar, und „ELITEGEN, Wohnung 836, Fahrstuhl an“, aus dem weiblichen mit dem orangefarbenen Lippenstift.
Jenny drängt es instinktiv mit dem Rücken in eine Ecke. Mit gesenktem Kopf steht sie, zur Salzsäule erstarrt, einfach nur da. Sie hat kein gutes Gefühl bei dem Gedanken, dass diese Menschen offensichtlich zu ihren Eltern wollen, denn Arbeitskollegen können das nicht sein. Sowohl Alexander als auch Claire arbeiten freischaffend und haben noch nie einen Kunden in die privaten Räume eingeladen. Soll sie ihre Eltern warnen?! Oder besser gesagt, muss sie es sogar tun?! Aber wie soll sie das anstellen, in ein paar Wimpernschlägen werden sie auch schon vor ihrem Zuhause stehen. Ihr wird beim Grübeln darüber irgendwie schlecht und ein Zwicken und Stechen macht sich in ihrem Unterleib breit. - Sie scheint wohl etwas Falsches gegessen zu haben. Ja, natürlich, das muss es sein! Wieso sollte sie sonst so überreagieren, nur weil zwei Fremde zu ihren Eltern wollen?!
Der Fahrstuhl hält, um seine ungleichen Fahrgäste zu entlassen.
Beinahe im Gleichschritt bewegt sich das fremde Paar schnurstracks auf die Türe mit der Nummer 836 zu und jeder Schritt durchbricht das Einheitsblau der Anzüge, durch magentafarbene Schuhsohlen, in denen ein weißes Logo eingefügt ist. „EG“ kann sie entziffern, bevor sich die Türe wieder zu schließen droht. Immer noch ein wenig starr, wartet Jenny beinahe zu lange, steht aber kurz darauf doch noch im Gang und kann beobachten, wie ihr Vater mit missmutigem Gesicht seine Gäste empfängt. Er reagiert beinahe erschrocken, als er seine Tochter dahinter erkennt und deutet ihr an, gleich in ihr Reich zu gehen. Natürlich folgt Jenny, aber die Neugierde ist einfach zu groß und sie verschließt ihr Zimmer nicht ganz, um etwas von dem mitzubekommen, worüber die Erwachsenen ohne sie sprechen wollen.
„Herr Hampton, sie wurden per digitalem Einschreiben vorab über unseren Besuch informiert. Sie sind Käufer und langjähriger Nutzer eines unserer Premium Produkte und wir sind hier um einen möglichen Verstoß gegen das Copyright der Firma ELITEGEN zu verhindern. Laut der Lizenzvereinbarung, der sie beim Erwerb unseres Produktes zugestimmt haben, sind wir berechtigt das Produkt prophylaktisch wieder einzuziehen, wenn der Verdacht besteht, dass eine unrechtmäßige Vervielfältigung möglich ist. Aus diesem Grund werden wir jetzt das Produkt in unsere Manufaktur zurückschicken, bis eine zufriedenstellende Lösung am Verhandlungstisch gefunden wird, um Missbrauch zu vermeiden. Sollten sie irgendwelche Fragen haben, wenden sie sich bitte an unsere Verkaufs- oder Rechtsabteilung. – Zeigen sie uns, wo sich das Produkt aufhält und wir kümmern uns um den diskreten Abtransport.“
Alexander hat der emotionslosen Rede der Dame mit immer fassungsloser werdendem Ausdruck gelauscht und beginnt jetzt nach Luft zu schnappen, wie ein Karpfen. Als er schließlich darauf antworten will, gleicht seine Tonlage dementsprechend eher einem Gequietsche an Stelle seiner sonst so markanten, dunklen Stimmfarbe.
„Ich konnte das Schreiben noch nicht öffnen, da meine Frau noch nicht hier ist! Und von was reden sie da?! Mein Kind ist kein Produkt! Ich habe nur für die Reparatur einer defekten, besser gesagt mutierten, Gensequenz gezahlt, die Mukoviszidose verursachen, hätte können. Das macht doch unser Kind nicht zu Firmeneigentum!“
Jenny hält sich die Hände auf den Mund, um nicht vor Entsetzen laut zu schreien. - Sie, ein Produkt, das Eigentum dieser Firma, eine Ware, die man kauft und für die man Lizenzen vergibt?! Das kann nicht sein!
Der Mann in Nachtblau, der bisher geschwiegen hatte, versucht zu beschwichtigen.
„Herr Hampton, wir wollen keine Unannehmlichkeiten bei dieser Abwicklung. Geben sie uns einfach das Produkt heraus. Anstrebbar ist in jedem Fall eine vertragliche Lösung. Es gibt beispielsweise Möglichkeiten eines weiterführenden Lizenzerwerbs, der Vervielfältigung inkludiert, eine amtlich registrierte Reproduktionsunterbindung, temporär oder nontemporär, und Einiges mehr. Sie und ihre Frau werden sich sicher mit ELITEGEN einig werden, aber bis dahin wird eben das Produkt eingezogen und aus rechtlicher Sicht, haben sie jetzt keine Möglichkeit die Herausgabe zu verweigern. Glauben sie mir! - Wir können allerdings auch polizeiliche Unterstützung anfordern, um unseren Auftrag zu erfüllen. Das liegt ganz an ihrer Kooperationsbereitschaft.“
„Was?! Mein Kind ist erst zwölf Jahre alt, und hat noch keinerlei Interesse an Jungs. Ich denke nicht, dass sie in irgendeiner Weise an „Reproduktion“ denkt.“, die Stimme des verzweifelten Vaters überschlägt sich beinahe, als er einen erneuten Versuch unternimmt, seine Tochter zu verteidigen.
Die Dame mit dem strengen Dutt entgegnet nun leicht entnervt: „Irrelevant! Es liegen uns aktuelle, biometrische Daten vor, wonach das Produkt in die reproduktionsfähige Phase eingetreten ist, und damit ist der Lizenzverstoß möglich. Geben sie es uns nun freiwillig heraus, oder müssen wir Unterstützung anfordern?!“
Jennys Panik ist einem übermächtigem Fluchtinstinkt gewichen und sie fängt an sich in Richtung Wohnungstüre zu schleichen.
„Nicht nötig! Wenn ich mich nicht irre, steht das Produkt im Flur.“
Ein leises Schmunzeln umspielt die immer noch schmalen Männerlippen und Jenny beginnt augenblicklich um ihr Leben zu rennen, ihr Vater packt die Fremden, um ihr Vorsprung zu verschaffen, wird aber im selben Augenblick durch einen Handkantenschlag an den Hals außer Gefecht gesetzt. Noch vor dem Aufzug, wird sie von den Pinksohlen eingeholt und blitzschnell betäubt. Bevor ihre Augenlider zufallen, kann sie nur noch verschwommen sehen, wie sich ihr Vater mühsam aufzurichten versucht und Oskar, wie verrückt bellt und gegen die verschlossene Türe des Gästezimmers poltert.
Sie schrickt kurz hoch, als der gepolsterte Boden unter ihr zu holpern beginnt. Wie lange sie bewusstlos war, weiß sie nicht und es ist stockdunkel um sie. Ihre Arme gleiten in Zeitlupe das Arial um sie ab. Über ihrem Kopf eine ebenfalls gepolsterte Wand, rechts und links keine erreichbaren Kanten. Vorsichtig erforscht ihr Tastsinn den Raum über ihr und greift ins Leere. Als der Schwindel ein wenig nachgelassen hat, findet sie mehr schlecht als recht in die Krabbelstellung, und versucht sich an der Wand nach oben zu bewegen, stößt aber bei der nächsten Bodenwelle schmerzhaft an die Polsterdecke. Sie muss in einem Wagen sein, ein Transporter vielleicht?! Oder eine Frachtbox?!
Bei dem ruckartigen Stopp während des Gedankengangs wird ihr Körper erst stark in das Polster gedrückt und dann unsanft zurückgeworfen. Ein Schloss klackt und gleißendes Licht blendet sie so stark, dass sie sich die Augen zuhalten muss.
„Verdammt, wie oft muss ich euch noch sagen, dass ihr vorsichtig fahren müsst, wenn ihr Waren transportiert?! Ihr werdet für mögliche Beschädigungen aufkommen müssen, ist das klar?! Bringt das Produkt sofort zum Wareneingang und lasst euch eine Empfangsbestätigung geben!“
An den Oberarmen wird Jenny erst wie eine Marionette über die Ladefläche heraus und dann hochgezogen, auf einen mit Pfeilen markierten und durch Linien begrenzten Betonpfad gestellt und ein wenig in Pfeilrichtung geschupst. Erst jetzt fällt ihr fröstelnd auf, das sie auf Socken unterwegs ist und auch ihre Jacke fehlt. Sie wankt ein wenig, als sie versucht ein paar Schritte alleine zu gehen, legt aber mehr einen torkelnden Zickzack hin, als eine gerade Linie, und bleibt kurz stehen um sich etwas zu sammeln. Doch gleich wird sie ruppig vorwärts geschoben. Wie in Watte gepackt nimmt sie, immer noch blinzelnd, nur schemenhaft ihre Umgebung war. Den magentafarbenen Boden, mit den weißen Markierungen, in einer grauen Anlieferungshalle, eine metallisch glänzende Theke vor einem hell beleuchteten Glaskasten, in dem sich mehrere Figuren, wie in Scherenschnittfilmen, zu bewegen scheinen. Ihre Füße wollen noch kaum ihren Befehlen folgen und sie schiebt ihre Baumwollsohlen gezwungen bedacht über den glattlackierten Beton auf das Glasgebilde zu. Ihrem Antreiber, wohl zu langsam, den von hinten folgt nun ein noch stärkerer Stoß, um sie zu beschleunigen. Sinne und Gedanken sind zäh und es kommt ihr vor, als hätte man ihr Gehirn und ihren Willen in Eisen gelegt. Als sie letzten Endes doch vor der Theke steht, spricht es plötzlich hinter ihr.
„Jenny Hampton, Produktreihe: CF508, Checks zur Preisermittlung und Reproduktionssperre“
„Erstcheck?“ tönt die Stimme hinter dem Glas künstlich aus den Lautsprechern.
„Ja.“
Der Schub in der Theke geht auf. Ein hellgrauer Kleiderstapel neben pinken Crocs kommt zum Vorschein, begleitet von einem „Entnehmen und in den Ganzkörperscanner eintreten.“
Der kurze Druck an ihrem linken Oberarm bringt sie beinahe zu Fall. Es gelingt ihr aber, wieder ins Gleichgewicht zu kommen, die Sachen an sich zu nehmen und auf die zylindrische Kabine zur Rechten zuzusteuern. Eine Computerstimme zählt auf Zehn und der Scanner entlässt sie mit Klingeln und grünem Blinken. Die folgende Rampe fühlt sich an, als müsste sie den Himalaja ohne Sherpas besteigen und sie ist beinahe froh, dass an ihrem Ende eine rote Lampe Halt signalisiert. Nur kurz wartet sie, bis sich das schwere Tor öffnet und der lange Gang dahinter lässt sie innerlich schier verzweifeln. Wie Blei fühlen sich mittlerweile ihre Beine an, und dieses Schwermetall schleppt sie langsam von einem roten Lämpchen zum Nächsten, ohne jegliche Kraft um darüber hinaus zu denken oder gar zu tun. Als sie an einer der Gangkreuzungen steht, läuft ein anderes Mädchen in Blutrot an ihr vorbei, ohne sie anzusehen.
„Meine Babys! Alle meine Babys!“, spricht sie, wie im Wahn, mit dem blond gelockten Kopf hin und her zuckend in einer Tour zu sich selbst.
Einen Gang weiter ist Jenny dann aber auch in ihrem Raum angekommen. Sie steht in einem schmalen, fensterlosen, spartanisch eingerichtetem Quader, dem jeder Zierrat fehlt, mit einem Pritschenbett, auf dem sie müde zusammensinkt.
Etwas erholt steht sie am Morgen auf, schlüpft in die Crocs, um in die angeschlossene, kleine Nasszelle zu gehen. Sie blickt in den Spiegel und sieht ihr blasses, kränklich wirkendes Gesicht mit den bläulichen Augenringen. Kleine Schläuche kommen aus ihren Nasenlöchern und sie fängt an, heftig zu husten. Zäher Schleim landet infolgedessen im Becken vor ihr und sie fühlt sich kurzzeitig etwas erleichtert. Plötzlich hört sie ein ihr bekanntes Hundegebell aus dem Nebenraum und will schnell dort hin, merkt aber, dass sie ohne die Gasflasche am Ende ihrer Schläuche nirgendwo hin kann und greift nach dem Henkel. Sie zieht ihn hinter sich her, merkt aber schnell, wie wenig Kraft sie dafür aufbringen kann. Die Atemnot kehrt augenblicklich zurück und mit ihr der nächste Hustenanfall. Das Bellen wird leiser und der verzweifelte Wunsch riesengroß, endlich das Bad verlassen zu können. Wut und Tränen rauben noch die letzte Energie und bald ist das letzte „Wau“ verklungen.
Sie wacht auf und greift sich unter die Nase, aber das einzige, was sie fühlt, sind die nassen Spuren des Weinens auf ihrer Haut. Langsam setzt sie sich auf und blickt um sich. Eine kleine Nachtlichtleiste in Bodennähe spendet spärliches Licht zur Orientierung. Es ist nur ein leises Flirren zu hören, dass wohl von den elektrischen Teilen kommen muss. Kein Oskar weit und breit, keine Sauerstoffflasche und keine Kunststoffschläuche fest getaped unter ihren Nasenlöchern und hinter ihre Ohren geklemmt. - Ein Traum! Es war nur ein Traum! Aber sie ist trotzdem hier! Ein zurückgerufenes Produkt einer Baureihe. Was hatten die doch gesagt: CF508?! D. h. es gibt noch mehr Produkte, wie mich! Aber wozu sollte ein Preis ermittelt werden?! Ihre Synapsen, endlich von ihren chemischen Ketten befreit feuern was das Zeug hält und werfen eine Frage nach der anderen in den leeren Raum. Sie lassen erst ab, als ihr klar wird, dass sie nicht alleine auf Antworten kommen wird, sondern versuchen muss mit anderen „Produkten“ zu reden, um der Wahrheit ein Stück näher zu kommen. Ja, hier müssen noch mehr sein, und die werde ich fragen! Es muss eine Möglichkeit geben hier rauszukommen.
Bald darauf, hat sie sich auch schon selbst wieder in den Schlaf gezwungen und wird erst wieder munter, als eine Sirene heult. Unangenehm grell, begleitet mit orangenem Warnlampensignal über dem Türbogen, der sie gespenstisch an den Duttmund erinnert. Jenny wechselt in die graue Kleidung, Unterwäsche, Socken und ein langer extrem hässlicher Overall, die man ihr gegeben hat und stellt sich vor dem Ausgang in Position. Seltsamerweise ist der einheitsgraue, dünne Stoff wärmender als ihre eigenen Kleidungsstücke und es friert sie das erste Mal nicht mehr, seit dem Beginn dieses Geschehens. So abgelenkt, überschreitet sie aus Versehen eine Ausgangstrennlinie auf dem Boden und erhält einen schmerzhaften, elektrischen Schlag, als Belohnung für die Unachtsamkeit. Spätestens jetzt ist jeder Zweifel an der Ernsthaftigkeit ihrer Lage ausgeräumt, und sie sich bis ins Mark im Klaren, dass sie extrem auf der Hut sein muss.
Die Bodenpfeile führen sie in den Speisesaal, vorbei an den automatischen Essens- und Getränkeausgaben, hin zu einem vorbestimmten Tisch. Sie blickt sich über ihr Tablett hinweg um und sieht viele junge Mädchen und Frauen, auf ihren vorgeschriebenen Wegen und Essplätzen. Einige so gekleidet wie sie selbst, Andere in dunkelroter Montur und vereinzelt sind gelbe Overalls auszumachen. Auf einmal erkennt sie das Mädchen vom Vortag und will zum verhaltenen Winken ansetzen.
„Bist du verrückt?!“, zischt es leise, aber deutlich aufgebracht von der Seite. „Das ist bei Strafe verboten! Produkte verschiedener Abteilungen dürfen nicht miteinander Kontakt haben!“
„Wiebitte?!“
„Du bist neu, oder?! - Grau darf nur mit Grau reden, Rot mit Rot und Gelb mit Gelb. Comprende?!“
„Wer sagt das?!“
„Die Firma!“, flüstert es von der anderen Seite. „Grau heißt, du bist hier für den Check. Rot bedeutet, du bist Teil der Rohstoffproduktion, und Gelb bedeutet, deine Checkergebnisse waren zu schlecht, bist also nicht geeignet für die Rohstoffproduktion und wirst deshalb für den Arbeitseinsatz konditioniert, weil du weder einen guten Preis auf dem Markt bringst noch Niemand für dich Auslöse zahlen will. – Aber die Info hast du nicht von mir!“
Mit riesengroßen, staunenden Augen sieht Jenny jetzt ihr Gegenüber direkt an und kriegt dabei ihren Mund nicht mehr zu. Mit Allem hatte sie gerechnet, aber nicht mit so was! Was würde mit ihr passieren?! Gestern war sie noch ein ganz normales Schulmädchen, mit Freunden, lieben Eltern, einem tollen Haustier, und jeder Menge Träume. - Heute war sie das Eigentum einer Firma, dem vorgeschrieben wird wohin es gehen, was es anziehen, was und wo es Essen soll, und mit wem es Kontakt haben darf. Und das aus dem simplen Grund, weil ihre Eltern vor ihrer Geburt ihr Erbgut reparieren lassen wollten, um garantiert ein gesundes Kind zu bekommen. Ein Wunsch, dessen Preis nun sie hier zahlen soll, auf die eine oder andere Weise, das wird ihr schlagartig bewusst, während sich in ihr ein alles verzehrender Schlund der Verzweiflung auftut.
Tag der Veröffentlichung: 20.04.2014
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Allen gewidmet, die immer an mich geglaubt haben.
Im liebevollen Gedenken an Silke G. (1976 – 2014).