Peter Bertges
Doppelgänger?
Zweite redigierte Ausgabe
Umschlaggestaltung: Peter Bertges
© Peter Bertges, 2007, 2020
Dank an drei Freunde (Moppel, Chrisli und Lutz) für ihre Hilfe
Prolog
„Scheiße“, sagte Christian, als er das Blut sah. Er versuchte, Robbis Blick aufzufangen, und in seinem Gesicht zu lesen. Aber das Gesicht verriet ihm nichts. Robbi hatte sein Pokerface aufgesetzt.
Von der rechten Seite stieß ihn jetzt Tom mit dem Ellbogen an: „Glotz nicht - komm! Wir müssen raus.“ Mit einem leichten Schulterzucken riss Christian sich von dem Anblick los und stieg über den am Boden Liegenden hinweg. Zu Robbi gewandt fragte Tom: „Musste das sein?“
Robbis Antwort kam lapidar: „Du weißt doch, wie es ist, wenn der Gaul mit mir durchgeht. Was ist denn Schlimmes dabei?“
„Mir wird schlecht. Das ist dabei!“, blökte Tom. Er war trotz seiner bulligen Statur und der rauen Art, die er meistens an den Tag legte, ein Sensibelchen. Im Normalfall nahmen Robbi und die andern darauf Rücksicht. Nur in Stresssituationen wie jetzt beim Stadtfest hatte keiner die Nerven, sich mit solchen Kindereien aufzuhalten. So reagierte Robbi jetzt eher ungeduldig.
„Scheiß dich nicht an. Brauchst ja nicht hinzuschauen.“ Er wandte sich Richtung Alex. „Geht’s wieder?“
Ächzend richtete der Angesprochene sich vom Boden auf. Nickte stumm. Rieb sich mit den Handballen die Augenhöhlen.
„Okay, dann raus!“ Robbi unterstrich das Gesagte mit einer Geste seiner blutigen Hand. Alex und Tom zwängten sich durch den Spalt in der Zeltplane nach draußen, wo das Klatschen und Kreischen wieder anschwoll. Im Vorbeigehen hatte Christian den flüchtigen Eindruck, dass Alex‘ Erschöpfung nicht nur körperlicher Natur war. Außer den Spuren der Anstrengung und der kurzfristigen Kreislaufschwäche zeigte sein Gesicht auch etwas wie Niedergeschlagenheit. Als habe er ein Problem. Aber auch dafür hatte jetzt keiner Zeit. Sie hatten Wichtigeres im Kopf, und so vergaß Christian den Gedanken fast sofort wieder. Robbi kam mit seinem blutverschmierten Instrument an ihm vorbei und bemerkte: „Was Tom sich immer aufregt. Soll doch froh sein, dass die Leute so gut mitgehen. Und wo gehobelt wird ...“ Er ließ den Satz in der Luft hängen und ging nach vorn. Christian sah ihm kurz nach, dann nahm er seinen Bass aus dem Metallständer und folgte ihm.
Auf der Bühne hatte Alex bereits wieder seinen Platz am Mikrophon eingenommen. Er sagte das erste Stück ihrer Zugabe an – „1969“ von den Stooges – gefolgt von dem Hinweis, dass das Stück jetzt zwanzig Jahre alt sei. Hinter ihm thronte Tom über seinem Schlagzeug, das aussah, als sei es ein paar Nummern zu klein für ihn. Nun stöpselten auch Robbi und Christian ihre Instrumente ein. Robbi, der sich vorhin die Finger blutig gespielt hatte, wischte kurz mit dem Hemdsärmel über die Gitarre, dann stampfte er auf das Wah-Wah-Pedal und drosch in die Saiten.
*
Das diesjährige Stadtfest war größer als jedes vorherige. Außer den Straßen der Innenstadt hatte man auch den Park in das Spektakel mit einbezogen. Auf einer großen Wiese am Rand der Anlage drängten sich die traditionellen Bier- und Bockwurststände neben Kebab- und Pizzabuden. Versorgungsengpässe wie im Vorjahr waren nicht mehr zu befürchten. Das Fest war besser organisiert, aber auch kommerzieller geworden.
Am nördlichen Ende der Wiese war eine Bühne aus Fertigteilen aufgebaut, flankiert von eindrucksvollen Lautsprechertürmen, die sicherstellten, dass auch jeder ausreichend mit Dezibel versorgt wurde. Für Christians Band war es ein weiter Weg seit ihrem ersten Auftritt vor drei Jahren. Gerade einmal zehn Leute hatten damals die kleine Kellerkneipe mit ihrer Anwesenheit beehrt. Heute waren es über tausend, die sich unter der stechenden Sommersonne auf der Wiese verteilten.
Christian ließ den Blick über die buntgemischte Menge schweifen – vielleicht war ja irgendwo in dieser Menge ein weibliches Wesen, das nachher seinen Eroberungsversuchen zum Opfer fallen würde – bis er im Vorüberstreifen ein Gesicht wahrnahm, dass auf seltsame Art eine Resonanz in ihm hervorrief. Er ließ die Augen zurückwandern, um das Gesicht wiederzufinden, und verpasste seinen Gesangseinsatz.
Robbis Blick ignorierend, konzentrierte Christian sich auf die Gestalt, die in der Nähe der Bühne zwischen anderen Zuhörern stand und mit dem Kopf den Takt mitnickte. Der Typ schien sogar die Songtexte mitzumurmeln, wie Christian auf die Entfernung zu erkennen glaubte. Wer konnte das sein? Zum engeren Umfeld der Band gehörte er nicht, sonst würde Christian ihn zumindest vom Sehen kennen. Dieses Gesicht hingegen war ihm völlig fremd. Fremd und zugleich doch auf unheimliche Weise vertraut.
Einen Moment lang durchzuckte ihn eine Ahnung, es könnte einer seiner entfernten Cousins sein, die er nur alle Schaltjahre mal traf. Aber dafür war dieser Typ ein bisschen zu alt. Er mochte wohl zwei, drei Jahre mehr als Christian selbst auf dem Buckel haben, also Mitte zwanzig sein.
Plötzlich schob die Gestalt sich hinter andere Leute, wie um sich Christians Blick zu entziehen. Sie wand sich durch die Menge, und kurz darauf konnte er sie nirgends mehr sehen.
Was war das denn, fragte Christian sich. Der schien sich ja geradezu zu verstecken vor mir.
Sein Blick streifte über die Reihen und Gruppen von Menschen im Umkreis der Bühne, aber der andere blieb verschwunden. Jetzt war Christians Neugier natürlich erst richtig geweckt. Er wollte sich diesen Typen aus der Nähe anschauen und herauskriegen, was es mit ihm auf sich hatte. Denn da war ein Gefühl in ihm, vage aber insistierend, dass sie beide auf eine Weise miteinander verbunden waren, die er sich nicht erklären konnte. Oder war das nur ein Wahngebilde von Christians aufgeputschtem Geist?
Er konnte es kaum abwarten, den Song zu Ende zu bringen. Unwillkürlich zog er in der letzten Strophe das Tempo an, was ihm wieder genervte Blicke, diesmal auch von Tom, einbrachte. Noch bevor der Schlussakkord verklungen war, streifte er den Gurt seines Basses über den Kopf, und wollte gerade von der Bühne springen, um sich auf die Suche nach der seltsamen Gestalt zu machen. Da hielt ihn jemand an der Schulter zurück. „He“, sagte Robbi, „wie wär's, wenn du dein Zeug wegpackst?“
Christian starrte den andern einen Moment lang an. Dann wandte er sich unwillig seinem Instrumentarium zu. Er stöpselte den Bass aus und begann, das Kabel aufzurollen. Dann machte er sich an seinem Verstärker zu schaffen. Die ganze Zeit schaute er immer wieder nach vorn ins Publikum. Aber von dem Typen war nichts mehr zu sehen.
Auch als endlich alle Verstärker, Gitarrenkoffer und Schlagzeugteile im Auto verstaut waren, wurde Christian von seinem Vorhaben abgehalten. Diesmal durch Alex. Der kam völlig aufgelöst zu ihm und erzählte, dass er sein kleines Amulett verloren habe, wahrscheinlich in dem Garderobenverschlag auf dem hinteren Teil der Bühne. Hilfsbereit wie man eben ist, stieg Christian also auf die Bühne, rutschte auf dem Boden herum und suchte unter den diversen Teppichen und zwischen Kisten und Kästen, die überall herumstanden, den winzigen Anhänger. Alex wollte in der Zwischenzeit noch mal den Weg von der Bühne zum Auto ablaufen.
Eine Viertelstunde später kam Tom in die Garderobe. „Hier bist du! Ich suche dich schon die ganze Zeit. Vielleicht sollten wir mal unsere Kohle abholen gehen.“ Dass er das auch alleine machen könnte, schien ihm nicht einzufallen. „Was machst du überhaupt?“
„Ich suche Alex’ Amulett. Er hat es hier verloren.“
„Ist der nicht ganz fix? Ich musste ihm gerade in der Apotheke Aspirin besorgen, weil er ganz plötzlich ganz starke Kopfschmerzen bekommen hat. Und jetzt finde ich ihn nirgends.“
Er wollte sich noch weiter aufregen, aber Christian ging, um sich das zu ersparen, auf seinen anfänglichen Vorschlag ein und sagte: „Komm. Gehen wir unsere Gage holen.“ Damit schob er den Schlagzeuger vor sich her aus der Garderobe hinaus. Sie sprangen vom vorderen Bühnenrand herunter und steuerten das Veranstalterzelt an. Die Menge auf der Wiese hatte sich in der Zwischenzeit ein bisschen verlaufen. Die Leute besorgten sich flüssigen und festen Nachschub, um für die nächste Band bereit zu sein.
Vereinzelt drehten sich Köpfe nach Christian und Tom um. Jedes Mal strafften sie sich dann unwillkürlich. Zogen den eh kaum vorhandenen Bauch ein, drückten die Brust ein bisschen mehr heraus. Dem Genuss, sich in der Aufmerksamkeit anderer zu sonnen, kann sich wohl kein Musiker entziehen.
Als sie an einem der Bierstände vorbeikamen, gab es einen lauten Knall. Ihre Köpfe flogen herum, und sie sahen gerade noch einen Kondensstreifen wie von einem Düsenjet, der über dem Stand steil nach oben in den Abendhimmel stieg. Dort wo er aus dem Dach herauskam, klaffte ein faustgroßes Loch. Chris und Tom blieben stehen und verfolgten mit den Augen die Bahn des Geschosses am Himmel. Es beschrieb einen hohen Bogen und grub sich ein paar Sekunden später mit einem dumpfen Krachen unweit der Bühne in die Wiese. Wie einer der sofort zusammengelaufenen Sensationslustigen fachkundig feststellte, war es das Ventil einer Kohlensäureflasche. Es war anscheinend nicht richtig aufgeschraubt gewesen, und durch den Druck mitsamt einem Teil des Gewindes abgesprengt worden. Außer der geschockten Bedienung, die das ganze verursacht hatte, trug niemand einen Schaden davon.
Die beiden Musiker gingen weiter. „Da kannst du wieder mal sehen“, stellte Chris fest, „Es gibt Sachen, da sollten Frauen lieber die Finger weg lassen.“ Er sagte das nicht aus chauvinistischer Überzeugung, sondern weil er wusste – oder zu wissen glaubte – dass solche Sprüche von ihm erwartet wurden. Zur Bekräftigung rieb er sich an einem Körperteil, das seiner Meinung nach mehr für die weibliche Betätigung geeignet war. Tom verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen. Kurz darauf waren sie am Zelt des Veranstalters angelangt. Dort erfuhren sie, dass schon jemand die Gage abgeholt hatte. Ihr Weg war umsonst gewesen.
Sie lösten an einem Stand in der Nähe ihre letzten Bier-Bons ein und gingen dann zurück. In der Mitte der Wiese war auf einem Kfz-Anhänger das Mischpult installiert. Dort fanden sie Robbi.
„Wie, Geld? Was für Geld? Ich hab die Gage nicht.“
Die drei schauten sich an. Dann stemmte Tom die Arme in die Hüften. „Wo ist eigentlich Alex?“
*
Bericht im Wochenspiegel vom folgenden Mittwoch:
Turbulente und mysteriöse Ereignisse auf dem Stadtfest am Wochenende
... wurde bei der Explosion glücklicherweise niemand verletzt.
Eine weitere merkwürdige Begebenheit, die jedoch weniger Aufsehen erregte, war das Verschwinden des Sängers einer der Musikgruppen, die an dem Rockfestival teilgenommen hatten. Seine Bandkollegen sahen ihn zuletzt, als sie nach ihrem Auftritt die Bühne verließen. Von da an ist über den weiteren Verbleib des Musikers nichts bekannt. Als er auch zu einem Gerichtstermin am darauffolgenden Montag nicht erschien, wurde er polizeilich als vermisst gemeldet. Auf dem Gelände eines Betriebes der chemischen Industrie unweit des Stadtparks fand man am gleichen Tag neben einem Chemikalientank ein Paar Schuhe, die dem Verschwundenen gehört haben könnten. Die Polizei hat eine Verbindung zwischen dem Fund und dem vermissten jungen Mann weder bestätigt noch bestritten. Sachdienliche Hinweise ...
1
Nebelbänke ziehen träge übers Gras. Undurchsichtig wie Theaterkulissen, die auf einer Bühne verschoben werden, verbergen sie alles, was hinter ihnen liegen mag. Der Himmel darüber ist mit düsteren Wolken verhangen. Wenn die wattedichten Schwaden es einmal zulassen, sind hügelab ein paar Bäume zu erkennen. In der entgegengesetzten Richtung schimmert ab und zu etwas Schwarzes durch den Nebel. Die Schwärze ist so makellos, als wäre da gar nichts. Aber bei genauem Hinsehen lassen sich Konturen erkennen – hier eine Kante, dort eine Brüstung, eine Zinne. Und alles tiefschwarz.
Der Nebel lichtet sich etwas. Bald lässt er mehr Details durchscheinen. Da sind Mauern. Gebäude. Das scheint eine Stadt zu sein. Eine völlig schwarze Stadt, aus Onyx gemeißelt. Und allem Anschein nach hat sie gigantische Ausmaße. Eine stumme Drohung scheint von ihr auszugehen.
Zögernd geht Christian auf die Stadt zu. Die schwarzen Umrisse türmen sich vor ihm auf. Er schaudert bei dem Anblick. Dann atmet er tief ein und setzt seinen Weg fort. Ein gewundener Pfad führt zu einem Stadttor mit einer schwarzen Onyx-Zugbrücke, die einen breiten Graben überspannt. Das Gelände wird flacher. Mit einem verstohlenen Blick nach unten betritt Christian die Brücke. Zuerst glaubt er, da sei ein schwarzer Spiegel, so glatt ist die Oberfläche. Sie reflektiert die Wolken des Himmels verzerrungsfrei und zeigt keine Wellenbewegung. Doch beim zweiten Blick zeugen gelegentliche kleine Wirbel oder träge platzende Gasblasen davon, dass es sich hier um eine zähflüssige Masse handelt, in der sich abartige Lebensformen schlängeln und durch den ölgetränkten Grund winden.
Schnell geht Christian weiter. Er durchquert das gewaltige Stadttor, dessen Rundbogen sich mindestens drei Mann hoch über seinem Kopf wölbt. In einem Spalt, der die Rundung von einer Seite zur andern durchläuft, kann er die Spitzen eines Fallgitters erkennen. Durch das Tor führt eine Straße tiefer ins Innere der Stadt, breit und ohne Gehweg. Zu beiden Seiten erheben sich die kolossalen schwarzen Gebäude. Christian wandert die Straße entlang und betrachtet staunend die schmucklosen Fassaden. Es gibt keine verschnörkelten Pfeiler, keine Ornamente, nur glatte ausgedehnte Flächen. Die Straße bildet dazu einen seltsamen Kontrast. Ihre Oberfläche ist wie poliert, aber nicht eben, sondern hügelig und im Ganzen rinnenartig zur Mitte hin vertieft. Das vermittelt Christian das merkwürdig zwiespältige Gefühl, sich auf einer Straße und trotzdem über naturgeformten Untergrund zu bewegen.
Nach ein paar Dutzend Schritten bleibt er stehen und lauscht. Da ist doch irgendwas. Ein ständiges Geräusch kommt aus einer der abzweigenden Gassen. Etwas wie das rhythmische, dumpfe Pochen einer Maschine. Christian runzelt die Stirn. Außer dem Pochen hört er noch etwas anderes. Manchmal klingt es wie artikulierte Laute, dann wieder wie langgezogene Töne. Christian versucht, dem Geräusch zu folgen. Er läuft in eine schmale Gasse. Die Häuser sind hier kleiner im Vergleich zu der monumentalen Hauptstraße. Auch die Fassaden werden winkliger und ausgeprägter. Die geraden Linien brechen immer mehr auf.
Die Klänge kommen näher. Christian überquert einen kleinen schwarzen Platz in dessen Mitte ein altertümlicher Ziehbrunnen steht. Er ist aus einem Stück Onyx gemeißelt und scheint direkt aus dem Boden heraus modelliert zu sein. Eine kreisrunde Öffnung lenkt den Blick in lichtlose, unauslotbare Tiefen.
Christian läuft weiter. Taucht in eine düstere Gasse ein. An dem schmalen Streifen Himmel über ihm ziehen die Wolken immer schneller vorüber. Angestrengt horchend bleibt er stehen. Die Geräusche werden immer deutlicher.
Er legt noch mehr Tempo zu. Biegt rechts in eine Straße ein, läuft eine schmale, flache Treppe hinauf, wendet sich nach halblinks und folgt einem langgezogenen Bogen. Jetzt hört es sich fast wie Musik an. Ja, es ist Musik! Ein Pulsieren und Dröhnen, über dem sich jetzt auch ganz helle Melodiesequenzen abzeichnen.
Hinter einem leichten Knick in der Fassadenreihe taucht eine Toreinfahrt auf. Da kommt die Musik her. Christian geht schneller auf die Einfahrt zu. Die Klänge ziehen ihn mit magischer Kraft an. Er nähert sich der hohen Öffnung in der Fassade, als sein Schritt auf einmal schwerfälliger wird. Der Boden unter seinen Füßen ist nicht mehr so hart und fest wie zuvor. Er kommt Christian nachgiebiger vor. Die Straßenoberfläche glänzt auch nicht mehr wie poliert. Es ist Christian, als hätte er die Straße verlassen und sich in Sumpfland begeben – oder Teer, denn die Masse scheint an seinen Füßen zu haften. Als er im Laufen die umliegenden Häuser anschaut, scheinen auch sie an Glanz verloren zu haben. Ihr Schwarz ist stumpfer geworden, sie scheinen langsam in sich zusammenzusacken. Die ganze Szenerie zerfließt wie heißes Wachs. Verdammt, denkt Christian, was ist hier los? Er bleibt stehen und schaut sich um. Die schwarzen Wände lösen sich auf. Der Boden verweht wie Nebel. Christians Füße versinken darin. Alle Konturen verwischen sich. Aus!
Nur die Musik bleibt. Eine dröhnende Gitarre und ein hämmernder Beat. Christian blinzelt. Schüttelt den Kopf. Ruckt hoch. Schaut auf den Wecker. Halb neun. Und diese Nervensäge nebenan hat schon die Stereoanlage aufgedreht.
Knurrend reckt er sich. Das war wieder mal ein Traum. Schwarze Onyx-Stadt. Fehlen nur noch die schleimigen, stinkenden Horden aus R’lyeh. Christians Blick fällt auf das Buch, das neben dem Bett auf dem Boden liegt. Er sollte wohl nicht so viel Lovecraft lesen.
Der Platz an seiner Seite ist leer. Conny ist also schon zur Arbeit. Hoffentlich hat sie ihm wenigstens Kaffee übriggelassen.
Gemächlich schlurft Christian in die Küche. Auf dem Tisch liegt ein Zettel. „Noch mal herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag! Heute Nacht warst du nicht mehr so ganz aufnahmefähig.“ Kann man wohl sagen. Der Sekt auf leeren Magen hat Christian ziemlich schnell die Schädeldecke weggeblasen bei der kleinen Vorfeier zu zweit. „Kaffee ist in der Thermoskanne. Wenn du gehst, schließ die Tür richtig. Bis heute Abend, Conny.“
Bin ja nicht blöd. Im Stehen schmiert Christian sich eine Stulle, während auf dem Herd das Kaffeewasser zu sieden anfängt. Connys Kaffee in der Thermoskanne war natürlich viel zu schwach. Davon wird Chris nicht munter. Nachdem er sich in einem großen Henkelbecher frischen Kaffee aufgebrüht hat, spült er die Reste des Brots mit dem viel zu starken Gebräu hinunter und verlässt die Wohnung, wobei er nicht daran denkt, dass man Connys Wohnungstür mit Gewalt zuziehen muss, damit sie richtig schließt.
*
Es ist der 18. Mai, ein Montagvormittag mit zögerndem Sonnenschein. Christian ist unterwegs. Bummelt durch die Stadt. Das ist seine hauptsächliche Beschäftigung, wenn er nicht gerade mit einem Buch in einer Grünanlage sitzt. Oder zu Hause vorm Computer, wo er mit Datenbankprogrammierung sein Arbeitslosengeld aufbessert. Er hat kürzlich eine Umschulung zum Softwareentwickler erfolgreich abgeschlossen, aber leider keinen Job gefunden, der weniger als zweihundert Kilometer von seiner Wohnung entfernt wäre. Und darauf hat er keinen Bock. Also hat er einfach aus der Not eine Tugend gemacht, und begonnen, für Freunde und Bekannte gegen geringes Entgelt Programme zu erstellen. Das ist besser als Rumhängen, und er bleibt in Übung. Vielleicht gelingt es ihm ja eines Tages, sich damit selbständig zu machen – ganz offiziell. Das wäre cool. Sein eigener Herr sein. Kein Chef, von dessen meist schlechter Laune man abhängig ist.
Um so etwas zu erreichen, muss man natürlich ganz schön ackern. Dazu ist Christian bereit. Nur nicht gerade heute. Immerhin ist es sein Geburtstag. Da wird er sich einen schönen Tag machen. Ohne an etwas zu denken, das ihn abtörnt. Er wird sich ein bisschen in der Welt des Konsums umsehen. Schauen, was es Neues an Büchern und CDs gibt. An coolen Klamotten. Und Lebensmittel braucht er ja auch noch.
Mit seinen langen, etwas hastig wirkenden Schritten betritt er das Kaufhaus durch die breite Front von Glastüren.
Rechts. Da vorn an der Kreuzung wieder rechts. Hier ist viel Betrieb. Leute stehen herum und verstopfen den Weg. Ausweichen. Am besten in eine schmale Parallelstraße. Da geht's viel schneller. Man muss nur ständig aufpassen, dass man nirgends anrempelt.
Pech gehabt. Baustelle. Regale werden neu bestückt. Also Umleitung. Andere Seitenstraße. Unbeabsichtigt kommt Christian immer weiter von seiner ursprünglichen Richtung ab. Aus der Umgehung des Staus wird ein Umweg. Aber das macht gar nichts. Christian hat ja Zeit. Er läuft lieber ein bisschen weiter, als sich durchs zähfließende Gedränge zu schieben, Handtaschen und Ellbogen ins Kreuz zu bekommen und Schritt für Schritt dahinzuschleichen. So was bringt ihn zur Raserei. Die kleine Straße mündet in eine andere kleine Straße. Wenn hier jetzt der Weg frei ist, kommt Christian direkt ans Ziel. Auf geradem Weg. Ein Einkaufswagen steht quer im Weg. Ein Schubs und weg damit. Kleine Gässchen kreuzen. Kochgeschirr. Ein Stück weiter biegen ein paar Leute in die Straße ein. Werden langsamer. Bleiben stehen. Gaffen ins Regal. Und blockieren natürlich die ganze Breite der Straße. Oh nein. Christian hat keinen Bock, abzubremsen. Oder sich an den Leuten vorbeizuquetschen. Ruckartig biegt er an der Kreuzung ab. Er schmeißt seine Pläne um. Die Bücherwühlkiste schenkt er sich heute. Da hat er vorgestern erst drin gestöbert. In der kurzen Zeit wird nichts Neues dazugekommen sein. Stattdessen geht er hinauf in die Bücherabteilung. Dort findet sich bestimmt was Interessantes.
Der besondere Reiz an dieser Stadt ist, dass man sie in mehrere Etagen eingeteilt hat. Christian trifft wieder auf eine Hauptverkehrsstraße. Er folgt ihr und schiebt sich an den vormittäglich trägen Kunden vorbei. Kommt zur Rolltreppe. Der Verbindungsstraße der dritten Dimension. Eine Etage höher. Gemütlich lässt er sich nach oben transportieren. Schaut sich um. Das Basement bleibt unter ihm zurück.
Zufällig gleitet sein Blick zur Gegenfahrbahn. Über die Gesichter. Die Klamotten. Die Beine. Ein drahtiger Typ in Radler-Shorts kommt ihm entgegen. Dahinter eine junge Frau. Schön geschwungene Waden. Dann zwei Schüler mit ihren überdimensionalen Schultaschen. Dahinter ein Typ, der beim flüchtigen Blick eine vage Erinnerung in Christians Personenregister weckt. Er kommt langsam näher. Während Christian überlegt. Überlegt und versucht, das Gesicht einzuordnen. Und zu entscheiden, was angesagt ist. Die Hand zum Gruß heben? Flüchtig lächeln? Unverbindlich nicken? Oder gar nichts? Als sie auf gleicher Höhe sind erkennt Christian sein Gegenüber plötzlich. Er reißt die Augen auf. Genauso der andere. Sie starren sich an. Und während sie sich langsam und gemächlich auf der Rolltreppe voneinander entfernen, schaut Christian in das perfekte Abbild seines eigenen von-den-sockenen Gesichts. Mit weit aufgesperrter Klappe.
Er vergisst, wieder wegzuschauen, und legt sich am Ende der Rolltreppe fast lang auf die Schnauze.
„Ist Ihnen nicht gut?“, fragt ihn ein älterer Mann.
Ohne blöde Antwort lässt Christian ihn stehen. Bewegt sich wie in Trance ein paar Schritte durch das Gedränge. Der Anblick geht ihm nicht aus dem Kopf. Das war genau er selbst. Auch die Kleider. Zwar nicht die, die er im Moment anhat. Aber das gleiche Hemd hat er zu Hause hängen. Und die Jeans mit dem weiten Schlag könnte auch seine eigene gewesen sein.
Sekundenlang steht Christian mitten im Getümmel still da wie ein Roboter, dessen Stromversorgung gekappt wurde. Er weiß nicht, wie er dieses Erlebnis einordnen soll. Wie damit umgehen. Ein Doppelgänger. Er kriegt keinen Reim darauf zusammen. Mechanisch setzt er sich in Bewegung. Geht einfach in irgend eine Richtung. Dann steht er abwesend in der Bücherabteilung herum, und es dauert gute zehn Minuten, bis er wieder zu sich kommt und weiß, was er hier wollte.
„Das war ein verdammt komisches Gefühl heute Vormittag, meinem Doppelgänger über den Weg zu laufen. Das kannst du mir glauben.“
Conny schmunzelt. „Doppelgänger“, wiederholt sie kopfschüttelnd. „Du übertreibst immer so maßlos. Da siehst du mal jemanden, der dir ein bisschen gleicht ... “
Chris unterbricht sie ungeduldig: „Nicht bloß ein bisschen. Wenn er mir nur ein bisschen geglichen hätte, wäre er mir gar nicht aufgefallen.“
„Das ist aber eine seltsame Logik.“
„Ich versuch’s zu erklären.“ Christian schaut in Connys dunkle Augen und überlegt. „Früher habe ich auch geglaubt, wenn einem jemand ein bisschen gleicht, dann müsste einem das auffallen. Aber das stimmt nicht. Ich habe ein paar mal erlebt, dass ich einen Bekannten auf jemanden aufmerksam gemacht habe, der ihm meiner Ansicht nach glich. Der Bekannte hat sich dann aber an den Kopf getippt und gemeint: du spinnst! Da hab ich mich dann immer gefragt, ist der blind? Bis ich selbst mal nach einem Auftritt mit der Band von mehreren Leuten einen Typen gezeigt bekam, und alle sagten, der sähe fast aus wie ich. Da habe ich mir dann an den Kopf getippt. Verstehst du, was ich sagen will? Ich sah keine Ähnlichkeit. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass der Typ mir gleicht. Man selbst hat von sich ein ganz anderes Bild als die Mitmenschen. Und deshalb fällt einem eine vage Ähnlichkeit erst gar nicht auf. Da muss einem schon jemand wie aus dem Gesicht geschnitten gleichen, damit man es selbst erkennt. Und auch dann dauert es eine Weile, bis man es wahrnimmt – meistens erst, wenn man darauf aufmerksam gemacht wird.“
„Das ist doch Unsinn. Du weißt doch, wie du aussiehst. Du siehst dich jeden Tag im Spiegel.“
„Jaaa“, kontert Christian, der dieses Argument schon erwartet hat. „Aber da schaust du bewusst rein. Sogar wenn du Faxen machst, ist das ein bewusster Vorgang. Aber deine Alltagsmimik bekommst du normalerweise nie zu sehen. Außer im ersten Moment, wenn du unverhofft irgendwo dein Spiegelbild siehst. Oder wenn du in einem Film auftauchst. Da ist es besonders gravierend. Du glaubst gar nicht, wie baff man über seine eigene Visage ist, wenn man sich zum ersten Mal im Film sieht. Wir haben doch früher mit der Band mal ein Video gedreht, weißt du noch?“ Conny lacht über das Wort früher im Zusammenhang mit Ereignissen, die gerade zwei Jahre zurückliegen. „Da waren auch ein paar Probe-Takes drauf, um die Kamera einzustellen. Da hat Udo uns einfach so unbemerkt gefilmt. Nachher haben wir uns das Band dann gemeinsam angeschaut. Auf diesem Vorspann war das Studio zu sehen, und dann der Aufenthaltsraum. Und wie ich mich plötzlich selbst da auf der Couch sitzen sah, habe ich mich erst gar nicht erkannt. Ich hab gefragt, was ist denn das für einer? Die andern haben mich erst nur komisch angeglotzt, und dann haben sie sich kaputt gelacht. Erst da ist mir der Groschen gefallen, dass ich das selbst bin.“
Conny lacht und winkt ab.
„Glaub's oder nicht. Es stimmt wirklich. Den andern ging's genauso. Und bei diesem Typ heute Vormittag, da war es das gleiche. Zuerst hab ich gedacht, kenne ich den nicht? Und dann ging es mir wie auf dem Video. Ich sah mich selbst – nur eben nicht auf Zelluloid sondern aus Fleisch und Blut. Mir ist ein Kribbeln das Rückgrat hoch bis unter die Schädeldecke gelaufen.“ Er macht eine kurze Pause.
Conny ist sich nicht im Klaren, was sie von Christians Geschichte halten soll. Schließlich kennt sie ihn lange genug und weiß, dass er oft und gern Müll erzählt. Aber der Nachdruck, mit dem er spricht, macht ihr deutlich, dass es ihm diesmal ernst zu sein scheint.
„Später hab ich ihn noch mal kurz gesehen. Auf dem Weg hierher. Er ging auf der andern Straßenseite. Wegen des Gedränges konnte ich ihn mir nicht genauer ansehen. Aber du kannst mir glauben ...“ er macht eine Geste, die alles und nichts bedeuten kann, und lässt den Satz unvollendet.
„Vielleicht hast du einen Zwillingsbruder und weißt nichts davon.“ Connys Versuche, Christian mit seinem eigenen Humor zu schlagen, gelingen ihr selten. In der Regel erreicht sie damit nur, dass er genervt ist, und dann meistens unausstehlich wird.
Aber jetzt murmelt er nur: „Tolle Theorie.“ Abwesend schaut er aus dem Fenster.
Nach einer Weile steht Conny auf. „Ich geh mich mal umziehen für nachher.“ Im Hinausgehen sagt sie über die Schulter zu Christian: „Grüble nicht so viel über diese Sache. Es wird sich bestimmt bald irgendwie klären.“
Aber Christian scheint gar nicht zu hören, dass sie etwas gesagt hat.
*
Die Party gefällt Christian auf Anhieb. Vor allem weil es nicht seine Eigene ist. Genaugenommen feiert Harald hier seinen Geburtstag. Er wird um zwölf Uhr achtundzwanzig. Christian ist nur Gast. Aber da jeder weiß, dass er zu faul ist, selber eine Fete zu organisieren, wird er als Co-Gastgeber betrachtet. Warum soll er sich Arbeit machen, wenn's auch anders geht. Immerhin hat er sich an den Kosten beteiligt, den Rest erledigt Harald. Dem macht es auch nichts aus, seine Bude zur Verfügung zu stellen. Der ganze zu erwartende Dreck stört ihn nicht, denn er leistet sich den Luxus einer Putzfrau. Die wird sich morgen um die Hinterlassenschaft der Fete kümmern.
Bei Christians und Connys Eintreffen ist das Wohnzimmer gut mit Leuten gefüllt. Der Großteil seiner Bekannten schon da. Björn und Ralf stehen beieinander an der Sektbar und warten auf Gelegenheiten, mit Frauen ins Gespräch zu kommen. Lutz unterhält sich mit Harald über irgendwelche neuen Kinofilme. Bei ihnen auf der Couchecke sitzen ein paar interessierte Zuhörer, die Chris nur flüchtig vom Sehen kennt. In der gegenüberliegenden Ecke des Wohnzimmers ist Reiner in die Betrachtung der unzähligen Postkarten vertieft, die hier angepinnt sind. Es sind alles lustige und obskure Exemplare, die nie abgeschickt wurden. Weil sie Harald dafür zu schade waren, hat er sie im Reisegepäck aus dem jeweiligen Urlaub mit nach Hause gebracht.
Unweit von Reiner stehen Susi und Ines in der Pflanzenecke beim Panoramafenster, halb von überdimensionalen Farnen verborgen. Sie vergleichen anscheinend irgendwelche Kosmetika. Toni studiert die CD-Sammlung des Gastgebers. Seine Augen schwirren bewundernd über das Plexiglasregal voller kleiner Scheiben. Ein Dutzend weiterer Leute verteilt sich locker gruppiert in der Dreizimmerwohnung. Der große Andrang wird erst für später erwartet.
Für Christian ist dies die ideale Größe einer Partygesellschaft. Es ist etwas los, man hat Abwechslung in der Konversation, und trotzdem kann man das Ganze noch überschauen. Es fehlt die Strapaze, die großen Menschenaufläufen eigen ist – das Gedränge, der Lärm und die Anonymität.
Nachdem er eine Runde durch die versammelte Gesellschaft gedreht hat, kehrt Christian zu Conny zurück. Sie steht mit Björn und Ralf zusammen, und Björn erzählt etwas über ein Theaterstück. Das ist ein sehr ungewöhnliches Thema für Björn, und so gesellt Christian sich zu den dreien, um zu hören, worum es genau geht.
Das Gespräch dreht sich um eine aufwendige Bühnendekoration für ein Stück, das demnächst starten soll. In der Lokalzeitung wurde ein Teil dieser Dekoration, das anscheinend den letzten Schrei an High Tech des städtischen Theaters darstellt, ausführlich beschrieben. Als hätte er nur auf Christian gewartet, wendet Björn sich ihm gleich zu. „Das ist doch genau was für dich. Hast du davon gehört? Die haben in dieses Dekorationsstück einen Projektor eingebaut, der Bilder auf eine Leinwand wirft, die von mehreren Videokameras während der Aufführung aufgezeichnet werden. Also keine vorgefertigten Bilder sondern praktisch live. Und die Bilder werden noch dazu von einem Computer verfremdet.“
Er kommt etwas außer Atem, und Christian nützt die kurze Pause um einzuwerfen: „Nein, hab ich nichts von gehört.“
Björn schwärmt weiter. „Dieses Gerät muss der blanke Wahnsinn sein. Was da an Technologie drinsteckt ...“
„Und vor allem an Geld“, würgt Conny seinen Enthusiasmus ab. „Das Requisit soll eine sechsstellige Summe gekostet haben. Da fragt man sich, ob die Entscheidungsträger heute der Meinung sind, die Qualität von Kultur ließe sich in Geldbeträgen ausdrücken.“
„Das ist aber wirklich kleinlich gedacht“, verteidigt Björn seinen Standpunkt. „Schließlich ist das Kunst ...“
„Kunst“, mischt sich jetzt Christian mit abfälligem Tonfall ein. „Und wo bleibt die Art von Kunst, auf die unsereiner abfährt? Als wir vor drei Jahren diesen Laden in der Bruchmühlenstraße übernehmen und zu einem Veranstaltungsort für Live-Konzerte umbauen wollten, bekamen wir keinen Pfennig. Mit der Begründung, das sei keine Musik sondern Krach. Wegen unserer langen Haare hat man uns wie Penner behandelt und nach Hause geschickt.“
„Stimmt, aber nur, weil ihr es euch mit den Doublegangers und ihrem Skandalimage bei allen offiziellen Stellen verschissen hattet.“
„Danke, Arschloch. Fall mir jetzt auch noch in den Rücken. Du hast doch damals am meisten von uns allen die Klappe aufgerissen, von wegen Gegenkultur und wir müssen es den Etablierten zeigen.“
Bevor die Lautstärke des Gesprächs ausufern kann, greift Conny moderierend ein. „Na kommt schon. Jetzt streitet nicht über Schnee von gestern.“ In diesem Moment stößt auch Harald zu der Gruppe, in der Hand ein Tablett mit gefüllten Gläsern. „Die Stimmung scheint ja schon dem ersten Höhepunkt entgegenzugehen.“ Er drückt jedem ein Glas in die Hand und erklärt: „Probiert das. Nennt sich Schweinepest, ein neues Rezept von Anita. Das schlichtet jede Unstimmigkeit.“ Christian beendet die Debatte über die Band auf für ihn typische Weise mit einem unmöglichen Kommentar. „War vielleicht besser so. Diesen Hippies kann man eh kein Geld anvertrauen. Wird doch nur für Suff und Drogen verplempert.“
2
Donnernd schlägt die Tür zu. Der Schlüssel fliegt über den Tisch auf die Kommode. Ein Ächzen. Quietschend lösen sich Stiefeletten von verschwitzten Füßen. Knallen polternd auf den Boden. Christian ist wieder daheim.
Der rotgeränderte Blick fällt auf den Geschirrberg in der Spüle. Könnte glatt meinen, ich hätte Besuch gehabt, während meiner Abwesenheit. Da wartet 'ne Menge Arbeit.
Auch ansonsten sieht die Wohnung nicht gerade zum Besten aus. Kleider liegen in allen Zimmern verstreut herum. Diese schlechte Angewohnheit hat Christian vor Jahren von einer Freundin übernommen und ist sie – ganz im Gegensatz zu der Freundin – nie mehr losgeworden. Immerhin gibt es der Behausung eine persönliche Note.
Die Wohnung in einem einigermaßen ruhigen und doch halbwegs zentral gelegenen Viertel ist fast zu groß für eine einzelne Person. Neben Schlaf-, Wohn- und Arbeitszimmer verfügt sie über eine kleine Abstellkammer, die vom Architekten wohl für Gerümpel konzipiert war. Christian hat sie sich als Lesezimmer eingerichtet – quasi eine Privatbibliothek, wenn auch von winziger Dimension.
Doch jetzt führt sein erster Weg ins Arbeitszimmer und zum Anrufbeantworter, um zu hören, ob's was an Neuigkeiten gibt. Aber da kommt nichts. Obwohl das Display vier Anrufe anzeigt, kommt nur Getute aus dem Gerät. Das ist jetzt schon das dritte Mal, dass das passiert.
„Das darf doch nicht wahr sein!“, poltert Chris. Er schüttelt das kleine Plastikding und bemüht sich, die Beherrschung nicht zu verlieren.
Wer weiß, was ich durch diesen Ausfall alles verpasst habe, denkt er. Aufträge in Millionenhöhe! Heiratsanträge! Alles weg! Aber jetzt ist Feierabend. Noch heute bringe ich den Schrott zurück. Und entweder sie tauschen es ohne Kommentar um oder ich verwandle den Laden in eine Achterbahn.
Damit knallt er den Apparat auf den Tisch, schaltet den daneben stehenden Computer ein und lässt sich im Stuhl zurücksinken. Was, wenn jetzt einer von Christians Softwarekunden angerufen hat, während die Kiste nicht ging? Dieser Armin vom CD-Laden wollte sich doch melden, wegen der Änderung bei der Datenerfassung. Chris kratzt sich am Kopf.
Dann denkt er: Scheiß drauf. Wer was will, soll's eben noch mal versuchen. Und wenn's ihnen nicht passt, können sie sich ihre Programme ja von einem Professionellen schreiben lassen. Wenn sie soviel Zeit und Geld übrig haben. Und Nerven.
Der Rechner ist arbeitsbereit. Chris ruft den Editor auf und überlegt, an welchem Programm er weiterarbeiten soll. Welches hat die höchste Priorität? Zweifellos das für den Steuerberater. Und auf welches hat Chris jetzt die meiste Lust? Zweifellos nicht das für den Steuerberater. Er entscheidet sich für eine einfache Adressverwaltung, die er für einen ehemaligen Schulkameraden schreiben soll, der jetzt beim Liegenschaftsamt arbeitet. Als Grundstock nimmt er ein älteres Programm, das er modifiziert und erweitert. Schon nach ein paar Minuten ist Christian in öde Routine verfallen, klappert auf der Tastatur den Programmtext runter und zieht mit der Maus Message-Boxen auf, ohne viel nachzudenken. Da klingelt das Telefon. Micha.
Unbewusst hat Christian die ganze Zeit nur darauf gewartet. Dienstags hat er nämlich „Bereitschaft“. Aus einem unerfindlichen Grund hat Micha sich diesen Tag für seinen wöchentlichen Frust vor der Arbeit auserkoren. Dann braucht er Christian als Aushilfe in seiner Kneipe. Es gibt keine feste Vereinbarung für diesen Tag, aber nach fast einjähriger Erfahrung hat Christian herausbekommen, dass Michas Anrufe nur dienstags und, was noch wichtiger ist, jeden Dienstag kommen. Darauf hat er sich dann eingestellt. Deshalb hat es noch keine andere Aushilfe so lange bei Micha gehalten wie Christian.
*
Die Wände sind mit dunklem Holz vertäfelt und mit Ornamenten im Art-Deco-Stil verziert. An der Decke kleben noch ein paar Lagen Stuck, altmodische Lampen hängen an verschnörkelten Haltern. Die Tische sind durch die Beanspruchung langer Jahre stark mitgenommen. Von den Stühlen passen keine zwei zusammen. Eine Theke gibt's auch, datiert um die Jahrhundertwende. Alles in allem sehr gemütlich. Schwarzweiß-Fotos in einer Vielzahl verschiedener Rahmen zieren den ganzen Raum. Dazwischen kleben alte Konzertplakate. Bunt. Schrill. Eins davon, nicht gerade so alt wie der Rest, sticht besonders ins Auge. Ein breiter Schriftzug zieht sich schräg übers obere Drittel. Doublegangers. Das typisch falsche Englisch deutscher Rockmusiker. Darunter prangen acht Gesichter in psychedelischen Farben. Eigentlich sind es nur vier Gesichter, aber die Vorlage ist versetzt in verschiedenen Farben zweimal übereinander gedruckt. Gute Arbeit für die, die es interessiert. Im Moment interessiert es keinen.
„Was is'n das für'n Bier? Total schlabberig. Wenn du das 'nem Esel ins Ohr kippst, läuft er drei Tage rückwärts.“
„Ihr trinkt das Bier so wie es aus dem Zapfhahn kommt, klar!? Und wenn einer was zu mosern hat, kriegt er ein paar in die Muppet-Show!“ Christians Spruch versteht zwar keiner, aber das macht ihm gar nichts aus. Jetzt ist er der Boss. Er kann herumkommandieren und Sprüche klopfen, wie es ihm passt Eine Rolle, in der er sich sichtlich wohl fühlt. Ohne ihn läuft hier – im Moment zumindest – gar nichts. Vor allem kein Bier. Und das sollte Grund genug für seine Gäste sein, nett zu ihm zu sein. Er wischt sich die Hände an der Schürze ab. „Solange Micha nicht da ist, kann ich's nicht ändern.“
„Du brauchst doch nur an der Anlage den Druck ein bisschen weiter aufzudrehen. Das kann doch nicht so schwer sein.“
Christian überhört die besserwisserischen Vorschläge. Micha hat ihm ausdrücklich verboten, die Zapfanlage woanders als am Hahn zu berühren, nachdem Christian einmal versucht hat, ein neues Fass anzustechen und damit eine mittlere Katastrophe ins Rollen brachte. An Michas Anweisungen hält man sich besser wortgetreu. Also zapft Christian weiter abgestandenes Bier. Die vier Gesichter auf der anderen Seite des Tresens verziehen sich wie im Schmerz.
„Zu blöd, um mit 'ner Zapfanlage umzugehen“, meint Ralf. Er ist bei weitem der Streitlustigste der vier. Aber Christian weiß damit umzugehen. Einfach ignorieren und ein anderes Thema anfangen. Die Sache mit dem Doppelgänger gestern fällt ihm ein. „Wisst ihr was? Ich hab 'nen Doppelgänger“, platzt er ohne große Einleitung heraus.
„Und er schaut dir jeden Morgen beim Rasieren und Zähneputzen zu, stimmt's?“, erwidert Björn schlagfertig. Er ist der Penetranteste der vier. Es gehört zu seiner Lebensphilosophie, zu glauben, er müsse zu allem und jedem einen zynischen, sarkastischen, ironischen oder wie sonst gearteten, meistens unter die Gürtellinie zielenden Kommentar abgeben.
„Oder planst du ein Comeback. Ich sehe schon die Schlagzeile vor mir. Ehemaliger Doubleganger hat einen Doppelgänger.“ Toni könnte den Anschein erwecken, zur gleichen Kategorie zu gehören. Nur sind seine Sprüche in der Regel eine Spur dümmer und zum Glück nicht so zahlreich.
„Nein, Blödmänner. Ohne Scheiß. Ich hab echt 'nen Doppelgänger. Da läuft einer rum, der sieht genauso aus wie ich. Gestern im Kaufhaus hab ich ihn gesehen.“
„Ja ja.“
Irgendwie kommt das Thema nicht so an. Anscheinend glauben alle, das sei nur ein Gag zur Unterhaltung. Eine Zeitlang redet keiner mehr was. Alle sitzen vor ihrem schlabberigen Bier, das sie so selten wie möglich anfassen. Sehnsüchtig warten sie auf Micha.
Dann hält Toni es nicht mehr aus. Er hat Probleme damit. Er kann einfach keine drei Minuten das Maul halten. „Sandra ist ein nettes Mädchen“, beginnt er ohne Einleitung zu erzählen. „Ich hab mich mal drei Stunden lang mit ihr unterhalten. Die ist sogar intelligent.“
„Eine seltene Eigenschaft bei Frauen“, meint Lutz, um ihm auf den Zahn zu fühlen. Und Chauvi Toni fällt natürlich glatt drauf rein.
„Ja. Hat mich auch gewundert. Was die für Ausdrücke draufhatte. Sie meinte, sie hat eine starke Libido.“ Er schaut von einem zum andern in der Annahme, dass von denen auch keiner weiß, was das heißt. Aber keiner reagiert. Mundwinkel werden unter Strafandrohung stillgehalten. Lutz spielt mit seinem langen Pferdeschwanz. Ralf starrt zur Decke. Björn fischt in seinem Bierglas nach irgendetwas Undefinierbarem.
„Und was habt ihr dann gemacht?“, fragt Christian wie nebenbei, während er ein paar saubere Gläser poliert.
„Ich hab sie noch zu 'nem Eis eingeladen. Ist 'ne harte Nuss.“
Jetzt verziehen sich die Gesichter zu einem Grinsen. „Typisch Toni“, winkt Christian ab. „Harte Nuss. Mit 'starke Libido' hat sie dir durch die Blume sagen wollen, dass sie 'ne geile Sau ist. Dir müssen die Frauen wohl erst den Schwanz auspacken, damit du weißt, was sie von dir wollen.“
Toni läuft rot an wie eine Tomate und versteckt sich hinter seinem Bierglas, während die andern sich weglachen. Wie immer, wenn sie sich auf jemanden eingeschossen haben, wird Toni jetzt in Grund und Boden gelästert, bis er die Nase voll hat. „Ich hab noch 'ne Verabredung“, sagt er nach einer Weile wenig überzeugend, knallt ein paar Münzen auf die Theke und verzieht sich.
Dadurch entsteht die Notwendigkeit, sich ein neues Opfer zu suchen. Björn schaut Christian an. „Wie war das noch mal mit diesem Doppelgänger, von dem du vorhin erzählt hast?“
Aber Christian reagiert nicht, er hat jetzt keine Lust mehr. Er weiß, dass ihm keiner die Sache abkauft. Den Atem kann er sich sparen. Außerdem will er sich nicht selbst den dreien zum Fraß vorwerfen. Aber Lutz und Björn sind gerade so schön in Fahrt.
„Ja, komm“, stichelt auch Lutz, „erzähl doch noch mal, wie das war. Wir haben vorhin nicht richtig zugehört.“ Zur Bekräftigung fügt er noch etwas zusammenhanglos hinzu: „Wegen Toni. Du weißt schon.“
„Nein, ich weiß nicht“, blockt Christian von vornherein ab. „Außerdem hab ich keine Lust mehr darüber zu reden.“ Er deutet auf ihre fast leeren Gläser. „Trinkt lieber noch was. Damit Umsatz in die Kasse kommt.“
„Erzähl uns erst was“, beharrt Lutz.
„Oder sing uns was vor“, ist Björns Vorschlag.
Christian schaut sie stumm an.
„Spiel ein Lied“, fordert Björn in gedämpftem Ein-Mann-Sprech-Chor und klopft den Rhythmus leise mit seinem Glas auf dem Tresen mit. Der übliche Anfang des Psychoterrors. Die beiden anderen Gläser fangen an, im gleichen Takt zu klopfen.
Christian verzieht keine Miene. Statt dessen verwandelt er sich in den ultraseriösen Restaurantkellner. Er nimmt das Blöckchen und den Kugelschreiber zur Hand. „Ihre Bestellungen bitte.“
Björn macht das altbekannte Handzeichen für „zwei Bier und die Bedienung“und grinst Christian frech an. Der verzieht das Gesicht. Heute kennen sie wieder mal keine Grenze. Verächtlich schaut er aus dem Fenster. Plötzlich reißt er die Augen auf. „Da!“, stammelt er und zeigt mit dem Finger.
Die andern drehen sich um. Draußen liegt die stille, verträumte Altstadtgasse im Licht des frühen Nachmittags. Sie drehen sich wieder zurück. „Ist dir nicht gut?“ fragt Ralf.
„Da war er wieder!“
„Wer?“
„Mein Doppelgänger.“ Christian wirft den Block weg und stürzt zum Fenster.
„Fängt das schon wieder an. Christian, ich glaub du solltest mal ...“
Chris hat das Fenster aufgerissen und lehnt sich hinaus, so weit es geht. Ralf, Lutz und Björn schauen sich an. „Echt tragisch“, meint Björn, „noch so jung und schon alle Sicherungen durch.“
Christian macht das Fenster wieder zu. Langsam dreht er sich zu den andern um. „Mist. Er war schon weg.“
„Wie vom Erdboden verschluckt“, ergänzt Ralf mit verblüffter Maske.
„Ärsche! Das ist kein Quatsch! Der Typ sieht wirklich haargenau so aus wie ich. Das war jetzt das dritte Mal, dass ich ihn gesehen hab. Innerhalb von zwei Tagen. Mein pures Spiegelbild! Ist doch wohl verständlich, dass ich mich für den Knaben interessiere, oder?“
Björn schaut Lutz skeptisch an. „Für den Knaben interessieren? Ich glaube, wir gehen lieber. Bevor er sich auch für uns zu interessieren anfängt.“ Und zu Christian gewandt: „Zahlen.“
Christian hat jetzt wirklich die Nase voll von den dreien. „Zehn Mark pro Nase. Grob geschätzt.“
„Hast du 'nen Knall?“
In dem Moment betritt Micha das Lokal durch den Seiteneingang. Die drei vorm Tresen bemerken ihn nicht. Christian sehr wohl. Er stützt sich mit beiden Armen auf die Theke. Fixiert seine Gäste. „Wenn ihr frech werdet, kann ich euch auch rausschmeißen“, sagt er im Plauderton.
„Was“, fährt Björn auf. „Dann müssen wir wohl erst die Kneipe auseinandernehmen.“ Er steht von seinem Barhocker auf. Dabei bemerkt er Micha, der mit vor der Brust verschränkten Armen hinter ihm steht. Micha überragt Björn um etwa einen halben Kopf. Und er braucht auch ziemlich lange Arme, um sie in dieser Weise vor seinem Brustkorb zu verschränken. Wäre der blonde Vollbart noch ein Stück länger, dann würde nur noch ein gehörnter Helm auf dem kantigen, halb kahlen Schädel fehlen, und der Wikinger wäre komplett. Mit wie gelangweilter Miene schaut er auf Björn herunter.
Der kann natürlich jetzt, wo er gerade dabei ist, eine Show abzuziehen, unmöglich mittendrin aufhören. Das wäre ja peinlich. „Und was willst du hier, Kleiner?“, sagt er zu Micha, und baut sich in gleicher Pose vor ihm auf. Dann fühlt er eine bratpfannengroße Pranke auf seine Schulter sinken. „He. Du vergisst, dass ich meinen großen Bruder mit dabei habe. Er ist nur gerade auf dem Klo.“
Micha muss lachen. Er klopft Björn auf die Schulter. „Ihr seid vielleicht ein Haufen Spinner.“
Jetzt kann auch Björn wieder auf normal schalten. „Du musst echt mal nach deiner Zapfanlage schauen. Das Bier ist ganz abgestanden.“
„Lass mal sehen.“ Micha verschwindet hinter der Theke. Nach ein paar Handgriffen nimmt er ein Glas von der Abtropffläche und hält es unter den Zapfhahn. Augenblicklich füllt sich das Glas mit weißem Schaum, untermalt vom Gejohle der drei vorm Tresen.
„Okay, die nächste Runde geht aufs Haus. Ich lasse mich ja nicht lumpen.“
Das rettet die Stimmung. Es wird geprostet und gelacht. Nur Christian bleibt nachdenklich. Abwesend lehnt er am Gläserschrank und schaut aus dem Fenster.
3
Der Blick schweift über eintönige graue Flächen, die sich zu monströsen Gebäuden zusammensetzen. Gigantische Klötze reihen sich auf dem Hügel und verunzieren die Landschaft. Wuchtig hoch oder niedrig und gedrungen liegen sie durch- und übereinander wie hingewürfelt. Simple Quaderformen bestimmen das Bild und verleihen dem Ganzen die Aura von Bausteinen.
Fenster sind nur spärlich über die kahlen Flächen verteilt, was deren abweisenden Eindruck noch verstärkt. Schmale, schluchtartige Straßen trennen die Gebäude. Klaustrophobische Enge. Die düstere Stimmung des Komplexes strahlt so stark auf die Umgebung aus, dass sogar das Gras, die einzige Pflanze, die überhaupt in der Nähe wächst, grau erscheint. Genauso der Himmel. Es gibt hier keine bunte Farbe. Alles ein Einerlei in unterschiedlichen Helligkeitsstufen. Ein stummer Verzweiflungsschrei in Grau. Feindselig und kalt. Die Granitstadt.
Christians Kehle ist wie geschnürt. Er würde am liebsten weglaufen. Aber ein unbestimmter Drang in seinem Innern zieht ihn zu dieser Stadt hin. Ob er will oder nicht, er muss in diese Stadt hinein. Irgendeine mysteriöse Aufgabe erwartet ihn dort.
Aber er steht wie angewurzelt. Kann den ersten Schritt auf diese architektonische Monstrosität nicht tun. Sie wirkt wie eine Folterkammer. Eine riesige KZ-Stadt.
Es muss sein. Christian muss dorthin. Der innere Drang ist stärker. Endlich überwindet er die Starre. Setzt sich entschlossen in Bewegung. Aber anstatt vorwärts geht es abwärts. Unvermittelt stürzt Christian in einen bodenlosen schwarzen Abgrund ...
... er schreckt mit einem krampfartigen Zusammenzucken aus dem Schlaf.
*
Wieder die Gänge und Regalreihen. Straßen und Plätze. Heute geht's zügig voran. Keine Staus. Keine Behinderungen. Nur vereinzelt laufen andere Verkehrsteilnehmer herum. Christian hat sich eine verkehrsarme Zeit ausgesucht. Zielstrebig steuert er durch die Gänge. Rechts eine Theke mit Lederbrieftaschen. Ein Stadtviertel der imaginären Kaufhausstadt. Jede Abteilung ist ein Stadtviertel. Jedes Regal, jeder Stand ein Häuserblock. Mit den Verkäuferinnen und sonstigen Beschäftigten als Einwohner. Und dazwischen: Die Straßen, durch die sich die Menge drängt und schiebt. Der dichteste Verkehr ist auf den Hauptstraßen. Sie sind durch einen dunkleren Bodenbelag gekennzeichnet. Als breite braune Pisten heben sie sich vom Gelb der Nebenstraßen und Gässchen ab, wo man meistens schneller vorankommt als auf den Hauptstraßen.
Christian biegt nach links ab. Vorbei an Kosmetikartikeln. Parfüms. Rasierwässer. Nagellack. Dann nach rechts durch die Drogerieabteilung. Badeschaum. Shampoo. Tampons. Mechanisch schreitet er die Gänge ab. Überquert eine Hauptstraße. Betritt eine Sonderabteilung mit Designeressgeschirr. Kleine Blocks. Quadratisch mit breiten kurzen Straßen dazwischen. Christian fetzt schräg durch. Er hat es eilig. Muss um eins wieder zu Hause sein. Falls Armin anruft. Wegen des CD-Programms.
Links. Lange Reihenhäuser reichen fast bis unter die Decke. Gegenüber davon quadratische Blocks und enge Gassen. Vasen und Kristallnippes. Dann werden die Straßen wieder breiter.
Computerzubehör. Lächerlich. Was die hier anbieten, reicht vielleicht für den Lego-Computer des vierjährigen Brüderchens. Aber nicht für eine modern ausgestattete Workstation.
Christians Aufmerksamkeit wird abrupt abgelenkt. Über eine Reihe niedriger Regale hinweg sieht er ganz kurz einen Kopf.
Er geht weiter. Lässt die Bücherabteilung rechts liegen. Einem unbestimmten Impuls nachgebend schlägt er eine neue Richtung ein. Durch die TV-Abteilung. Dann steht er auf einem kleinen Platz. Links die Aufzüge. Die U-Bahn der imaginären Stadt. Er muss grinsen, als ihm eine Kindheitserinnerung durch den Kopf schießt: Er denkt an das erste Mal, dass er – als ganz kleiner Knirps – mit seinen Großeltern in der Stadt war. Während Oma ihren Arztbesuch machte, hat Opa ihm das Kaufhaus gezeigt. Sie gingen durch den großen Haupteingang rein, und da war so etwas wie ein Foyer, und darin die Aufzüge. Damit fuhren sie hoch in den dritten Stock, wo es die Spielwaren gab. Christian erinnert sich noch gut an den Aufzug. Ein metallener Kasten voller Leute. Riesengroß aus seiner damaligen Perspektive. Und als dann im dritten Stock die Tür aufging, sind ihm fast die kleinen Kulleraugen herausgefallen beim Anblick dieses gewaltigen Raumes. Es schien gar kein Ende zu geben. Der kleine Christian lief herum wie verzaubert. Diese Fülle von Dingen um ihn herum. So was hatte er vorher in seinem Leben noch nicht gesehen. Das war alles so enorm und riesig, dass es ihm wie eine ganze Stadt vorkam. Eine Stadt unter Dach. Und durch die vorherige Ankündigung des Opas: Wir gehen in die Stadt, vermischten sich in der Vorstellungswelt des kleinen Jungen die Straßen der richtigen Stadt mit den Gängen des Kaufhauses. Darin liegt die Wurzel für Christians Spleen, das Kaufhaus immer noch mit einer Stadt zu vergleichen. Auch wenn das inzwischen eher die Form einer geistigen Zerstreuung angenommen hat.
Eine undeutliche Einzelheit hängt mit dieser Erinnerung zusammen, die auch mit an die Oberfläche gespült wird. Irgendwas hat sein Opa ihm damals gekauft. Nichts Großes oder Wertvolles. Nur ein Andenken an seinen ersten Besuch im Kaufhaus. In der Stadt. Was war das nur?
Christians Gedanken werden abgelenkt. Da ist er wieder. Ein Stück weiter den Gang runter. Ein Typ. Gleiche Statur wie Christian, gleiche Haarfarbe, gleiche Haarlänge, gleicher Gang. Der Doppelgänger!
Schlagartig verlangsamt Christian den Schritt. Er kneift die Augen zusammen, als könnte er dadurch schärfer sehen. Ist er's oder nicht? Er sieht nur die Rückansicht. Die Klamotten sind anders als vorgestern. Völlig anders. Aber davon abgesehen ...
Jetzt dreht er den Kopf ein wenig zur Seite. Diese Nase könnte hinkommen. Christian nimmt die Verfolgung auf. Irgendwie hat er heute ein anderes Gefühl als bei der ersten Begegnung. So hundertprozentig scheint ihm dieser Typ doch nicht zu gleichen. Aber er hat ihn noch nicht aus der Nähe gesehen. Chris legt 'nen Zahn zu, damit der andere ihm nicht entwischt. Aber das ist genau das, was er tut. Er biegt in einen schmalen Gang zwischen hohen Regalreihen ein. Christian spurtet los. Schiebt sich durch eine Gruppe Kinder, die an den Computern herumhantieren. Überholt eine voll bepackte Hausfrau. Erreicht den schmalen Gang. Leer. Er flitzt durch ans andere Ende. Da hinten. Ist er das, der da gerade in der Menge verschwindet? Muss aber 'nen ganz schön lockeren Tritt vorgelegt haben. Die ganze Distanz in den paar Sekunden.
Jedenfalls ist er weg. Chris dreht sich um und denkt, komisch, das war fast, als wäre der absichtlich vor mir abgehauen.
Er geht zur Bücherwühlkiste. Schaut das Angebot durch. Wie immer. Fast nur Klopapier. Dümmliche Liebesromane. Schwachbrüstige Krimis. Astrologiebücher. – Was haben wir denn da? Science Fiction. Iain Banks. Die Brücke. Ziemlich aktuell und schon in der Wühlkiste? Ach so, Mängelexemplar. – Christian liest den Text auf der Buchrückseite. Surrealistische Welt ... Brücke, die eine unübersehbare Wasserfläche überspannt ... Träume von archaischen Abenteuern und Sex ... Klingt gut. Nicht nur wegen dem Sex. Für surrealistische Erzählungen hatte Christian schon immer eine Schwäche. Also ab an die Kasse und bezahlen.
„Keine Tüte, bitte.“ Er steckt die Brieftasche in die Hose und das Buch zu den Lebensmitteln. Als er sich umdreht, rempelt er mit jemandem zusammen. Er macht ein verblüfftes Gesicht. Dann grinst er. „Was machst du denn hier? Ich dachte, du boykottierst Großunternehmen.“
„Ja, schon“, weicht Lutz aus. Er streicht die Haare aus dem Gesicht und klemmt sie hinters Ohr, „aber diesen Adapter für Video- und Stereoanlage krieg ich sonst nirgends.“
„Sehr inkonsequent“, tadelt Christian, um den andern ein bisschen aufzuziehen. Schnell wechselt Lutz das Thema. „Hast du den Buñuel-Film gestern Abend gesehen?“
„Nein, aber vorgestern den hab ich gesehen“, erwidert Christian in seiner typischen Art, die Leute durch eine dumme Antwort auf ihre Irrtümer aufmerksam zu machen. Lutz jedoch bleibt bei seiner Meinung, dass der Film gestern lief. Er glaubt, Christian wolle nur in seiner ebenfalls typischen Art ein Gesprächsthema, dass ihm nicht passt, mit einer dummen Antwort abwürgen.
„Knallkopf“, sagt er. „Bist du schlecht drauf heute oder was?“
„Wieso bin ich schlecht drauf, wenn du gestern nicht von vorgestern unterscheiden kannst?“
„Der Film lief aber gestern und nicht vorgestern“, beharrt Lutz.
„Ja, schon gut. Dann haben sie ihn bei euch einen Tag später gesendet, weil ihr eure Rundfunkgebühren nicht rechtzeitig bezahlt habt.“ Lutz rollt die Augen. „Okay, vergiss es. Was macht deine WG? Leben alle noch?“
„In gewisser Weise. Aber Martin ist ausgezogen. Wir haben jetzt einen Studenten aus Bayern als fünften Mitbewohner.“
„Ist er trinkfest?“
„Nee, keiner von der Sorte. Ich muss noch rauf in die Änderungsschneiderei im ersten Stock. Dort arbeitet meine Cousine. Kommst du mit?“
Christian nickt und sie setzen sich in Bewegung. Unterhalten sich noch über den neuen WG-Bewohner. Dann schnalzt Christian mit den Fingern. „Übrigens. Was ist mit der Revanche für die verlorene Backgammon-Partie? Wie lange willst du dich noch davor drücken?“
„Schon gut. Demnächst komm ich mit dem Spielbrett zu dir. Dann werden wir sehen, ob du letztes Mal nur einen schlechten Tag hattest. Wie wär's mit Freitag?“
„Okay.“ Sie sind im ersten Stockwerk angekommen. Herrenbekleidung. Dezenter brauner Teppichboden gibt der ganzen Etage etwas von Wohnzimmer. In der Luft liegt kein Geruch vom Schweiß der Tausenden von Kunden, die pro Tag hier durch laufen, sondern ein eher angenehmer Duft von Baumwolle, Kaschmir und Seide. Auch die Beleuchtung ist nicht so grell, wie etwa im Basement, wo es Bücher, Lebensmittel, Drogeriekram und dergleichen gibt. Dort regiert die Hektik, während es hier fast gemütlich ist. Man schlendert ohne Hast an den Stellagen vorbei. Man hat Zeit. Lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Obendrüber in der Damenetage ist es wieder ganz anders. Geschnatter und Gezeter, hektisch klackende Absätze lassen einen die Flucht ergreifen. Das alles registriert Christian im Unterbewusstsein, während er mit Lutz smalltalkend zwischen den Kleiderständern hindurchgeht, bis sie an der Theke der Änderungsschneiderei ankommen. In diesem Moment kommt Lutz' Cousine aus dem geschickt kaschierten Pausenraum. Christian stößt den andern an. „Das wär doch mal was. Ne Nummer mit einer Verkäuferin in einem von diesen Kabäuschen.“
Lutz schaut ihn an. „Typisch. Hätte mich echt gewundert, wenn ein anderer Spruch gekommen wäre. Soll ich Bärbel mal fragen, was sie davon hält?“
„Lass nur“, wehrt Christian ab, als das pickelige Mädchen mit den Hasenzähnen näher kommt. Mit einem Schulterklopfen und „Bis Freitag dann“ verabschieden die zwei sich. Christian nimmt die nächste Seitenstraße. Kaum ist er wieder allein mit sich und seiner Phantasie, verwandelt das Kaufhaus sich in die surrealistische Stadt zurück. Die Straße ist von Anoraks und Windjacken gesäumt. Christian stößt auf eine Hauptverkehrsader. Er folgt ihr ein paar Schritte und biegt dann in eine ganz schmale Gasse ein. Verzweigungen gehen nur nach rechts ab. Links ist ein welliger roter Trennvorhang, dahinter die Rolltreppen. Am Ende der Gasse ist ein enger Durchgang. Eine Abkürzung. Christian quetscht sich durch und steht auf dem Rolltreppenvorplatz. Hier herrscht wieder das übliche Getümmel. Energisch schiebt Christian sich in die Menge und auf die abwärts laufende Rolltreppe. Die aufwärts Laufende daneben, die vom ersten weiter hinauf in den zweiten Stock führt ist genauso bepackt mit Menschen. Zwischen den Massen erspäht Christian für einen Augenblick einen bekannten Hinterkopf. Dann wird der Höhenunterschied zwischen den Rolltreppen zu groß für weitere Beobachtungen. War er das? War das schon wieder der Doppelgänger? Christian hat den Kopf nur für einen Sekundenbruchteil, und noch dazu von hinten, gesehen. Ganz sicher ist er nicht, ob er's wirklich war. Aber intuitiv hat's direkt eingeklinkt.
Leicht fröstelnd kommt er im Erdgeschoss an. Er unternimmt keinen Verfolgungsversuch. Zwecklos mit zwei Etagen dazwischen. Weniger flink als sonst schiebt er sich durch den Verkehr der Erdgeschossstraßen. Zum Seitenausgang. Dann tritt er ins Freie hinaus. In die wirkliche Stadt.
Die wirkliche Stadt ist düster heute. Sieht nach Regen aus. Christian wirft einen prüfenden Blick zum Himmel hinauf.
Unentschlossen macht er sich auf den Nachhauseweg. Dabei geht ihm nichts anderes als der Doppelgänger im Kopf herum. Andauernd sieht Christian dieses Gesicht vor sich. Aber es ist nur die Ahnung eines Gesichts. Denn er weiß gar nicht mehr so genau, wie der Knabe ausgesehen hat. Christians genaues Abbild war er wohl doch nicht. Sowieso war heute alles so anders als gestern und vorgestern. Die kurzen Momente, da Christian den Typen heute gesehen hat, haben einen völlig anderen Eindruck bei ihm hinterlassen als die vorigen Male. Der Schock des Erkennens des eigenen Anblicks in einer fremden Person war nicht so drastisch. Hab ich mich schon so daran gewöhnt einen Doppelgänger zu haben, fragt er sich. Oder war heute irgendetwas anders?
Christian erreicht den Rathausplatz. Himmel und Menschen wie jeden Tag. Das ist immer wieder erstaunlich. An diesem Platz gibt es kaum ein Geschäft. Und nichts, was man als Publikumsmagnet bezeichnen könnte. Der Rathausplatz ist nur eine gepflasterte Fläche, die relativ zentral in der Mitte der Innenstadt liegt. Mit mittelalterlichen Häusern rundherum. Und zwei oder drei kleinen Cafés. Sonst nichts. Aber es herrscht Betrieb wie in einem orientalischen Basar.
Und da sieht er ihn wieder. Ein paarmal in kurzen Abständen hintereinander taucht die Gestalt in der Menge auf und direkt wieder unter. Beim zweiten oder dritten Mal fällt Christian auf, dass er ganz andere Kleider trägt, als vorhin im Kaufhaus. Das kann doch nicht sein. Ist er das wirklich? Wie als Antwort taucht das Gesicht kurz im Profil auf. Angestrengt fixiert Christian es. Das ist er doch. Aber dann müsste der im Kaufhaus ja ein anderer Doppelgänger gewesen sein. Dann gäbe es zwei! Oder ist er's doch nicht? Die Entfernung ist zu groß, um es sicher sagen zu können. Und dann hat Christian ihn ganz aus den Augen verloren. Er reckt sich auf die Zehenspitzen und sucht angestrengt über die Köpfe der Leute hinweg. Aber das Gesicht taucht nicht mehr auf.
– Ich glaub bald, ich drehe am Rad. Neuerdings scheint jeder zweite mein Doppelgänger zu sein. Oder bilde ich mir das vielleicht alles nur ein?
Normalerweise lässt Christian sich nicht so leicht aus der Ruhe bringen. Aber was er heute erlebt hat, liegt ein Stückchen außerhalb des Alltäglichen. Er denkt wieder an das, was Conny am Montag gesagt hat. Es gibt immer Leute, die einem gleichen. Das sollte ihn eigentlich beruhigen. Tut es aber nicht.
Wie in Trance läuft er durch die Straßen.
*
Klack und aus. Mit einem richtig guten Gewissen lehnt Chris sich im Stuhl zurück und schaut auf die Uhr. Drei Stunden hat er an Jürgens Programm geschrieben. Und wenn er morgen noch mal die gleiche Zeit aufwendet, ist es fertig. Dann braucht er es nur noch einen Nachmittag lang zu testen. Und dann gibt's Geld. Chris reibt sich die Hände.
Er steht auf und reckt das steife Kreuz, dann geht er hinüber ins Lesezimmer. Nach getaner Arbeit, wenn er so richtig etwas Konstruktives geleistet hat, liest Christian gern zum Abschalten in einem guten Buch. Er rückt sich dann die altmodische Stehlampe mit dem schmalen Schirm ganz nah an den bequemen geflochtenen Sessel, stellt sich ein Glas Schorle in Reichweite und kann innerhalb von Minuten die Umwelt völlig aus seinem Bewusstsein ausschließen. Dann wandert sein Geist für Stunden durch die Welten, die ihm die Autoren der Romane gut oder weniger gut vor dem inneren Auge erstehen lassen.
Heute wird er wieder etwas Neues anfangen. Prüfend betrachtet Christian die Reihe neuer Bücher im Regal. Der Blick wandert über die bunten Rücken und überfliegt die Titel. Dabei hat Christian die Wahl in Wirklichkeit schon getroffen. Er wird das Buch anfangen, das er am Vormittag gekauft hat: die Brücke. Der Klappentext las sich so vielversprechend, dass Christian es sofort lesen will.
Erwartungsvoll schlägt er den kleinen Band auf. Schon auf der ersten Seite wird es spannend und mysteriös. Eine Reihe von obskuren Situationen, die sich dann als Träume des Protagonisten herausstellen, eröffnen die Handlung. Genau nach Christians Geschmack. Je weiter er in das surrealistische Szenario eindringt, desto mehr erinnert ihn das Geschilderte an die obskuren Städte, von denen er in letzter Zeit ein paarmal geträumt hat. Die mystischen Landschaften, die in dem Roman beschrieben werden, gleichen denen, die Christian im Traum durchwandert hat. Die Ähnlichkeit ist so verblüffend, dass er nach ein paar Seiten das Buch zuklappt, den Finger als Lesezeichen darin, und nachdenklich in die Luft starrt.
Eine interessante Sache ist das. Christian hat zwar keinen Schimmer von Traumdeutung, und normalerweise interessiert es ihn auch kein bisschen. Träume sind eben Träume und damit fertig. Aber diese Städte, die ihm jetzt zwei- oder dreimal des Nachts begegnet sind, üben eine Faszination aus, der er sich nicht entziehen kann.
Er ruft sich die Träume in die Erinnerung zurück. Sie waren so realistisch, dass Christian nach dem Aufwachen wie benebelt war von der merkwürdigen Atmosphäre, die sie umgab. Sie blieben auch deutlich im Gedächtnis haften. Und jedes Mal war dabei eine andere merkwürdige Art von Stadt im Spiel.
Nachdem er der Sache eine Weile nachgehangen hat, merkt Christian, dass ihm die Augen schwer werden. Er zieht sich aus und geht ins Bett, um dort vorm Einschlafen noch ein bisschen zu schmökern.
4
Am nächsten Tag auf seinem Weg durch die Bahnhofstraße sieht Christian Conny vor einem Schaufenster stehen. Er pirscht sich durch die Menge an sie heran, um sie von hinten zu überraschen. Als er bis auf wenige Schritte heran ist, bemerkt er plötzlich ihren Freund, der neben ihr steht, einen gleich auf den ersten Blick schon blasiert wirkenden Schönling. – Oh nein, ist der schon wieder zurück von seiner Dienstreise? – Dieser Idiot war Christian schon immer zuwider. Und wie er da neben ihr steht, das Anzugsakko nach hinten gestreift und die Arme in die Wespentaille gestemmt. Schnell versucht Chris die Richtung zu wechseln, aber es ist zu spät. Durch sein auffälliges Manöver ist Conny aufmerksam geworden und hat sich umgedreht.
„Hallo Christian“, lächelt sie.
„Hallo.“ Mehr als ein schiefes Lächeln bekommt Christian nicht hin.
Auch ihr Macker grüßt. Seine Miene lässt jedoch keinen Zweifel darüber aufkommen, was für eine Meinung er von Christian hat. Die männliche Macho-Visage verzieht sich zu etwas, das wohl ein Naserümpfen bedeuten soll. Man ist schließlich etwas Besseres.
Conny weiß, wie sie mit der Situation umzugehen hat. „Na, wie war deine Geburtstagsfete?“, fragt sie Christian.
Der zuckt unverbindlich die Schultern. „Ganz nett. Die Bude hat natürlich hinterher ausgesehen wie das ausgebombte Dresden. Aber ganz nett, wirklich.“
Connys Freund quittiert Christians Scherz mit einem ironischen, wie gequält wirkenden Lächeln. Bestimmt fragt er sich schon lange, wie seine vornehme Freundin zu so einem unstandesgemäßen Bekannten kommt. Chris würde den schwarzgelockten Bastard am liebsten mit seinem affigen Goldkettchen erdrosseln.
Nach ein paar weiteren Belanglosigkeiten verabschiedet er sich von Conny wie von einer flüchtigen Bekannten und geht weiter seinen Weg. Dabei schmunzelt er vor sich hin. Das Fingerspitzengefühl, mit dem Conny die nicht ganz unproblematische Situation gemeistert hat, kann er nur bewundern. Sie hat mit keinem Wimpernzucken verraten, dass ihre Beziehung zu Christian sehr weit über ein belangloses „Hallo“ auf der Straße hinausgeht.
Wieder mal geht Chris der Gedanke durch den Kopf, dass Conny und er eigentlich ein gutes Paar abgäben. Wenn er es nicht besser wüsste. Eine feste Bindung zwischen ihnen würde nicht funktionieren, dafür sind die Welten, in denen sie leben, zu verschieden. Christian könnte es keine Woche in den Kreisen aushalten, in denen Conny wie selbstverständlich verkehrt, und ihr wäre seine proletarische Art auf Dauer bald unerträglich.
Zu dieser Erkenntnis kamen sie, zum Glück ohne es selbst ausgekostet haben zu müssen, kurz nach ihrem Kennenlernen. Conny war damals schon fest mit ihrem jetzigen Freund liiert, und führte wohl auch eine harmonische Beziehung mit ihm. Was sie an Christian faszinierte – das hat sie ihm später einmal anvertraut – war, dass er all das verkörperte, was ihrem Freund fehlte: die Ungebundenheit, die Sorglosigkeit, das Vermögen, einfach in den Tag hinein zu leben, und vor allem, sich wegen seiner beruflichen Situation – die damals ziemlich desolat war – keine grauen Haare wachsen zu lassen. Für Conny mit ihrem Sicherheitsbedürfnis wäre das der pure Horror.
Christian war also in gewisser Weise wie ein exotisches Tier für sie. Das machte ihn für sie anziehend – sehr anziehend sogar. Eine Weile war sie tatsächlich mit sich am kämpfen, ob sie ihrem Freund, der ihr die Sicherheit bot, die sie brauchte, den Laufpass geben sollte. Und just in diesem Moment, nach einem gemeinsamen Essen mit Christian, trafen sie eine Bekannte von Conny, die eine solche „unstandesgemäße“ Beziehung führte, wie Conny sie erwog. Sie erzählte von den Krächen – mit Geschrei und Handgreiflichkeiten – und stürmischen Versöhnungen, die sich in furiosem Tempo abwechselten. Dem Abgrund zwischen Liebe und Frust, der immer tiefer und breiter wurde. Und dass es ihr trotzdem nicht gelang, sich von ihrem Freund zu trennen.
Das hatte Conny sehr zu denken gegeben. In einem Gespräch, das die ganze folgende Nacht dauerte, versuchte sie Christian klarzumachen, dass sie beide genau auf das zusteuerten, was ihre Freundin erzählt hatte. Die Hölle. Und dass sie deshalb den Gedanken an eine Beziehung begraben sollten. Dass es das Beste sei, eine andere Basis für ihr Verhältnis zueinander zu finden.
Christian sah das natürlich ganz anders, und war erst einmal am Boden zerstört. Die Romanze mit dem Uptown-Girl sollte schon wieder zu Ende sein, bevor sie richtig begonnen hatte? Das konnte und wollte er nicht glauben. Aber trotz all seiner Bemühungen, Conny umzustimmen, blieb sie hart. Und im Lauf der Zeit musste Christian sich eingestehen, dass sie recht hatte. Ihr lockeres Verhältnis funktioniert ausgezeichnet. Keiner vermisst etwas. Vor allem Christian, mit den vielen Freiräumen, die er braucht, fühlt sich nicht eingeengt. In einer Beziehung mit einer so vereinnahmenden Frau wie Conny mit ihrem völlig andersgearteten sozialen Umfeld wäre das nicht drin gewesen.
Hätten sie damals auf ihr Gefühl gehört, und sich in eine Beziehung gestürzt, dann würden sie sich heute nicht mehr kennen, da ist Chris sicher. Denn von einer Beziehung, die nicht funktioniert, kommt man nicht mehr zurück auf diese lockere Ebene. Da gibt es nur noch ganz oder gar nicht.
Christian kehrt aus seinen Gedanken zurück in die Wirklichkeit. Unwillkürlich beeilt er sich. Als hätte er keine Zeit. Ständig schaut er über die Schulter. Doppelgänger? Das wächst sich langsam wirklich zur Paranoia aus. Und er kann nichts dagegen tun. Dieses Gefühl, seinem Konterpart jeden Moment gegenüberzustehen, lässt ihn nicht mehr los. Am schlimmsten ist es hier im Kaufhaus, weil er ihn hier am häufigsten gesehen hat.
Was wird Christian tun, wenn er ihm heute wieder begegnet? Soll er ihm nachlaufen? Ihn aufhalten? Ihn ansprechen? Er weiß nur eins. Er muss ihn sich zumindest genau ansehen. Um endlich definitiv zu wissen, ob er ihm wirklich aufs Haar gleicht, oder ob Christian sich die ganze Zeit etwas vorgemacht hat. Irgendwie schreckt er vor der Konfrontation zurück. Die Sache ist ihm einfach unheimlich. Er beeilt sich mit seiner Erledigung. Nur eine Packung Disketten kaufen. Und dann gleich wieder weg. Aber es kommt anders. Als er sich an der Kasse umdreht, steht der andere direkt hinter ihm.
Im ersten Moment bleibt Christian die Luft weg. Einen Sekundenbruchteil ist er erstarrt. Dann ist alles vorbei. Diesmal gibt es nicht den Schatten eines Zweifels. Seine Schultern sacken zusammen. Er schüttelt leicht den Kopf. Muss sich zusammenreißen, um nicht laut loszulachen.
Es ist genau derselbe Typ wie gestern. Mit denselben popeligen Klamotten. Er hat die gleiche Statur wie Christian. Die gleiche Haltung. Die gleichen Haare. Einen dickeren Bauch. Eine ähnliche Nase. Andere Augen. Und eine völlig andere Gesichtsform. Wenn man ihn länger als nur flüchtig anschaut, ist da nichts mehr – aber auch gar nichts in dem Gesicht, was man mit Christian verwechselt haben könnte.
Er hat sich selbst zum Narren gehalten. Gratulation.
Der andere wird schon nervös, weil Christian ihn so anglotzt. Schnell steckt er die Rohlinge ein und geht hinaus. Das war also die Doppelgänger-Angelegenheit. Ein Typ, den nicht einmal seine blinde Tante im Dunkeln mit Christian verwechselt hätte.
Die ganze Aufregung für nichts. Ein simpler Irrtum. Pure Selbstsuggestion. Es darf fast nicht wahr sein.
Mit seinen Disketten in der Hand läuft Christian durch die belebten Straßen nach Hause. Wie immer geht ihm das Geschiebe und Gedränge tierisch auf den Geist, wenn die Leute so lahmarschig vor ihm herumtrödeln. Man kommt weder rechts noch links vorbei, das Trottoir ist in seiner ganzen Breite blockiert. Die einzige Möglichkeit, voranzukommen, besteht darin, jede Lücke in den kreuz und quer laufenden Fußgängern auszunutzen. Automatisch wird Christian dann immer schneller, weil er von Überholvorgang zu Überholvorgang den Schritt beschleunigen muss, um noch durch die nächste Lücke schlüpfen zu können. Das führt am Ende – wenn es ihm nicht gelingt, sich zu bremsen – meistens dazu, dass er völlig fertig ist, wenn er an seinem Ziel ankommt.
Heute gelingt es ihm. Was seinen Schritt automatisch bremst, sind die Gedanken an den Doppelgänger. Es lässt Christian doch keine Ruhe.
Ist die ganze Sache wirklich vorbei, fragt er sich. Da war doch noch dieser Doppelgänger auf der Rolltreppe, der irgendwie anders war, als dieser eben. Aber an den mag Christian nun auch nicht mehr so recht glauben. Nur am Rande seines Bewusstseins spukt die Sache immer noch hartnäckig herum. Soll das wirklich Einbildung gewesen sein? Hat Christian sich dermaßen etwas vorgemacht? Beim ersten Mal hätte er geschworen, der andere sei sein Ebenbild. Er hätte jede Summe gewettet. Und die Wette steht immer noch, verdammt noch mal! Man kann sich nicht derartig täuschen. Jedenfalls Christian nicht. Aber es bleibt trotz allem ein Rest an Unsicherheit. Sämtliche Begegnungen nach dieser ersten waren zumindest ungewiss, wenn nicht Fehlanzeigen.
Es ist zum Auswachsen. Hat er nun einen Doppelgänger oder nicht!? Er weiß es einfach nicht.
Fast täte es ihm leid, wenn die Sache sich wirklich als Einbildung entpuppen würde. Wäre doch geil. Ein echter Doppelgänger. Gab's da nicht mal diese Fernsehserie, vor ewig langer Zeit, als Christian noch ganz klein war? Er kann sich nicht mehr an Details erinnern, aber da waren zwei Jungs, die sich eines Tages unverhofft begegneten. Und die haben 'ne Menge coole Sachen gemacht, nachdem sie den ersten Schreck ihrer Konfrontation miteinander überwunden hatten.
Als die bruchstückhaften Szenen sich in seiner Erinnerung abspulen, kommt Christian die Sache dann doch wieder zu unwirklich vor. Es ist einfach zu phantastisch. Das Leben ist kein Science-Fiction-Roman.
*
Nach drei Stunden konzentrierter Arbeit am Rechner hat Christian nicht nur das befriedigende Gefühl, etwas geleistet zu haben und der werktätigen Bevölkerung anzugehören, sondern auch das Bedürfnis nach Gesellschaft.
Als er die Kneipe betritt, gibt es ein großes Hallo. Am Tresen steht eine Gruppe von Bekannten, die schon guter Laune sind. Während Christian sich per Geste ein Weizenbier bestellt, horcht er in das laufende Gespräch hinein. Markus erzählt gerade von einer Gitarre, die er sich kürzlich gekauft hat.
Unvermeidlicherweise – wie immer, wenn sie über Musik reden – kommt das Gespräch gleichzeitig mit Christians Eintreten auf seine ehemalige Band, die Doublegangers. Dieses Thema scheint eine unheimliche Anziehungskraft auszuüben. Warum, das kann Christian sich beim besten Willen nicht erklären. Jedes Mal kommen wieder irgendwelche Sprüche, und Fragen, warum sie die Band aufgelöst haben, wo sie doch so toll war. Dabei wissen alle ganz genau, was damals passiert ist.
Christian schenkt sich sein Weizenbier ein, dann zieht er einen Hocker heran und setzt sich. Er ist sich todsicher, dass die nächste Bemerkung von Markus ihm gilt.
Markus rückt auf seinem Hocker näher an Chris heran. „Am besten war immer noch das Interview, das ihr mal für Radio Müllkippe gegeben habt. Als du die Rechtfertigungen anderer Musiker für das Nachspielen bekannter Songs auf die Schippe genommen hast: Statt schlechte neue Songs zu schreiben, spielen sie lieber schlechte alte nach.“
Der Rest der Runde lacht. Christian nicht. Er macht eine bremsende Geste mit der Hand, um für Ruhe zu sorgen. Dann erklärt er: „Das trifft nicht ganz die Tatsachen. Ich hab gesagt: 'Statt neue Songs zu schreiben, deren Harmonien man schon fünfzigmal gehört hat, spielen sie lieber alte Stücke nach, wo man nicht nur die Harmonien mitsummen, sondern gleich auch den ganzen Text mitgrölen kann.'“
„Kommt doch aufs Gleiche raus“, erwidert Markus.
„Haarspalter“, winkt Björn ab. Er will noch etwas sagen, aber da geht die Tür auf. Herein kommt eine Frau Ende zwanzig mit langen dunklen Haaren, kurzem Rock und langen Beinen. Christians Begleiter haben natürlich nicht aus Zufall ihren Thekenplatz direkt am Eingang gewählt. Hier ist es noch hell genug, dass man erkennen kann, wer das Lokal betritt. Und in einem Fall wie diesem ist das besonders wichtig. Sofort verdrehen sich nämlich alle Augen in Richtung des neuen Gastes, um genau zu sehen, ob man sie nicht doch vielleicht von irgendwoher kennt. Keiner spricht ein Wort. Nur die Augen folgen ihr ins düstere Innere der Kneipe. Als sie am Ende der Theke außer Sicht gekommen ist, stößt Björn Christian an. „Wie, kein Pfeifen? Kein Zungenschnalzen? Was ist denn los mit dir?“
Christian verkneift sich einen Kommentar. Mit resignierter Langsamkeit nimmt er sein Glas, führt es zum Mund und trinkt einen langen Zug. Halten die ihn vielleicht doch allen Ernstes für einen Sex-Maniac? Das scheint sich zu bestätigen, als Harald, ebenfalls von der kleinen Begebenheit inspiriert, Christian eine Frage stellt: „Wer war denn das nette Mädchen, das du zur Party am Montag dabei hattest? Die war ja echt super. Neue Freundin?“
Harald
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Peter Bertges
Tag der Veröffentlichung: 02.05.2022
ISBN: 978-3-7554-1296-0
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