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Eine Fahrt ins Grüne

 

 

von

 

Peter Bertges

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Copyright: Peter Bertges 2017

Idee: Sommer 1993, Realisierung ab Sommer 1994

Version VIIb; Stand Nov./Dez. 2014

 

 

 

Teil I

 

 

 

1. Kapitel


Schritte hallten auf dem Pflaster der Altstadtgasse wider. Hastige Schritte. Eilige Schritte. Schritte auf der Flucht.

– Mann, war das ein Coup! Der hat vielleicht Augen gemacht! Und den Mund hat er auch nicht mehr zu gekriegt. – Kein Wunder, nach der Geraden in die Magengrube.

Von der Schönheit des Fachwerks um ihn herum bekam er nichts mit. Er konzentrierte sich ganz aufs Laufen – zwischen Grüppchen von Bummlern, Touristen und Hausfrauen beim Samstagseinkauf hindurch. Kurz warf er noch einen Blick zurück über den Marktplatz in Richtung der Gasse, aus der er gekommen war. Was ihn straucheln und fast stürzen ließ, war jedoch nicht die Tatsache, dass er sich umgedreht hatte, sondern das, was er in dem kurzen Moment sah, in dem sein Blick die Szenerie hinter ihm scannte. Wie ein Blitz kam der Lange aus der Gasse geschossen. Er rannte wie der Teufel. Und die Wut und Entschlossenheit in seinem Gesicht waren trotz der Entfernung deutlich zu erkennen.

Mist, dachte er und beschleunigte noch etwas, wie kann der so schnell schon wieder in der Lage sein zu laufen?

Er sah schon ein böses Ende seiner spontanen Tat auf sich zukommen. Garantiert würde der Lange ihn einholen. An das Weitere mochte er gar nicht denken. Das war kein Typ, der mit sich spaßen ließ. Der würde ihn in aller Öffentlichkeit auseinandernehmen.

Vor sich sah er eine kleine Gruppe von Männern stehen. - Na prächtig! Blockieren fast die gesamte Gasse mit ihren Bierbäuchen und tauschen jetzt den Tratsch der Woche aus dem Büro und aus der Bildzeitung aus.

Er nahm die Situation mit einem Blick in sich auf und überlegte fieberhaft, wie er seinem Verfolger entwischen könnte.

Da sah er das Fahrrad. Es stand nahe bei der kleinen Menschengruppe an einen Laternenpfahl gelehnt. Wahrscheinlich gehörte es einem der Männer, denn es war nur angelehnt und nicht abgeschlossen. Er überlegte nicht lange. Im Laufen packte er das Rad – ein ziemlich neues, jedenfalls gut gepflegtes Mountain Bike – an Sattel und Lenker, zog es ein paar Meter mit sich, um es seinem eigenen Tempo anzupassen, schwang sich dann mit einem Satz darauf und begann kräftig in die Pedale zu treten. Als erstes musste er ein paar Gänge hoch schalten, denn die Pedale drehten so schnell, dass er gar keinen Widerstand spürte. Nachdem er vorn aufs große Kettenblatt gewechselt hatte, gewann er mit strammem Tritt an Fahrt.

Jetzt schaltete auch der Eigentümer des Bikes und nahm unter lautem Geschrei und von seinem Diskutierclub begleitet die Verfolgung auf.

Für ihr Alter und Übergewicht waren die Männer gut in Form, das musste ihnen der Neid lassen. Sie holten sogar anfangs ein wenig auf.

Fluchend erhöhte er das Tempo. - Klasse! Jetzt hab' ich nicht nur den Langen, sondern auch noch diese Meute auf dem Hals.

Er jagte das Fahrrad schneller voran. Nach einem großen Bogen um eine Hausecke musste er ein paar älteren Leuten ausweichen, was ihm gerade so gelang. Ihr Geschimpfe vermischte sich mit dem Geschrei der Verfolger, die sich rücksichtslos ihren Weg durch die Seniorengruppe bahnten.

Jetzt hatte er das Ende der Altstadtzone erreicht; hier mündete die Gasse in eine breite, viel befahrene Straße. - Jetzt heißt es Zähne zusammenbeißen und durch. Rein ins Verkehrsgewühl. Ja, hupt nur, ich hab euch gesehen. Kann's aber auch nicht ändern.

Es war viel los in der Innenstadt, und auf beiden Spuren schoben sich Kolonnen mit mäßiger Geschwindigkeit voran. Da konnte er mit dem Fahrrad leicht mithalten. Die Verfolger hatte er abgehängt.

Er fuhr zwischen den beiden Spuren und wollte eben wieder nach rechts zum Gehsteig hinüber wechseln, da sah er zwanzig Meter voraus an der nächsten Einmündung ein gelbes Auto mit hohem Tempo aus einer Gasse heraus kommen und eine Vollbremsung machen. - Das gibt’s doch nicht! Diese wütende Visage hinter dem Steuer, das ist doch der Lange.

Sofort zog er mit dem Fahrrad nach links, knapp an der Stoßstange eines Lieferwagens vorbei, auf den schmalen Grünstreifen in der Straßenmitte und dann durch eine Lücke im Gegenverkehr zum jenseitigen Bürgersteig. - Keine Ahnung, ob er mich gesehen hat. Aber er muss ja eh warten, bis ihn einer in die Kolonne rein lässt. Und dann muss er erst mal in diese Richtung weiterfahren bis zur nächsten Wendemöglichkeit.

Bis dahin bin ich längst weg. Die nächste Abzweigung nach links ist mein, und dann kommen viele schmale Straßen und Fußgängerwege, durch die ich mich davonmachen kann.




***


1. Bernd

 

„Die Erste!“, brüllte Frank direkt hinter Bernds Ohr. Der verriss das Lenkrad und wäre beinahe in den Nebenmann gekracht. Bernd hielt sich was darauf zugute, mit den zweispurigen Kreisverkehren in Frankreich klarzukommen, was seiner Erfahrung nach wenige Deutsche auf die Reihe bekamen, und jetzt war er dank Franks Hilfe gefahren wie der letzte Anfänger. Entsprechend aggressiv fuhr Bernd den Mitfahrer an: „Kannst du bitte aufhören, den Fahrer zu irritieren!“ Er schlug das Steuer stärker ein. „Jetzt habe ich die Ausfahrt verpasst.“

Genervt fuhr Bernd eine Extrarunde, verließ dann den kleinen Kreisverkehr und bog in die Straße, die Frank ihm angewiesen hatte – und die er sowieso hatte nehmen wollen. Die Straße war holprig. Ein paar verstreut stehende Häuser ließen den Betrachter im Unklaren darüber, ob es sich um eine Ortschaft handelte oder nicht. Das schien für Lothringen typisch zu sein. Ebenso typisch war die unzureichende oder nicht vorhandene Beschilderung der Straßen.

Abgesehen von diesen Kleinigkeiten freute Bernd sich auf das Wochenende. Raus aus dem Alltag und möglichst weit weg von seinem Job, der ihn in letzter Zeit immer mehr belastete. Nicht nur nahm das Arbeitsaufkommen der kleinen Werbeagentur bei gleichbleibender Mitarbeiterzahl stetig zu, dazu kam noch, dass Hartmann, der Chef der Agentur, Bernd immer öfter – und oft zu Unrecht – tadelte.

Dabei ist es doch kein Wunder, dass man Fehler macht, wenn der Druck immer stärker wird!

Der gestrige Tag war ein neuer Höhepunkt in der Reihe frustrierender Episoden gewesen: zuerst das endlose, nervenaufreibende Meeting mit den pingeligen Leuten von Krantz & Co und dann der Zoff wegen des Fehlers in den Entwürfen für die Pflegemittelkollektion – ein falsch eingebundenes Grafikobjekt, und das eine Stunde vor Abgabe. Hartmann hatte geschrien wie ein Missionar am Bratspieß.

Natürlich hatte er, objektiv betrachtet, nicht ganz unrecht. Vielleicht sollte Bernd sich wirklich einmal Gedanken über eine sorgfältigere Arbeitsweise machen. Das könnte ihm Stress und unnötige Mehrarbeit ersparen. Andererseits sagte er sich: wenn ich einen Ordnungszwang hätte, wäre ich nicht Grafiker, sondern Buchhalter geworden.

Dass dieser Gedanke mehr über Bernd als über seinen Beruf aussagte, war ihm nur am Rande bewusst. Was zählte, war die Konsequenz, die er daraus zog. Seit gestern dachte Bernd offen darüber nach, sich eine andere Stelle zu suchen. Seine Kollegin Anja war schockiert gewesen, als er ihr während einer kurzen Kaffeepause davon erzählt hatte. Anja war nicht nur eine gute Freundin von Bernd sondern eine Ex, mit der er sich immer noch blendend verstand.

Während Bernd das Asphaltband der Straße entlang fuhr, das aussah, als sei es auf die hügelige Landschaft aufgeklebt, schaute er kurz in den Rückspiegel und suchte Anjas Gesicht. Dann kehrte er in Gedanken zum Ausklang des gestrigen Arbeitstages zurück.

 

Durch die Glastrennwand am Ende seines Büros konnte er Anja sehen, die sich auch gerade auf den Feierabend vorbereitete. Als er ihr dabei zusah, wie sie ihre blonde Mähne mit dem Kamm bearbeitete, fiel ihm Doris' Anruf wieder ein. Sie hatte Bernd erzählt, dass ihr Schulfreund Eddie sie beide für das Wochenende zu einer großen Party im Grünen eingeladen hatte. Eddie wohnte in Frankreich, etwa 40 Kilometer hinter der Grenze – weit genug, um sich nicht mehr als Steuerflüchtling bezeichnen lassen zu müssen.

Bernd hatte nicht schlecht gestaunt, als Doris ihm vorschlug, er solle doch Anja fragen, ob sie Lust hätte, zu der Party mitzukommen. Für Bernd war dies ein gänzlich unerwarteter Vorschlag. Eigentlich hätte nach seiner Einschätzung der weiblichen Psyche das „Ex-Phänomen“ so etwas von vornherein ausschließen müssen. Eher hätte Doris bereit sein müssen, drei giftige Kreuzottern zu der Party mitzunehmen als Anja. Aber was Frauen betraf, musste Bernd immer wieder erkennen, dass sich die Gesetzmäßigkeiten, die er sich erarbeitet hatte, selten mit der Wirklichkeit deckten. Wahrscheinlich wollte Doris integrierend wirken und Bernd beweisen, dass sie keine Probleme mit seiner Verflossenen hatte. Das war typisch für Doris. Bernd hätte sich gewünscht, dass sie diesen ganzen Sozial-Mist einfach in dem Heim für problematische Jugendliche lassen würde, wo er hingehörte, und dass sie nach Feierabend eine ganz normale Frau sein konnte, gern auch mit einem bisschen Eifersucht, so wie Bernd es von früheren Partnerinnen gewohnt war. Er redete ja zu Hause auch nicht ständig über Encapsulated Postscript oder Randbeschnitt.

In einer Hinsicht deckte sich die Realität dann doch wieder mit Bernds Erfahrungen. Als ihm – sein Blick immer noch versonnen auf Anjas schlanker Figur im Nebenraum ruhend – siedend heiß einfiel, dass just für dieses Wochenende Frank sich zu einem Besuch angekündigt hatte, war ihm heiß und kalt geworden und er hatte gewusst, dass es Ärger geben würde, denn aus unerfindlichen Gründen war Frank ein rotes Tuch für Doris. Schon bei ihrem ersten Aufeinandertreffen auf einem Weihnachtsmarkt vor mehreren Jahren – damals waren alle Anwesenden schon etwas angeheitert – hatte Doris Frank als Schwätzer klassifiziert. Und da sie dank ihrer Menschenkenntnis immer auf ihren ersten Eindruck vertraute, war Frank damit als Unsympath abgestempelt, ohne jemals eine Chance zu bekommen, diese Einschätzung zu korrigieren.

Aber Bernd konnte Frank unmöglich absagen. Und er wollte es auch nicht. Frank war der älteste Freund, den er hatte, und sie sahen sich selten genug, seit Frank einen Anzugjob in Frankfurt hatte. Warum konnte Doris nicht auch mal integrierend wirken, wenn es um Frank ging? Entweder hörte an dieser Stelle das sozialarbeiterische Verantwortungsgefühl auf oder es war eh alles nur Geschwätz – vorgeschoben, um ihre Vorlieben zu rechtfertigen. Wie dem auch sei, es gab nur einen Weg: Frank musste mit zu der Party. Das würde Doris gar nicht schmecken, aber Bernd würde nicht nachgeben – diesmal nicht.

 

Entsprechend war Doris’ Laune schon während der ganzen Fahrt. Sie saß vorn neben Bernd, und Frank ganz hinten neben Anja. Dazwischen, auf der mittleren Sitzreihe des Van, saßen Erik und Christiane.

 

 

2. Erik

 

Auch Erik war in Gedanken versunken. Er hatte Christianes Freundin Doris zwar schon einige Male getroffen, aber deren Partner Bernd heute Morgen erst kennengelernt, und er wurde nicht recht schlau aus ihm. Ein besonders harmonisches Paar schienen er und Doris nicht gerade zu sein, auch wenn das Einfamilienhaus, in dem sie wohnten, zunächst auf glückliche Kleinfamilie schließen ließ. Alles sah schön ordentlich aus mit dem Gärtchen drumherum und den Hecken gegen direkten Einblick.

Die andern beiden, die die Wochenend-Partygesellschaft vervollständigten, waren sich anscheinend ebenfalls heute früh zum ersten Mal begegnet. Sie machten auf Erik den Eindruck von Erfolgsmenschen ohne Tiefgang. Von solchen Leuten hielt Erik sich normalerweise fern. Auf eine Weise, die er sich nicht erklären konnte, ließ ihre Souveränität ihn sich in ihrer Gegenwart unwohl fühlen.

Das Erste, was er und Christiane bei ihrem Eintreffen mitbekamen, war ein lautstarker Streit zwischen dem Schönling – Frank – und Doris.

Als Erik daran zurückdachte, verkrampfte sich sein Inneres leicht.

 

Rasant – und nach Christianes Maßstäben wahrscheinlich beängstigend knapp – parkte er den Golf GTI zwischen einem roten Mercedes und einem metallic-grünen Kleinbus ein – oder einem Mini-Van, wie man das heutzutage wohl nannte. Als er den Motor abstellte, konnte er es sich nicht verkneifen, Christiane stolz anzulächeln. „Na, wie war ich?“ Das sollte eine Anspielung auf die Klischee-Frage nach dem Sex sein und entsprach Eriks Verständnis von skurrilem Humor, eine Anwandlung, die er manchmal selbst nicht recht verstand.

„Phantastisch!“ antwortete seine Freundin mit unbewegter Miene.

Wie so oft, war Erik sich nicht sicher, ob Christiane damit auf seinen Scherz einstieg oder ob sie seine Frage für ernst genommen hatte und ihn mit ihrer Antwort auf den Arm nahm. Kommunikation konnte schon ganz schön schwierig sein. Am besten hätte Erik vielleicht gar nichts gesagt. Er traute es Christiane zwar nicht zu, sich über ihn lustig zu machen, aber ganz sicher war er sich nicht, und das machte ihm manchmal zu schaffen – nicht dass er das jemals zugegeben hätte.

Aber der Tag hatte gut angefangen, die Sonne schien und Christiane war guter Dinge. Das war das Wichtigste. In den letzten Wochen war es beileibe nicht immer so gewesen, aber da hatten ihr ja auch die Prüfungen im Nacken gesessen, und ihre Eltern, die ihr Druck machten, das Studium so schnell wie möglich abzuschließen. Und Erik hatte sich vielleicht auch nicht so um sie gekümmert, wie sie es sich vielleicht von ihm gewünscht hätte. Aber er war nun mal nicht der Typ, der viele Worte machte. Man konnte sich doch auch ohne viel Gerede verstehen. Wenn es nach Erik ginge, bräuchte Christiane das Studium eh nicht zu beenden. Er hatte doch einen Bombenjob, und außerdem gab es ohnehin schon viel zu viele arbeitslose Akademiker. Sie hielt ja so viel von Unabhängigkeit. Das war doch Unsinn. Na ja, heute würde er das Thema bestimmt nicht anschneiden, dafür lief bis jetzt alles zu gut.

Arm in Arm gingen sie an der dichten Hecke entlang, die das Grundstück mit den Obstbäumen und dem Gemüsegärtchen von der Straße abschirmte. So etwas schwebte Erik für später auch vor, natürlich etwas ordentlicher, und mit zwei Kindern oder so. Andere mochten das spießig finden, ihm gefiel es. Vielleicht konnte er Christiane irgendwann auch mal dafür begeistern. Impulsiv zog er sie an sich, und Christiane schmiegte sich weich in seine Arme.

„Freust du dich auf den Ausflug?“ flüsterte sie in sein Ohr.

„Türlich“, versicherte er ihr und drückte sie fester. In Wirklichkeit hätte er jetzt viel lieber mit ihr im Bett gefrühstückt und sich das Vormittagsprogramm im Fernsehen angeschaut. Aber diese Doris schien einen unheimlich starken Einfluss auf ihre Umwelt zu haben. Seit Christiane ihr Praktikum in diesem Heim für problematische Kinder und Jugendliche gemacht und sie dort kennengelernt hatte, war Doris für sie zu einer Art großer Schwester geworden.

Kopfschüttelnd folgte Erik seiner Freundin über den Bruchsteinpfad zur Haustür. Als er die aufgeregten, lauten Stimmen durch das geöffnete Küchenfenster hörte, dachte Erik: Au Backe, wo sind wir da hingeraten. Das Gespräch, wenn man das Geschrei so nennen konnte, drehte sich um eine Sauerei und rote Spritzer auf der Tapete und ähnliches. Das ließ ja für das bevorstehende gemeinsame Wochenende das Schlimmste befürchten.

 

 

 

***

 

 

Der Mann hatte das Kinn in die Hand gestützt. Sein Blick ruhte auf einem Stapel teilweise beschriebener Blätter auf dem Tisch. Die Wirtshausszenerie um ihn herum, die er in einem anderen Moment vielleicht als romantisch-rustikal bezeichnet hätte, nahm er jetzt überhaupt nicht wahr. Der Wirt, traditionell mit Lederschürze bekleidet, warf ab und zu, wenn er mit einem Tablett voller Gläser vorbeikam, einen halb interessierten Blick auf die vielen vollgekritzelten Blätter. Fand er das Glas leer neben dem älteren Mann stehen, nahm er es mit fragender Miene auf, worauf ihm ein stummes Nicken bedeutete, es durch ein neues zu ersetzen.

Herrgott, es kam einfach nicht wie sonst. Die Faust, im Begriff auf die Tischplatte zu donnern, wurde im letzten Moment abgebremst und legte sich mit gezwungener Ruhe neben den Papierstapel. Der Mann nahm einige Blätter auf und sah sie noch einmal durch. Wie meist bei seiner literarischen Arbeit war der Anfang chaotisch. In einer Art Brainstorming schrieb er alles nieder, was ihm zu seinem Thema in den Sinn kam. Damit nichts vergessen wurde. Dann wurde zur Grundidee – die musste natürlich stehen, sonst lief gar nichts – das Handlungsgerüst erstellt. Und dann fanden sich nach und nach die restlichen Zutaten.

Mit gutturalem „Et voilà“ wurde ein voller Krug neben ihm abgestellt. Wieder deutete dem Wirt nur ein stummes Nicken an, dass der Gast die Ankunft des Getränks wahrgenommen hatte.

Seine Aufmerksamkeit war auf das Blatt in seiner Hand gerichtet, das er mit kritischer Konzentration las:

 

Es war schon ein Ärger mit dem Wagen. Musste er sie ausgerechnet einen Tag vor der Wochenendfahrt im Stich lassen. Sie hatte sich so auf die Fahrt aufs Land gefreut, aber nun argwöhnte sie, ob der Besuch nicht unter einem schlechten Zeichen stand. Der gemietete Wagen war bei aller Bequemlichkeit kein Vergleich zu ihrer eigenen Limousine, und das, obwohl der Mann beteuert hatte, dies sei sein bestes Stück.

Die Beinfreiheit ließ sehr zu wünschen übrig. Kritisch schaute sie an ihren Waden entlang, ob ihre Strümpfe vielleicht schon eine Laufmasche gezogen hatten. Aber die Sorge war unbegründet, und so zwang sie ihre Gedanken in angenehmere Bahnen zurück.

Was für ein Menü würde die Gesellschaft wohl erwarten? Ihr Gastgeber hatte sich wie immer in geheimnisvolles Schweigen gehüllt. Ob er sie wieder mit solch einem fantastischen Rehrücken verwöhnen würde? Und gefüllte Perlhuhnbrüstchen? Sie konnte kaum den Moment erwarten, wenn sie an der Tafel Platz genommen haben würde, und die Speisen in festlicher, aber nicht zu steifer Atmosphäre aufgetragen würden. Und wer würde wohl an dem Dinner teilnehmen? Auch darüber hatte er sich ausgeschwiegen. Ihre Miene verdüsterte sich und sie schaute missmutig aus dem Fenster. Es war ihr zuwider, so auf die Folter gespannt zu werden.

Noch dazu wurde das Wetter zunehmend schlechter. Seit sie die Stadt hinter sich gelassen hatten und Felder und Wiesen den Weg säumten, verdunkelte der Himmel sich von Minute zu Minute. Dazu wurde die Besiedlung spärlicher. Nur ab und zu lagen in einiger Entfernung von der Straße Bauernhöfe verstreut, deren Erscheinungsbild durch das düstere Licht etwas Abstoßendes hatte. Der Wagen schien direkt in eine Höhle hineinzufahren, deren Decke das dräuende Grau der Wolken bildete. Wenn man den Horizont beobachtete, wurde die Illusion zerstört. Die Wolken zogen mit hoher Geschwindigkeit über den Himmel. Wie eine Grabplatte, die sich über der Gruft schließt. Unwillkürlich schüttelte die junge Frau sich. Dabei hatte es am Morgen noch nach einem strahlend schönen Tag ausgesehen. Aber man würde ja gemütlich im Warmen sitzen, und im Kamin würden die Holzscheite knistern.

Der Wagen bremste leicht ab und nahm eine langgezogene Kurve. Auf dem Ackerstück, das sie umfuhren, stieg ein Bauer von seinem Traktor ab, um sich an der angehängten Egge zu schaffen zu machen. Er wandte den Kopf und sah dem Wagen nach, der leise schnurrend an ihm vorüber fuhr.

 

 

 

***

 

3. Anja

 

Als sie aus dem Bus gestiegen war und sich umgeschaut hatte, war Anja die Wohngegend zuerst ziemlich spießig erschienen, was so gar nicht zu Bernd passte. Offensichtlich war Doris nicht der Typ für Innenstadt und alternativen Altbau, für den Anja sie gehalten hatte, sondern schien mehr auf Vorstadtidylle zu stehen.

Als Anja noch mit Bernd zusammen gewesen war, hatte er in einer WG im Studentenviertel der Stadt gewohnt, übergangsweise, wie er gesagt hatte. Die Wohnung war groß und unordentlich eingerichtet gewesen, und in Bezug auf die Reinlichkeit der Mitbewohner hatte Anja Zweifel gehegt. Deshalb hatten sie die gemeinsamen Abende meist in ihrer eleganten Zweizimmerwohnung am Rand der historischen Altstadt verbracht. Versonnen lächelte sie in sich hinein und dachte ohne Wehmut an ihr gemeinsames Jahr. Sie hatten viel Spaß miteinander gehabt, aber irgendwie hatte Bernd sich in ihrer aufgeräumten Wohnung immer wie ein Fremdkörper gefühlt. Ihr selbst war es mit seiner verlotterten WG genauso ergangen. Das sagte eigentlich schon alles. Zwei Welten hatten sich flüchtig berührt, einen wilden Tanz gewagt und waren wieder auseinander gedriftet, nicht ohne dass jeder von ihnen ein warmes Gefühl für den anderen zurückbehalten hätte. Dass aus einer Romanze eine Freundschaft werden konnte, hätte Anja davor nicht für möglich gehalten. So etwas gelang wohl auch nur mit einem so unkonventionellen Typen wie Bernd.

 

Der Joint, den ihr Nebenmann ihr unter die Nase hielt, beendete Anjas gedanklichen Ausflug. Lächelnd nahm sie die übergroße Rauchware entgegen und zog daran. Sie würde den Teufel tun und sich vor diesem Frank eine Blöße geben, noch dazu, wo er offensichtlich Bernds bester Freund war – ein Freund, der zu ihrer gemeinsamen Zeit gerade beruflich in der Schweiz weilte und dermaßen eingespannt war, dass sie sich nie kennengelernt hatten. Schade eigentlich – oder vielleicht eher ein Glück, sonst hätte die Beziehung mit Bernd womöglich eine noch kürzere Verfallszeit gehabt.

Anja musste schmunzeln bei dem Gedanken und Frank schaute sie von der Seite her lächelnd an. „Ganz guter Stoff, oder?“

Anja nickte stumm, das Lächeln erwidernd und tippte der Frau im Sitz vor ihr auf die Schulter.

 

 

4. Christiane

 

Christiane nahm den Joint entgegen. Erik schaute zwar nicht missbilligend zu ihr herüber, als sie daran zog, aber da sie wusste, was er von Kiffern hielt, war auch kein Blick nötig, um ihr einen leichten Stich zu versetzen. Das nervte sie. Konnte er nicht mal etwas lockerer sein? Es war schließlich nicht so, als ob sie sich eine Nadel in den Arm stechen würde. Und den Unsinn von der Einstiegsdroge glaubte doch heutzutage auch niemand mehr.

„Hier, gib’s dir, Baby“, sagte sie absichtlich provokant und hielt Erik das qualmende Gebilde vor das Gesicht, um ihm endlich eine Reaktion zu entlocken.

Zu ihrer Überraschung nahm Erik ihr die Tüte aus der Hand und zog daran, wenn auch etwas zaghaft. Er unterdrückte den Hustenreiz, schaffte sogar ein Lächeln und gab nach vorne zu Doris weiter.

Er schafft es doch immer wieder, mich zu überraschen und aus dem Klischee herauszutreten, das ich mir von ihm zusammengebastelt habe. Bei diesem Gedanken spürte Christiane eine angenehme Wärme durch ihren Körper fluten. Jetzt schöpfte sie langsam wieder Mut und Hoffnung, dass es ein schönes Wochenende werden würde. Heute früh waren die Aussichten darauf noch denkbar düster gewesen.

 

Als sie mit Erik zusammen in die Küche kam, trat abrupte Stille ein. In der Mitte des Raums standen Frank und Doris sich gegenüber wie zwei Ringer, bereit sich aufeinander zu stürzen. Am Boden zwischen ihnen lag ein zerbrochenes Einmachgläschen und in weitem Umkreis darum herum war Marmelade verspritzt. Als sie die Neuankömmlinge bemerkte, kam Doris herüber, um Christiane zu begrüßen. Ihr Kuss fiel etwas flüchtig aus und auf Christianes Nachfrage stöhnte sie nur: „Männer!“

„So früh am Morgen schon so fröhlich?“, konnte Christiane schlagfertig antworten. Dann schob sie ihre gefrustete Freundin mit sanfter Gewalt aus der Küche, fort von den Widrigkeiten des Lebens.

Kurze Zeit später saß sie in Doris' Zimmer auf dem Bett und sah der andern zu, wie sie mit dem Kamm in der Hand an ihrem Frisiertisch saß und sich unschlüssig im Spiegel betrachtete.

Christiane hatte schnell gemerkt, dass das zerbrochene Marmeladenglas nur der Tropfen gewesen war, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Die Ursache für Doris’ schlechte Laune saß tiefer.

Doch zunächst stand ein anderes Problem im Vordergrund. „Soll ich die Haare aufrollen oder einfach zusammenstecken?“ fragte Doris. Als Christiane nicht gleich antwortete, fügte sie erklärend hinzu: „Lohnt es sich, Arbeit in eine schöne Frisur zu investieren?“ Doris sah ihre Freundin durch den Spiegel an und zuckte die Schultern. „Wer weiß, wie die Party endet. Und ob wir nicht morgen früh in Bier- und Sektlachen aufwachen. Das Ganze wird ohnehin wieder in ein wüstes Gelage aus Saufen und Kiffen ausarten.“

„Komm, Doris, jetzt übertreibst du aber maßlos“, unterbrach Christiane die Tirade. „Und ganz egal, wie die Party wird, es gibt keinen Grund, wie ein Aschenputtel herumzulaufen.“

Seufzend nahm Doris den bereitliegenden Lockenstab zur Hand, und während sie sorgfältig ihre Frisur in Form brachte, vertraute sie ihrer Freundin die Sorgen an, die sie momentan mit Bernd hatte. „Wir sind an einem Tiefpunkt unserer Beziehung angelangt. Die Wurzel des Übels liegt, glaube ich, in Bernds Job. Unter dem leidet er momentan ganz arg. Und wie Männer eben sind, strahlt dieses Problemfeld auf alle anderen Bereiche seines Lebens aus. Da er in seiner Firma so viel zu tun hat, kommt er ständig spät nach Hause. Wir verbringen kaum noch Zeit miteinander, und wenn doch, ist er meistens genervt und übellaunig. Dann ist nichts mit ihm anzufangen. Sex schon gar nicht.“

„Wieso hast du dann diese Anja eingeladen, wenn du eh schon genug Probleme in deiner Beziehung hast?“, fragte Christiane verständnislos.

„Ich will sehen, wie Bernd reagiert, wenn seine Traumfrau dabei ist. Nach wie vor bin ich der Meinung, dass sie viel besser zu ihm passt als ich.“

„Was hast du denn für ein Bild von dir...“ wollte Christiane dazwischenfahren, doch Doris ließ sie nicht ausreden.

„Das stimmt schon. Ich weiß, wo ich stehe. Die Idee, Bernd und Anja zusammenzubringen, war, um es mal ganz sachlich auszudrücken, ein Experiment. Wenn er – im Worst Case – wieder zu ihr zurück geht, hätte ich es wenigstens kurz und schmerzlos hinter mir. Vielleicht wäre auch etwas gänzlich Unerwartetes passiert. Aber dann muss ausgerechnet dieser Frank dazwischen platzen und alles kaputt machen.“

„Den kannst du ja richtig gut leiden“, bemerkte Christiane.

 

Christiane bemerkte, dass Doris sie im Spiegel in der heruntergeklappten Sonnenblende des Autos beobachtete. Um das leise Schuldgefühl, beim Grübeln beobachtet worden zu sein, zu vertreiben, streckte sie ihrer Freundin spielerisch die Zunge heraus.

Sie wusste nicht, dass Doris ebenfalls an das morgendliche Gespräch in ihrem Zimmer dachte; sogar genau der gleiche Satz, den Christiane, auf ihrem Bett sitzend und die Arme hinter sich abstützend, gesagt hatte, ging Doris in diesem Moment durch den Kopf: Den kannst du ja richtig gut leiden. Doris schmunzelte bei der Erinnerung. Mit ihrem feinen Sarkasmus hatte Christiane es schon häufig geschafft, sie aus Anflügen missmutiger Stimmung herauszureißen.

 

 

5. Doris


Objektiv betrachtet wusste Doris nicht, woher ihre Abneigung gegen Bernds Kindheitsfreund kam. Frank war nett, er gab sich Mühe; man konnte ihn sogar aufmerksam und zuvorkommend nennen – Eigenschaften, die Bernd meist vermissen ließ. Aber irgendetwas störte Doris an Frank. Sie hätte nicht sagen können, was es war, außer dass sie einfach keine gemeinsame Wellenlänge im Umgang miteinander fanden.


Während sie Sachen zum Anziehen zusammensuchte, gestand sie Christiane: „Seltsamerweise habe ich mit Anja in dieser Hinsicht überhaupt keine Probleme. Ich habe sie vor heute erst einmal getroffen, aber sie hat so eine offene Art, die auch gut zu dem Typus der hageren Blonden passt, und da hat es mich nicht im geringsten gestört, dass es sich um eine Ex von Bernd handelt.“ Und dass Anja so völlig anders als sie selbst war, spielte natürlich auch eine Rolle, aber das sagte sie Christiane nicht. Trotzdem, vielleicht lag gerade darin der Grund für ihre Sympathie? Und lag ihre Abneigung Franks gegenüber vielleicht daran, dass er Doris zu ähnlich war?

Eigentlich war ihr der Grund ziemlich egal. Nachdem sie sich mit Christianes motivierender moralischer Unterstützung dazu aufgerafft hatte, ihre Haare zu machen, sank ihre Laune nun wieder. Wahllos warf sie Kleider in einen Rucksack. „Wie dem auch sei, das Experiment ist vereitelt und das Wochenende ruiniert.“ Sie stopfte ein T-Shirt in den überfüllten Sack und zerrte es gleich darauf wieder heraus. Mit verärgerter Miene ließ sie sich neben Christiane aufs Bett fallen. „Seit Wochen habe ich mich auf dieses Fest gefreut und nun kommt aus dem Nichts dieser Frank und drängt sich so mir nichts, dir nichts da hinein! Ich weiß genau, wie das wird. Er und Bernd werden aneinander kleben, kiffen und sich volllaufen lassen. Und dann verwandeln sie sich in Zwölfjährige und reißen einen blöden Gag nach dem andern. Wahnsinnig spaßig, kann ich dir sagen.“ Sie imitierte ein hohles Lachen, das in Verbindung mit ihrem wütenden Gesicht genau die entgegengesetzte Wirkung hatte. Christiane prustete los, und nach einem erbosten Blick musste schließlich auch Doris lachen. „Ist doch wahr, oder nicht?“

„Aber genau deshalb darfst du auf keinen Fall schmollend in der Ecke sitzen“, entgegnete Christiane. „Lass dich gehen. Wir machen es genauso wie die Kerle. Warte mal ab, wie Bernd reagiert, wenn er sieht, wie gut du dich amüsieren kannst. Heute Abend wird einer draufgemacht, dass den Herren der Schöpfung der Mund offen stehen bleibt. Und das Auto kann morgen früh fahren, wer will. Wir beide jedenfalls nicht.“

Doris' Miene hellte sich auf. Sie zögerte noch kurz, dann stand sie auf. „Du hast recht. Und das bekräftigen wir, indem wir gleich mit einem zünftigen Sektfrühstück anfangen.“ Sie kramte eine Flasche Cremant d’Alsace aus dem hintersten Winkel des Kleiderschranks. „Ein Geschenk von Bernd zu was-weiß-ich für einem Anlass; ist zwar ein bisschen warm, aber was soll’s.“

Christiane stand vom Bett auf. „Das ist doch schon viel besser. Wollen doch mal sehen, ob wir uns heute amüsieren oder nicht.“




***



Die Zeit verging wie im Flug. Und das Radfahren machte richtig Spaß. So etwas hatte er zuletzt vor acht oder zehn Jahren gemacht. Danach war die Lust zu sportlicher Betätigung durch andere Interessen verdrängt worden. Aber daran wollte er jetzt nicht erinnert werden. Lieber lenkte er seine Gedanken zurück aufs Jetzt.

Nachdem er aus der Stadt heraus war, hatte die Dröhnung langsam nachgelassen. Dagegen musste etwas getan werden, und so hatte er freihändig fahrend das Plastiktütchen hervorgezogen und seine Beute durchgesehen: eine Handvoll LSD-Tickets, ein bisschen Speed und jede Menge Pillen. Mann, Mann, Mann, diesen Dealer hatte er ganz schön erleichtert. Und das hatte der auch verdient. Den konnte keiner leiden, weil er so teuer war und immer mit den Portionen knauserte. Und wenn man mal kein Kleingeld hatte, rückte er keinen Krümel raus. So ein Arschloch. Da war Kalle doch kulanter. Aber der saß ja leider.

Nach einer Prise Speed für die sofortige Verfügbarmachung der Kraftreserven (guter Werbespruch, das) – denn das Radfahren war ganz schön anstrengend auf Dauer – und einem Trip für den späteren Kick war er dann gemütlich weiter geradelt. Topfit hatte er sich auf einmal gefühlt. Und so hatte er stundenlang die sommerliche Landschaft durchstreift, meistens ganz in seine eigene Welt eingehüllt. In einem etwas klareren Moment, als ihm sein unmöglicher Fahrstil bewusst wurde (erinnerte er sich da ganz dunkel an ein langgezogenes Hupen?) war er in einen Feldweg eingebogen und hatte sich seither von belebten Straßen ferngehalten.

Heute war ein besonderer Tag, das spürte er ganz deutlich. Er fühlte sich ... beschwingter. Optimistischer. Auf jeden Fall besser. Und zwar ziemlich genau seit dieser seltsamen Begegnung mit dem alten Mann heute Morgen. Das war kurz nachdem er sich mit einem gefälschten Rezept ein Medikament auf Morphium-Basis besorgt hatte. Als er, ganz in Gedanken, die Apotheke verlassen wollte, war er fast mit dem Mann zusammengestoßen. Ihre Hände hatten sich kurz berührt, als beide nach der Türklinke griffen, und er hatte so etwas wie einen leichten elektrischen Schlag gespürt, wie man es manchmal erlebt, wenn man mit Gummisohlen auf Teppichboden gelaufen ist und dann ein metallenes Möbelstück anfasst. Der alte Mann hatte wohl das gleiche gespürt und sie hatten einander für einen kurzen Moment erschrocken angestarrt. Dann war er schnell an dem Mann vorbei ins Freie geschlüpft. Kurz darauf hatte er dann den Langen getroffen – er musste schmunzeln, als er jetzt wieder daran dachte.

Der Lange würde ihn nicht mehr finden. Der starke Verkehr in der Innenstadt dürfte ihn noch ziemlich lange aufgehalten haben. Und woher sollte er wissen, wo er suchen sollte. Nach ein paar Runden durch die Vorstadtviertel würde er es wohl aufgegeben haben.

Er war in Sicherheit. Raus aus der Stadt. Über die weitere Zukunft machte er sich keine Gedanken. Das lag nicht in seiner Natur. Seit er seine Lehrstelle verloren hatte – wegen eines Fehlers, den ein anderer verschuldet hatte – lebte er in den Tag hinein, ohne langfristige Pläne zu machen. Was er tat, tat er meist impulsiv. So hatte es auch kaum einer Überlegung bedurft, dem Langen eine zu verpassen und ihm die kleine Tüte mit seinen Vorräten aus der Hand zu reißen. War doch selbst schuld, dieser Depp, wenn er alles so offen mit sich herumschleppte und auch noch jedem herzeigte. Und als der Halsabschneider ihm dann nichts geben wollte, weil er nur einen Zehner hatte – da hatte er es sich eben genommen. Und nun hatte er einen ordentlichen Vorrat an Stoff, und noch dazu gratis!

Mit einem Lächeln richtete er sich im Sattel auf und fuhr einen leichten Hang freihändig hinunter. Es war cool, so durch die Natur zu radeln mit einem leichten Sommerwind in den Haaren. Die Landschaft nahm langsam eine leuchtend grüne Farbe an, wie mit Neon-Sirup überzogen. Die Konturen wurden schärfer, greller, und traten überdeutlich hervor, der asphaltierte Weg hatte mehrere farbige Säume an den Rändern. Manchmal standen bunte Gegenstände in grünen Feldern und leuchteten in den unmöglichsten Farben. So geil war die Natur ihm noch nie erschienen. Neongrüne Bäume? Er kicherte vor sich hin, und als das Vorderrad über einen Stein rumpelte, griff er schnell wieder nach dem Lenker.

Die Zeit verging wie im Flug.




***



6. Frank


„He, hier sind wir falsch gefahren.“

„Unsinn.“ Souverän tat Bernd Franks Einwand ab.

„Doch. Auf dem Schild an der Ortseinfahrt stand gerade ‚Remelfing‘. Da sind wir schon mal vorbeigekommen.“

„Nein, das war Remering.“

„Was?“

„Nicht Remelfing – Remering. Das war ein anderer Ort.“

„Remering – Remelfing!“ Frank schnaubte. „Wer soll denn da durchblicken. Die Franzosen haben wirklich bescheuerte Ortsnamen, muss ich schon sagen.“

„Dann findest du also Ormesheim und Ommersheim oder Güdingen und Bübingen weniger verwirrend?“ fragte Bernd, auf wohlbekannte Dörfer in ihrer Nachbarschaft verweisend.

„Haarspalter.“

„Das hat nichts mit den Franzosen zu tun. Das ist, weil du schon total bekifft bist. Du kannst doch auch Frankfurt und Schweinfurt auseinanderhalten, oder?“ Offenkundig war Bernd wieder in bester Debattierlaune.

Frank griff sich an den Kopf. Er überlegte kurz, ob er einfach den Mund halten sollte, aber der Reiz war zu groß. Und warum auch nicht? Obwohl es meistens ein Fehler war, auf Bernds Gespräche einzusteigen, wenn er in dieser Stimmung war. Also konterte Frank: „Ich dachte immer Schweinfurt sei das Bahnhofsviertel von Frankfurt.“

Wie erwartet nahm Bernd den Ball auf und gab ihn zurück. „Das kommt nur daher, dass ihr jungen Leute heutzutage in der Schule nichts Anständiges mehr lernt.“ Frank war vielleicht drei Monate jünger als Bernd, aber das interessierte an dieser Stelle wohl nicht. „Nur noch Betroffenheitskunde und Emanzipologie.“

„Wattebäuschchenwerfen hast du vergessen“, fügte Frank an, um wenigstens einmal zu punkten.

Oh weh, dachte Doris, wenn das jetzt schon so losgeht, wie soll es dann erst heute Abend werden? Sie schaute aus dem Augenwinkel auf die Weinflasche, die Christiane in der Hand hielt. Sie war fast leer. Von hinten wurde ein Joint zu ihr durchgereicht, und sie wollte ihn schon ohne zu zögern weitergeben. Dann fasste sie einen spontanen Entschluss. Sie wollte auf keinen Fall nachher die einzige sein, die einen klaren Kopf hatte, wenn alle andern stoned und besoffen waren. Also steckte sie die Tüte in den Mund und zog zweimal gierig daran, bevor sie sie zu Bernd hinüber reichte.




***



Die Fahrt dauerte an, aber die abwechslungsreiche Landschaft, die an den getönten Scheiben vorbeizog, ließ keine Langeweile aufkommen. Sie lehnte ihre Schulter ans weiche Seitenpolster, ließ sich vom Luftstrom der Klimaanlage streicheln und gab sich einem Tagtraum hin. In Gedanken verwandelte sich der Hauch der kühlen Luft in den Kitzel zarter Hände auf ihrer Haut. Sie hatte ganz bestimmte Hände im Sinn. Seine feingliedrigen Finger, durch den Umgang mit Streichinstrumenten an sanfte Berührungen gewöhnt, liebkosten die bloße Haut ihres Ellbogens und Oberarms, fuhren hinauf bis um die Schulter und unter die leichte Bluse. Durch eine geringfügige Drehung des Oberkörpers konnte sie den Luftstrom so umlenken, dass er sich verteilte und quer über ihre Brust strich, bis hinunter zu den Warzen, die sich durch die Stimulation aufrichteten und verhärteten. Ein wollüstiges Lächeln stahl sich auf ihre Lippen, und sie spürte das zarte Rieseln eines Schauers, der ihren Körper durchbebte. So konnte die Fahrt noch stundenlang weitergehen.




***



„Okay.“

Bernd sagte es so, wie er es in amerikanischen Filmen schon unzählige Male gesehen und gehört hatte. Dabei hielt er die Hände erhoben, als stünde ihm eine bis an die Zähne bewaffnete Hundertschaft Cops mit gezückten Kanonen gegenüber. Das sofort einsetzende Geschrei, das er damit auslöste, rührte daher, dass seine Hände kurz vorher noch das Lenkrad des Autos gehalten hatten, das mit nicht unbeträchtlicher Geschwindigkeit über die Landstraße donnerte. Aber angesichts der widersprüchlichen Anweisungen, die er ständig von allen Mitfahrern gleichzeitig erhielt, sah er sich genötigt, durch drastische Mittel für Ordnung zu sorgen. Leider hatte er sich damit verrechnet, denn Doris griff sofort – wahrscheinlich in guter Absicht – ins Lenkrad und verursachte dadurch fast ein vorzeitiges Ende der Fahrt. Der Wagen schlug einen Haken wie ein flüchtender Hase, was das Geschrei für Sekundenbruchteile noch lauter werden ließ.

Es verebbte dann, als alle ihre Luft zum erleichterten Aufatmen brauchten, nachdem Bernd durch ein wildes Manöver den Van davon abgehalten hatte, sich neben der Straße auf dem Acker zu überschlagen, und ihn stattdessen auf der Gegenspur des schmalen Asphaltbands zum Stillstand gebracht hatte.

Er nutzte die momentane Stille, um sich Gehör zu verschaffen. „So. Von jetzt an macht mir maximal eine Person Vorschläge, wohin ich zu fahren habe. Und das ist diejenige, die die Karte hat.“ Nach einem schnellen Blick in die Runde, fügte er hinzu: „Also Frank. Wenn sonst noch jemand was zu melden hat, dann soll er das bitte mit Frank abklären, okay?“

Schweigen antwortete ihm. Das war entweder ein Zeichen dafür, dass alle seine Mitteilung verstanden und akzeptiert hatten, oder schon eher dafür, dass er sie mit seiner rabiaten Disziplinierungsmethode sprachlos gemacht hatte. Die Stimmung war sowieso nicht bestens. Der morgendliche Zwist zwischen Bernd, Frank und Doris war zwar durch Christianes Vermittlung beigelegt worden, doch er schwelte weiter unter der Oberfläche. Bernd konnte die Anspannung spüren, als sei die Luft im Fahrgastraum des Autos elektrisch geladen. Dass Frank und Doris nicht miteinander konnten, war nicht zu ändern. Nur hatte Frank ein dickes Fell und war eine geborene Frohnatur. Er litt weniger unter der Spannung, während Doris, wie Bernd sie kannte, angesichts des langsam aber kontinuierlich steigenden Levels an alkohol- und marihuana-induzierter Fröhlichkeit all ihre Kraft zusammennehmen musste, um nicht die frisch gewonnene Fassung vollends zu verlieren.

Die belastete Stimmung übertrug sich nach und nach auch auf die anderen Insassen des Wagens. Bei jedem Blick, den Bernd in den Rückspiegel warf, schienen die Gesichter ein kleines bisschen länger geworden zu sein. Kein Wunder, wenn man auf so engem Raum zusammengepfercht war und keine Ausweichmöglichkeit hatte. Seit nunmehr fast zwei Stunden waren sie auf den kurvenreichen Landstraßen des nördlichen Lothringen unterwegs, und die Frage, inwieweit man dem Ziel nähergekommen war, ließ sich nicht eindeutig beantworten. Irgendwann nach der kleinen Ortschaft mit dem steinernen Brunnen in der Straßenmitte hatten sie eine Abzweigung genommen, bei der Marc sicher war, dass sie falsch war. Es hatte eine längere Diskussion gegeben, die zu keiner Einigung geführt hatte, und letzten Endes war es auch gleichgültig, an welcher Stelle sie falsch gefahren waren. Tatsache war, sie hatten sich verfahren, und das gründlich. Der Name des letzten Ortes, durch den sie gekommen waren, fand sich auf der groben Skizze, die Doris im Verlauf eines Telefonats mit Eddie hastig hingekritzelt hatte, nicht wieder. Bernd verkniff es sich, den Gedanken über Frauen und Orientierung weiterzuverfolgen und verzog nur den Mund.

Auch das noch, dachte er dann. Jetzt kam zu dem einen Übel ein weiteres hinzu. Schon seit geraumer Zeit war die Wolkendecke über der vorher frühsommerlich heiteren Landschaft immer dichter, und die fröhlichen Farben der Blüten am Straßenrand zusehends fahler geworden. Und nun öffnete der Himmel seine Schleusen. Innerhalb kürzester Zeit regnete es wie aus Kübeln, und die Sicht beschränkte sich auf kaum mehr als zwanzig Meter. Bernd, der sich rühmte, Autofahren zu können, hatte damit keine Probleme. Im lockeren Landstraßentempo ließ er den Kleinbus über den glänzenden Asphalt surren. Bis Doris plötzlich in ihrer Quengelstimme zu jammern anfing.

„Bernd. Ich glaube, du solltest langsamer fahren. Du siehst doch gar nichts.“ Die Quengelstimme passte überhaupt nicht zu dieser resoluten Frau, und es war auch nur bei ganz seltenen Gelegenheiten, dass Doris in diese Stimme verfiel. Es bedeutete, dass sie kurz vor dem Ende ihrer Nervenkraft war. Was als nächstes folgen würde, hatte Bernd nur einmal erlebt, in der Anfangszeit ihrer Beziehung. Damals hatte er gelernt, die Quengelstimme als Warnsignal und als Mahnung zum sofortigen Einlenken zu verstehen. Und so reagierte er auch jetzt ohne weiteres Zögern. Mit einem unterdrückten Schnauben zwang er sich, ganz sachte auf die Bremse zu drücken, bis der Wagen ohne zusätzliches Gasgeben im dritten Gang dahin rollte.

Ein paar hundert Meter weiter kam ihnen dieser Umstand sehr zupass, weil Frank die Abzweigung bei schnellerer Fahrt garantiert übersehen hätte. Nach einem kurzen Blick auf die Wegskizze entschied er: „Rechts.“

Bernd steuerte den Wagen nach rechts. Dabei fragte er sich, wie Frank wohl zu seiner Entscheidung gekommen war. Hatte er in seinem Kopf eine Münze geworfen oder die Richtung an den Fingern abgezählt?

Mitten in seinen Gedankengang hinein sagte Erik: „Hier sind wir schon mal vorbeigekommen.“

Bernd kannte Erik nicht sonderlich gut und wusste nicht, ob er diese Behauptung einfach so akzeptieren konnte. Er beschloss daher, sie sicherheitshalber erst einmal anzuzweifeln. Aber damit wurde Erik souverän fertig. Er deutete auf einen im Unwetter schwankenden Baum. „Seht ihr die knorrige Eiche mit dem Schild Frischer Honig? An der sind wir schon einmal vorbeigekommen.“

Dieser Feststellung hatte niemand etwas entgegenzusetzen. Stille senkte sich über die Gesellschaft und Bernd konnte im Rückspiegel in den Gesichtern lesen, wie jeder versuchte, mit der Konsequenz dieser neuen Erkenntnis klarzukommen. Es brauchte eine Weile, damit die Tatsache in die Gemüter einsickern konnte, aber es ließ sich nicht leugnen: Sie waren im Kreis gefahren. Also stellte sich jetzt die Frage, ob sie umkehren und an der letzten Gabelung den anderen Weg wählen oder einfach weiterfahren sollten. Das war nicht leicht zu entscheiden, da sie nicht wussten, wie weit sie vom richtigen Weg abgekommen waren.

Frank schlug vor, geradeaus weiter zu fahren – schon deshalb, weil dann alles leichter wiederzuerkennen war als in der Gegenrichtung. Er war überrascht, dass niemand widersprach, und so gab er Bernd ein Zeichen weiterzufahren und bat ihn, an der nächsten Abzweigung auf Wegweiser zu achten. Zum Entziffern müsste dann einer von ihnen hinaus in das Unwetter.

Derweil fiel der Regen wie Bindfäden vom Himmel. Silberne Fäden, die in der Luft zu stehen schienen, wenn man den Blick eine Zeitlang auf ihnen verweilen ließ. Frank ließ sich gerne von solchen scheinbar banalen, alltäglichen Details in Bann schlagen. Er konnte, wenn er sich darauf einließ, über solche Anblicke in meditative Stimmungen verfallen und für Stunden abschalten. Das half ihm, den bisweilen nervenaufreibenden beruflichen Alltag auszubalancieren. Jetzt im Moment half es ihm, Doris zu ertragen. Okay, es ging ihr gegen den Strich, dass Frank zu dieser Party mitfuhr. Aber konnte sie sich nicht mit der Situation abfinden, statt sich in ihrer schlechten Laune zu suhlen? Sie hätte damit sich selbst und allen Beteiligten einen Gefallen getan.



***



Wieder schwebte der Federhalter über dem Papier. Und wieder kam dem Wirt der Vergleich mit einem Greifvogel in den Sinn, der über seiner Beute schwebt. Natürlich hinkte der Vergleich, weil Greifvögel nicht in der Luft stehen sondern kreisen, aber das störte den Wirt nicht. Er hatte diesen Vorgang nun schon einige Male beobachtet und hielt unwillkürlich am Zapfhahn inne. Er wartete, ob die Feder auf das Papier niedersausen und in flinken Bewegungen Wort um Wort darauf werfen würde, oder ob sich die Hand mit dem Federhalter langsam und resigniert neben das Blatt legen würde, wenn die Inspiration den Autor im Stich ließ. Dem Mann, der da allein an seinem Tisch saß, war die Konzentration ins Gesicht geschrieben.


Diesmal schien die Inspiration die Oberhand zu behalten. Mit überraschendem Tempo reihte der Autor Zeile an Zeile, nur manchmal kurz aufblickend, wenn ihm das rechte Wort nicht gleich einfiel.

Was der Wirt nicht wusste, war, dass das schnelle Fließen des Textes lediglich darauf beruhte, dass der Autor dieselbe Szene in leicht variierter Form bereits bei einem seiner vorherigen Werke verwendet hatte. Da ging es um eine adlige Gesellschaft, die mit pferdebespannten Kutschen vor einem Landschlösschen vorfährt, um den erkrankten Vicomte zu besuchen, der sich für die Sommermonate hierher zurückgezogen hat.

Natürlich musste das Drum und Dran angepasst werden. Landschlösschen und Rokoko-Garderobe kamen im aktuellen Buch nicht vor, doch ansonsten passte alles hervorragend. Eben traf eines der Fahrzeuge auf dem kiesbestreuten Vorplatz ein und entlud seinen vornehmen Passagier. Als nächstes stellte sich die Frage, ob man livrierte Diener einbauen sollte. Das war ein wesentlicher Bestimmungsfaktor für das Ambiente, legte fest, in welchen gesellschaftlichen Kreisen das Ganze spielen würde und drückte dem Buch letztlich den Stempel auf.

Andererseits lief der Autor mit einer Dienerschaft in Uniform wieder Gefahr, sich in Klischees zu verrennen. Missmutig nahm er einen langen Schluck aus seinem Bierglas. Als der Krug wieder auf dem Bierdeckel landete, war die Entscheidung gefallen: Er würde einfach weiter schreiben. Die Entscheidung darüber, ob die Diener Livree oder Jeans trugen, konnte später gefällt werden.

Er nahm seinen Füllfederhalter wieder auf. Es war ein recht teures Schreibgerät, und an der Seite war der Name des Autors eingraviert: Wolfgang Nalbach. Das war natürlich nicht der Name, unter dem seine Bücher veröffentlicht wurden. Den hätte er auf so einem edlen Schreibgerät auch nicht eingraviert haben wollen.

Mit einem Kopfschütteln riss Nalbach sich zusammen. Er sollte sich in dieser wichtigen Phase nicht ablenken lassen. Das Werk war noch ganz am Anfang seiner Entstehung, und benötigte seine volle Aufmerksamkeit.

Die Idee zu diesem Werk hatte sich vor etwas mehr als drei Stunden in Nalbachs Geist materialisiert. Was für ein glücklicher Zufall das doch gewesen war. Auf der Heimfahrt von einer Besprechung mit seinem Verleger am frühen Nachmittag hatte er statt der Autobahn eine einsame Landstraße gewählt, um eine kilometerlange Baustelle und den obligatorischen Stau zu umgehen. Dieser Weg hatte ihn quer durch Lothringen geführt. Und während er so auf einer schmalen Straße dahin rollte, die sein Navigationssystem für ihn ausgesucht hatte, war ihm ein Stück abseits ein altes Gemäuer ins Auge gefallen. Dieser Anblick hatte ihm spontan die Idee für einen neuen Roman eingegeben. Seine Phantasie war zu ihrem Flug gestartet, und die Einfälle waren sofort auf ihn eingeprasselt. Das war ungewöhnlich, denn normalerweise tat seine Phantasie sich eher schwer und er musste mit Zettelkästen arbeiten, in denen er Ideen für Szenarien und Dialoge, Scherze und sonstige Zutaten verwahrte. Nicht so diesmal. Die Masse schlaglichtartiger Eindrücke fuhr mit solcher Heftigkeit auf ihn nieder, dass er, nachdem er sich am Straßenrand ein paar flüchtige Notizen gemacht hatte, beschloss, bei der allernächsten Möglichkeit anzuhalten und in ein Gasthaus einzukehren, um in Ruhe seine Ideen auf Papier festzuhalten, bevor sie sich, wie er befürchtete, für immer verflüchtigen würden.

So kam es, dass er nun hier saß und schrieb. Und wie er es geahnt hatte, war das Feuerwerk an Eindrücken und Handlungsideen nach anfänglichem regen Fließen bald abgeebbt. Wie bei einem Traum, dem man nach dem Aufwachen nachjagt und der immer mehr aus dem Gedächtnis entschwindet, blieben dem Autor bald nur noch blasse Ahnungen seiner ursprünglichen Impressionen. Doch so schnell gab er nicht auf. Beim Bestellen des zweiten Bieres hatte er den Wirt nach einer Übernachtungsmöglichkeit gefragt und nach kurzer Verhandlung ein kleines Zimmer für wenig Geld erhalten. Nun konnte er ohne Zeitdruck all seinen Ideen für den Roman nachspüren.

Eine Durchsicht der bisherigen Notizen zeigte dem Autor, dass sich rein mengenmäßig bereits viel angesammelt hatte. Nur der Handlungsfaden fehlte ihm noch. Es gelang ihm nicht, sich auf sein Thema zu konzentrieren. Es war, als drängten eine Vielzahl verschiedener Geschichten danach, von ihm festgehalten zu werden. Keine davon passte zur anderen. Sie hatten zwar alle das alte Gemäuer als zentrales Element, aber darüber hinaus unterschieden sie sich in fast allen Aspekten, angefangen bei der Zeit, in der sie sich abspielten, bis hin zum Genre, in dem sie angesiedelt waren. So hatte Nalbach die Anfahrtsszene schon kurze Zeit nachdem er sie geschrieben hatte wieder völlig verworfen. Die Idee mit dem Minivan war einfach zu schlecht. Vornehme Leute fahren nicht im Minivan. Außerdem erschien es dem Autor angebracht, die Zeit der Handlung ein paar Jahrzehnte weiter in die Vergangenheit zu verlegen. Das erschien ihm passender. Warum dies so war, hätte er nicht sagen können. War da vielleicht ein äußerer Einfluss, der ihn dirigierte?

Dumme, unnütze Gedanken. Nalbach richtete den Blick auf die Vielzahl von Zetteln auf dem Wirtshaustisch vor ihm. Er führte eine kurze Inventur durch. Fast alle Fragmente drehten sich um einen gemeinsamen Abend einer Gruppe von Freunden. Dies sollte den Hauptteil des Romans ausmachen. Bis jetzt existierten davon – teilweise nur als grobe Skizzen – die Anfahrt, der Umtrunk und das fürstliche Mahl, dazu eine Reihe von Unterhaltungen und Diskussionen, Kleinigkeiten, die vielleicht zu bedeutenden Konsequenzen ausgebaut werden könnten – das müsste sich noch herausstellen. Vom weiteren Verlauf des Abends hatte der Autor noch keine klare Vorstellung. Es sollte jedoch auf jeden Fall zu einem Streit und einer Eifersuchtsszene kommen.

Wie abwesend strich der Autor mit der Hand über einen kleinen gesonderten Stapel von Zetteln. Hier hatte er Ideen zur Ausstattung notiert. Die Bühnendekoration, wie er es gerne nannte. Das Aussehen des Hauses hatte schließlich einen großen Einfluss auf die Wirkung, die das Werk auf den Leser haben würde. Aber in dieser Hinsicht war er noch zu keiner endgültigen Entscheidung gelangt. Er war sich noch uneins, ob der gemeinsame Abend der Freunde, den er beschrieb, vor oder nach dem ersten Weltkrieg spielen sollte und ob er zusätzlich ein adliges Ambiente wählen sollte. Da er sich mögliche Handlungsvarianten nicht nehmen wollte, verschob er diese Entscheidung auf später. Das hatte zwar den Nachteil, dass er nur eine verschwommene Vorstellung von den Kulissen hatte, in denen die Handlung sich abspielte, aber das musste er in Kauf nehmen.


Vor der Tür wurden Stimmen hörbar. Es waren keine übermäßig lauten Stimmen, aber sie störten seine Konzentration. Die Tür des Gasthauses ging auf, und zwei junge Männer kamen herein. Ihren nassen Haaren nach zu urteilen, musste es draußen recht stark gießen.

Sie gingen zum Tresen, wo sich ein Gespräch mit dem Wirt entspann. Offensichtlich gab es Verständigungsprobleme, denn die Beteiligten setzten eine gestenreiche Zeichensprache ein, was der Konversation allerdings nicht viel zu helfen schien.



Frank fragte sich, warum er überhaupt mit hereingekommen war. Sein Französisch war nichtexistent, also konnte er sich kaum am Gespräch beteiligen, außerdem hätte einer gereicht, um nach dem Weg zu fragen. Also überließ er Erik das Reden und schaute sich im Schankraum um. Unglaublich, dachte er. Ein typischeres lothringisches Landgasthaus hätte er sich nicht vorstellen können. Es strahlte einen altertümlichen Charme aus, wie geschaffen für eine der phantastischen Erzählungen von Erckmann und Chatrian, die es so gut verstanden hatten, makabre Situationen in kleine Geschichten zu packen. Sogar die Kleider der meisten Anwesenden wären für die Epoche durchgegangen.

Hinter seinem Rücken kam der Verständigungsversuch zwischen den Kulturen zu einem abrupten Ende. Erik zupfte Frank im Vorbeigehen am Ärmel und bemerkte genervt: „Wir gehen. Das hier ist zwecklos.“

„Wieso?“

„Der will kein Deutsch verstehen, und mit meinem Französisch kann er angeblich auch nichts anfangen.“ Er entfernte sich in Richtung Tür. Frank wollte protestieren; es musste doch einen Weg geben, sich verständlich zu machen. Beim Versuch, Erik einzuholen, rempelte er versehentlich gegen einen Tisch. Da saß ein etwas älterer Mann, der über einem Wust von Papier vor sich hin brütete. Das Geschriebene war Deutsch, wie Frank sehen konnte. Der Mann zog schon zornig die Augenbrauen zusammen, um sich über die Rücksichtslosigkeit zu beschweren, deshalb schaltete Frank schnell, um ihn zu besänftigen.

„Entschuldigen Sie vielmals“, sagte er und fügte auf das viele Papier deutend hinzu: „Ich hoffe, ich habe Sie nicht aus dem Konzept gebracht.“ Dabei schaute er den Mann mit einem offenen Blick an, der zu verstehen gab, dass die Entschuldigung mehr als eine eilige Floskel war.

Darauf war keine ärgerliche Antwort möglich. Schon halb besänftigt entgegnete der Autor: „Ach was.“

Das ermutigte Frank und interessiert fragte er nach: „Wird es eher spannend oder eher erbaulich?“

Der Mann am Tisch schwieg kurz. „Erbaulich?“ Dann lachte er auf. „Bauen ist gut.“ Er schwenkte den Zeigefinger vor Franks Gesicht. „Sehr gut! Das trifft die Sache. – Aus einer Ruine erschaffe ich ein stattliches Haus.“ Seine Aufmerksamkeit wandte sich unversehens von Frank ab und wieder seinem Werk zu. Den letzten Satz hatte er schon mehr zu sich selbst gesprochen.

Da Frank mit dieser kryptischen Aussage nichts anfangen konnte, brummte er nur etwas und fragte dann: „Kennen Sie sich hier aus? Wir haben uns verfahren.“

Nach einem Moment, den er anscheinend benötigte, um sich Franks Anwesenheit wieder bewusst zu werden, antwortete der Mann, er sei auch nur auf der Durchfahrt. Trotzdem beschrieb er Frank den Weg, auf dem er hergekommen war. Vielleicht könnte ihm das weiterhelfen. Erik, der in der Tür stehengeblieben war, schaute Frank erwartungsvoll an, als er zu ihm stieß. Alles klar, sagte seine Geste und gemeinsam verließen sie das Lokal.


Nalbach schaute noch lange die geschlossene Tür an. Der junge Mann hatte ihm gefallen. Er hatte exakt das Stichwort geliefert, nach dem der Autor unbewusst die ganze Zeit über gesucht hatte. Darüber hinaus war er ein interessanter Charakter. Intelligent, souverän, witzig. Nicht oberflächlich. Trotzdem nahm er das Leben nicht zu ernst. Den könnte man als Vorlage für eine der Figuren des Buches nehmen. Der treue Jugendfreund des Hausherrn vielleicht, der als gutgelaunter Gesprächspartner taugt und auch immer da ist, wenn man Probleme hat, die man sich von der Seele reden möchte. Schon kamen dem Autor Ideen für mögliche Konversationen. Für neue Handlungsverzweigungen. Sehr gut, dachte er zufrieden.

Genau das würde er tun. Eine zusätzliche Person würde unerwartet beim Dinner erscheinen. Das brächte Abwechslung und mehr Möglichkeiten für die Interaktion der Figuren. Mal sehen. Was könnte er von Beruf sein? – Der Federhalter nahm wieder seine Raubvogelposition

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Copyright Peter Bertges 2017
Bildmaterialien: Copyright Peter Bertges 2017
Tag der Veröffentlichung: 08.08.2017
ISBN: 978-3-7438-2762-2

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