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Der Häuserblock

Der Häuserblock (Arbeitstitel)

 

Dass es ein würdevolles Ereignis war, ließ sich nicht leugnen. Daran änderte auch die Heimlichkeit nichts, in der es stattfand. Es gab eben keinen anderen Weg. Die Verstorbene hatte keinerlei Papiere besessen, und wie hätte man ohne Papiere die Formalitäten abwickeln sollen? Man musste unkonventionelle Wege gehen. Der alte Friedhof in der Südstadt war in dieser Hinsicht ideal. Hier fanden schon lange keine Beisetzungen mehr statt, und es war generell wenig los, zumal zu der ungewöhnlichen Stunde frühmorgens um sechs Uhr an einem Montag. Auch hatte am Vortag der Herbst Einzug gehalten und die Temperatur war drastisch gesunken. Kein Wetter für frühe Spaziergänger.

So stand also an diesem grauen Morgen ein Häuflein Menschen um das in aller Eile ausgehobene Grab herum, als der sichtlich selbst gezimmerte Sarg an zwei Seilen hinuntergelassen wurde. Einer der Anwesenden sprach letzte Worte, ein kleines Sträußchen Vergissmeinnicht fiel auf die Bestattungskiste, dann begannen, nach einer Minute der Stille, die Schaufeln zu arbeiten.

Eine der am Grab stehenden Frauen schluchzte plötzlich auf und schlug die Hände vor das Gesicht. Der Mann neben ihr legte den Arm um ihre Schulter und drückte sie an sich. Er wusste, was sie gerade fühlte. Er hatte selbst immer wieder diese Szene vor Augen, sie hatte sich in sein Gedächtnis eingebrannt. Die Krämpfe, die Zuckungen und das furchtbare Röcheln würden ihm bis an sein Lebensende nachgehen. Gewaltsam lenkte er seine Gedanken weg von diesem Anblick, hin zur Gegenwart, zu der Gruppe um das behelfsmäßige Grab, auf das jetzt die letzten Schaufeln Erde fielen. Die beiden provisorischen Totengräber krempelten die Hemdsärmel herunter und nahmen von einer der Anwesenden ihre schwarzen Jacketts wieder in Empfang. Die Szene mutete an wie aus einem alten Fernsehspiel im Spätprogramm.

Aber welche andere Möglichkeit hätten sie gehabt? Da die Verstorbene nirgends registriert war, existierte sie für die Behörden nicht. Da hätte der Gang zum Beerdigungsinstitut nur unnötigen Staub aufgewirbelt. Es wären eine Menge Erklärungen fällig geworden, die niemand liefern konnte. Zu guter Letzt wäre das ganze wahrscheinlich noch zu einem Verbrechen hochstilisiert worden und hätte Scherereien und Unannehmlichkeiten ohne Ende mit sich gebracht.

Es wäre auch ein vergebliches Unterfangen gewesen, jemandem so einen absurden Fall glaubhaft machen zu wollen. Und hatte irgendjemand schon einmal von einer solchen Art von Selbstmord gehört?

Zum wiederholten Mal drängte sich die Szene ins Bewusstsein des Mannes, als er das Zimmer betreten und sie gesehen hatte, wie sie sich am Boden wand. Dieser Moment war für ihn der schlimmste gewesen. Die Verständnislosigkeit, als er noch gar nicht begriff, was sich da vor seinen Augen abspielte. Schockiert hatte er den Bruchteil einer Sekunde lang nur da gestanden. Dann riss er sich aus seiner Starre und stürzte zu der Frau hin, um ihr zu helfen. Dabei nahm er zum ersten Mal die Einzelheiten der Situation in sich auf: den beißenden Geruch, der sich in ihren Atem gemischt hatte, die umgekippte Flasche mit der kleinen Lache davor auf dem Boden. Ein ätzendes Reinigungsmittel – er konnte es nicht fassen.

Noch bevor er irgendetwas tun oder nach jemandem rufen konnte, war der zuckende Körper am Boden mit einem Mal still geworden. Die ziellos durch die Luft fahrende Hand fiel nieder, eine letzte Konvulsion löste sich langsam, dann lag die Frau ruhig, ihre Arme und Beine entspannten sich. Eine dünne Speichelspur rann aus dem Mund. Alles hatte weniger als eine halbe Minute gedauert.

Gleichzeitig mit dem Gefühl der Hilflosigkeit, das ihn befiel, wurde der Mann sich der Konsequenzen bewusst, die es nach sich gezogen hätte, wenn er nun einen Notarzt gerufen hätte. Der Arzt hätte bei einem solchen Todesfall sofort die Polizei benachrichtigen müssen.

Was hätte man denen erzählen können? - Ironischerweise war es also ein Glück, dass der Frau nicht mehr zu helfen war.

Dieser Sachverhalt hatte dazu geführt, dass die Bewohner des Hauses übereinkamen, auch weiterhin dafür zu sorgen, dass von dem Vorfall – wie überhaupt von der Existenz der Frau – nichts

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 09.07.2017
ISBN: 978-3-7438-2177-4

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