Djihan kauerte in der schmalen Nische und lauschte auf das Summen seiner Verfolger. Die Wunden, die die rasiermesserscharfen Tentakelspitzen der Bots ihm geschlagen hatten, schmerzten, aber er achtete nicht darauf. Seit seinem elften Geburtstag diente er in den Streitkräften, und die Bots hatten ihn in diesen zwei Jahren schon oft genug verletzt.
Ein schabendes Geräusch jagte ihn aus seinem Versteck, er rannte gebückt den niedrigen Wartungsschacht entlang. Seine bloßen Füße klatschten bei jedem Schritt gedämpft auf den warmen Stahl. Wahllos bog er an den Kreuzungen ab. Die Bots durften nicht die Richtung erkennen, in die er floh, oder sie würden ihm den Weg abschneiden.
Sein Herz hämmerte. Schweiß lief ihm über den Oberkörper, sammelte sich am Bund der Shorts, rann auch an seinen Beinen herab, mischte sich mit Blut aus den Schnitten und hinterließ deutlich sichtbare Tropfen auf dem Boden. Er machte sich keine Sorgen darüber. Bots hatten keine Augen. Sie reagierten nur auf Geräusche und Bewegungen.
Djihan blieb stehen, lauschte. Kein Summen, kein Schaben von Tentakeln über den Boden. Langsamer lief er weiter, näherte sich seinem Ziel, einem kleinen Raum im verlassenen Teil der Stadt, den er vor Jahren zusammen mit seinem Freund Dawut gefunden hatte. Viele der Lampen waren ausgefallen, Staub hatte sich am Boden angesammelt und Rost machte sich an den Wänden breit. An manchen Stellen tropfte es von der Decke.
Noch eine letzte Abzweigung. Djihan quetschte sich in einen schmalen Gang. Hier war es stockdunkel, aber er kannte den Weg. Auf allen Vieren kroch er das verbliebene Stück bis zu der engen Luke, zwängte sich hindurch in das Versteck. Erleichtert lehnte er sich an die warme Wand. Er musste ausruhen, warten, bis die Kämpfe nachließen, und sich dann zurückschleichen.
Manchmal fragte er sich, woher die Bots kamen. Die Stadt war die Stadt und sonst gab es nichts, sagten die Alten, aber dann hätten die Bots auch schon immer da sein müssen. Sie wären vor langen Jahren von außerhalb gekommen, sagten die Alten, aber was war außerhalb?
Und was wollten die Bots? Warum kämpften sie unermüdlich gegen die Menschen, trotz ihrer Verluste? Kaum ein Tag verging, an dem die Streitkräfte nicht einen oder zwei Bots in den Vernichtern entsorgten. Aber genauso häufig verschleppten die Bots gefangene Soldaten.
Ein Summen ließ Djihan zusammenfahren. Hatten die Bots das Versteck entdeckt? Woher wussten sie, dass er hierher geflohen war? Niemand außer Dawut und ihm kannte diesen Raum. Er lauschte. War es nur ein einzelner Bot oder kamen mehrere? Das Summen verstummte. Vielleicht nur ein verirrter Bot auf dem Weg zurück zu seinem Kommando.
Der Einsatz war ein Desaster gewesen. Die Bots hatten seine Einheit von sieben Jungen in einen Hinterhalt gelockt. Zwei Dutzend der einbeinigen, scheibenförmigen Maschinen waren aus mehreren Gängen in den Versorgungsraum geschwebt und hatten sofort angegriffen. Djihan und seine Jungen hatten verzweifelt gekämpft, aber schon nach wenigen Augenblicken lagen drei von ihnen mit schweren Verletzungen am Boden. Djihan befahl den Rückzug.
Er wusste nicht, wieviele seiner Jungen den Bots entkommen waren. Vielleicht niemand außer ihm.
Ein Desaster wie sein erster Einsatz. Damals war er ein Neuling gewesen, erst drei Monate in der Ausbildung, aber die Angriffe der Bots waren so heftig, dass die Alten auch unerfahrene Rekruten in den Kampf schickten. Ein gutes Dutzend Jungen waren sie gewesen, ihr Kommandant mit fünfzehn Jahren der älteste. Djihan hatte sich an seinen Freund Dawut gehalten, der ein Jahr älter war als er und schon einige Kämpfe bestanden hatte. Sie hasteten durch die Wartungsgänge der Stadt ihrem Ziel entgegen, einer Pumpstation, die ein paar Bots besetzt hatten. Drei oder vier sollten es sein. Einen entdeckten sie sofort, er thronte auf dem großen Absperrad der Pumpstation. Schreiend stürzten sie sich auf ihn. Er floh und sie rannten ihm nach, in einen Verteilerraum, von dem mehrere Gänge wegführten. Hier stellte sich der Feind, aber bevor sie ihn überwältigen konnten, summten von allen Seiten Bots heran und hackten auf sie ein. "Zurück!", befahl der Kommandant, aber auch der Rückweg war versperrt.
"Bleib dicht hinter mir!", rief Dawut Djihan zu und trat einem der Bots gegen die Halbkugel, die alle nur Kopf nannten, obwohl niemand wusste, wozu sie diente. Der Bot taumelte, ein zweiter Tritt von Dawut ließ ihn zusammensinken, sein Summen erstarb. "Fass an!", rief Dawut. Sie hoben den Bot hoch und schleuderten ihn gegen zwei andere, deren Tentakel durch die Luft sausten, um sich in die Haut der Jungen zu bohren. Anscheinend verwirrt drehten die Bots sich mehrmals um sich selbst, und es gelang den Jungen, an ihnen vorbei einen der Gänge zu erreichen. Dawut packte Djihan und schob ihn hinein, bevor er selbst folgte. Der Gang war so niedrig, dass sie nur auf Händen und Knien kriechen konnten, und zu eng um sich umzudrehen.
Dann schrie Dawut auf. Ein Bot war ihnen gefolgt und griff ihn von hinten an. "Flieh!", brüllte Dawut.
"Aber ..."
"Flieh!", rief Dawut noch einmal. "Du kannst mir nicht helfen."
Und er hastete weiter, verfolgt von Dawuts schrillen Schreien. Er war entkommen, aber Dawut hatte er nie wiedergesehen.
Djihan zuckte zusammen. Das Summen war wieder da, ganz nah. Kam es aus dem Gang? Aber der war für einen Bot zu schmal. Einen anderen Ausgang hatte der Raum nicht, Dawut und er hatten ihn ganz genau untersucht.
Wenn er wenigstens eine Lampe hätte.
Er rührte sich nicht und atmete flach durch den Mund. Selbst ein einzelner Bot konnte ihn in der völligen Dunkelheit des Versteckes überwältigen. Die großen Jungen erzählten, die Bots würden ihre Gefangenen in einen Raum tief unten in der Stadt schleppen, um sie dort zu foltern. Sie würden ihnen bei lebendigem Leib die Haut abziehen, Arme und Beine ausreißen und zuletzt den Kopf abschneiden.
Djihan begann zu zittern. Das Summen schien direkt neben ihm zu sein. Und dann spürte er eine leichte Berührung an der Brust.
Mit einem schrillen Schrei sprang er auf und hechtete zum Ausgang des Raumes, doch er hatte sich verschätzt und prallte hart gegen die Wand. Benommen sank er in die Knie. Schon war der Bot hinter ihm. Wimmernd suchte er mit den Händen die rettende Öffnung. Jeden Moment würden die Tentakel anfangen, ihn zu zerfleischen.
Der Leib des Bots drückte gegen seinen Rücken, presste ihn gegen die Wand. Erst fast sanft, dann fester legten sich zwei der vier Tentakel um seinen Körper, zwangen ihm die Oberarme an die Rippen. Aber der Bot schnitt ihn nicht.
Er wurde fast verrückt vor Angst. Der Bot wollte ihn unverletzt in die Folterkammer schleppen, damit er die Qualen länger ertrug!
Der Bot zog ihn rückwärts durch die Kammer.
Djihan versuchte sich irgendwo festzuhalten. Seine Rechte fand eine Kante, klammerte sich fest. Ein Tentakel schlang sich um sein Handgelenk, zog. Seine Finger rutschten über das Metall, verloren den Halt. Der Tentakel zwang seine Hand vor die Brust. Der Bot fing auch seine linke Hand und drückte sie gegen die rechte. Die Tentakel wanden sich mehrmals eng um beide Handgelenke.
Dann zerrte der Bot ihn weiter. Das Summen veränderte sich, sie mussten sich in einem Gang befinden. Hatten die Bots die Wand des Raumes durchbrochen? Aber wie? Schweißgeräte schienen sie nicht zu kennen. Und so scharf ihre Tentakelspitzen auch waren, Metall konnten sie damit nicht einmal ankratzen. Oder hatte der Raum schon immer einen zweiten Ausgang gehabt, den weder Dawut noch er gefunden hatte?
Der Gang schien kein Ende zu nehmen. Djihans Beine schleiften über den Boden. Er spreizte sie, presste seine Füße zu beiden Seiten gegen die Wand, aber das verlangsamte den Bot kaum.
Sie bogen um eine Ecke. Das Licht einer Lampe blendete ihn. Er blinzelte, versuchte sich zu orientieren. Waren sie in einem Bereich der Stadt, der von den Truppen der Alten beherrscht wurde? Oder im Gebiet der Bots?
Sein Magen verkrampfte sich. Die Gänge waren ihm unbekannt. Keiner der Jungen würde ihn hier finden. Ohne auf Gegner zu treffen würde der Bot ihn in die Tiefen der Stadt schleppen. Er schrie. Mit einer verzweifelten Kraftanstrengung sprengte er die Umklammerung, sprang auf, fuhr herum und trat dem Bot gegen den Kopf. Der Bot taumelte, er trat ein zweites Mal zu und ein drittes. Der Bot sank zusammen, sein Summen erstarb.
Schwer atmend lehnte er sich an die Wand. Seine Knie waren weich, Tränen der Erleichterung rannen ihm über die Wangen. Er riss sich zusammen. Er war Soldat in den Streitkräften, sogar Unteroffizier, und flennte wie ein kleiner Junge! Er schniefte und wischte sich mit dem Handrücken das Gesicht ab.
Er schaute auf den Bot. In ein paar Minuten würde er wieder zu summen anfangen und sich aufrichten. Es gab keinen Weg, einen Bot mit bloßen Händen zu töten. Die Alten verfügten über ein paar Waffen, mit denen sie sich verteidigen konnten, sollte einmal ein Bot den Abwehrring der Streitkräfte durchbrechen. Die Soldaten jedoch mussten jeden Bot, den sie außer Gefecht gesetzt hatten, zu einem Vernichter bringen, einem Schacht, in den er einfach hineingeworfen wurde, um tief unten im Hochofen aufgelöst zu werden.
Im bewohnten Bereich kannte er alle Vernichter, aber wo sich hier der nächste befand, wusste er nicht. Wenn es überhaupt welche gab. Er würde den Bot eine Weile mitschleppen müssen. Er bückte sich und hob den Bot auf. Die langen Tentakel schleiften über den Boden, zogen Muster im Staub.
Er ging los. Erst einmal musste er herausfinden, wo in der Stadt er sich überhaupt befand. Je weiter er ging, desto verlorener fühlte er sich. Noch nie war er in diesem Teil der Stadt gewesen, selbst auf seinen Entdeckungszügen mit Dawut nicht. Er begegnete weder Menschen, noch Bots.
Der Bot in seinen Armen schien immer schwerer zu werden. Wenn er doch nur endlich einen Vernichter fand und seine Last loswurde!
Seine Muskeln schmerzten. Jetzt spürte er auch die Wunden, die er während des Kampfes erhalten hatte. Keuchend legte er den Bot auf den Boden.
Abrupt begann der Bot zu summen, seine Tentakel fuhren durch die Luft, rissen ihn von den Füßen. Djihan packte zwei der Tentakel, riss den Bot zu sich heran und umklammerte die Scheibe seines Körpers. Die Tentakel umschlangen ihn, aber wieder schnitten sie nicht. Er wagte nicht, den Bot loszulassen. Wenn der sich aufrichtete und ihn erneut umklammerte, würde er sich vielleicht nicht mehr befreien können. Aber so, wie er hier lag, konnte er auch nicht gegen den Kopf des Bots treten, um ihn erneut kampfunfähig zu machen.
Plötzlich löste sich einer der Tentakel von seinem Körper und begann, über den Staub im Boden zu kratzen. Der Tentakel zog einen langen geraden Strich und setzte dann einen großen Bogen an, der halbrund etwa zum Anfang des Striches zurückführte.
Was sollte das?
Der Tenktakel hob sich und schwebte über dem Boden. Nach einer Weile senkte er sich wieder, setzte einen Punkt neben den Bogen und zog darunter einen zweiten Strich, länger und mit einem kleinen Bogen am Ende.
Noch nie hatte Djihan einen Bot so etwas tun sehen. Ob seine Tritte den Bot beschädigt hatten? Niemand wusste, weshalb die Bots zusammenbrachen, wenn ihr Kopf erschüttert wurde. Niemand hatte sie je fragen können, denn sie kannten keine Sprache, sie hatten ja auch keine Münder. Und auch Zeichensprache war unmöglich, Bots hatten keine Augen. Es gab keine Möglichkeit der Verständigung mit ihnen, sagten die Alten.
Wieder erstarrte der Tentakel, wartete, setzte dann einen weiteren Punkt neben den ersten und darunter noch einen Strich, kürzer und ohne Bogen.
Djihan riss die Augen auf.
D j i
Buchstaben. Krakelig, wie von einem Vierjährigen geschrieben, aber eindeutig Buchstaben. "Mein Name!", schrie er. "Du schreibst meinen Namen!"
Die vier Tentakel schwirrten durch die Luft. Aus der Umklammerung befreit sprang Djihan auf, aber er trat nicht nach dem Bot, zog sich nur ein Stück zurück und wartete.
Der Bot kratzte weiter mit einem Tentakel im Staub.
Woher wusste der Bot, wie Buchstaben aussahen? Wie hatte er lernen können, sie zu schreiben, wenn er doch nichts sah? Überhaupt, nur die Alten konnte schreiben und lesen. Und Dawut. Dawut hatte sich das Schreiben und Lesen selbst beigebracht, als er noch ganz klein war. Heimlich natürlich, denn für Soldaten war es verbotenes Wissen. Und er hatte es Djihan gezeigt, seinem Freund, dem einzigen, dem er vertraute. Niemand konnte Schreiben und Lesen außer den Alten, Dawut und ihm.
Und jetzt war hier ein Bot, der schrieb. Und der Bot musste ihn kennen, denn wie sonst konnte er wissen, dass Djihan lesen gelernt hatte?
Ein Gedanke zuckte durch seinen Kopf. Wenn die Vernichter die Bots gar nicht zerstörten, sondern ... etwas anderes machten? Wenn es wirklich kein Außerhalb gab? War das möglich?
Der Tentakel hatte mit Schreiben aufgehört und lag regungslos unter den Buchstaben.
Mit klopfendem Herzen trat Djihan wieder näher an den Bot heran und schaute auf die Buchstaben im Staub.
"Djihan", las er, "ich bin Dawut."
Tag der Veröffentlichung: 13.12.2008
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