Der Schmerz in seiner Schulter und seinem Bauch trieb ihm die Schweißperlen auf die Stirn.
Sollte es das nun gewesen sein? Die Kugeln, die ihn trafen sorgten für eine dunkle Blutlache unter ihm auf dem billigen PVC-Boden im Mamordesign der Cafeteria seiner Schule. Wahrscheinlich wurde seine Leber getroffen. Zunächst fühlte er Wärme, doch nun begann er zu frieren, sein Blick wurde trüb. Neben sich erblickte er in einem kurzen Moment der Klarheit eine Mitschülerin, deren Hals von einer Kugel durchschlagen wurde.
Dieses Mädchen, so dachte er, hatte ihn immer sehr freundlich gegrüßt und ihm zugelächelt. Hübsch war sie noch dazu. Er vergaß kurz seinen Schmerz und bedauerte das Mädchen, dessen Namen zu erfragen er nie gewagt hatte weil er einfach zu schüchtern war. Ob sie ihn wohl auch bedauert hätte, wenn sie noch leben würde und ihn nun so sehen würde? Vielleicht. Was wäre denn, wenn es so wäre? Er wird es nun nicht mehr erfahren. Jedenfalls hätte es dieses Mädchen nicht verdient.
Der Schmerz lässt seinen Blick wieder trüb werden. Er verzieht das Gesicht. Wie konnte es nur so weit kommen? So viele unschuldige Mitschüler wurden verletzt oder getötet. Würden denn die Eltern des Schützen verstehen, was hier vor einigen Sekunden ablief und vor allem, warum es passierte?
Sie hatten ihrem Jungen doch immer nur das Beste gegönnt und alles für ihn getan. Von klein auf bekam er nur das ausgeklügeltste Spielzeug und später dann die Spielkonsole, die dann auch gleich durch die Nachfolgeversion abgelöst wurde. Die Wünsche nach einem eigenen PC und einem Fernseher im Jugendzimmer wurden unbürokratisch erfüllt. Anlässe wie Geburtstag und Weihnachten mussten nicht abgewartet werden – schließlich arbeiten beide Eltern ganztags um das Haus abzuzahlen, welches sie zu bauen begannen als der Todesschütze noch im Fruchtwasser die Nähe seiner Mutter spüren konnte. Taten sie alles für ihren Sohn oder nur für eigenes Ansehen bei der Nachbarschaft? Der Vater war als Handelsvertreter kaum zuhause. Die Wochenenden wurden nur früher und ganz selten durch Ausflüge interessant gestaltet. Die Mutter warf dem Vater vor, eine Affäre zu haben. Der Sohn wurde während der Streitigkeiten immer in sein Zimmer geschickt.
Wieder ein höllischer Schmerz und ein Rauschen. Eine krächzende Stimme ertönt aus dem kleinen Lautsprecher eines Funkgerätes: „Bitte wiederholen Sie! War der Zugriff erfolgreich?“ Er versucht sich umzusehen, doch er ist zu schwach. Ein Polizist musste unweit von ihm stehen. Dann versinkt er wieder in seine Gedanken.
Was wird wohl in der Zeitung stehen? Wird der Grund für diese Tat bekannt werden? Wird es zukünftig solche Taten nicht mehr geben? Die Medien werden die Überlebenden und die Angehörigen der toten Mitschüler, sowie die des Täters befragen. „Er war doch ganz unauffällig“, wird man sicher in der "Bild" lesen. Natürlich war der Täter unauffällig. Wie stellt man sich denn auch einen Typen vor, der in seiner Schule einen Amoklauf startet? „Ja, der Typ kam schon immer mit einem Patronengurt und einer MG in die Schule“ – das wird wohl niemals bei so etwas herauskommen. Über diesen Gedanken muss er tatsächlich kurz lachen, doch das Lachen weicht sogleich einem Husten. Blut tritt aus seinem Mund aus.
„So eine Scheiße!“ Mehr fällt ihm dazu nicht ein. Langsam dämmert er hinweg. Es wird dunkel. Alles entfernt sich. Töne klingen wie durch ein riesiges langes Rohr gesendet. Das war es.......................!
Plötzlich zuckt sein Körper. Langsam kommen die Töne wieder. Er hört das Martinshorn eines Rettungswagens. Ein Fremdkörper steckt ihm im Hals. Er muss würgen während er die Augen öffnet. Sanitäter starren ihn an und schreien, er solle durchhalten. Ihm fällt auf, dass die Schmerzen nicht mehr da sind. Um ihn herum das pure Chaos. Ihm ist das egal. Noch einmal schweift er zu den Eltern des Schützen, die ihren Sohn immer auf dessen Zimmer schickten, wenn es Streit gab. Auf seinem Zimmer vertrieb er sich die Zeit mit lauter Musik, die er durch Kopfhörer direkt aufs Trommelfell dröhnen ließ. Er wollte seine überarbeiteten Eltern ja nicht mit seiner Musik nerven. Parallel spielte er noch mit einem Kubaner Fernschach übers Internet. Der Kubaner war Ligaspieler. Gegen ihn jedoch war der Kubaner nur ein kleines Licht, ein kleiner Happen bis mal wieder eine Herausforderung kam. Ob Schach wohl verboten wird, wenn sich nun herausstellt, dass ein hervorragender Schachspieler in der Schule ein Blutbad anrichtete? Bei den Fällen, von denen man bisher hörte, waren doch immer diese Ballerspiele, sogenannte Egoshooter der „Auslöser“ für alles. Wenn die Leute wüssten, wie viele Leute Egoshooter spielen, dann würde wohl niemand mehr aus dem Haus gehen. Eine lustige Vorstellung. Natürlich haben alle Temposünder garantiert mit einem Formel 1-Bettbezug angefangen. Wie blauäugig!
Kurze Zeit ist es wieder dunkel. Ganz weit weg hört er: „Schnell, schnell, sonst verlieren wir ihn!“ Licht! Nein, nicht das oft beschriebene Licht am Ende eines Tunnels, sondern das der Taschenlampe eines Rettungsarztes, der ihm in die Augen leuchtet.
Seine Gedanken drehen sich wieder um den Auslöser. Wie fühlte sich der Schütze denn? Es war nur allzu offensichtlich. Soziale Kontakte zu pflegen hatte er von seinen Eltern nie gelernt. Er fühlte sich doch ständig ruhiggestellt – nicht mit Valium, sondern mit Geschenken. Je weniger Zeit seine Eltern für ihn fanden, umso größer wurde der Fundus an teurem Spielzeug. Mit fünfzehn Jahren hatte er einen Versuch unternommen, von seiner Mutter zu erfahren, wie er denn ein Mädchen ansprechen soll. „Dafür habe ich jetzt keine Zeit. Frag mich später noch einmal“, fauchte ihn seine Mutter an, bevor sie zur Nachbarin zum Kaffeeklatsch ging. Dort hing sie jeden Tag herum und prahlte mit dem neuen Dienstwagen, mit dem angebauten Wintergarten oder auch mit den guten Noten des Sohnes. Nix da, gute Noten! Die Noten waren seit etwa vier Monaten drastisch in den Keller gerutscht, weil es einfach egal war. Wer bekam denn schon schlechte Noten mit? Die Eltern unterschrieben jede Klassenarbeit immer während eines Streits, eines Telefonats oder kurz vorm Kaffeeklatsch mit der Nachbarin. Die Note sahen sie gar nicht. Sie fragten auch nie. Das Mädchen, welches er so gerne einmal eingeladen hätte und von dem er gerne einen Kuss bekommen hätte, hat er bis heute nicht angesprochen.
„Er rutscht ins Koma! Er rutscht ins Koma!“, hallt es noch entfernt. „Koma“, denkt er noch beim Weggleiten „Koma, ist ein Zustand völliger Regungslosigkeit ohne die Möglichkeit, sich auszudrücken oder Gefühle zeigen zu können. Erstaunlich, dass ausgerechnet der Begriff für diesen Zustand rückwärts gelesen das Wort für blinde Wut ist, die mit grenzenloser Gewaltbereitschaft einhergeht. Es scheint sich geradezu um Ironie zu handeln, dass mein Amoklauf durch ein Koma endet. Ich glaube, das nennt man auch Palindrom. Was soll ´s? Wenn ich doch nur nicht das Mädchen erschossen hätte, in das ich schon verliebt war seit ich 15 bin und die mich immer mit einem Lächeln begrüßte. All mein Spielzeug, meinen PC, meinen Fernseher, meine Konsolen, meine Intelligenz hätte ich gerne dafür gegeben, um nur einmal den Mut aufzubringen, sie nach ihrem Namen zu fragen und einen Kuss von ihr zu bekommen..........................!“
„Abstellen, Exitus!“, sagt der Notarzt.
Tag der Veröffentlichung: 02.08.2009
Alle Rechte vorbehalten