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Morgens um 7 war die Welt noch in Ordnung



Ein Bericht

Von Urs Flükiger (ursusmajor)


Titelbild: Komet Holmes im November 2007 (©ursusmajor; Privatsternwarte Loberg, Urs Flükiger)


Verwendete Markennamen (Lichtenknecker, Televue, Longines): Die Rechte liegen bei den jeweiligen Markeninhabern.


Die Handlung ist frei erfunden, die Namen - ausser Prominenter - frei gewählt.


Für Eliane




Vorwort des Autors

Die Astronomie betreibe ich bereits seit rund 10 Jahren intensiv als Freizeitbeschäftigung und dieses Interesse bewog mich zu dieser Kurzgeschichte, die nicht als Fiktion sondern als ein denkbares Ereignis zu betrachten ist, das nächstens, in fernerer Zukunft oder ziemlich sicher gar nie in der beschriebenen Gegend eintreten wird.


Ersigen, im Mai 2011

Urs Flükiger
Gsteigweg 7
3423 Ersigen
www.ursusmajor.ch
astronomie@ursusmajor.ch


Obwohl eine warme, klare und mondlose Nacht, also für solches Unterfangen schlicht optimal, schob ich den Wetterschutz meiner Gartensternwarte nicht mit der gewohnten Vorfreude weg. Eher gedankenverloren entferne ich den Objektivdeckel von meinem ehrwürdigen Lichtenknecker HA 150/f9, öffne den Schubladenstock und schiebe nach dem Entfernen des Verschlusszapfens im Zenitspiegel das Televue Ethos Okular mit siebzehn Millimeter Brennweite in denselben. Als ich diese Ethos- Okulare vor Jahren kaufte, waren sie mit einem scheinbaren Gesichtsfeld von hundert Grad ein Hit. Heute gibt es bereits Okulare mit scheinbaren Gesichtsfeldern gegen hundertzwanzig Grad zu kaufen.
Es ist Samstagnacht, kurz nach Halbelf. Meine Frau Eveline ist bereits ins Bett gegangen und ich sehe noch schwaches Licht aus dem Schlafzimmerfenster dringen. Zeugnis für mich, dass sie noch ein paar Seiten in einem ihrer vielen Bücher liest. Gestern hatte ich Geburtstag und heute darf sie ihre um ein Jahr später geschehene Geburt feiern. Zusammen können wir auf dieselbe Anzahl Lebensjahre zurückblicken wie es heutige scheinbare Gesichtsfelder bei Okularen gibt. Ob Sie die Longines- Armbanduhr mit Mondphasenanzeige, die ich ihr zum heutigen, runden Geburtstag schenkte auch im Bett trägt?
Ab und zu rufe ich sie kurz für einen Blick ins Okular, wenn es was Interessantes und nicht Alltägliches zu sehen gibt. Obwohl Eveline sich für die Astronomie nicht interessiert und sich bei ihr mit einem schummrig leuchtenden, nebligen Flecken nicht dieselbe Begeisterung wie bei mir herauslocken lässt, schaut sie sich zwischendurch doch gerne mal Saturn, Mondkrater oder eindrückliche Kometen an. Letztere sind leider selten zu sehen, so etwa alle zehn Jahre gibt es eine Eveline- taugliche Erscheinung.
Vor knapp einem Jahr haben zwei Amateurastronomen unabhängig voneinander einen bisher unbekannten Kometen entdeckt, dessen Ephemeriden in den einschlägigen Publikationen - regelmässig aktualisiert - ersichtlich sind. Dieser Komet ist unauffällig und nur durch lichtstärkere Teleskope zu erkennen. Er zeigt auch keinen Schweif sondern nur einen – je nach Grösse der Teleskopoptik - mehr oder weniger kleinen, diffus leuchtenden Nebelfleck. Also in etwa das, was man von einer kleineren Galaxie, die sich nicht gerade „On Edge“ befindet, zu sehen bekommt.
Eigentlich ist der nach seinen Entdeckern benannte Schmidt/Kamov für einen Sechszöllner nicht ein erstrebenswertes, visuelles Beobachtungsobjekt. Deshalb habe ich bis vor ein paar Tagen auch nie das Bedürfnis gehabt, den immer wieder in den einschlägigen Veröffentlichungen sichtbarer Kometen erwähnte Schmidt/Kamov zu beobachten. Aber dieser Komet ist seit vergangenem Mittwoch für mich etwas Besonderes. Und ich bin einer der wenigen Privilegierten, die das Besondere an diesem Kometen zufälligerweise erfahren durften – oder mussten?
Das Licht im Schlafzimmer ist erloschen, Eveline hat sich also zur Ruhe gelegt. Ich bewege das zweieinhalbe Meter lange Rohr des Lichtenkneckers in Richtung des Sterns Kapella im Sternbild Fuhrmann. Bringe diesen leuchtenden Punkt in die Mitte der koaxialen Leuchtringe des Telrad- Finders und fixiere danach die Kupplungen der Rektazensions- und Deklinationsachsen meiner Deutschen Selbstbaumontierung. Mit Hilfe der Verfahrknöpfe auf der Handbox der FS2 Steuerung rücke ich Kapella in die Mitte des Gesichtsfeldes und quittiere diese Stellung als Referenzpunkt. Die fünf Betätigungsknöpfe sind bereits etwas ausgeleiert und der eine oder andere zeigt Kontaktprobleme. Da wird wohl nächstens ein Austausch notwendig werden. Fast zehn Jahre problemlosen Einsatz sprechen aber trotzdem für eine gute Qualität dieser Steuerung. Vor allem wenn man berücksichtigt, dass nur ein Gestell mit Plane als Wetterschutz zur Verfügung steht.
Von Professor Amrein, er doziert unter anderem auch in der Universität Bern, habe ich gestern per Email die aktuellsten Koordinaten für Schmidt/Kamov erhalten, die ich nun bei der FS2 eingebe. Nach dem Quittieren fahren die beiden SECM4- Schrittmotore dank „Goto“ den Lichtenknecker in Richtung Ziel. Nach ein paar Sekunden bremsen die Motoren, zeitlich leicht verschoben, ab und mit reduzierter Verfahrgeschwindigkeit wird nun das Ziel präzise angefahren. Nach einem kurzen Blick ins Okular muss ich erkennen, dass die Baumwipfel des Waldrands, an dessen Südrand die Parzelle unseres vor über fünfzehn Jahren angeschafften Einfamilienhauses grenzt, die Sicht zu den nordöstlich liegenden Zielkoordinaten verhindern. Noch vielleicht eine knappe halbe Stunde und das Firmament hat sich soweit verschoben, dass sich die Koordinaten sicher über den Baumkronen befinden werden. Obwohl der Wald die Lichtverschmutzung des Mittellandes abhält, verhindert er gleichzeitig auch die Sicht zum Polarstern und zu den dem Polaris nahen Sternbildern. Die astronomisch wichtige Sicht von Südosten bis Südwesten, wo leider die Lichtglocken von Burgdorf und Bern manchmal die Horizontsicht stören, ist aber bis zum tiefen Horizont frei.
Um die Zeit zu nutzen schwenke ich zu Wega in der Leier und ziele zwischen die beiden schwächeren Sterne, die mit Wega ein lang gezogenes Dreieck bilden und finde ohne „Goto“ einen leicht verwaschenen Stern im Gesichtsfeld des Okulars. Nach dem Wechsel zum Achtzehn- Millimeter- Ethos ist ein kleiner, heller Ring zu sehen. M57 - der Ringnebel in der Leier. Materie, die vor Jahrhunderten von dem im Sechszöllner nicht erkennbaren Zentralstern explosionsartig abgestossen wurde und sich seither ringförmig immer weiter von diesem entfernt. Eigentlich nichts Spektakuläres bei visueller Beobachtung. Aber mit dem Wissen was man da sieht und dies noch live, geniesst man doch die Ehrfurcht, die einem befällt.
Das nächste Objekt ist visuell eindrücklicher. Ein gelblich leuchtender, im Gegensatz zu den flackernden Sternen, ruhiger Punkt ist mein nächstes Ziel. Ohne Okularwechsel ist nach der Zentrierung im Telrad- Finder der Herr der Ringe – Saturn – am Rand des Gesichtsfeldes des 8mm- Ethos ersichtlich. Ich zentriere mit Hilfe der FS2- Handbox. Der Ring des riesigen Gasplaneten ist weit offen. Ich erinnere mich zurück an den Jahreswechsel von 2008/2009 wo der Ring fast nicht mehr sichtbar war. Nur noch ein dünnes Band überzog die Scheibe des Gasplaneten. Jetzt ist die Cassini- Teilung zwischen dem inneren und äusseren Teil der Ringfläche problemlos erkennbar. Dazu sehe ich – mit etwas Phantasie vielleicht - den Schatten des Ringes auf der Planetenoberfläche. Vier kleine Leuchtpunkte könnten Monde von Saturn sein. Vielleicht auch der eine oder andere Hintergrundstern? Um sicher zu sein müsste ich eine längere Beobachtung machen um die sich in der Anordnung ändernden Lichtpunkte als Monde entlarven zu können. Ich lasse dies sein und hoffe mit dem Wechsel zum Sechs- Millimeter- Ethos im Ringsystem und auf der Planetenoberfläche mehr Details entlocken zu können. Jetzt zeigt sich aber, dass die Luft doch nicht so ruhig ist, wie es zu Beginn den Anschein gab. Es ist eindeutig weniger zu erkennen, als mit dem Achter.
Es ist in der Zwischenzeit fast halbzwölf geworden und infolge eines leichten Windes auch empfindlich kühler. Meine bereits etwas ausgeleierte Wellensteyn- Jacke – ein Andenken von einer Wohnmobilreise nach Rügen, die wie vor etlichen Jahren machten - bietet nach dem Schliessen des Reissverschlusses immer noch genügend Schutz und die uralte Polizeimütze der Stadtpolizei Zürich – ein Geschenk eines Kollegen, der vor Jahrzehnten ein paar Jahre dort Dienst tat und die von Eveline liebevoll „Bärenmütze“ genannt wird – wärmt auch die oberste, bezüglich Haaren etwas schütter gewordene Region von mir. Das Schlafzimmerfenster ist jetzt finster geworden und Eveline wird sich vielleicht kurzum durch das offene Fenster mit einem gleichmässigen Schlafgeräusch bemerkbar machen. Seit unsere Tochter Ramona ausgezogen ist, bewohnen Eveline und ich das grosse Haus zu zweit, zusammen mit einem Hund, einer Katze, einem Graupapagei sowie einer Menge von Aquarienfischen.
Ich fahre den Lichtenknecker wieder zurück zum Kometen Schmidt/Kamov, dessen Koordinaten jetzt deutlich über den Baumwipfeln stehen. Im zwischenzeitlich wieder eingesetzten Achter- Ethos sehe ich nichts und wechsle auf das Dreizehner. Immer noch nichts zu erkennen. Wahrscheinlich ist mein rechtes Auge noch zu sehr vom hellen Saturn geblendet. Meine Erwägung auf das Siebzehner- Ethos zu wechseln schiebe ich noch etwas hinaus. Ich konzentriere mich weiter auf das Sichtbare im Gesichtsfeld und da dünkt es mich zwischen schwachen Sternen einen dunklen, nebligen Fleck zu erkennen. Ich versuche es mit indirektem Sehen, konzentriere mich auf diesen Fleck. Er kommt mir tatsächlich etwas intensiver vor. Je länger ich beobachte, desto deutlicher kommt dieser Komet zum Vorschein. Dieses unscheinbare „Ding“ wird es in knapp drei Wochen in die Schlagzeilen auf die Tageszeitungen bringen.

**

Vergangenen Mittwoch wollte ich einen Vortragabend bei der Astronomischen Gesellschaft Bern besuchen. Es sollten in diesem Vortrag die Möglichkeiten der Astrospektroskopie in der Amateurastronomie aufgezeigt werden. Als langjähriger Besitzer eines DADOS- Spektrografen der ersten Stunde wollte ich diesem, mir interessant erscheinenden Anlass beiwohnen und bin bei der Suche in der Universität Bern auf zwei sehr laut sprechende Männer gestossen, die auf dem Treppenzwischenboden zwischen Parterre und erstem Stock so stark in ein Streitgespräch vertieft waren, dass sie mich nicht wahr nahmen. Ich wollte sie eigentlich nach dem Weg zum Kuppelraum fragen. Es ging in ihrem lautstarken Streitgespräch über eine wichtige Erkenntnis, die der Jüngere und auch Kleinere der Presse mitteilen wollte und der Andere offensichtlich nicht. Von Unsicherheit, Panikmache, Lebensbedrohung war unter Anderem die Rede und trotz meines berufs- und altersbedingten Hörschadens konnte ich ungewollt aber interessiert, ein paar Treppenstufen vor den Beiden, Einiges an Informationen aufschnappen. Als Amateurastronom und Kenner von Spielfilmen wie „Deep Impact“ oder „Armageddon“ kam mir sofort der Gedanke an einen bevorstehenden Asteroiden- oder Kometeneinschlag . Aber ging es wirklich um dieses eigentlich realistisch mögliche aber doch mir eher unwahrscheinlich erscheinende Ereignis? Eigentlich bin ich ein anständiger Mensch und hätte mich mit dieser Eigenschaft zurück ziehen sollen. Auf der anderen Seite stritten die Beiden so laut und dazu noch im allgemein zugänglichen Treppenhaus. Also blieb ich die paar Stufen unterhalb des die Streithähne tragenden Treppenbodens stehen und hörte interessiert zu. „Alles deutet darauf hin, dass der Schmidt einschlagen wird und Du willst einfach nichts unternehmen“? fragt der Eine. „Was bringt es? Wir wissen nicht einmal genau wann und vor allem nicht wo. Die Bezeichnung Mitteleuropa als Information der ESO ist zu wenig genau, um was zu unternehmen“ - „Die Leute müssen doch so was wissen! Unbedingt“. Der Eine hat mich gesehen und den Anderen durch seinen Gesichtsausdruck gewarnt. Sofort waren die Beiden stumm und schauten mich an. „Guten Abend. Ich suche den Hörsaal im Kuppelraum für den heutigen Vortrag über Astrospektrografie“, sagte ich. „Aber ihr akustisch ausgeprägtes Gespräch über einen möglichen Einschlag eines Himmelskörpers liess mich interessiert zuhören. Offensichtlich soll Schmidt/Kamov im Mitteleuropa, eventuell gar in der Schweiz, einschlagen?“ fragte ich weiter. Die beiden waren betreten und baten mich anschliessend mit ihnen zu kommen und führten mich in einen Raum, den etliche, eingeschaltete Bildschirme erleuchteten und der sich im zweiten Stockwerk befand. Im Stillen fragte ich mich, warum die beiden nicht vorher ihren lautstarken Disput hier in diesem Raum abgehalten haben. Offensichtlich waren sie auf dem Weg nach unten im Treppenhaus in Streit geraten. „Sind sie Astronom?“ fragte mich der ältere, etwa sechzig Jahre zählende, weisshaarige, gross gewachsene aber sehr schlanke Mann, nachdem er mir Platz an einem ovalen Tisch mit sechs Stühlen angeboten hatte. „Ja, Amateurastronom. Mein Name ist Ueli Fischer und ich betreibe in der Nähe von Burgdorf eine Privatsternwarte“ Ich kramte aus meiner Geldbörse eine meiner Visitenkarten hervor. „Sie haben ein delikates Gespräch mitgehört und die richtigen Schlüsse gezogen“. Fuhr der Weisshaarige weiter. „Mit meinem Kollegen bin ich nicht einig über das weitere Vorgehen“.
Warum mich Professor Amrein in sein Vertrauen gezogen hatte, ist mir immer noch ein Rätsel. Er hätte sich ja einfach stillschweigend zurückziehen und mich auf der Treppe stehen lassen können. Vielleicht war er wegen des Streites so aufgebracht, dass seine Höflichkeitsgefühle überwogen? Oder strahle ich eine autoritäre Seriosität aus? Wie auch immer. Rasch einigten wir uns darauf, dass ich nichts über das soeben Erfahrene verlauten lassen werde und ich dafür als Gegenleistung das bisherige und künftige Wissen über den Kometen per Email erhalten werde. Schmidt/Kamov ist gute 300 Meter gross und wird in gut dreiundzwanzig Tagen mit einer fünfundneunzig Protzentiger Sicherheit in Mitteleuropa, eher etwas südlich, einschlagen. Mit dieser Grösse ist er nicht gerade ein globaler Killer, aber regional wird er immensen Schaden anrichten. Auch wenn er, wie zu erwarten, in der Atmosphäre zu einem grossen Teil verdampfen oder gar auseinander fallen wird. Mir war es nach dem Gespräch nicht mehr wichtig, den Vortrag zu besuchen und fuhr nach der Verabschiedung von Professor Amrein und seinem, jetzt auffällig stillen, Kollegen Dr. Stauffer etwas gedankenverloren nach Hause.
Eveline war erstaunt, dass ich so früh nach Hause gekommen bin. Mir ist nicht so gut, war eine glaubwürdige und nicht mal unwahre Antwort, mit der sie sich zufrieden gab. Ich sah wohl auch nicht gerade so aus, dass sie sich über meine Gesundheit Sorgen machen musste. Soll ich Eveline aufklären? Obwohl die Wahrscheinlichkeit gering ist, dass der Komet in unserer Umgebung einschlagen wird – beunruhigend ist es trotzdem. Es werden vielleicht viele Leute ihr Leben lassen müssen. Soll ich sie wirklich beängstigen? Dazu kommt mein Versprechen gegenüber Professor Amrein, niemandem etwas zu sagen. Und meine liebe Frau ist für mich kein „Niemand“. Dazu kommen die Tochter Ramona und ihr Mann Tobias die im eigenen Haus in etwa zwanzig Autominuten Entfernung ihre gemeinsame Tochter Luzia aufziehen. Eveline wird schon deshalb sehr beunruhigt sein und ob sie dann das schwerwiegende Wissen nicht auch Ramona und diese dann ihrer Freundin und Tobias seinem Vater....... Ich beschliesse zu schweigen. Natürlich könnten wir alle zusammen eine Reise ans andere Ende der Welt antreten, bis der Einschlag vorbei ist. Was aber dann? Alle unsere Verwandten, Bekannten, Freunde sind hier. Ich entschliesse mich zu schweigen. Überleben wir den Einschlag, dann spielt es keine Rolle, ob wir die Gegebenheiten umgehend oder erst nach unserer fiktiven Rückkehr in Kauf nehmen müssen und wenn nicht, sind keine weiteren Gedanken mehr darüber notwendig.

***

Es ist Donnerstagnachmittag, kurz nach vier Uhr. Morgen wird Schmidt/Kamov einschlagen. Ich sitze am Schreibtisch und mache sehr unkonzentriert Nachkalkulationen. Ich benötige mehr Radiergummi als Bleistiftminen. Am frühen Nachmittag erhielt ich per Email von Professor Amrein die neusten Informationen über den Kometen. Dieser wird mit hundert Protzentiger Sicherheit morgen Freitag, kurz nach sieben Uhr und zehn Minuten im Alpenraum einschlagen. Die Regierungen der gefährdeten Länder - neben der Schweiz Deutschland, Frankreich Italien, Lichtenstein und Österreich - sind bereits vor einem guten Monat über die Gefahr informiert worden und alle haben sich unisono dazu entschieden, dieses Wissen noch nicht zu veröffentlichen. Die zu erwartende Panik hätte mit grosser Sicherheit grösseren Schaden an Leib, Leben und Wirtschaft angerichtet, als der Kometeneinschlag selber. Ich überlege mir, wie viele Leute, die sich in der Himmelsmechanik auskennen, aufgrund der lückenlosen veröffentlichten und aktualisierten Ephemeriden des Schmidt/Kamov eine Kollisionsgefahr mit der Erde erkannt haben? Das Einstellen der Veröffentlichung der Kometendaten oder deren Verfälschungen hätten mit Sicherheit etliche „dumme Fragen“ entstehen lassen und die Geheimhaltung gefährdet. Ein Beschuss des Kometen mit Raketen und Atombomben wie in den einschlägigen Hollywood- Filmen kam nie in Frage. Erst vor wenigen Wochen ist ein möglicher Einschlag erkannt worden und die notwendige Infrastruktur für das Hinbringen und Zünden einer entsprechenden Bombe steht immer noch nicht zur Verfügung.
Vor ein paar Tagen sind nun die Medien aktiv geworden und auch die Behörden in den akut gefährdeten Gegenden haben die Bewohner aufgerufen, für heute Nacht oder spätestens morgen vor sieben Uhr Schutz- oder Kellerräume aufzusuchen.
Der Streit mit Eveline aufgrund meiner Beichte über das Nichtteilen meines Vorwissens über den bevorstehenden Kometeneinschlag hat sich gelegt und unsere Tochter mit Mann und Kind übernachten heute bei uns. Es ist eine gedrückte Stimmung - auch wettermässig. Am frühen Morgen gab es wegen dem Einzug einer Kaltfront Gewitter und es blieb den ganzen Tag stark bewölkt. Der Komet hält sich heute Nacht unterhalb des Horizonts auf. Trotzdem hätte ich aber gerne zusammen mit Tobias einen Teil der Nacht in meiner Sternwarte verbracht. Schlafen werde ich sowieso nicht können und gemeinsam am Tisch sitzen und Trübsal blasen ist nicht so meine Sache.
Kurz nach siebzehn Uhr komme ich nach Hause, Eveline und Ramona sitzen zusammen mit Luzia am Stubentisch und spielen „Dog“. Luzia hat ab heute bis kommenden Montag schulfrei bekommen und Tobias ist auf Kundenbesuch. Nach Praktikantenjahren in meinem Betrieb und Berufsbegleitender Ausbildung zum Maschineningenieur wird er in ein paar Monaten die Nachfolge des in die Pension gehenden Verkaufsleiters übernehmen und es wird wohl nicht mehr lange dauern, bis ich ihm die Geschicke der Firma überlassen werde. Er wird wohl erst gegen neunzehn Uhr bei uns eintreffen. Wir beschliessen mit dem Abendessen zuzuwarten, bis Tobias eingetroffen ist. Eigentlich habe ich trotz meines allgemein bekannten sehr guten Appetites heute Abend sehr wenig von demselbigen anzubieten. Nach Professor Amreins letzten Angaben, die seit drei Tagen auch im Teletext auf Seite 157 – nach den Wetterseiten – bekannt gegeben werden, gehört der Raum Burgdorf /Bern nicht zu den direkt betroffenen Gebieten. Aber die Auswirkungen eines Einschlags im Alpenraum werden wir wahrscheinlich trotzdem zu spüren bekommen. In DRS- Aktuell, kurz nach neunzehn Uhr - Tobias ist immer noch nicht erschienen, er steckt in einem Stau auf der A1 und hat Ramona telefonisch informiert - kommt Professor Amrein zu Wort. Er erklärt, dass mit einer grossen Wahrscheinlichkeit der Komet in der Atmosphäre zerstört wird und nur kleinere Teile davon die Erdoberfläche erreichen werden. Die Druckwelle der Explosion in der Atmosphäre soll aber nicht unterschätzt werden und alle Bewohner die sich fünfzig Kilometer nördlich und südlich der Alpen befinden, sollen unbedingt die Schutz- oder wenigstens die Kellerräume aufsuchen. Spätestens morgen früh vor sieben Uhr und dort mittelst Radio die Anweisungen verfolgen. Burgdorf liegt damit an der Grenze zur Gefahrenzone. Ich beschliesse zusammen mit dem gerade eingetroffenen Tobias unseren Schutzraum von den Gestellen zu befreien, die Eveline für Vorräte nutzt.
Nach einer Stunde haben wir die Gestelle raus, den Boden besenrein und eine alte Couch, drei Campingstühle samt Tisch, auf diesem ein Radiogerät, eine Taschenlampe und mein Powerpack für die mobile Sternwarte stehen, stehen im Schutzraum bereit. Der Lüftungsventilator funktioniert, die Luftklappen sind geöffnet und gängig. Mit ein paar Brötchen, einer Thermoskanne, Lesestoff und MP3- Player für Luzia werden wir die paar Stunden ohne Schutzraumkoller hinter uns bringen können. Noch rasch die Gummidichtungen bei Notausstiegs- und Haupttüre mit Silikon- und die Türscharniere mit Ölspray behandelt und wir gehen wieder nach oben.
Draussen haben sich erneut Gewitterwolken gebildet und in Richtung Jura sieht man häufiges Wetterleuchten. Es ist zwar an diesem Sommertag erst kurz vor 21 Uhr aber die Helligkeit entspricht eher der Dämmerung. Ich beschliesse, ins Bett zu gehen. Wie viele andere Firmen auch, habe ich aufgrund der Gegebenheiten für den morgigen Tag die Produktion eingestellt. Da morgen Freitag ist, steht ein verlängertes Wochenende bevor, was aber begreiflicherweise bei niemandem richtig Freude aufkommen lässt.

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Eher wach als im Schlaf verbringe ich zähflüssige Stunden im Bett. Der Rücken tut mir weh und auch sonst ist es mir im Bett nicht mehr wohl und ich beschliesse, obwohl erst kurz vor fünf Uhr, aufzustehen. Nach der Morgentoilette höre ich mir im Radiowecker die Fünfuhrnachrichten an. Dem Berner Oberland fällt die Zweifelhafte Ehre zu, den Kometen begrüssen zu dürfen. Das Eindringen in die Atmosphäre wird mit einem eher spitzen Winkel geschehen, was die Chance für ein Zerplatzen des Kometenkerns stark vergrössert.
Ich gehe in die Küche und lasse mir mittelst Automaten einen Kaffee raus. Als ich gerade eine Pfanne Wasser für die Thermoskanne auf den Induktionsherd stelle, kommt Eveline in die Küche. Ihr Gesicht lässt auch auf eine nicht gerade erholsame Nacht schliessen. Gemeinsam machen wir etwas für das Frühstück bereit. Der Rest unserer Familie wird nächstens erscheinen. Es ist gestern Abend abgesprochen worden, dass wir gegen halb sieben den Schutzraum beziehen werden.
Niemand hat richtigen Appetit auf die gestrigen Brötchen, die harten Eier, diverse Joghurts, Emmentaler Anke und Evelines Marmelade. Auch die ansonsten gesprächigen Frauen sind heute Morgen erstaunlich ruhig. Ich schliesse dies nicht unbedingt auf die frühe Morgenstunde zurück.
Kurz nach halb sieben gehen wir mit zwei Tragetaschen, einem Hund einer Katze, dem den Bernermarsch pfeifenden Papagei auf meiner Achsel und der mit heissem Wasser gefüllten Thermoskanne die Treppe runter zum Schutzraum. Ich schliesse Haupt- und Notausstiegstüre des Schutzraums während Tobias das Lüftungsaggregat startet und setze mich neben Eveline auf die Couch während die „Jungen“ sich die Campingstühle als Sitzgelegenheit aneignen. Der Campingtisch bleibt ausser den darauf stehenden Radio, Taschenlampe und Powerpack noch leer und ich stelle letzteres auf DRS 1 ein. Gestern war der Empfang einwandfrei aber jetzt führt jede Bewegung eines Schutzrauminsassen zu rauschenden Störungen. Nach dem Öffnen der schweren Eingangstüre besorge ich mir in der Werkstatt – dieser mit Dreh-, Fräs- und Bohrmaschine ausgestattete Kellerraum dient mir für das Fertigen diverser Teile für die Sternwarte und meinem weiteren Hobby, dem technischen Modellbau – ein etwa drei Meter langes Stück Draht, das ich dann mit einem Ende mit vier Windungen um die Radioantenne wickle und anschliessend nach dem Umwerfen eines Glases, das Eveline in der Zwischenzeit auf den Campingtisch gestellt hatte – es ist verdammt eng mit fünf Leuten im Schutzraum - schiebe ich den Draht nach einem spaltweiten Öffnen der Notausstiegstüre nach draussen, soweit es geht und klemme diesen dann beim Schliessen der Türe fest. Jetzt ist der Sender einwandfrei zu hören. Ich stelle die Musik etwas leiser und diese verbindet sich mit dem Geräusch des Lüftungsaggregates.

*****

Bange Minuten vergehen. Gegen sieben Uhr stelle ich das Radio wieder etwas lauter. In den Siebenuhrnachrichten ist umgehend die Rede vom Kometen. Kalt wie gewohnt erwähnt der Sprecher die Gefahr, die etlichen Leuten schlagartig ein anderes oder gar kein Leben mehr bescheren wird. Dann die seit Jahrzehnten immer wieder erwähnten Probleme in Nahost, die erfreuliche Mitteilung der endlich überstandenen globalen Wirtschaftskrise und dann ein paar Worte über den Rücktritt von Bundesrätin Doris Leuthard und die als Nachfolge verhandelten Christa Markwalder. Während dem Wetterbericht stelle ich das Radio aus. Der verlockende Gedanken, mich aus dem Schutzraum ins Freie zu begeben um dort den Einschlag zu beobachten. Von meinem Garten aus habe ich freie Sicht ins Berner Oberland und es könnte mir eine eindrückliche Licht- und Effektschau geboten werden. Eveline wird aber besorgt drum sein, dass ich ein solches Ansinnen gar nicht oder nur mit einer grossen Überwindung ihres psychischen Gegendrucks durchführen könnte. Also lasse ich dies sein und bleibe brav im behördlich empfohlenen Schutzraum sitzen.
Nur noch das Rauschen und Summen des Lüftungsaggregates ist zu hören. Die stetig leuchtende Digitalanzeige der Radiouhr Uhr rückt Zahl um Zahl vor. 07:06, 07:07. Wir sitzen da und wagen es nicht aufzuschauen. Das kalte Licht der Leuchtstoffröhre ist für ein Anheben der Moral nicht gerade förderlich. Eveline hält meine Hand. Luzia sitzt auf Tobias’ Schoss und dieser hält die Hand von Ramona. 07:11, 07:12. Der Einschlag sollte jetzt statt finden. Nichts zu hören, nichts zu spüren. Das Geräusch des Lüftungsaggregates wirkt jetzt störend. Die Schallwelle der Explosion oder des Einschlages wird für die rund 50km Distanz fast drei Minuten benötigen. Wenn Teile von Schmidt/Kamov ins Thuner- oder Brienzerseebecken fallen, wird es eine grosse Flutwelle geben, die alles Ufernahe in der dortigen Region überschwemmen und zerstören wird. Wahrscheinlich werden wir nach etwa zwei Stunden über das Anschwellen der Aare auch bei der Emme infolge Rückstaus Überschwemmungen bekommen. Wird in Interlaken, den vielen Dörfer um Brienzer- und Thunersee oder in der schönen Stadt Thun überhaupt noch eine Besiedelung möglich sein? Sind die Verwüstungen so stark, dass es Jahre dauern wird, in Thun und Umgebung wieder leben und wohnen zu können? Oder schlagen Kometenteile direkt in Thun ein?

Ein lautes Grollen lässt mich zusammenzucken. Erschreckt stelle ich fest, dass ich gestern Abend vergessen habe den Radiowecker einzuschalten. Die Uhr zeigt 07:13 und um 9 Uhr habe ich einen Termin in der Berufsschule in Thun. Hoffentlich gibt es wegen dem starken Gewitter keine Überschwemmungen auf der A6. Rasch stehe ich auf und gehe mir den Schlaf aus den Augen waschen.


Einen schönen Guten Morgen!

Urs Flükiger

Impressum

Texte: Urs Flükiger
Bildmaterialien: Urs Flükiger
Lektorat: Keine
Übersetzung: Keine
Tag der Veröffentlichung: 26.08.2012

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