FREUDE, WUT, TRAUER
Und ein Scheinbar
Glückliches Ende
Die kleine Bärin
Ursula Steinbach
Vorwort
Würden die Menschen danach streben,
sich selber zu vervollkommnen,
statt die ganze Welt zu retten,
selbst innerlich frei zu werden,
statt die ganze Menschheit zu befreien -
wieviel hätten sie getan
zur wahrhaften Befreiung
der ganzen Menschheit.
(Laotse)
Dieses Buch widme ich meinem Sohn Benjamin.
Freude
Sie rannte und rannte, vorbei an duftenden Wiesen, weißen kleinen Häusern, lichten Wäldern. Das Blut in ihren Adern floss schneller, und die Kraft, die sie verloren glaubte, kehrte zurück.
Sie hatte ein schlechtes Gewissen, ein bisschen zumindest, weil sie die Schule schwänzte, einfach so, ohne Entschuldigung. Weder war sie krank noch war jemand gestorben. Sie hatte keine Lust. Die Sonne schien. Es war schon frühmorgens heiß, und der Duft des Waldes stieg ihr in die Nase. Sie stand auf und ging zum Fenster.
Sie hatte die Haustür gehört, als die Nachbarskinder sie hinter sich geschlossen hatten. Sie hatte gekichert und gedacht: Guck mal, wie brav!
Dann hatte sie sich auf die andere Seite gelegt, bevor dieser herrliche Frühlingstag sie einladen sollte, mit ihr zu frühstücken. Der Schulbus war vorbeigefahren. In zehn Minuten würde es klingeln, und der Lehrer würde mit halb geschlossenen Augen die Klasse betreten, guten Morgen wünschen und seinen Kontrollblick in die Runde schweifen lassen. Dabei würde er lakonisch feststellen, das Annette Brommenschenkel wieder fehlte, und mit einem Kopfschütteln würde er einen Eintrag ins Klassenbuch vornehmen: “Annette Brommenschenkel fehlt.” Einen kurzen Augenblick lang würde er vor sich hinstarren und dann ausrufen: “Buch aufschlagen, Seite 14. Peter, lies bitte vor.”
Sie atmete schneller, während sie mit ihren neuen Turnschuhen die moosbedeckte Erde platt drückte. Schritt, Schritt, Schritt, Schritt. Im rhythmischen Laufschritt nahm sie den Waldweg, der in einer Kurve aus der Lichtung heraus führte. Hohe Kiefern säumten den Weg. Sie bemerkte, dass ein kleines Reh sie beobachtete. Aber das war sicher nur Einbildung. Lauf! Lauf! Das ist toll! Das ist toll! Welch ein schönes Leben! Lauf, bevor es zu spät ist. Sie hatte den Eindruck, als ob die Bäume mit ihr sprachen. Das hatte sie schon oft erlebt, wenn sie in den Wald lief.
Ihre Mutter besaß ein esoterisches Buch. Darin stand, dass Menschen mit Bäumen reden konnten, wenn sie es sich ganz stark wünschten. Die Mutter hatte bestätigt, dass das wahr sei. Sie hatte es selbst schon erfahren. Vielleicht würde ihre Mutter auch verstehen, warum sie heute nicht zur Schule gehen konnte. Nein, wahrscheinlich würde sie schimpfen, weil sie das nicht richtig fand und Angst hatte, Annette würde etwas versäumen. Zwar hatte die Mutter eine kritische Einstellung gegenüber allem. Aber wenn es darauf ankam, reagierte sie meistens ziemlich konservativ.
Alle Erwachsenen waren ziemlich konservativ. Das ist eigentlich kein schlechtes Wort. Es heißt so viel wie “das Alte bewahren wollen”. Immerhin behielten sie ihre kritische Einstellung als eine Art Privatvergnügen bei; denn sie waren der Meinung, das ginge schließlich niemand etwas an.
-----
“Kannst du nicht aufpassen? Du bist auf meinen Fuß getreten.” sie blickte nach unten und sah eine winzige Gestalt, die Ähnlichkeit mit ihren Urururgroßvätern aufwies.
“Wer bist du denn?” fragte sie.
“Kennst du mich denn nicht? Ich bin doch Little Fool aus Seram III.”
Annette konnte mit diesem Begriff wenig anfangen und rieb sich die Augen, weil sie glaubte, Halluzinationen zu haben. Dann antwortete sie, ein wenig ruhiger:
“Guten Tag. Mein Name ist Annette Brommenschenkel aus der Virchowstraße dort drüben.”
Sie drehte sich um und zeigte in die andere Richtung. Doch die Straße war plötzlich verschwunden. Es gab nur noch Wald und nichts als Wald. Little Fool konnte sich nicht mehr halten vor Lachen über ihr verdutztes Gesicht. War das ein Traum?
“Aber, aber...”, stotterte sie. Und Little Fool bog sich vor Lachen.
“Du verstehst wirklich nichts", sagte er, wobei er sich kaum noch halten konnte. Annette war beleidigt. Ihr war zum Weinen zumute. Was hatte das zu bedeuten? Wer war diese kleine Gestalt? Und wo war die Straße, in der sie wohnte?
“Setz dich hin", sagte Litte Fool und deutete auf einen Baumstamm. Annette nahm zögernd Platz.
“Ich werde es dir erklären; denn du bist offensichtlich in der Zeit stehen geblieben. Möglicherweise hast du auch den Zeitsprung verpasst.”
Was meinte Little Fool damit? Rätselhaft! Little Fool fuhr fort:
“Du bist zwar im Training, aber du hast die Konsequenzen nicht gezogen. Innehalten im Sein ist nicht richtig. Wenn man ein Problem lösen oder etwas verändern will, muss man schon etwas dafür tun. Auch ohne dich hat sich alles verändert, wie du siehst. Du erinnerst dich an die Häuser dort drüben? Sie sind nicht mehr da. Stattdessen steht eine Blumenwiese mit vielen verschiedenen Blumen da, wo einst die Häuser waren.”
“Aber wo sind die Menschen? Wo sind meine Freunde?” wollte Annette wissen.
“Mach dir keine Sorgen. Sie sind am Leben. Aber sie haben sich verwandelt, als sie vor der Alternative standen, entweder Hologramme oder aber Naturwesen zu werden.”
Little Fool sprach in ernstem, beinahe wissenschaftlichem Ton. Er ließ die Worte auf der Zunge zergehen, und Annette dachte daran, dass ihr Bruder ihr einmal erklärt hatte, was ein Hologramm war. Er pflegte regelmäßig im Cyberspace zu verkehren, jener virtuellen Wirklichkeit, in der Gestalten herumirrten, die wie Menschen aussahen, aber immateriell sind. Wie Geister schweben sie im Raum. Man kann durch sie hindurch gehen. Ihr Bruder hatte auch berichtet, dass er von einem Hologramm begrüßt wurde, wenn er diese Welt betrat. Innerhalb und außerhalb der Maschine lebten sie. Konnte man überhaupt von Leben sprechen oder war es eher eine materialisierte Vorstellung, die auf Knopfdruck erschien? Aber wer war Little Fool?
Um sich zu vergewissern, dass sie nicht träumte, kniff Annette die kleine Gestalt in den Arm.
“Au, du hast mir wehgetan", rief Little Fool und rieb sich den Arm. Er schien verstanden zu haben, dass Annette Beweise brauchte und versuchte, ihr auf die Sprünge zu helfen.
“Denk einmal nach und versuch, dich zu erinnern. Neulich, als du bei Dr. Kowalski warst, hast du ihm von einem Traum erzählt.”
Dr. Kowalski war Kinderpsychologe. Auf Anraten des Lehrers hatte die Mutter beschlossen, Annette psychologisch betreuen zu lassen. Der Anlass dazu war, dass Annette mehrmals dabei ertappt worden war, wie sie in der Stunde mit weit aufgerissenen Augen da saß und auf die Fragen des Lehrers nicht reagiert hatte. Auch war sie regelmäßig in der Pause weggerannt und erst nach ein paar Stunden zurückgekehrt. Als man sie fragte, wo sie gewesen sei, konnte sie sich an nichts erinnern. Dr. Kowalski versuchte nun, dem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Einmal pro Woche suchte Annette seine Praxis auf und erzählte ihm von ihren Träumen. Zum Beispiel gab es folgenden Traum:
Sie saß in einem überfüllten Bus. Neben ihr stand ein Mann mit gebeugtem Haupt. Kurz bevor sie aussteigen wollte, hob er den Kopf und sie erschrak; denn der Mann hatte kein Gesicht. Sein Kopf war rundherum mit Haaren bedeckt, und aus dem Inneren kam dumpf eine Stimme: “Aussteigen, bitte!”
Dr. Kowalski war der Meinung, dass nicht der Kopf, sondern der Busfahrer die Worte gesagt haben müsse. Aber das stimmte nicht. Es war eindeutig der Kopf.
In einem anderen Traum schwamm sie im Meer, wie in einem dieser bekannten Werbefilme im Fernsehen. Das Wasser war warm und weich. Sie konnte sich problemlos darin bewegen. Sie atmete mit ihren Kiemen und sprach mit den Pflanzen und Tieren, denen sie begegnete, ungezwungen, selbstverständlich. Plötzlich wurde sie von einem Sog erfasst und an die Wasseroberfläche geschleudert. Sie versuchte, sich dagegen zu wehren. Vergebens ! Als sie oben ankam, bekam sie kaum Luft. Beinahe wäre sie erstickt und wie ein toter Fisch an Land gespült worden. Im letzten Augenblick war ein Seeaal aufgetaucht, hatte sich um sie herumgewickelt und in die Tiefe gezerrt. Dort unten hatten sie noch eine Zeitlang still zusammen gesessen und waren glücklich gewesen.
Dr. Kowalski stellte in seiner Diagnose fest, dass Annette stark pubertierte und eine unstillbare Sehnsucht nach etwas nicht Definierbarem habe. Der Arzt und die Mutter hatten sich vielsagend angeblickt. Dann hatten sie sich bis zur nächsten Sitzung verabschiedet. Annette sprach daraufhin mit ihrer besten Freundin über den Traum, und die sagte, sie habe auch schon so einen Traum gehabt. Das sei wohl nichts Ungewöhnliches. Nur die Geschichte mit dem Seeaal fand sie merkwürdig. Aber was spielte es für eine Rolle, um welches Tier es sich handelte!
Um mehr zu erfahren, hatten sie gemeinsam Herrn Schneider aufgesucht und ihn um Rat gefragt. Herr Schneider besaß einen Buchladen in der Stadt. Er war einst Geschichtsstudent gewesen und arbeitete jetzt als Buchhändler und Schriftsteller. Er hörte sich gern ihre Erlebnisse an, weil er sich dadurch Stoff für seine Romane erhoffte.
Herr Schneider hatte über ihre Geschichte gelacht und gesagt:
“Dieser Dr. Kowalski ist wirklich ein feiner Arzt!” Er meinte das ironisch.
“Wer sich mit Traumdeutung auskennt, weiß, dass Träume immer symbolische Bedeutung haben.”
Allerdings wollte er ihnen nicht verraten, welche symbolische Bedeutung der Seeaal hatte, weil er fürchtete, sie dadurch zu verwirren. Das ist typisch für die Erwachsenen. Sie meinen, sie hätten den größeren Überblick und müssten dafür sorgen, dass die Kinder vor dem Bösen bewahrt werden. Dabei weiß doch jedes Kind, dass in jedem ein böser und ein guter Kern stecken. Warum zeigten sie uns Kindern nicht einfach, wie man das macht, das mit dem Bösen und dem Guten.
“Was ist los?” fragte Litte Fool und blickte ein wenig betreten drein, weil er glaubte, Annette interessiere sich nicht mehr für den Fortgang der Geschichte.
“Ich weiß zwar, was ein Hologramm ist. Aber was sind Naturwesen?” fragte sie langsam und betont, um zu zeigen, dass sie neugierig geworden war.
“Also, das ist eine lange Geschichte. Deshalb habe ich dich nach deinen Träumen gefragt. Hast du schon einmal einen echten Seeaal gesehen?”
“Nein", gab Annette kleinlaut zu. Sie schämte sich, weil sie das, worüber sie berichtet hatte, nicht einmal kannte. Wohl erinnerte sie sich, in einem Kinderalmanach eine Abbildung gesehen zu haben. Aber das war eine Zeichnung, kein Foto.
“Siehst du, genau das ist das Problem. Die Menschen reden von Dingen, die sie nicht oder nur aus zweiter Hand kennen. Und obwohl sie nie genau wissen und nicht ganz sicher sind, was sie meinen, erfinden sie Neues aus ihrem Kopf, und das ist dann innovativ.”
Annette verstand überhaupt nichts mehr. Was war das: innovativ?
“Du weißt nicht, was innovativ ist, nicht wahr?” fragte Little Fool, der scheinbar Gedanken lesen konnte.
“Geht dir kein Licht auf?”
Annette dachte angestrengt nach, und dann hatte sie plötzlich begriffen.
“Du hast Recht. Wir benutzen Wörter, die wir irgendwann einmal gehört haben und deren Bedeutung wir nicht genau kennen.”
“Genau", sagte Little Fool. “Dann können wir beginnen. Innovativ bedeutet: etwas Neues erfinden. Die Menschen wollen und wollten etwas Neues erschaffen, etwas Fortschrittliches aus dem, was es schon gibt. Aber weil sie oft das, was es gibt, nicht genau kennen, kann es passieren, dass sie sich irren. Und dann ist es zu spät. So geht es immer weiter, in einem ständigen Kreislauf, der einen anderen wichtigen Kreislauf stört.”
“Ich weiß, was du meinst", rief Annette. “Du meinst den Kreislauf der Natur.”
“Exakt", erwiderte Little Fool.
“Jetzt verstehe ich. Die Menschen benutzen die Natur, um etwas Neues zu schaffen und machen sie damit kaputt.”
“Ja. So ähnlich ist das, und...”
Little Fool wurde unterbrochen.
“Hey, was ist los? Hast du mich vergessen?” rief eine Stimme aus dem Kiefernwald.
“Hallo, Kaukasus", begrüßte Little Fool den herannahenden riesigen Klotz, der sich humpelnd auf sie zubewegte. Kaukasus, der Klotz, hatte Ähnlichkeit mit einem Baum, der schon sehr alt war und keine Blätter hatte. An der Spitze, wo normalerweise die Baumkrone war, trug er eine geschlossene Lilienknospe, in der der Sitz seiner Stimmbänder war.
“Ach, du hast Besuch. Ich glaube, ich störe, oder?” sagte die Stimme laut dröhnend.
“Du störst überhaupt nicht", antwortete Little Fool. “Im Gegenteil, du kannst mir helfen.”
“Helfen, wobei?” fragte Kaukasus.
“Unsere kleine menschliche Freundin hier will wissen, wo die Anderen sind.”
“Welche Anderen? Es gibt doch nicht mehr viele von uns.”
“Sie meint die anderen Menschen.”
“Ach so. Na dann.”
Annette wurde übel. Sollte das etwa heißen, dass es nicht mehr viele Menschen gab, dass sie ausgestorben waren wie die Dinosaurier?
“Alles in Ordnung?” fragte Little Fool, dem nicht entgangen war, dass Annette sich nicht wohl fühlte.
“Du solltest etwas essen. Hier!”
Little Fool reichte Annette einen kleinen Holzteller mit Löwenzahnsalat und Kuchen zum Nachtisch.
“Gut gewürzt und mit einer leckeren Sauce schmeckt auch Salat gut.” Little Fool lachte über Annettes überraschtes Gesicht. “Und nun zu dir, Kaukasus. Was führt dich her?”
Kaukasus wischte sich den Schweiß von der Stirn und antwortete:
“Wir sind verabredet. Hast du das vergessen?”
“Ach ja, Entschuldigung", sagte Little Fool. “Aber zuerst muss ich Annette noch in unser Geheimnis einweihen. Dabei kannst du mir helfen. Sag ihr einfach, wer du bist.”
Plötzlich wurde es dunkel. Es begann, heftig zu regnen. Ein gewaltiges Donnerwetter hob an, und Annette suchte den Schutz eines Baumes auf, hoffend, dass kein Blitz einschlagen würde. Kaukasus setzte sich im Schneidersitz hin und breitete die Arme aus. Dann begann er zu sprechen:
“Vor noch nicht allzu langer Zeit
Und doch schon einer Ewigkeit.
War hier noch, was jetzt nicht mehr ist,
Warst du noch, was du nicht mehr bist.”
Er hielt inne, schaute Annette an und biss sich auf die Lippen. Nein, das war nicht richtig. Annette konnte nicht gemeint sein.
“Egal, ich fahr jetzt fort. Also:
Warst du nicht, was du nicht mehr bist. Öhhh. Nein. Bist du, was du nicht mehr warst, nein, sein wirst. Du wirst sein, was ich nicht bin. Verdammt, jetzt habe ich den Faden verloren.”
Kaukasus wurde rot. Das Gewitter hatte aufgehört, und Little Fool konnte sich wieder einmal nicht mehr halten vor Lachen.
“Sehr beeindruckend", prustete er. Kaukasus senkte den Kopf. Er kam sich wie ein Trottel vor.
“Macht nichts", tröstete Little Fool ihn. “Wir werden es ganz normal versuchen. Dieser Hokuspokus ist ohnehin nicht mehr zeitgemäß.”
Kaukasus verzog schmerzhaft das Gesicht und fragte kleinlaut:
“Ganz normal? Das ist furchtbar langweilig. Früher war auch normal, was heute wirklich au... ist.”
Die letzte Silbe verschluckte er und schwieg stattdessen.
“Also gut, ich gebe auf. Ich bin noch nicht so weit, wie ich wäre, wenn...”
Little Fool rieb sich nachdenklich das Kinn. Dann fiel ihm ein:
“Es gab da mal ein Spiel: Wer hat Angst vor dem schwarzen Mann? Kennst du das?”
Er sah Annette erwartungsvoll an. Aber Annette gähnte. Wer kannte das Spiel nicht? So eine dumme Frage!
“Also gut, dann eben ein anderes Spiel. Nehmen wir einmal an, du müsstest deine Rolle in einem Theaterstück tauschen, und man würde dich fragen, wen du am liebsten spielen möchtest, was würdest du antworten?”
Annette dachte angestrengt nach. Sie war mit ihren Eltern schon viele Male im Theater gewesen. Das letzte Mal waren sie in einem Stück gewesen, in dem ein kleiner Junge plötzlich nicht mehr gehen konnte. Seine Eltern suchten mit ihm einen Arzt auf. Der aber konnte ihm nicht helfen. Eines Nachts tauchte eine lebendig gewordene Puppe auf, weckte ihn, und sie erlebten ein Abenteuer, in dem der kleine Junge viel Mut beweisen musste.
Am Schluss konnte er wie durch ein Wunder wieder gehen.
Die Rolle der Puppe hatte ihr am besten gefallen, weil sie das Wunder bewirkt hatte.
“Mozart", sagte Annette nach langen Überlegungen.
“Mozart ist schon lange tot. Und du willst ein Komponist sein?” fragte Little Fool ungläubig.
“Nein, ich meine nicht den Komponisten Mozart, sondern den Wunderheiler.”
“Ach den", Little Fool, der Gedanken lesen konnte, hatte sie verstanden. Er sah Annette eine Weile an und fuhr dann, mehr zu sich selbst gewandt, fort:
“Das bedeutet, wir müssten ein großes Stück Walderde dazugeben und Tannennadeln, vermischt mit Fliegenpilzextrakt.”
Annette blickte Little Fool fassungslos an. Was für eine seltsame Rezeptur! Wer sollte so etwas essen wollen? Sie rümpfte die Nase und rief aus: “IHHGITT! Das ist ekelhaft. Schmeckt bestimmt scheußlich.”
“Du sollst es ja nicht essen, sondern werden.”
“Was! Ich soll eine Mischung aus Walderde, Fliegenpilzdreck und Tannennadeln werden?”
“Um Himmels willen, nein! Das sind doch nur die Zutaten.”
“Ich will kein Naturwesen werden. Lasst mich in Ruhe. Ihr seid ja verrückt.”
“Wenn du das nicht willst, dann musst du ins Halotown.”
Annette fing an zu weinen. Sie war unendlich traurig und hatte Heimweh.
“Lasst mich doch endlich in Ruhe mit eurem Hologrammgerede. Ich will nach Hause, zu meiner Mutter und zu meinen Freunden. Bitte, ich will hier weg. Ich will hier weg.”
Sie schluchzte heftig und zitterte am ganzen Körper.
“Mademoiselle", rief eine kleine zarte Stimme. “Mais ce n’est pas vrai".
Die Stimme gehörte einem kleinen zarten Wesen, das sich ihr vorsichtig näherte und ihr einen Kuss auf die Wangen drückte.
“Ah, ma chérie. Mais il ne faut pas être triste. Embrasse-moi.” Annette saß da mit offenem Mund und hatte ganz vergessen, weitere Tränen zu vergießen. Sie konnte nicht alles verstehen, weil sie in der Schule erst mit Französisch angefangen hatte, aber es gelang ihr, aus den Wortfetzen, die ihr vertraut waren, den richtigen Sinn zusammenzusetzen; denn sie war nicht dumm, und außerdem besaß sie eine ausgeprägte Sprachbegabung.
“Bonjour, mes amis.” Die Stimme wandte sich an Kaukasus und Little Fool, die mit einer leichten Verbeugung antworteten:
“Bonjour, Souris-qui-danse.”
Souris-qui-danse setzte sich neben Annette auf den Baumstamm. Tatsächlich sah sie so aus wie eine kleine Maus. sie hatte eine spitze Nase und war so klein wie eine Feldmaus. Sie trug ein rosafarbenes Kleidchen mit einer Schleife um die Taille. Auch auf dem Köpfchen hatte sie eine Schleife, die um drei lange Haare gebunden war. An der einen Hand hatte sie viele kleine goldene Ringe, und in der anderen ringlosen Hand hielt sie ein überdimensional großes Streichholz.
“Tu as un frère, mais pas de soeur". “Maintenant, tout a changé. Tu as aussi une soeur.“ Ich habe keine Schwester", sagte Annette. “Das weiß ich ganz genau.”
“Mais si, regardez. Moi, je suis ta soeur.”
Annette schaute sie ungläubig an. Das war eine Frechheit. Sie sollte eine Schwester haben, die aussah wie eine kleine Maus! Das war ein schlechter Witz.
“Qui sait ce qui sera?”
Annette gab den Versuch auf zu verstehen, was die tanzende Maus ihr mitteilen wollte. sie hielt es für klüger, sich in ihr Schicksal zu ergeben und abzuwarten. Vielleicht war alles nur ein Traum, und bald würde sie wieder zuhause sein.
Die Maus stand auf und zündete das riesengroße Streichholz an. Dann hielt sie es in die Luft wie eine Wunderkerze und begann zu tanzen. Im Hintergrund ertönte eine Musik, die ihren Tanz begleitete. sie drehte sich ein paarmal um sich selbst, wirbelte durch die Luft, machte einige Sprünge hin und her, hoch und runter, setzte sich, stand wieder auf und schlug ein Rad. Dann, auf einmal, verharrte sie in einer Stellung, bei der sie ein Bein hinter sich hoch hob und die Hände faltete. Sie atmete ein und aus, ein und aus. Annette bemerkte, dass Little Fool und Kaukasus die gleiche Stellung eingenommen hatten. Gemeinsam atmeten sie nun ein und aus, ein und aus.
“Komm, versuch es auch", rief Little Fool Annette zu. “Du musst nur Geduld haben. Dann wirst du nicht mehr traurig sein.”
Widerwillig stand Annette auf und versuchte, auf einem Bein zu balancieren und das andere hinter sich hoch zu heben. Nach ein paar Versuchen gelang ihr die Übung, und sie versank wie die drei anderen in meditativer Ruhe.
Nachdem sie eine Zeitlang so da gestanden waren, klatschte Souris-qui-danse in die Hände und rief:
“Arrêtez.”
“Nun, wie hast du dich gefühlt? Antworte frei heraus", sagte Little Fool.
Annette konzentrierte sich, um ihre Gefühle zu beschreiben. Dann sagte sie:
“Ich fühlte mich entspannt und leicht, so, als würde ich fliegen. Und ... ich bin überhaupt nicht mehr traurig.”
“Siehst du”, sagte Little Fool. “Darum geht es. Menschen können ihren Schmerz und ihre Trauer überwinden, wie sie die Schwerkraft überwunden haben, damals, als sie in den Weltraum aufbrachen.”
Kaukasus gab seinen Kommentar dazu:
“Wir kennen die Ursache nicht, aber die Wirkung können wir aufheben.”
Souris-qui-danse lächelte ihn freundlich an und sagte:
“Tu as raison, mon ami. Il s’agit d’être libre et responsable de soi-même pour aimer l’autre.”
Die drei merkwürdigen Wesen fassten sich an den Händen, nahmen Annette in ihre Mitte und sangen:
Le coeur a raison et non la raison
Ah oui, c’est si bon.
L’amour est toujours
Et toujours l’amour.
La beauté est une rose,
Voilà quelque chose.
L’amitié rend heureux,
Ce n’est pas un jeu.
La chaleur de la vie
Pour un quelconque génie
Qui sait ce qui sera?
L’avenir est déjà là.
Et c’est nous
Qui nous centrons
Au milieu de l’éternité.
Als das Lied zu Ende war, umarmten die drei Naturwesen Annette. Annette wurde augenblicklich von ihrer Fröhlichkeit angesteckt. Beinahe hätte sie vergessen, dass sie nach Hause wollte. Dann aber fiel ihr etwas ein:
“Ihr sagtet, meine Familie sei am Leben und meine Freunde auch. Wo also sind sie?”
Little Fool nickte, und er antwortete, als habe er schon auf die Frage gewartet:
“Komm mit. Wir werden dir etwas zeigen, das dir gefallen wird.”
Sie nahmen Annette bei der Hand und führten sie den Waldweg entlang. Da, wo einst Annettes Elternhaus gestanden hatte, befand sich eine Höhle. Der Eingang war mit Laub bedeckt, und davor stand ein Schild:
INTERMEDIATE SPACE
(ZWISCHENLAND)
Sei ruhig und gelassen
Sei fröhlich und frei
Trauer und Hass
Sind dir einerlei
Du bist, wer du bist,
Groß oder klein,
Du bist mit dabei,
Innerlich frei.
Annette fragte sich, was die Inschrift zu bedeuten hatte. Da sie aber nicht den Mut aufbrachte zu fragen und außerdem viel zu neugierig war, herauszufinden, was sich in der Höhle verbarg, schwieg sie und folgte den drei anderen hinein. Innen roch es nach Erde, und es war stockdunkel. An den Wänden waren Malereien von Tieren angebracht. Da war eine Wildkatze, ein Vogel, ein Hase, sogar ein Tiger und eine Eidechse und viele andere.
Souris-qui-danse zündete erneut ihr Streichholz an, und sie krochen einen schmalen Gang entlang. Aber es war möglich, aufrecht zu gehen. Vor ihnen lag ein hübsch eingerichtetes Zimmer mit Biedermeiermöbeln. Ein Duft von Nadelhölzern stieg ihnen in die Nase. Von der Decke hing eine Jugendstillampe, und auf dem Tisch in der Mitte des Zimmers stand ein Kerzenleuchter mit sieben weißen Kerzen, die zum Teil heruntergebrannt waren. An den winzigen Butzenscheiben, die die Fensteröffnungen bildeten, rankten sich Efeugewächse, die sich zu den Wänden hin fortsetzten. Ein Gemälde von Magritte - das mit der Pfeife, die keine ist - hing an der einen Wand, und an der gegenüber liegenden Wand war ein Poster mit einer Ansicht des tropischen Regenwaldes zu sehen. In den Baumkronen zweier Mammutbäume wuchsen Bromelien. Am Fuße eines Baumes räkelte sich eine Schlange. Daneben stand ein mit altmodischen Schnörkeln verzierter Vogelkäfig mit einem Nymphensittich, der die Ankommenden zwitschernd begrüßte. Aufgeregt flog er hin und her und nickte heftig mit dem Kopf. Gegenüber der Eingangstür befand sich eine weitere Tür, in der ein alter verrosteter Schlüssel steckte.
Ein Sofa stand in der einen Ecke, und in einer anderen Ecke lagen lose aufeinander geschichtete Matratzen. Obenauf saß - wer hätte das gedacht - Annettes Bruder. Sie hatte ihn nicht gleich erkannt, weil er einen langen Bart trug und in eine Decke gehüllt war. Auf dem Kopf saß eine Bärenfellmütze.
Ihr Bruder war erst siebzehn, drei Jahre älter als Annette. Annette blickte sich um, aber in dem Zimmer war nirgends ein Computer zu sehen. Das verstand sie nicht; denn er saß in seiner Freizeit fast immer vor dem Computer und surfte im Internet. Als der Bruder - sein Name war Werner - sie erblickte, sah er sie mit großen Augen an, grinste und sagte leise:
“Grüß dich, liebe Schwester.”
Annette musste unwillkürlich lachen, weil das steif und formal klang. Zu Hause hatte er sie nicht zur Kenntnis genommen, wenn sie sein Zimmer betrat und er vor seinem Computer hockte. Ab und zu kam es vor, dass er murmelte: “Hau ab. Aber schnell!” Die gekünstelte Höflichkeit, mit der er sie nun begrüßte, überraschte sie. Sie war zugleich berührt und beunruhigt, weil sie den Verdacht hegte, dass er krank sei. Deshalb wandte sie sich an Little Fool und sagte mit einem vorwurfsvollen Unterton:
“Was habt ihr mit Werner gemacht? Er ist völlig verändert.”
Wenig beeindruckt, antwortete Little Fool sachlich:
“Er ist das Ergebnis eines Experiments, und wir sind stolz auf ihn.”
Annette war jetzt sehr wütend.
“Ihr macht Experimente mit Menschen! Das ist brutal und gemein. Habt ihr mit mir etwas Ähnliches vor? Dann kann ich euch gleich sagen, dass euch das nicht gelingen wird.”
Inzwischen war Werner aufgestanden, trat vor Annette und sprach langsam und seine Worte sorgsam wählend:
“Mein Name ist Weiser Bruder, und ich habe mich freiwillig diesem Experiment unterzogen. Im Vertrauen darf ich dir sagen, dass mich die Reisen in den Cyberspace dazu gebracht haben, nicht mehr an den Fortschritt zu glauben. Ich will dir von einem Abenteuer berichten, dass mich einen anderen Weg wählen ließ.
Eines Abends saß ich, wie jeden Abend, vor der Maschine. Ich klinkte mich in Roger’s Cyberworld ein und flog über den Atlantik. Als ich in meinem Flugzeug dahin glitt, wurde mein linker Arm plötzlich taub, und ich hätte beinahe die Kontrolle verloren. Ich wäre abgestürzt, wenn nicht eine meiner Stewardessen, ein Hologramm, mir geraten hätte, meinen Arm abzunehmen. Du kannst dir vorstellen, dass mich augenblicklich der Horror packte. Ich wollte nicht als Krüppel enden, im Cyberspace, das bislang für mich ein Spielzeug war. Es gab nur eine Lösung: Abbrechen. Aber das ging nicht mehr; denn als ich die ESCAPE-Taste betätigte, leuchtete eine rote Schrift auf: NO EXIT. Verzweifelt und rasend vor Angst, probierte ich alle möglichen Tasten aus, um irgendwie, egal wie, herauszukommen. Das ging eine ganze Weile so, bis ich das Bewusstsein verlor und in diesem Zimmer aufwachte.”
Er schwieg eine Weile und deutete dann auf Annettes Begleiter:
“Die drei haben mich gefunden. Sie brachten mich hierher. Nachdem ich mich erholt hatte, unterhielten wir uns lange. Im Laufe des Gesprächs wurde mir klar, wie dumm ich war, als ich, von den Computerspielen fasziniert, alles um mich herum vergessen hatte. Ohne zu fragen, was geschehen würde, wenn die Maschine versagte, spielte ich ununterbrochen damit, bis das Programm nicht mehr richtig funktionierte und mich zum Opfer machte.” Nach einer kurzen Pause, in der er über seinen Fehler nachdachte, fuhr er fort und blickte Annette dabei vielsagend an.
“Hör zu, die drei sind in Ordnung. Du brauchst keine Angst zu haben.”
Er flüsterte: “Sie sind von einem anderen Stern, Seram III. Sie sind ähnlich wie wir, nur...”
Er zögerte ein wenig, räusperte sich und presste schließlich hervor: “Intelligenter.”
Dann schloss er die Augen und sank in sich zusammen. Es war, als habe er die Geschichte, die er gerade erzählt hatte, noch einmal durchlebt. Annette hatte Computerspiele immer albern gefunden. Aber für gefährlich hatte sie sie nicht gehalten, jedenfalls nicht für lebensgefährlich, obwohl der Vater sie stets gewarnt hatte, dass es einmal mit dem Computer so enden würde wie in dem Film, in dem ein Computer die Weltherrschaft übernahm. Annette und Werner hatten sich beide über den Vater und seine altmodische Einstellung lustig gemacht. Daddy, wie es ihm wohl ging? Er liebte seine Bücher über alles. In seinem Arbeitszimmer standen Regale, vollgestopft mit Lektüre. Wenn er Zeit hatte, saß er in seinem Schaukelstuhl und blätterte in ihnen herum. Er las fast immer und kannte die wichtigsten Werke der Weltliteratur. In seinem Hauptberuf war er Schreinermeister. Aus seinen Erzählungen wussten die Kinder, dass er ein paar Semester Literatur und Philosophie studiert hatte. Aber als die Mutter schwanger wurde, hatte er sein Studium aufgegeben und in seinem alten Beruf gearbeitet. Heute besaß er eine eigene Werkstatt, die eine Menge Gewinn einbrachte. Die Literatur war sein Hobby. Er besaß viele Bücher in anderen Sprachen, in Englisch, Französisch, Italienisch, sogar in Hebräisch und in Sanskrit. Annette lauschte immer gebannt, wenn er Märchen vorlas oder Kinderbücher. Nur Werner hatte sich nie besonders dafür interessiert.
“Kommt, wir wollen spielen", sagte Little Fool unvermittelt. Annette blickte ihn erstaunt an:
“Ihr wollt spielen?” fragte sie. “Jetzt? Ich glaube, das ist der falsche Augenblick. Außerdem habt ihr mich noch nicht darüber aufgeklärt, wo meine Freunde und meine Eltern sind. Und was wird aus mir?”
“Dies ist nicht der richtige Ort und nicht die richtige Zeit, um fortzufahren", antwortete Little Fool. Und Souris-qui-danse, die sich bisher zurückgehalten hatte, pflichtete ihm bei:
“Pour savoir quelque chose, il faut vivre le moment. Cela veut dire, se réjouir.” Kaukasus, der seit seinem Missgeschick im Wald geschwiegen hatte, war begeistert von Little Fool’s Idee und sagte bekräftigend und voller Überzeugung:
“Annette, du bist viel zu ungeduldig. Du kennst uns noch nicht genug, um uns dein Vertrauen zu schenken. Wir wollen dir daher Gelegenheit geben, uns kennenzulernen.”
“Und ihr meint, ich kann euch kennenlernen, indem wir miteinander spielen?” fragte Annette ungläubig.
“Natürlich", erwiderte Little Fool. “Im Spiel kann man einander am besten kennenlernen. Wusstest du das nicht?”
Annette wollte sich keine Blöße geben. Sie glaubte zwar, dass sie aus dem Alter heraus sei, in dem man Spiele spielte. Aber wenn sie es unbedingt wollten, sollte es geschehen.
“Meinetwegen", sagte sie schließlich kleinlaut. “Aber Monopoly kann ich nicht leiden, und Mensch ärgere dich nicht finde ich langweilig.”
Kaukasus, Little Fool und Souris-qui-danse kicherten, und Souris-qui-danse flüsterte Little Fool etwas ins Ohr, was Annette nicht verstehen konnte. Dann wandte sich Little Fool Annette zu und sagte laut und deutlich:
“Wir spielen andere Spiele. Sie werden dir unbekannt sein, aber du wirst sie mögen. Ein Spiel ist leicht zu erlernen. Es ist ein chinesisches Spiel und heißt WANDONG. Es geht darum, möglichst viele Spieler zu überzeugen, ohne die Darbietung der Mitspieler zu missachten.”
“Ein Spiel ohne Gegner!” rief Annette aus. “Das klingt interessant.”
Little Fool seufzte: “In unseren Spielen gibt es keine Gewinner und keine Verlierer. Du brauchst nur du selbst zu sein und kannst dabei viel Spaß haben.”
Annette konnte sich nicht vorstellen, dass es Spaß machte, nicht zu gewinnen. Sie erinnerte sich, dass sich ihre Freunde an ihren Geburtstagen gefreut hatten, wenn sie gewonnen hatten und einen Preis bekamen, ein Radiergummi oder einen Scherzartikel oder Süßigkeiten. Sie selbst besaß eine Kiste mit Trophäen. Darauf war sie sehr stolz. Diese hatte sie ihrer Freundin Ulla vorgeführt, und die war ziemlich neidisch darauf, nicht die Besitzerin einer solch wertvollen Sammlung zu sein.
“Können wir jetzt anfangen?” unterbrach Little Fool sie. “Wir setzen uns in einen Kreis, und jeder bekommt eine Karte.”
Little Fool nahm einen Stapel Karten in verschiedenen Farben aus einem Karton unter dem Sofa. Er gab jedem eine und forderte seine Mitspieler auf, sich ihre Karte anzuschauen. Aber was war das? Zu ihrer Überraschung stellte Annette fest, dass auf ihre Karte nichts draufstand.
“Konzentration, bitte", sagte Little Fool. “Schließt die Augen und überlegt euch einen Vortrag.”
Annette blickte ein wenig ratlos in die Runde. Die anderen hatten die Augen geschlossen. Aber Annette fühlte sich allein gelassen.
“Hmm.” Sie versuchte, sich bemerkbar zu machen.
“Kann mir mal jemand sagen, was ich mir überhaupt überlegen soll?”
“Psst", flüsterte Little Fool. Das darfst du doch jetzt noch nicht verraten. Also, wer will anfangen?”
“C’est mon tour, je crois,“ sagte Souris-qui-danse.
Alle nickten zustimmend, und sie begann, indem sie sich hinstellte, die Arme verschränkte und leise, aber mit fröhlichem Augenklimpern sagte:
“C’est un jour au printemps.” “Le soleil brille, et les filles et les garçons jouent au parc.” Nous avons envie de les joindre, sans y réfléchir.” “Alors, regardez, mes amis. Levez les bras et bougez comme une fleur dans le vent.”
Alle standen auf und taten, was sie gesagt hatte. Annette zögerte, weil sie sich albern dabei vorkam, das Gleiche wie die anderen zu tun. Aber schließlich gab sie sich einen Ruck. Es war nur ein Spiel. Was sollte ihr passieren? Souris-qui-danse blinzelte ihr zu und fuhr fort, sichtlich erfreut über die unverhohlene Zustimmung seitens dieser Außenseiterin:
“Je suis une fleur, une toute petite fleur, et l’univers est si grand, le ciel est si bleu et le soleil si chaud. Je sens l’énergie dans mon corps. Je sens la chaleur, et j’aimerais de grandir pour devenir aussi grand que l’univers. Ah!”
Die kleine Tanzmaus reckte ihre Arme in die Höhe, die anderen folgten ihrem Beispiel. Sie reckte und streckte sich und fiel dann in sich zusammen, wobei sie enttäuscht ausrief:
“Il fait nuit.”
“La nuit est un professeur. Il me conseille d’être plus sage, de ne me tromper ni tromper les autres.”
“Je vais dormir, et demain je serai une toute petite fleur, qui va grandir.“
Sie setzten sich wieder hin, und Little Fool winkte den Weisen Bruder heran, weil er ihm etwas mitzuteilen hatte. Weiser Bruder hatte die ganze Zeit über teilnahmslos auf seinem Matratzenberg gesessen. Jetzt regte er sich, stand auf und lief zur Tür hinaus. Eine Minute später war er wieder da und hatte einen kleinen Sack mit Bällen in der Hand, den er Little Fool gab. Dieser nahm die Bälle und warf sie nacheinander in die Luft. Annette hatte etwas Ähnliches schon einmal in einem Zirkus gesehen, der vor ein paar Jahren in ihrer kleinen Stadt gastierte. Dort war ein Akrobat aufgetreten, der ein paar Kunststückchen vorführte. Die Bälle rotierten in Little Fool's Händen. Er warf abwechselnd einen Ball unter seinem Bein hindurch, während die anderen beiden in der Luft herumwirbelten. Dann drehte er sich um die eigene Achse, warf alle drei nacheinander in die Luft, bis er sie jeweils einem der drei Mitwirkenden zuspielte. Die drei warfen nun ihrerseits ihren Ball in die Luft, drehten sich zueinander und spielten ihn dem jeweils Nächststehenden zu. Little Fool sammelte die Bälle wieder ein, steckte sie in den Sack, nahm einen anderen Ball, warf ihn in die Luft, biss hinein, verschluckte sich, prustete und steckte den Ball wieder in den Sack.
Dann setzten sie sich, und Kaukasus war an der Reihe.
“Sehr verehrte Damen und Herren, liebe Anwesenden. Wir haben uns heute hier versammelt, um ein Ereignis zu feiern, das seinesgleichen in der Geschichte sucht. Ich brauche ihnen nicht zu sagen, wie sehr es mich freut, dass mir durch meine Farbe die Wahl meines Weges ermöglicht wurde. Ich danke Ihnen für Ihre geschätzte Aufmerksamkeit und bin gespannt, was uns der heutige Abend noch an interessanten Darbietungen zeigen wird. Ich darf nun das Wort unserer neuen Freundin erteilen. Sie möge fortfahren und uns beglücken.”
Kaukasus hatte es wieder einmal geschafft, seine Zuhörer zu verwirren. Sie sahen sich verstohlen an. Little Fool zuckte die Schultern und bat Annette, sich vor das Publikum zu stellen, während Kaukasus sich laut schnaubend in eine Ecke des Zimmers verzog. Annette stellte nun ihrerseits ihre Farbe vor:
Mein Element ist das Wasser. Wie ein Delfin schwimme ich darin herum. Ich bin verspielt und gut gelaunt. Zwar habe ich einen riesigen Appetit, aber ich fresse keine Menschen, und meine Geschwister, die Tiere, fresse ich nur dann, wenn ich mich vorher bei ihnen entschuldigt habe. Mir sind große Gebiete des Ozeans, der meine Heimat ist, vertraut. Doch will ich stets neue Gebiete erforschen. Aus reiner Neugier mache ich täglich Ausflüge in unbekanntes Land. Nun wisst ihr, welche Farbe ich habe und könnt entscheiden, ob ich zu euch gehören darf.”
Die Zuhörerschaft applaudierte eifrig: “Bravo.” “Prima.” riefen sie, und Weiser Bruder gratulierte Annette und lud alle ein, an dem anschließenden Festmahl teilzunehmen.
Das Festmahl war in der Zwischenzeit von eifrigen Helfern, kleinen Wesen, die wie Buschmänner aussahen, vorbereitet worden. Die Freunde nahmen am Tisch in der Mitte des Zimmers Platz. Er war mit Goldrand verzierten Tellern gedeckt. Neben jedem Teller lag ein silberner Löffel und ein silbernes Messer. Es wurde aufgetischt, und Annette, die großen Hunger hatte, schob einen großen Löffel von dem Reis mit brauner Sauce, der köstlich aussah, in den Mund. Doch leider war das Essen ungewöhnlich scharf für ihren Gaumen, und sie musste husten. Little Fool und die anderen lachten und sagten:
“Du wirst dich daran gewöhnen. Die Gewürze kommen aus den fernen Ländern des Orients. Dort isst man gern scharf.”
Annette fiel ein, dass ihre Mutter ein Kochbuch besaß, in dem Rezepte mit Chutney und Sambal Olek vorgeschlagen wurden. Sie hatte einmal heimlich darin gelesen und dabei gelernt, dass Chutney durch Zutaten von exotischen Früchten, Ingwer und Zimt einen süßen Geschmack bekam. Annette machte es jetzt wie die Anderen und nahm kleine Portionen, die sie langsam kaute. Gut gekaut ist halb verdaut, heißt es in einem Sprichwort, und das konnte man auf diese fröhliche Runde von Essern durchaus anwenden. Leise Musik erfüllte den Raum und vermischte sich mit dem Nadelholzduft, der sich überall ausbreitete. Die drei anderen unterhielten sich leise in einer Sprache, die Annette nicht verstand. Trotzdem fühlte sie sich eingeschlossen in die Atmosphäre, die durch die Verbindung von wohligem Verdauen und sanften Klängen entstand.
Nach dem Essen setzten sich Little Fool, Weiser Bruder, Kaukasus und Souris-qui-danse in einen Kreis und forderten Annette auf, sich zu ihnen zu gesellen. Keiner sprach ein Wort, alle ruhten sich aus. Schließlich stand Weiser Bruder auf und sagte:
“Wir kommen nun zum Höhepunkt. Ich darf euch bitten, nach nebenan zu gehen. Aber bitte leise! Psst!”
Er schloss die Tür auf, die sich gegenüber der Eingangstür befand, und sie betraten einen Raum, der in ein künstliches Licht getaucht war. Er war von einem Bach durchzogen, der seinen Lauf durch Moos und Gräser, Sträucher und zierliche Bäume nahm. Viele Brückchen führten an verschiedenen Stellen über den Bach. Jede Brücke hatte eine andere Pastellfarbe, hellgrün, hellgelb, orange, rosarot, hellblau. Weiser Bruder klatschte in die Hände, und im Hintergrund ertönte Walzermusik. Im gleichen Augenblick erhoben sich aus den Blumen, Bäumen und Sträuchern zahlreiche Schmetterlinge in die Luft und tanzten wild durcheinander. Sie flogen hoch an die Decke, fielen kaskadenartig zu Boden, sammelten sich in kleinen Gruppen, tanzten umeinander herum und flatterten lautlos durch die Luft wie kleine bunte Flecken.
„Das ist der Tanz der Schmetterlinge.” Little Fool deutete auf eine CD, die er eigens für diese Vorführung ausgesucht hatte. Annettes Mutter besaß auch eine solche CD mit der gleichen Aufschrift. Es war ihre Lieblingsmusik.
“Hey, das kitzelt.” Annette hörte hinter sich Kaukasus sprechen. In seiner Knospe hatte sich ein Kohlweißling niedergelassen, der den Nektar der Blüte saugte und dabei den Samen einer anderen Blüte abstreifte. Kaukasus musste kräftig niesen und schüttelte sich dabei. Aus den Erzählungen ihres Vaters wusste Annette, dass es 160 000 Arten von Schmetterlingen gibt.
Sie hatten die Dinosaurier überlebt, obwohl sie kleine zarte und zerbrechliche Wesen waren. Annette versuchte, die Schmetterlinge zu zählen. Da war ein Großer Fuchs und ein Kleiner Fuchs, ein Aurorafalter und ein Postillon, ein Tagpfauenauge, ein Admiral, ein Schachbrett, der, wie sein Name schon sagt, oberseits schachbrettartig schwarz-weiß gemustert ist. Aber das waren längst nicht alle. Es gab ein Landkärtchen, einen Kaisermantel, einen kleinen Perlmutterfalter, einen braunfleckigen Perlmutterfalter, einen Veilchen-Perlmutterfalter, einen Gemeinen Scheckenfalter, einen Flockenblumen-Scheckenfalter, einen Wachtelweizen-Scheckenfalter, einen Veilchen-Scheckenfalter, einen Weißen Waldportier, einen Braunen Bären, eine Hausmutter, eine Roseneule, eine Gemüseeule, einen Brombeerspinner, einen Eichenspinner, kurzum die gesamte Palette der Vielfalt, für deren Aufzählung Annette wahrscheinlich mehrere Wochen gebraucht hätte.
“Les papillons, c’est joli,” rief Souris-qui-danse.
“Sie sind wunderschön”, bestätigte Little Fool.
“Und sie sind Künstler der Tarnung. Deshalb hast du sie beim Betreten des Raumes nicht bemerkt", ergänzte Weiser Bruder, indem er Annette am Arm packte und mit sich zog.
“Schau hier.” Weiser Bruder zeigte auf einen Baumweißling, der sich im hohen Graswuchs versteckt hielt, was durch seine schuppenarmen durchscheinenden Flügel meisterhaft gelang.
“Oder hier.” Ein Eparsetten-Widderchen mit blauschwarzen grün schillernden Vorderflügeln genoss den Saft einer Begonie, deren Blüten sich kaum von der Zeichnung seines Gastes unterschieden. Ein Schwarzgefleckter Bläuling schwang sich schließlich von dem schwarzbraunen Boden in die Höhe.
“Im Laufe ihres kurzen Lebens verwandeln sie sich erst in eine Raupe, dann in eine Puppe und schließlich in einen Schmetterling. Man nennt diesen Prozeß der Verwandlung Metamorphose.”
Annette betrachtete voller Bewunderung die Tausende und Abertausende von bunten Schmetterlingen, die sich zum Takt der Musik bewegten, und die ein vollkommen harmonisches Gesamtbild abgaben.
“Sie verfügen über ein ausgeklügeltes Radarsystem, mit dem sie aus weiter Ferne ihre natürlichen Feinde ausmachen", belehrte Weiser Bruder sie.
“Das Fantastischste jedoch ist ihr Design. In ihnen ist das einmalige Wunderwerk gelungen, auf kleinstem Raum alle Lebensfunktionen zu vereinigen, weshalb sie in der Menschenwelt von Architekten und Ingenieuren bewundert wurden.”
Annette hatte bisher aufmerksam den Worten ihres Bruders gelauscht. Dabei hatte sie ihren Blick, den tanzenden Zauberwesen folgend, im Raum umher schweifen lassen.
Plötzlich entdeckte sie in einer Ecke einen gebeugt sitzenden Mann, der einen buntgescheckten Mantel trug und einen Stock in der Hand hielt. Sie näherte sich ihm vorsichtig, um den vermeintlich Schlafenden nicht zu wecken. Als sie vor ihm stand, sah sie, dass der Stock mit allerlei Schnitzereien versehen war, Zeichen, deren Bedeutung sie nur zu gern entschlüsselt hätte.
Aber das war doch Dr. Kowalski.
“Dr. Kowalski", rief Annette entsetzt. Der Mann hob den Kopf und sagte mit fester Stimme:
“Ich bin nicht der, für den du mich hältst, mein Kind.”
Annette starrte ihn fassungslos an. Das konnte doch nicht sein. Er sah genauso aus wie Dr. Kowalski. Er hatte schütteres Haar, das streng nach hinten gekämmt war. Seine tiefblauen Augen ruhten wie ein stilles Gewässer in seinem scharf geschnittenen Gesicht. Er hatte eine extrem lange gebogene Nase. Sein Mund war groß, und wenn er sprach, schienen die Worte aus ihm herauszufallen wie eine Riesenportion Pommes aus der Friteuse.
Little Fool, der gehört hatte, was Annette zu dem Mann mit dem bunten Mantel gesagt hatte, trat hinzu und klärte Annette über die Identität des Fremden auf:
“Das ist Psyche, unser Schamane.”
“Was ist ein Schamane?” wollte Annette wissen.
“Ein Schamane ist ein Medizinmann", übersetzte Little Fool.
“Er kam vor langer Zeit zu uns, nachdem er viele Jahre durch sein Heimatland Kasachstan geirrt war, um die Menschen zu heilen und die Wahrheit zu finden.”
Annette hatte im Fernsehen einmal eine Sendung über Indianer gesehen, in der Medizinmänner mit Kräutern und durch Beschwörung der Götter und die Vertreibung böser Geister Krankheiten heilten. Jedenfalls hatten die Leute früher geglaubt, dass sie diese Fähigkeit besäßen. Aber Annette hielt es für bloßen Aberglauben.
“Psyche, wie wär’s, wenn du selbst Annette erzählst, wie du zu uns gestoßen bist.”
Der Schamane trank einen Schluck aus einer Tasse mit Kräutertee, aus der geheimnisvolle Dämpfe emporstiegen, und begann zu erzählen:
“Einst, bei den Menschen, war ich ein angesehener Arzt. Die Kranken, deren körperliche Gebrechen durch eine normale Behandlung nicht heilten, suchten mich auf, und ich versprach ihnen zu helfen, so gut ich konnte. In vielen Sitzungen, so hoffte ich, würde ich die Ursachen ihrer Leiden herausfinden. Manchmal hatte ich Erfolg und fand mit Hilfe gezielter Fragen heraus, wann und wie sie krank wurden. Das war ein Hoffnungsschimmer, aber leider folgten die meisten der Kranken nicht meinen Ratschlägen, aus Faulheit oder Dummheit, und wurden rückfällig. Dann kamen sie erneut in meine Praxis, und die Behandlung ging von vorne los. So arbeitete ich viele Jahre lang.
Die Zahl der kranken Menschen nahm stetig zu. Die meisten von ihnen waren immer unter Zeitdruck, liefen nervös und hektisch herum, wie seelenlose Roboter, mit verbissenen Gesichtern, unfreundlich und verkrampft. Sie vergaßen zu leben und waren auf der Suche nach dem falschen Glück. Bei der Suche blieben sie allein und verzweifelt. Meine Verzweiflung wuchs in demselben Maße, in dem ich erkannte, dass meine Behandlung vergeblich war. Darum zog ich eines Tages die Konsequenzen und verließ meine Heimatstadt, meine Familie und mein Haus. Ich irrte in Russland herum wie ein Verdurstender in der Wüste, bis ich durch Zufall hier anklopfte und man mir Einlass gewährte. Ich dachte damals, dies sei ein Kloster. Aber ich irrte, wie du siehst.”
In der Tat, dachte Annette, dieser Ort sah eher aus wie ein botanischer Garten, mit all den Blumen, Bäumen und Tieren.
“Du bist also Dr. Psyche", sagte Annette nachdenklich.
“Oder auch Dr. Schmetterling", bemerkte Weiser Bruder, der sich zu ihnen gesellt hatte. “Psyche ist nämlich russisch und heißt Schmetterling, wenn man das Wort übersetzt.”
“Oder Dr. Butterfly, wie ich immer zu sagen pflege", sagte Little Fool eilig.
“Eigentlich brauchen wir gar keinen Arzt, weil wir selten krank sind. Und die Schmetterlinge sind quicklebendig und gesund. Aber man weiß ja nie. Es ist nicht unklug, zur Sicherheit einen Arzt in der Nähe zu wissen. Wenn wir im Winter eine Erkältung bekommen, bereitet er uns einen Tee aus Kräutern zu, und wir werden schnell wieder gesund.”
Kaukasus, der sie heimlich beobachtet hatte, winkte Annette herbei und flüsterte, damit die anderen es nicht hören konnten:
“In Wirklichkeit wollen wir ihm das Gefühl geben, eine sinnvolle Aufgabe zu erfüllen. Er tut uns leid, weil er meistens dasitzt und stundenlang vor sich hinstarrt, als ob er Schreckliches erlebt habe. Nur die Kleine da drüben - ich meine Souris-qui-danse - schafft es, ihn aufzuheitern.”
Souris-qui-danse, der nicht entgangen war, dass über sie geredet wurde, eilte herbei.
“Me voilà", rief sie fröhlich. “Excusez-moi, mais j’étais ravissé des papillons.” “Mais qu’est-ce que c’est? Oh làlà!”
Hinten im Raum erhob sich ein Vorhang, hinter dem eine Gestalt zum Vorschein kam, deren Anblick Annette erschauern ließ.
“Der doppelköpfige Engel Vada!” flüsterte Kaukasus.
Der Engel hatte zwei Köpfe und vier Arme. Bei genauerem Hinsehen entdeckte Annette, dass es sich um zwei Personen handelte, die wie siamesische Zwillinge aneinander geschmiedet waren. Die Köpfe hatten eine verblüffende Ähnlichkeit mit ihrem Vater und ihrer Mutter. Annette wurde schwindelig. Sie betete, dass sie sich täuschte.
Kaukasus unterbrach beherzt die angespannte Stille, die sich seit dem Erscheinen der außergewöhnlichen Gestalt eingeschlichen hatte:
“Vada, du Engel der Weisheit und der Fruchtbarkeit! Wir haben einen Gast bei uns, der ein wenig verängstigt ist. Darf ich euch bitten, euch vorzustellen, damit seine Angst der Erkenntnis weicht.”
Der doppelköpfige Engel ließ seine Arme in der Luft kreisen, hüpfte mit den Beinen im Kreis herum, öffnete und schloss seine beiden Münder, atmete lang und tief ein und aus und hielt dann mit einer Stimme wie Glockenklang eine Rede:
Licht und Schatten,
Sonne und Mond,
Feuer und Wasser,
Leben und Tod.
Krieg und Frieden,
Liebe und Hass,
Trauer und Freude,
Wehmut und Spaß.
Links und rechts,
Oben und unten,
Osten und Westen,
Sind verschwunden.
Das Sein und das Leben,
Die Macht und das Streben,
Mit magischem Zauber
Sind mir ergeben.
In mir sind sie eins,
Denn mein ist die Kraft,
Die Wissen erschafft.
Annette war von der Rede sehr beeindruckt und ging mutig auf die doppelköpfige Erscheinung zu, um sich zu vergewissern, dass sie auch tatsächlich existierte. Weiser Bruder, der bemerkt hatte, dass Annette sich auf die Bühne zu bewegte, hielt sie energisch zurück und erklärte:
“Es ist nur eine Fata Morgana, eine Luftspiegelung aus dem Land, das sich hinter der Wüste und dem schluchtenreichen Gebirge befindet. Dort lebt unser Engel im Land der Erkenntnis.”
Annette war enttäuscht, weshalb Kaukasus tröstend seinen Arm um sie legte. Dann wandte er sich an den Engel mit den Worten:
“Hier ist unser Menschenkind. Willst du uns sagen, großer Engel, was wir tun sollen, damit sie eine von uns wird?”
Die Glockenstimme sprach nun laut und voller Inbrunst:
“Das will ich euch verraten. Lasst sie den Weg vor der Höhle durch die Wüste und über die Berge nehmen. Ein Schiff wird sie erwarten, wenn sie angekommen ist. Das Schiff wird sie zu mir bringen, und sie wird wissen, wer sie ist.”
“Aber wir können sie doch nicht allein durch die Wüste ziehen lassen. Das ist viel zu gefährlich", gab Little Fool zu bedenken.
Die Stimme erwiderte:
“Sie wird und darf nicht allein gehen. Zwei von euch werden sie begleiten. Du, Little Fool, und du, Kaukasus. Weiser Bruder und Psyche werden hier bleiben und die Schmetterlinge bewachen, und Souris-qui-danse wird ihnen Gesellschaft leisten. Achtet darauf, dass ihr genügend Proviant mitnehmt; denn der Weg ist weit und beschwerlich.”
Nachdem er das verkündet hatte, war der Engel verschwunden. Während sich nun alle daran machten, Lebensmittel, Decken und Streichhölzer einzupacken, stand Annette nachdenklich und ein wenig benommen vor der Bühne. Sie konnte nicht verstehen, wovon der Engel gesprochen hatte. Souris-qui-danse spürte, dass Annette verwirrt war, nahm sie daher bei der Hand und führte sie mit sich. Sie wollte sie aufmunternd und sagte:
“Ne pas réfléchir lorsqu’il faut agir.” “Suis-nous parce que nous connaissons la route qui mène au pays du savoir.” Zögernd entschloss sich Annette, ihre trübsinnigen Gedanken für eine Weile zu vergessen, und sie half den anderen stattdessen beim Packen.
Little Fool gab Annette noch ein paar Tips zum Verhalten während der Reise:
“Wichtig ist, dass du keine Furcht hast. Auch dann nicht, wenn du auf der Reise Dinge siehst oder erlebst, die dir schrecklich vorkommen. Es kann sein, dass du lieber aufgeben willst. In der Wüste wimmelt es von Dämonen und bösen Geistern, die dich dazu zwingen wollen. Darum bedenke wohl, dass es sich um Spiegelbilder deiner eigenen schlechten Gedanken und Gefühle handelt. Du solltest du dir darüber bewusst sein. Dann wird dir kein Unheil geschehen.”
Als Little Fool zu Ende gesprochen hatte, legten sie sich schlafen, um am nächsten Morgen zeitig aufzubrechen.
Annette dachte noch eine Zeitlang an die Erlebnisse des Tages. Sie war ein wenig aufgeregt, weil eine große Reise bevorstand. Das Ziel der Reise kannte sie nicht, und der Weg dorthin war als beschwerlich beschrieben worden. Aber sie war nicht allein, sondern mit ihren neuen Freunden zusammen. Wovor also sollte sie sich fürchten?
WUT
Die Wanderung war mühsam. Annette hatte das Gefühl, jeden Schritt deutlich zu hören, als der Sand unter ihren Füßen knirschte. Sie und ihre Begleiter krochen dahin, mit halb geschlossenen Augen, in denen sich die Sonnenstrahlen wie flimmernde Punkte wiederspiegelten. Keiner sprach ein Wort, weil die Anstrengung, die das Gehen in dem weichen Wüstensand ihnen abverlangte, alle Lebensenergie aufzubrauchen schien.
In den Nächten saßen sie schlotternd vor Kälte, in warme Decken eingehüllt, vor dem Lagerfeuer und nahmen eine karge Mahlzeit ein.
In diesen Nächten, die Annette endlos vorkamen, wälzte sie sich schlaflos von einer Seite auf die andere, und wenn es ihr gelang, vor Erschöpfung einzuschlafen, hatte sie schreckliche Alpträume. Sie träumte von kichernden Kobolden, die sich einen Spaß daraus machten, an ihrer Haut zu schaben und an ihren Füßen zu knabbern. Ihre Kehle war wie ausgetrocknet, und sie glaubte, ersticken zu müssen. Schweißgebadet wachte sie auf und lief ein paar Schritte auf und ab, um sich zu beruhigen. Sie entfernte sich nicht sehr weit, weil die Fortbewegung in dem weichen Sand Mühe machte und sie Sorge hatte, die anderen könnten aufwachen. Dann würde sie riskieren, dass man sie allein zurück ließ, weil man sie nicht mehr fand.
Am Ende des dritten Tages schließlich war die Spannung so unerträglich geworden, dass Annette sich nicht mehr zurückhalten konnte. Die Reise schien kein Ende zu nehmen, und das Unternehmen kam ihr plötzlich sinnlos vor.
Als sie vor dem Lagerfeuer saßen und aßen, schrie sie unvermittelt in die Runde:
“Ich will nicht mehr! Lasst mich nach Hause gehen. Was soll das überhaupt? Glaubt ihr etwa, ich lasse mich von euch an der Nase herumführen?”
Little Fool und Kaukasus sahen sie verblüfft an. Dann ergriff Little Fool das Wort:
“Hör zu, du hast dich freiwillig auf dieses Abenteuer eingelassen. Im Vertrauen darauf, dass wir den Weg kennen, der zum Engel der Weisheit führt, bist du uns gefolgt. Und das war richtig. Deshalb kannst du nicht kurz vor dem Ziel aufgeben.”
Aber Annette war nicht mehr bereit, den Weg zu Ende zu gehen. Sie war zu erschöpft und ihr Heimweh wuchs mit jedem Tag. Sie sehnte sich nach ihren Eltern, nach ihrem komfortablen Heim, dem Fernseher, dem Kühlschrank, den Freunden und sogar dem Lehrer. Alles das war ihr jetzt lieber, als das grauenhafte Abenteuer fortzusetzen.
Tränen traten in ihre Augen, und schluchzend flehte sie:
“Bitte lasst mich gehen. Ich kann nicht mehr. Ich bin zu müde, um weiterzugehen. Dieser ekelhafte Sand und dieser Durst! Außerdem habe ich einen Sonnenbrand und kann nachts nicht mehr schlafen, weil meine Haut brennt.”
Little Fool sah Kaukasus Rat suchend an. Kaukasus zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf. Sie schwiegen eine Weile, und Annette spürte, dass sie angestrengt überlegten, wie sie sie überzeugen könnten. In der Stille fühlte sie ihr Herz kräftig schlagen, so dass es in ihren Ohren rauschte.
Plötzlich hatte Little Fool eine Idee. Er zog aus seiner Jackentasche eine Karte im Miniformat.
“Sieh her, Annette. Wir sind an diesem Punkt.”
Er deutete mit dem Finger auf ein kleines Kreuz.
“Von hier aus sind es noch etwa 20 Kilometer bis zu den Bergen. Diese Strecke schaffen wir in einem Tag. In den Bergen gibt es viel Wasser, kleine Quellen und Bergbäche. Außerdem ist es dort nicht mehr so heiß.”
“Das ist mir egal", erwiderte Annette trotzig und nicht gerade überzeugt. “Mir ist es egal, wie weit es noch bis zu den Bergen ist. Ich will nicht mehr. Außerdem interessiert es mich nicht mehr, was sich hinter den Bergen befindet. Ich will nur noch eins: NACHHAUSE. Und damit basta!”
Aber Little Fool ließ sich nicht einschüchtern. Er wusste aus eigener Erfahrung, dass die Zweifel, die Annette hegte, jeden auf dem Weg zum Ziel einmal heimsuchten. Gerade dann ging es darum, nicht aufzugeben. Sonst würde alles umsonst gewesen sein. Darum fuhr er unbeirrt fort:
“Wer sein Ziel erreichen will, wird manche Hürde überwinden müssen. Du kannst nicht sofort bekommen, was du haben willst, zumindest nicht, ohne etwas dafür geleistet zu haben.
Ein Athlet bricht einen 1000-Meter-Lauf nicht nach der Hälfte der zurückgelegten Strecke ab, auch wenn er müde wird und seine Füße schmerzen. Ein Komponist oder ein Dichter legt seinen Stift nicht beiseite, bevor er sein Werk vollendet hat, es sei denn, er stirbt vorzeitig. Dann trifft ihn keine Schuld. Das ist höhere Gewalt. Eine Blume hört nicht auf zu wachsen, bevor sie vollkommen erblüht ist. Und ein Mensch hört nicht auf zu werden, wer er ist, bevor er sich selbst vollkommen entfaltet hat. Die einzige Grenze, die wir kennen, ist der Tod.”
“Na gut, dann lasst mich sterben", sagte Annette daraufhin.
Kaukasus, der das Gespräch bisher nur als Beobachter verfolgt hatte, konnte sich nun nicht mehr zurückhalten. Er war wütend, packte Annette bei den Schultern und schüttelte sie kräftig.
“Was soll das heißen, du willst sterben? Du hast noch nicht einmal gelebt, und schon willst du tot sein! Das ist einfach lächerlich! Weißt du, was du bist? Du bist eine verwöhnte kleine Bestie.”
“Jawohl!” Little Fool war froh, dass er nicht mehr als Einziger Überzeugungsarbeit leisten musste und lief rot an vor Zorn:
“Du bist eine kleine fiese Göre. Du hast unser Vertrauen missbraucht, und jetzt willst du uns austricksen. Das ist hinterhältig und gemein.”
Annette verzog beleidigt das Gesicht und erwiderte mit vor Wut zitternder Stimme:
“Ihr seid es, die hinterhältig und gemein sind; denn ihr habt mein Vertrauen missbraucht, indem ihr mich an diesen schrecklichen Ort gelockt habt. Ihr habt mir noch nicht einmal gesagt, was der Unsinn überhaupt soll. Ihr seid Scharlatane, ja, widerliche Scharlatane, die Andere hereinlegen und ihnen das Blut aussaugen wie Vampire.”
“Annette, jetzt gehst du aber zu weit", ermahnte Little Fool sie. Dann fing er an zu lachen. Er lachte und lachte, und Kaukasus konnte sich nicht mehr halten. Er prustete los:
“Hahaha, das ist zu komisch, wirklich zu komisch.”
“Seid ihr verrückt geworden?” fragte Annette ungeduldig.
“Ja, wir sind verrückt, verrückt, verrückt. Wir haben einen Sonnenstich", ereiferte sich Kaukasus.
Zunächst hatte Annette den beiden in einer Mischung aus Verachtung und Groll zugesehen, wie sie sich brüllend vor Lachen im Sand herumwälzten. Aber irgendwie wirkten sie ansteckend, und bald konnte auch Annette sich nicht mehr halten vor Lachen und stimmte ein. Nachdem sie sich ein wenig erholt hatten, ergriff Little Fool erneut das Wort und sagte:
“Wir haben uns ziemlich dumm aufgeführt. Ich schlage daher vor, den lächerlichen Streit beizulegen und uns auf unser eigentliches Vorhaben zu konzentrieren.”
“Was ist denn unser Vorhaben?” fragte Annette.
Little Fool erklärte:
“Wie du weißt, brauchst du, um in unserer Welt leben zu können, eine neue Identität. Weißt du, was eine Identität ist?”
“Eigentlich nicht so genau", gab Annette zu.
“Eine Identität ist zum Beispiel der Name, der in deinem Pass steht. Dieser Name sagt noch nicht viel über deine Person aus. Manchmal kann man sich unter einem Namen jemanden vorstellen, manchmal aber ist der, den man sich darunter vorstellt, ganz anders, als man dachte. Eine Identität ist also noch mehr. Es ist die Summe aller Eigenschaften eines einzelnen Menschen. Wie er denkt, wie er fühlt, was er tut und was nicht, das macht seine Identität aus.
Wenn wir geboren werden, haben wir bereits eine Identität. Sie wird uns durch unsere Eltern gegeben. Aber es handelt sich um eine geliehene Identität. Erst im Laufe unseres Lebens werden wir durch unser Wachsen und Gedeihen zu dem, der wir wirklich sind. Wir entwickeln uns, und während dieses Prozesses werden wir von vielen Dingen und Menschen beeinflusst, von den Eltern, den Lehrern, den Freunden, den Medien...”
“Durch das Fernsehen, meinst du?” fragte Annette interessiert.
“Ja, zum Beispiel durch das Fernsehen. kurzum, alles was wir sehen, hören und erleben, beeinflusst uns. Aber wir sind keine Marionetten, die sich einem fremden Willen unterordnen, sondern wir haben unser Schicksal selbst in der Hand und entscheiden stets und immer wieder aufs Neue, von wem und wie und ob wir uns überhaupt beeinflussen lassen.”
Annette schoss eine Idee in den Kopf:
“Ich habe einmal ein Buch gelesen, das hieß Der kleine Prinz. Da war die Rede von einem Fuchs, der von dem kleinen Prinzen gezähmt werden wollte.”
“Das ist ein gutes Beispiel. Es geht in dem Buch darum, dass wir uns selbst aussuchen, wer wir werden wollen und wer uns dabei hilft.”
Kaukasus führte Little Fool's Gedanken weiter:
“Als Kind weißt du noch nicht, was du werden willst. Einmal willst du Zauberer werden, ein anderes Mal vielleicht Weltraumfahrer, wieder ein anderes Mal Spion. Und irgendwann bist du sicher, dass du dich entschieden hast, und das ist der entscheidende Augenblick in deinem Leben.”
Little Fool und Kaukasus sahen Annette erwartungsvoll an. Annette überlegte einen kurzen Moment und entgegnete:
“Ihr glaubt, jetzt sei der richtige Augenblick für mich gekommen, nicht wahr?”
Daraufhin verbesserte Little Fool sie:
“Nicht wir sind es, die entschieden haben, dass es der richtige Augenblick ist, sondern du hast ihn selbst gewählt, indem du in deinem Traum neulich im Wald zu uns gestoßen bist. Du erinnerst dich an den Moment, als du auf meinen Fuß getreten bist.”
Annette dachte über die Worte ihrer Begleiter nach und hatte nun keinen Zweifel mehr an ihrer Glaubwürdigkeit. Sie hatte ihnen bei ihrer ersten Begegnung bereits vertraut. Dafür musste es einen Grund geben, einen, den sie ahnte, aber nicht genau benennen konnte. Zwar wusste sie damals noch nicht, wie es zu dieser Begegnung gekommen war und welche Bedeutung sie hatte. Nun sah sie ein, dass sie eine tiefere Bedeutung haben musste, und diese tiefere Bedeutung fand sie in ihrer Seele. Sie war der Mittelpunkt des Geschehens, die Hauptperson, um die sich alles drehte. Little Fool und Kaukasus waren Begleiter auf ihrem eigenen Weg. Sie standen ihr mit Rat und Tat zur Seite, und sie hatten keine eigennützigen Motive. Vermutlich würde sie unzufrieden und unglücklich sein, wenn sie jetzt umkehren und nach Hause zurückgehen würde.
Zuversichtlich und mit neuem Mut sagte sie:
“Gut, ich werde mit euch gehen, ohne zu murren und zu knurren. Wenn ich einmal schwach werde, aus Erschöpfung oder Angst, bitte ich euch um Nachsicht.”
Little Fool entgegnete:
“Wir werden alle einmal schwach. Wir sind keine Götter. Wenn wir es schaffen, unsere Schwächen zu überwinden, werden wir stark und unangreifbar. Je stärker ein Lebewesen ist, umso mehr kann es dem Bösen widerstehen und mit sich selbst in Frieden leben.”
Das leuchtete Annette ein. Voller Freude klatschte sie in die Hände und rief:
“So lasst uns gehen. Wir haben keine Zeit zu verlieren; denn schließlich wollen wir bis heute Abend am Fuß des Berges sein.”
Little Fool und Kaukasus waren erleichtert und froh, dass Annette einsichtig geworden war. Sie nahmen ihre Rucksäcke und marschierten los.
Bei Einbruch der Dämmerung erreichten sie ihr Ziel. Vor ihren Augen erhob sich ein majestätisches Gebirge. In einiger Entfernung sah Annette die Umrisse einer Stadt, die sich am Fuß des Berges befand. Als sie näher kamen, sahen sie, dass die Stadt unbewohnt war. Verfallene Hütten und Baracken standen lose zusammengewürfelt im Zwielicht der untergehenden Sonne.
Sie betraten das unwirtliche Gelände, in dessen Mitte sich die Ruinen eines ehemaligen Tempels türmten. Das verwitterte Gestein der Treppen, die zum Eingang führten, leuchtete blass und fahlgrau in der Dämmerung. Little Fool rief: “Hallo!”
Die Worte kamen in einem Echo zurück, so, als ob sie bestätigen wollten, dass der Ort verlassen und menschenleer sei. In den Gemäuern des Tempels, dessen Wände sich dem Himmel entgegen reckten, hatten Vögel ihre Nester gebaut.
Sie waren meterhoch und erschienen höher als in Wirklichkeit, weil das Dach des Gemäuers zerstört war und sich an seiner Stelle der endlos weite Himmel in dem Licht der untergehenden Sonne brach. An den Wänden mussten vor langer Zeit Gemälde von Göttern gehangen haben. Sie waren mit Bildern versehen, die nur noch sehr ungenau zu erkennen waren. Kleine Statuen, deren Gliedmaßen bis zur Unkenntlichkeit zerschmettert waren, standen vereinzelt herum. Die Gesichter bestanden vornehmlich aus durchlöchertem Gestein, so dass nur noch die Umrisse existierten.
Annette, Little Fool und Kaukasus trabten langsam auf dem marmornen Fußboden entlang. Ihre vorsichtigen Schritte hallten wider, als wollten sie die Ankommenden davor warnen, dass ihnen ein Unheil drohte. Mit der Furcht, die Annette beschlich, wuchs ihre Neugier und Faszination angesichts der Figuren in dem Tempel, deren Geschichte sie nur zu gern gekannt hätte. Sie würde sie nie erfahren, oder doch?
“Wer sind diese Gestalten?” fragte Annette in die Stille hinein. Ihre Worte kamen in einem Echo zurück, so dass sie erschrak.
“Psst!” flüsterte Little Fool und deutete mit einer Armbewegung an, dass eine Verständigung unmöglich sei. Also verließen sie den Tempel und traten ins Freie. Aufatmend wiederholte Annette ihre Frage, und Little Fool erwiderte:
“Niemand weiß das genau. Vor vielen Jahrtausenden muß hier ein Orden gelebt haben. Man sagt, dass die Toten nachts aus dem Schattenreich kommen, um die bösen Geister zu vertreiben, die hier ihr Unwesen treiben. Aber du weißt aus meinem Ratschlag, den ich dir vor unserer Abreise gab, dass diese nur die Spiegelbilder deiner eigenen schlechten Gedanken und Gefühle sind.”
Kaukasus, der das Gelände um den Tempel herum erkundet hatte, schlug vor:
“Wir werden uns ein gemütliches Plätzchen suchen, unser Lagerfeuer anzünden und schlafen gehen. Es ist schon spät, und wir sind alle müde.”
Kaukasus schien das, was er gesagt hatte, ernst zu meinen. Aber Annette lief bei dem Gedanken, inmitten der bösen Geister nächtigen zu müssen, ein kalter Schauer den Rücken hinunter.
“Wie bitte?!” rief sie erbost und starr vor Angst. “Ich bleibe keine Minute länger hier, geschweige denn, dass ich hier übernachte.”
“Doch, du bleibst", gab Little Fool bestimmt zurück. “Es ist zu dunkel, um den Berg hinaufzusteigen. Wir haben nur noch wenige Streichhölzer und müssen sparsam mit dem Licht umgehen. Außerdem sind wir müde, und es ist ratsam, morgen früh ausgeschlafen und zeitig aufzubrechen.”
“Das kommt nicht in Frage", sagte Annette mit trotziger Stimme. “Ich werde kein Auge zutun vor lauter Angst.”
“Wovor fürchtest du dich denn?” fragte Little Fool. “Erinnerst du dich nicht an das, was ich dir vor der Abreise sagte?”
“Du spinnst doch. Ich halte es für blödes Geschwätz, dass es Geister und Dämonen geben soll, die meine Spiegelbilder sind.”
“Ich sagte, es sind die Spiegelbilder deiner schlechten Gedanken und Gefühle", berichtigte Little Fool.
“Ach, Papperlapapp!” kreischte Annette. “Alles Gerede eines kranken Hirns!”
“Annette, beherrsche dich gefälligst. Du glaubst doch nicht im Ernst, dass es Dämonen wirklich gibt. Oder?” gab Little Fool zurück.
Du hast keine Ahnung, du kleiner dummer Zwerg. Du traust einer doppelköpfigen Fantasiegestalt, von der du selbst behauptest, sie sei nichts anderes als eine Fata Morgana.”
“Es handelt sich tatsächlich um eine Fata Morgana. Und sie war der Engel der Weisheit.”
“Welch ein Unsinn! Ich weigere mich, diesem Kauderwelsch länger zuzuhören. Ich traue lieber meinem eigenen gesunden Menschenverstand und mache mich schleunigst aus dem Staub.”
Sie schickte sich an zu gehen, als ein Sturm aufkam, der von einem kräftigen Donnergrollen begleitet wurde.
“Schnell, wir suchen den Schutz eines der verfallenen Häuser auf", schrie Little Fool den anderen beiden zu.
Annette fürchtete, dass sie nur die Wahl hatte, in den Bergen dem Gewitter ausgeliefert oder im Schutz der alten Mauern vor den Naturgewalten sicher zu sein. Sie zog es vor, in der Geisterstadt zu bleiben, trotz ihres Widerwillens gegen das, was sie in der Nacht erwartete. Grimmig rollte sie sich in ihre Decke murmelte: “Gute Nacht!” und schlief ein.
Als die Dunkelheit hereingebrochen war, erwachte sie, weil sie glaubte, jemand habe sie angestupst. Sie blickte suchend um sich. Da lagen nur Little Fool und Kaukasus vor dem erloschenen Lagerfeuer und atmeten ruhig und friedlich. Ihr war unheimlich zumute, und sie entschloss sich, nicht gleich wieder einzuschlafen, sondern eine Weile zu lauschen.
Da, auf einmal hörte sie ein Zischen und ein leises Jammern, und etwas, das sich anfühlte wie ein zartes Tuch, streifte leicht ihren Arm. Dann war wieder das Zischen und Jammern zu vernehmen, und - zu ihrem großen Schrecken - sah sie zwei grässliche Gestalten. Die eine, von der das Zischen ausging, war lang und schmal und hatte grüne Haare, die wirr um ihren Kopf fielen. Sie trug eine Brille mit riesigen Gläsern und einer geschmacklosen Kassenbrillenfassung, wie Annette sie bei Leuten gesehen hatte, die kein Geld für derartigen Schnickschnack wie Brillen ausgeben wollten. Die Ohren waren groß und spitz wie bei Mister Spock. Während sie ihre zischenden Laute hervorbrachte, zeigte sie ihre spitze schwarze Zunge, mit der sie winzig kleine Fliegenlarven ausspie. Der Brustkorb war eingefallen. Die Gestalt ruhte auf zwei langen dürren Beinen, die stark behaart waren wie bei einem Orang Utan.
Annette konnte erkennen, dass die grünhaarige Gestalt auf einem Rollerblade stand. Zwar konnte Annette nicht verstehen, was das Monster sagte, aber aus der Haltung der beiden Wesen schloss sie, dass der Zischende den Jammernden zurechtwies. Der Jammernde saß gekrümmt und winselte um Gnade. Auch er war nicht gerade eine Schönheit, sondern sah ziemlich abstoßend aus. Er hatte einen fast viereckigen Kopf, eine Glatze, eine Knollennase und ein Doppelkinn. Seine Körper war eine einzige wabbelige Masse, die in der gekrümmten Haltung wie rote Grütze aussah.
Annette saß da wie versteinert. Sie biss sich auf die Zunge, bis sie schmerzte und starrte in die Richtung, wo die beiden Geister miteinander stritten. Der Zischende hatte sich über den Jammernden gebeugt, und dieser versuchte, sich mit seinen beiden Armen vor den herabfallenden Fliegenlarven zu schützen, die inzwischen die Hälfte seines Kopfes bedeckten. Er ähnelte einem Mönch, der eine Tonsur trug. Verzweifelt schlug er auf die Fliegenlarven ein, um sie von seinem Kopf zu entfernen. Aber sie klebten an ihm, und es war nicht möglich, sie loszuwerden. Annette war übel. Sie glaubte, sich jeden Augenblick übergeben zu müssen. Jedoch wollte sie auf keinen Fall entdeckt werden und riss sich deshalb zusammen. Waren diese Spukgestalten echt, oder handelte es sich - wie Little Fool erklärt hatte - um Erfindungen ihres eigenen Gehirns?
Sie hatte keine Zeit, eine Antwort auf ihre Frage zu finden, weil sie wie gebannt zusah, wie der Zischende sich aufzulösen begann, nein, er löste sich nicht auf. Er verwandelte sich in eine andere Gestalt, deren Umrisse sich nach und nach abzeichneten. Er wurde zu einer Kobra, die sich vor dem bedauernswerten Wackelpudding aufbäumte und ihre gespaltene Zunge in seine Augen trieb.
Der arme gequälte Rote-Grütze-Mann flehte um Gnade, aber die Kobra wurde durch seine Bitten nur noch mehr angespornt. Sie schlängelte sich durch den Sand und rollte ihren schmalen Körper zusammen und wieder auseinander. Ihr Tanz wurde von einer unsichtbaren Flöte begleitet. Der Kopf der Schlange sah aus wie ein Totenschädel, der bedrohlich auf den Wackelpudding zulief und wieder zurückwich, als er ihm ganz nahe war. Plötzlich trat eine Pause ein. Dem Jammernden war es mit großer Anstrengung gelungen, sich aufzurichten. Sein roter Körper bog und wand sich ein paarmal und nahm dann die Gestalt eines riesigen Torpedos an. Der Torpedo schnellte in rasender Geschwindigkeit auf die Kobra zu, die ihrerseits versuchte, sich zu bücken und dem Angriff zu entgehen. Sie schaffte es im letzten Moment, kam aber nicht ohne Verletzungen davon. Der Torpedo hatte sie nämlich am Kopf gestreift, und die Brille am Hinterkopf war zerstört worden.
Annette atmete auf, weil die bedauerliche Szene eine gerechtere Wendung genommen hatte. Die beiden ungleichen Gegner waren zu wirklichen Feinden geworden, die in erbittertem Kampf den jeweils Anderen zum Erliegen zwingen wollten. Der Torpedo bereitete sich auf einen zweiten Angriff vor und schoss direkt auf die Kobra zu. Blitzschnell verkroch sich diese im Wüstensand und war wie vom Erdboden verschluckt.
Annette rieb sich die Augen und schaute angestrengt in die Richtung, wo die beiden Gestalten miteinander gekämpft hatten. Sie stellte fest, dass sie nicht mehr da waren. Mit einem Seufzer der Erleichterung legte sie sich schlafen. Es sollte ihr jedoch vorläufig kein Schlaf vergönnt sein; denn aus der Finsternis wuchs ein Wesen, das Annette sich in ihren schlimmsten Alpträumen nicht schlimmer hätte vorstellen können. Das Gesicht der Spukgestalt war großflächig und aschgrau und mit entsetzlichen dicken Pusteln bedeckt, von denen manche vereitert waren. Die Augen waren schmale Schlitze, über denen sich buschige schwarze Augenbrauen erhoben. Statt der Nase hatte das Gespenst zwei Löcher, aus denen Dampf herausquoll, und der Mund war ein riesiger breiter Schlund, aus dessen Öffnung ein widerlicher Gestank entwich. In dem langgestreckten faltigen Hals steckte ein Kehlkopf, so groß wie ein Ball, der beim Schlucken auf und nieder hüpfte.
Das scheußliche Antlitz dieses Dämons wurde von grauem strähnigem Haar umrahmt, aus dem sich ununterbrochen Schweißtropfen lösten und auf die Erde herabfielen. Sein Körper bestand aus verrosteten Eisenplatten, die übereinandergeschichtet und mit Nägeln zusammengeschmiedet waren. Bei jedem Schritt schepperte und donnerte es. Die Eisenplatten jaulten und quietschten wie eine alte Fahrradpumpe, nur viel lauter, und Annette hielt sich die Ohren zu, weil der Lärm unerträglich war. Das Schreckgespenst öffnete den Mund und versuchte, etwas zu sagen. Aber stattdessen quollen unverständliche Grolllaute hervor, die von einem Röcheln begleitet wurden. Annette zitterte am ganzen Körper und betete: “Lieber Gott, hilf mir. Ich habe solche Angst. Bitte sieh zu, dass das Monster mich nicht auffrisst. Ich will nicht sterben. Ich will doch bloß ein bisschen schlafen.” Das Monster schien Annettes Gebet gehört zu haben. Wut schnaubend richtete es sich zu seiner vollen Größe auf und wollte sich mit seinem ganzen Gewicht auf Annette werfen, als ein kleiner Kobold aus dem Hinterhalt auftauchte.
Die Riesengestalt hielt inne und wartete, was geschehen würde. Der Kobold war klein wie ein Portemonnaie und trug einen Miniatur-Werkzeugkasten bei sich. Sein Kopf war kugelrund und sein Körper ebenfalls. Er trug eine Zipfelmütze auf dem Kopf, an deren Ende sich ein kleines Glöckchen befand, das bei jeder Bewegung “Bimbam” machte. Er trug einen braun-gelben abgerissenen, ausgefransten und zerschlissenen Anzug, dessen Ärmel und Beine viel zu kurz waren. An den Füßen saßen überdimensional große Schuhe, wie die, die Charlie Chaplin in seinen Stummfilmen trug. Der Kobold grinste über beide Backen und summte unbekümmert vor sich hin. Er winkte dem Eisenriesen zu, kramte in seinem Werkzeugkasten herum und nahm eine winzig kleine Bohrmaschine heraus. Dann kletterte er an dem Riesen hoch und fing an, winzig kleine Löcher in seinen Panzer zu bohren. Der Riese versuchte, das kleine Männchen abzuschütteln. Vergebens! Es war, als ob er an ihm klebte. Unbeirrt ging er seiner Beschäftigung nach.
Als ihm das zu langweilig wurde, nahm er einen winzig kleinen Schraubenschlüssel aus dem Werkzeugkasten und löste die Schrauben, die die Befestigungen des Panzers bildeten, eine nach der anderen, bis der Panzer sich aufzulösen begann. Mit lautem Getöse fielen die Eisenplatten auf die Erde, und zurück blieb ein Gerüst, an dem der Kobold sich hinauf hangelte und voller Freude herumzuklettern begann. Er pfiff fröhlich vor sich hin und schaute dem Riesen ins Gesicht. Dann besann er sich und entschloss sich, ihn mit einer klitzekleinen Motorsäge abzutrennen, was ihm auch gelang, weil der Riese ihn nicht erhaschen konnte. Der Kopf fiel schließlich herunter und zerbrach in Tausende von Einzelteilen wie die Scherben einer kaputten Teetasse. Annette klatschte laut Beifall und wollte den Kobold einladen, zu ihr zu kommen. Aber dieser war genau so schnell verschwunden, wie er erschienen war. Inzwischen war die Sonne aufgegangen, und Annette dachte, dass ein wenig Schlaf ihr bis zum Aufbruch guttun würde. So legte sie sich entspannt schlafen und war froh, dass dieser Alptraum vorbei war.
Als Annette aufwachte, schien ihr die Sonne ins Gesicht. Annettes Begleiter hatten schon den Rucksack gepackt und mahnten zum Aufbruch, bevor es Mittag sei und die Sonne im Zenit stehe. Sie erreichten die Berge etwa zwei Stunden später. Annette sah voller Staunen ein riesiges Gebirge vor sich, das von einer Terrassenlandschaft durchzogen war. Früher hatten Siedler hier ihre Felder bebaut. Heute war die Landschaft von dichtem Gestrüpp geprägt, ein typisches Merkmal verlassener Landstriche. Annette und ihre Begleiter begannen unverzüglich mit dem Aufstieg. Der war nicht gerade ein Honigschlecken. Sie gingen langsam und ohne ein Wort zu sprechen. Manchmal mussten sie mit einem Buschmesser den Weg freistechen, weil Unkraut und Dornengewächse ihn verbargen. Zum Glück trugen sie lange Hosen. Sonst hätten die Dornengewächse ihre Beine zerstochen. Überall breitete sich ein herrlicher Duft nach Lavendel und Thymian aus. Diese und andere Pflanzen, wie Oleander, Kastanien und Pinien wuchsen in Hülle und Fülle. Ab und zu sah man auch einen Obstbaum. Da die Hitze aber zu groß und die Regenfälle selten waren, gab es nur wenige Bäume in dieser Gegend.
Je höher sie kamen, umso kühler wurde die Luft. Auch der Weg wurde immer schmaler, bis er nur noch eine enge Schneise bildete. Little Fool schlug vor, eine kurze Pause dazu zu nutzen, Stöcke zu schnitzen, um den Aufgang zu erleichtern. Das taten sie schließlich, und es stellte sich bald heraus, dass sich die Mühe gelohnt hatte. Der Weg wurde so schmal, dass man nur noch einen Fuß vor den anderen setzen konnte. Sonst wäre man herunter gefallen. Als Annette einen Blick den Berghang hinunter wagte, wurde ihr schwindelig. So steil war der Abhang. Wenn sie sich nicht an einem Strauch festgehalten hätte, wäre sie unweigerlich in die Tiefe gestürzt. Einen zweiten Blick riskierte sie nicht, sondern schaute geradeaus. Gegen Abend, als sie müde wurden, suchten sie sich eine Waldschneise, um zu rasten. Sie fanden eine kleine Ecke zwischen mächtigen Steinblöcken aus Granit, die sie als guten Wetterschutz erachteten und ließen sich dort nieder.
Mitten in der Nacht wurden sie von einem grausigen Unwetter geweckt. Ein eisiger Wind blies Annette ins Gesicht, und dicke Regentropfen fielen auf ihr zerzaustes Haar, das bald in langen nassen Strähnen auf ihrer Kopfhaut klebte. Es tropfte auf ihre Kleider, die ohnehin schon durchnässt waren. Schnell nahm Kaukasus eine Plane heraus, die sie mitgebracht hatten, und breitete über sie ein Dach, unter dem sie einigermaßen sicher waren. Annette fror erbärmlich, zog ihre nassen Kleider aus und wickelte sich nackt in eine Decke. Der Sturm dauerte noch eine Weile an. Von weitem war das Tosen des Donners zu hören, und der Regen prasselte unaufhörlich auf ihr Zeltdach.
“Dieser verdammte Regen! Ich bin patschnass.” Annette fluchte laut, wobei sie mit ihren Zähnen klapperte.
“Wenn der Regen nicht bald aufhört, werde ich wahnsinnig.”
Little Fool legte seinen Arm um sie und redete beruhigend auf sie ein. Aber Annette wollte sich nicht beruhigen. Sie fuchtelte mit ihren Armen in der Luft herum, ballte ihre Fäuste und schlug wild um sich. Sie wollte auch auf Little Fool einschlagen. Der aber wich im letzten Moment aus. Kaukasus war nun auch wütend. Er brüllte sie an:
“Halt den Mund und lege dich schlafen. Deine Kleider trocknen über Nacht, und morgen wird es wieder warm.”
“Ach, lass mich in Ruhe, du fetter Sack. Lasst mich bloß beide in Ruhe. Sonst gibt es garantiert ein Unglück.”
Annette machte eine Drohgebärde mit der Hand. Die anderen beiden schwiegen betroffen und legten sich beleidigt schlafen.
Als Annette am nächsten Morgen erwachte und aus dem Zelt herauskroch, sah sie über sich einen Baum, wie sie ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Er hatte den Stamm einer Birke und war über und über mit weißem Laub bedeckt, das in der Sonne schimmerte wie blankes Silber. Die Blätter rauschten und schienen sanft im Wind zu singen:
“Kling Klang, Kling Klang!”
Das Lied des Baumes klang wie eines der Windspiele, mit denen Annettes Mutter ihre Terrasse geschmückt hatte.
“Kling Klang!” begrüßte sie die hübsche Morgenmelodie.
Annette und ihre Begleiter stärkten sich und stiegen weiter hinauf, bis sie gegen Mittag den Gipfel erreichten. Hier bot sich ihnen ein wunderschöner Anblick. Unter sich sahen sie mit Wald bedeckte Hügel, die von tiefen Schluchten durchzogen waren.
“Schau mal, dort drüben ist der Fluss Gehdenweg.”
Little Fool deutete auf einen grünbraunen Streifen am Horizont, der zweifellos einen Fluss darstellte. Little Fool erklärte:
“Dort wirst du erwartet, damit ein Boot dich zum Engel der Weisheit bringt.”
Annette sah ihn erwartungsvoll an und hoffte, er würde eine genauere Beschreibung der künftigen Reiseroute geben. Aber Little Fool sagte nichts mehr. Stattdessen deutete er mit einer schwungvollen Geste an, dass die anderen ihm folgen sollten.
Sie gingen nun den Berg auf der anderen Seite wieder hinunter. Der Abstieg erschien Annette wesentlich leichter als der Aufstieg, vielleicht weil sie schneller liefen, vielleicht aber auch, weil der Weg hinab nicht so dornenreich und wesentlich breiter war. Die Rückseite des Gebirges wies keine Terrassenlandschaft auf. Es gab kein Gestrüpp und kein Unkraut, sondern der Bergrücken war über und über mit Gras bedeckt. Vereinzelt tauchten seltsame Bäume und Gewächse auf, deren dünne knorrige Äste wie gedrechselt wirkten. Hier und da stand vereinzelt ein Obst- oder ein Kastanienbaum, dessen leckere Früchte die Reisenden aßen. Die Hitze hatte nachgelassen, und ein frischer Wind wehte durch Annettes Haar, das sie jetzt offen trug. Sie war braun gebrannt von der Sonne und fühlte sich wie nach einem Überlebenstraining.
“Noch ein paar Kilometer, und wir sind am Fluss. Mit dem Boot den Fluss hinunter..., das dauert dann noch einmal einen Tag.”
Little Fool war gut gelaunt, und als er die frohe Nachricht vom herannahenden Ende der Reise verkündet hatte, begann er, eine lustige Melodie zu pfeifen.
Kaukasus und Annette stimmten ein; denn die Vorfreude war ansteckend, und alle waren erleichtert, dass sie die Reise gesund und munter überstanden hatten.
Trauer
Annette lag am Ufer des Flusses. Ihre Beine baumelten im Wasser. Wie war sie hierher gekommen? Sie konnte sich an nichts erinnern. Das letzte, was ihr einfiel, war, dass sie gestürzt und den Berg hinunter gerollt war. Sie hatte um Hilfe gerufen. Aber niemand war gekommen. Dann war alles um sie herum schwarz geworden. Sie musste wohl eine Nacht hier gelegen haben, denn die Sonne war zum wiederholten Male aufgegangen. Wo waren Little Fool und Kaukasus? Sie stand auf und rannte am Flussufer entlang.
“Little Fool! Kaukasus!” rief sie. Keine Antwort.
“Wo seid ihr? Ich bin es, Annette.”
Auch diesmal gab es keine Antwort.
“Hallo", versuchte sie es noch einmal. “Hallo, Little Fool! Kaukasus!”
Nichts. Sie war allein. Enttäuscht und niedergeschlagen setzte sie sich hin, riss einen Grashalm heraus und knabberte daran herum.
Sie betrachtete den Fluss, dessen seichtes Gewässer in kleinen Wellenbewegungen das Ufer umspülte. Sie schloss die Augen und suchte Trost, indem sie sich im Rhythmus der Wogen summend hin und her bewegte. Eine traurige Melodie ging ihr durch den Kopf, nicht ein bekanntes Lied, sondern vielmehr eine Reihe von Tönen, die ihre melancholische Stimmung spiegelten.
Allein, allein. Ich bin so allein. Wie Robinson Crusoe. Bald werde ich mit mir selber reden und hoffen, dass Freitag mich besuchen kommt.
Sie öffnete die Augen wieder, und nun entdeckte sie in der Ferne ein kleines Boot. Hatte Little Fool nicht vorausgesagt, dass ein Boot sie weiterbringen würde, den Fluss entlang? Sofort stand sie auf und lief auf das Boot zu, das in der Brise schaukelte.
Wahrscheinlich waren ihre Freunde darin und warteten auf sie. Aber warum hatten sie nicht geantwortet, als sie nach ihnen rief? Womöglich schliefen sie noch.
Annette bestieg das Boot. Ihr Herz klopfte laut, als sie auf die knarrenden Bohlen trat. Innen roch es muffig. Überhaupt war das Boot viel größer, als sie vermutet hatte. Eine kleine Wendeltreppe führte vom Deck aus nach unten. Annette rief laut und mutig:
“Little Fool! Kaukasus! Ich bin es, Annette.”
Aber auch diesmal antwortete ihr niemand.
Unten befand sich ein kleiner Raum, in dem zwei Betten standen. Durch eine Luke konnte man hinaus auf den Fluss schauen. Die Einrichtung war karg. Außer den Betten stand noch eine kleine Kommode da, auf der eine Nachttischleuchte war. Annette berührte die Lampe leicht mit dem Finger. Sie war verstaubt. Annette pustete und der Staub flog in die Luft. Es war wohl lange Zeit niemand mehr hier gewesen. Das bedeutete...
Erschreckt über ihre Vermutung, lief sie die Treppe wieder hinauf und versuchte noch einmal verzweifelt, ihre Freunde zu finden. Vergeblich! Es war niemand auf dem Boot außer ihr. Der Staub hatte sich inzwischen in ihrer Kehle gesammelt und ihre Augen brannten. So lehnte sie sich an das Steuerrad und fing bitterlich an zu weinen.
Plötzlich sah sie hinter dem Steuerrad ein Blatt Papier hervor blinzeln. Rasch zog sie es hervor. Auf dem Zettel war eine Nachricht gekritzelt:
GEHDENWEG
Du schönes Kind,
Nun komm geschwind,
Bist du bereit,
Sind wir nicht weit,
Folgst du dem Fluss,
Ohne Verdruss,
Kann nichts geschehen,
Du wirst schon sehen.
Es bringt das Boot
Dich von hier fort,
An jenen Ort,
In jenem Land,
In dem gebannt
Wir auf dich warten.
Du wirst gewahr,
Was der Sinn der Reise war.
Die Nachricht war unterzeichnet mit Little Fool und Kaukasus. Annette war erleichtert. Aber warum hatten sie sie allein gelassen? Sie fürchtete, dass sie das Boot nicht richtig handhaben könne, weil sie noch nie allein mit einem Boot gefahren war. Aber stand in der Nachricht, die sie gerade gelesen hatte, nicht, dass das Boot und der Fluss gemeinsam sie an den verheißenen Ort bringen würden? Alles, was sie tun musste, war demnach, das Boot in Gang zu bringen. Nur wie machte man das?
Sie suchte und fand schließlich einen kleinen Hebel. Sie probierte herum, bis sich der Hebel bewegen ließ. Instinktiv schob sie ihn nach oben, und der Motor sprang an.
Annette schwang das Steuerrad mit aller Kraft herum, so dass sich das Boot flussaufwärts bewegen ließ. Annette hielt das Lenkrad fest. Wie von Geisterhand wurden ihre Hände angetrieben. Nicht sie war es, die das Lenkrad führte, sondern vielmehr führte das Rad ihre Hände. Annette fiel ein Stein vom Herzen. Sie war jetzt sicher, dass sie sich nicht verirren konnte. Das Boot kannte den Weg. Der Fluss war der Wegweiser. Aber sie war auf sich gestellt. Sie würde mit keinem Menschen reden können und sie wusste nicht, wie lange die Fahrt dauern würde. Oder doch? Little Fool hatte einen Tag erwähnt. Was war schon ein Tag?
Das Boot fuhr langsam flussaufwärts. Da es fast windstill war, spürte Annette kaum, wie es dahinglitt. Es war so, als ob sie in einem Nachtexpress saß. Weit und breit war kein Geräusch zu vernehmen. Nur das leise Surren des Motors unterbrach die gleichmäßig fließende Bewegung. Links und rechts des Flussufers standen hohe Bambusgewächse. Ab und zu flog eine Bachstelze über sie hinweg. Nichts rührte sich. Selbst der Bambuswald stand da wie erstarrt. Annette hatte ihre Hände vom Lenkrad genommen, so dass das Boot von allein manövrierte. Sie schloss die Augen, und voller Hingabe ahmte sie das Wiegen des Schiffes nach. Der Wind streichelte ihr Haar, während ihr Körper sich dem Schwanken des Bootes anpasste. Die Stille und die Einsamkeit versetzten sie in eine traurige Stimmung.
Um die Wartezeit zu verkürzen, wollte sie sich ein wenig zerstreuen. Was konnte sie tun? Schwimmen im Fluss? Nein, das war zu gefährlich. Erstens würde sie nicht wieder ins Boot zurück finden, und zweitens war es möglich, dass in dem Fluss Fische lebten, die sie für eine Mahlzeit hielten. Sie fand ihre Befürchtungen augenblicklich bestätigt, weil sie zu ihrem großen Schrecken zwei Krokodile sah, die sich langsam ins Wasser gleiten ließen. Sie kamen direkt auf sie zu. Was sollte sie jetzt bloß tun?
Panik ergriff sie, und sie suchte verzweifelt auf dem Deck nach einer Waffe. Sie fand ein Messer, das sie fest umschlang. Um nicht bemerkt zu werden, versteckte sie sich unter dem vorderen Bug des Schiffes und krallte das Messer ganz fest, bis ihre Handflächen schmerzten. Angstschweiß sammelte sich an ihren Schläfen. Sie verharrte lange in dieser Stellung und malte sich aus, wie es sein würde, wenn die Krokodile sie erwischten. Zwar hatte sie sie nur kurz angeblickt, aber was sie dabei gesehen hatte, hatte sie bis ins Mark erschüttert. Kalte leblose Augen hielten mordlüstern nach ihren Opfern Ausschau. Ihre Mäuler waren riesig, fast so groß wie ihre Körper, die lang und flach und von einem mächtigen Panzer umhüllt waren. Erbarmungslos schnellten sie auf ihre Opfer los. Bei geöffnetem Maul sah man ihre spitzen langen Zähne, die tiefe Wunden in zarte kleine Mädchen schlagen konnten. Annette bildete sich ein, den runzligen Panzer der Tiere auf ihrer Haut zu spüren. Natürlich war das nur Einbildung, aber in ihrer Furcht war diese so stark, dass sie das Gefühl hatte, tatsächlich verwundet worden zu sein. Annette betete. Sie wollte nicht sterben, nicht jetzt, so kurz vor ihrem Ziel.
Vor ein paar Tagen in den Bergen war es ihr gleichgültig gewesen, ob sie tot oder lebendig war. Aber jetzt war sie sicher, dass das Wiedersehen mit den Freunden und die Begegnung mit dem Engel der Weisheit nur noch wenige Stunden entfernt waren. Warum sollte sie ausgerechnet jetzt einen qualvollen Tod durch zwei Ungeheuer erleiden? Der Gedanke, im Maul eines dieser hässlichen Tiere zu verenden, ließ sie erschauern. Was für schreckliche Biester diese Krokodile waren! Krokodile verließen bekanntlich ihre Jungen kurz nach der Geburt und sie waren gnadenlos gegenüber ihren Opfern, die sie halb verdaut und mit Bisswunden versehen liegen ließen. Ein Krokodil war ein Terminator, der nach gekautem und verdautem Mahl faul in der Sonne verharrte.
Annette hatte eine ganze Weile regungslos am Boden liegend verharrt. Dann nahm sie ihren Mut zusammen und schaute hinaus. Die Krokodile waren nicht mehr da. Annette atmete auf und stellte sich wieder hin.
Inzwischen hatte sie Hunger bekommen. Frohen Mutes durchstreifte sie das Schiff auf der Suche nach Nahrung. Sie fand eine Holztür, die so hoch wie sie selbst war und sich leicht öffnen ließ. Dahinter befand sich zu Annettes großer Freude eine Speisekammer mit vielen leckeren Sachen. Zwei Regale waren mit Gläsern und Dosen bestückt. Sie hatte die Auswahl zwischen Früchten aller Art, Litschis, Bananen, Kiwis, Orangen, Papayas, Mangos, Kokosnüssen. Es gab Dosen mit Trockenobst, Datteln, Feigen, Bambussprossen. Fladenbrote lagen in einer Ecke, und in einer anderen hingen getrocknete Fische. Unten im Regal lag sogar Besteck und Geschirr, sorgfältig unter einem Tuch versteckt, auf dem mit blauem Garn gestickt war:
GUTEN APPETIT!
Wenn das kein Service war! Annette stellte die Nachttischleuchte von der Kommode auf den Boden und breitete das Tuch wie eine Tischdecke darüber aus. Sie nahm zögernd einen Teller, eine Gabel und ein Messer aus dem Regal; denn es war ihr klar, dass sie die Mahlzeit allein einnehmen musste. Sie dachte an Little Fool und Kaukasus. Wenn die beiden jetzt bei ihr wären, würde ihr die Mahlzeit schmecken. Sie erinnerte sich daran, wie sie zusammen in der Höhle gegessen hatten. Das war lustig gewesen. Sie hatte sich so wohl gefühlt in der Gesellschaft ihrer netten Freunde, richtig geborgen.
Obwohl sie großen Hunger hatte, fiel ihr die Zubereitung des Essens schwer, weil sie wusste, dass sie es nur für sich allein machte. GUTEN APPETIT leuchteten die Buchstaben auf dem Tischtuch. Guten Appetit hatte sie nicht. Hunger ja, aber Appetit? Der war ihr gründlich vergangen. Bei ihren Eltern gab es Augenblicke, in denen sie ein ähnliches Gefühl hatte. Beispielsweise hatte sie einmal eine schlechte Note in Mathematik gekriegt. Die Eltern waren sehr böse gewesen und hatten nicht mit ihr gesprochen, als sie gemeinsam am Tisch gesessen und gegessen hatten. Da hatte sie auch keinen Appetit mehr gehabt. Ihr wurde übel vor Hunger und Einsamkeit. Widerwillig öffnete sie eine Lebensmitteldose, nahm Obst dazu und schob sich einen Bissen in den Mund. Zu ihrer Überraschung schmeckte das Essen recht gut. Da sie inzwischen großen Hunger hatte, schlang sie es herunter, schneller als sie gucken konnte. Mit dem sich füllenden Magen besserte sich ihre Stimmung, und sie beschloss, ihre Trübsal vorläufig zu vergessen und daran zu denken, dass sie bald nicht mehr allein sein würde.
Gekräftigt, aber noch nicht ganz satt, nahm sie noch ein Fladenbrot und ein paar Früchte als Dessert. Die getrockneten Fische rührte sie nicht an. Sie sahen merkwürdig aus. Sie waren verschrumpelt und verbreiteten darüber hinaus einen unangenehmen Geruch. Es war nicht auszuschließen, dass sie faul waren und ihr nach dem Genuss möglicherweise schlecht würde. Nach dem Essen wurde sie müde und legte sich in eines der vorhandenen Betten. Das Bett war weich und frisch bezogen. Eine einfache Decke lag obenauf. Annette gähnte kurz und schlief sofort ein.
In ihren Träumen sah Annette die Krokodile mit weit offenem Maul in der Sonne liegen. Sie regten sich nicht. Eine kleine Gestalt kam auf sie zu. Sie pfiff und surrte, gurgelte und krächzte. Als sie direkt vor Annettes Nase angekommen war, sah Annette das Gesicht. Es war aus Holz. Es sah aus wie das einer der Puppen, die im heimischen Marionettentheater zu sehen waren. Eine lange Nase und ein einzelner Zahn waren eingeritzt. Die kleine Hexe hielt in der linken Hand eine Eieruhr. Aus der Uhr rieselte Sand, und Annette war, als ob eine Stimme sagte: “Wie lange noch, wie lange noch? Ich kann nicht mehr, ich kann nicht mehr.” Die Hexe kicherte und drehte die Eieruhr um, nachdem das letzte Sandkorn hindurch gerieselt war. Wieder kam die Stimme aus der Uhr und sagte: “Ich kann nicht mehr. Wie lange noch?” Die Hexe kicherte wieder. Sie schüttelte die Eieruhr und hielt sie Annette vor die Nase. Als Annette nach ihr greifen wollte, huschte sie weg und näherte sich ihr wieder kichernd. So ging das eine ganze Weile.
Dann tauchte ein Pfarrer auf. Neben ihm stand eine schwarz gekleidete Frau mit einem schwarzen Schleier vor dem Gesicht. Der Pfarrer las aus einem Buch vor. Annette konnte nur ein paar Wortfetzen verstehen:
“Asche zu Asche, Staub zu Staub. In nomine patri et filii sancti. Amen.”
Sie war auf einer Beerdigung. Ein Sarg wurde langsam in die Erde hinunter gelassen. Die schwarz gekleidete Frau nahm eine Schaufel voll Erde und warf sie in das Loch, in dem der Sarg verschwunden war. Plötzlich griff eine knorrige faltige Hand nach der Schaufel und, schwupp, riss die Frau mit hinunter. Sie schrie um Hilfe. Aber der Pfarrer fuhr in seiner Grabrede fort, als ob er sie nicht gehört habe. Ein paar anwesende Trauergäste warfen Erde in das Grab, ohne ihre Hilferufe zu vernehmen.
Annette wurde von einem kräftigen Ruck geweckt. Das Boot schien angestoßen zu sein, oder jemand hatte es gerammt. Annette sprang aus dem Bett und eilte auf Deck, um nach der Ursache zu sehen. Sie traute ihren Augen nicht. Ein riesengroßer Fisch hatte sich dem Boot genähert und mit seinem kräftigen Schwanz den Bug gerammt. Solch einen Fisch konnte es hier doch gar nicht geben. Wie konnte er hierhiergekommen sein? Er hatte Ähnlichkeit mit einem Hai. Es war aber kein Hai. Andrerseits sah er aus wie eine Mischung aus einem Delfin und einem Wal. Vielleicht war er ein Flussdelfin. Aber Wale waren Geschöpfe des Ozeans und lebten nicht in Flüssen.
Sie vergaß ihre Überlegungen vorübergehend, da sie an ihre Verteidigung denken musste. Der Fisch würde wahrscheinlich wieder angreifen, und dafür sollte sie besser gerüstet sein.
Aber was war das? Der Wal hatte sich zu seiner vollen Größe aufgerichtet und tanzte nun vor ihr auf dem Wasser. Dabei stieß er quietschende Töne aus, ähnlich denen, die sie bei Flipper in der gleichnamigen Sendung gehört hatte. Sein gewaltiger Körper war so hoch wie ein Haus, aber er war außerordentlich beweglich. Der Fisch stieß sich mit seinem Schwanz ab und machte einen Salto in der Luft. Dann tanzte er wieder wie zuvor. Zwar sah er sehr gefährlich aus, aber die Fröhlichkeit und Unbekümmertheit, mit der er seine akrobatischen Kunststückchen aufführte, wirkte beruhigend. Fast hätte Annette vergessen, dass sie Waffen suchen wollte, um sich für einen eventuellen Angriff zu rüsten.
Sie beeilte sich, eine entsprechende Waffe zu finden. Neben dem Messer, das sie bereits gegen die Krokodile eingesetzt hatte, fand sie ein dickes Seil, das ihr nützlich vorkam. Sie hielt das Messer in der einen Hand und legte das Seil vor sich hin, um es im Bedarfsfalle sofort griffbereit zu haben. Annette kam sich dabei ein wenig lächerlich vor. Sie konnte nicht glauben, dass im Ernstfall ein Messer und ein Seil für ihre Verteidigung ausreichen würden. Der Delfin war aufgrund seiner Größe weit überlegen, und, falls er bösartig war, würde ihn nichts davon abhalten, sie zu töten und zu fressen. Warum also legte sie die Waffen bereit? Und bei aller Furcht, die sie beschlichen hatte, war sie zuversichtlich, dass ihr in Wirklichkeit überhaupt keine Gefahr drohte.
Sie ahnte, dass der Delfin nicht bösartig war und nur ein Hindernis darstellte, das es zu überwinden galt. Das majestätisch anmutende Tier hatte sich wieder zu voller Größe aufgerichtet, stieß abwechselnd an das Boot und tanzte auf dem Wasser. Für ihn schien dies ein Spiel zu sein, und die Stöße, die er dem Schiff versetzte, kamen Annette vor wie eine Aufforderung mitzumachen. Annette musste unwillkürlich lächeln. Der Wal erwiderte das Lächeln. So schien es zumindest; denn er zeigte ein breites Grinsen, das ihm eigentümlich war. Die quietschenden Laute, die er von sich gab, dienten der Beschwichtigung. Nach und nach schwand Annettes Furcht. Sie schickte einen versöhnlichen Blick herüber. Der Delfin hörte auf, das Boot anzustoßen und beschränkte sich von nun an darauf, seine Kunststückchen auf dem Wasser vorzuführen.
Er wirbelte in der Luft herum, sprang hoch, tauchte unter und schwamm geschwind um das Schiffchen herum. Annette klatschte in die Hände. Sie hatte ihre Angst vergessen und hüpfte voller Entzücken auf dem Deck herum.
Nachdem der Wal zum wiederholten Male untergetaucht war, bäumte er sich plötzlich auf und versprühte eine riesige Fontäne aus seinem Kopf. Zugleich quollen aus seinem Maul große weiße Blasen hervor. Plötzlich schien er einen Schmerz zu verspüren, und Annette sah, dass sich auf der Wasseroberfläche eine Blutspur abzeichnete. Zuerst handelte es sich um ein kleines Rinnsal, das allmählich größer und dicker wurde. Der Wal fiel hintenüber und tauchte tief unter das Wasser. Als er wieder emporkam, sah Annette, dass ein Stück seines Fleisches herausgebissen war. Sie rieb sich die Augen und versuchte, auszumachen, was sich unter der Wasseroberfläche abspielte. Das war ein schwieriges Unterfangen, weil das Wasser durch Algen und Schlingpflanzen getrübt war. Sie schaute angestrengt und versuchte sich zu konzentrieren, und so gelang es ihr herauszufinden, wer die Angreifer waren.
Ein riesiger Schwarm von Piranhas hatte sich unbemerkt herangeschlichen und war im Begriff, den Wal mit Haut und Haaren zu verspeisen. Einige von ihnen zeigten sich an der Wasseroberfläche. Annette konnte erkennen, dass es kleine rot-weiß gestreifte Kugelfische mit langen messerscharfen Zähnen waren. Unzählige von ihnen waren dabei, ihre fette Beute in kleine Stücke zu zerlegen.
Das dauerte nur wenige Minuten. Dann beruhigte sich das Wasser, und aus der Tiefe tauchte ein Skelett auf, dessen einzelne Knochen sorgfältig abgenagt waren. Annette war schockiert und empört zugleich. Wie war es möglich, dass ein majestätisch anmutendes Tier in so kurzer Zeit verschwand, ein Tier, das den Eindruck machte, unbezwingbar, ja, beinahe unsterblich zu sein? Annette fühlte, wie sich eine Träne aus ihrem linken Auge löste und langsam an ihrer Wange herunterrollte. Sie wusste, dass nichts mehr zu machen war und spürte ihre Ohnmacht angesichts der Kräfte der Natur.
Ein großes starkes Tier hatte sein Leben lassen müssen, weil ein Schwarm reißerischer und mordlüsterner Viecher es verspeist hatten. Es hatte keine Chance angesichts dieser Übermacht. Ein Elefant hat keine Chance, wenn er allein durch die Steppe zieht, nachdem er sein Rudel verlassen hatte. Ein Albatros hatte keine Chance, wenn er sich auf einem Schiff verirrte und die Matrosen sich über ihn lustig machten, weil seine Flügel im Wege standen, auf denen er sich sonst hoch in die Lüfte schwang. Alle großen und starken Tiere haben keine Chance, wenn sie gejagt werden. Sie sind groß und stark in ihrem Element, wenn sie für sich oder mit ihresgleichen sind, niemals aber, wenn Fremde in ihr Revier eindringen und diese mörderische Motive verfolgen und außerdem in der Überzahl sind. Bittere Tränen flossen über Annettes Gesicht.
Sie blickte durch ihre Tränen ans Flussufer und sah den Bambuswald. Bislang war ihr nicht aufgefallen, dass die Bambusstäbe meterhoch waren. Sie hatte sie für Gräser gehalten, aber in Wirklichkeit waren sie so hoch wie Bäume. Das Boot bewegt sich auf das Ufer zu und hielt an. Annette verließ das Boot, um einen Spaziergang zu machen. Sie wollte die schreckliche Szene mit dem Wal und den Piranhas vergessen. Sie band das Boot an einen Bambusstab. Sie wollte sich nicht lange aufhalten, weil es, nach dem Stand der Sonne zu urteilen, schon Mittag war und folglich nur noch ein Tag blieb, um ihr Ziel zu erreichen. Gedankenverloren schlich sie durch das Dickicht des Waldes.
Sie versuchte, möglichst geräuschlos voranzukommen, um die Stille des Waldes nicht zu stören. Sie war noch benommen von den Ereignissen des Vormittags und suchte Halt an den Bambusstäben. Diese fühlten sich glatt und kühl an. Sie waren sehr geschmeidig und biegsam, gleichzeitig aber stark und fest. Aus der Ferne wirkten sie zerbrechlich wie Glas. Bei einer Berührung waren sie jedoch außerordentlich widerstandsfähig. Selbst mit großer Anstrengung gelang es nicht, sie zu knicken oder abzubrechen. Sie waren Gewächse des Wassers. Das bedeutete, man konnte in ihnen untertauchen, sich in ihnen verstecken, wenn es notwendig und wieder auftauchen, wenn die Gefahr vorüber war.
Um eine Pause einzulegen, setzte Annette sich hin. Kaum hatte sie Platz genommen, da hörte sie hinter sich ein Knacken und ein Rascheln. Sie drehte sich um, und da stand ein Panda, der sie neugierig betrachtete. Er putzte sich die Nase und ein wenig außer Atem - er war wohl viel gelaufen - fragte er Annette, wer sie sei. Annette war verblüfft, einen sprechenden kleinen Bären zu sehen und antwortete:
“Ich heiße Annette und bin auf dem Weg zum Engel der Weisheit.”
“Zum Engel der Weisheit, soso", sagte der Panda unbeeindruckt. “Na dann, gute Reise.”
Annette wollte nicht, dass der Panda sich sogleich entfernte, weil sie froh war, jemanden getroffen zu haben, dem sie ihren Kummer erzählen konnte.
“Warte", rief sie aufgeregt. “Bitte warte einen Augenblick. Vielleicht kannst du mir helfen. Ich bin nämlich nicht von hier.”
“Muss das sein? Ich bin sehr in Eile. Ich habe noch viel zu tun", sagte der Panda in barschem Ton.
Er war ungehalten, weil er es nicht leiden konnte, wenn er aufgehalten wurde. Er war ja so beschäftigt. Jedenfalls meinte er das, obwohl Annette das nicht glaubte. Aber sie wollte sich nicht anmerken lassen, dass sie sich fragte, womit er denn so beschäftigt sein könne. Deshalb sagte sie fast flehend:
“Bitte. Es dauert nicht lange. Ich muss dir erzählen, was ich Schreckliches erlebt habe. Höre mich an, nur einen Moment.”
Der Panda verdrehte die Augen und seufzte:
“Na gut. Erzähle, aber fasse dich kurz.”
Und Annette berichtete von dem Wal und den Piranhas. Der Panda lauschte, nicht ohne Ungeduld, und rieb sich dabei ununterbrochen die Nase. Als Annette ihre Geschichte beendet hatte, kratzte er sich am Kopf, rieb die Pfötchen aneinander und sagte mit einem Kopfschütteln:
“Tststs. Das ist ja eine schöne Geschichte. Allerdings passieren derlei Geschichten jeden Tag, jede Stunde, jede Minute. Ich wüsste gern, was so Besonderes daran sein soll.”
Annette starrte ihn entsetzt an und entgegnete:
“Vor meinen Augen ist ein wunderschönes Tier von einem Schwarm hässlicher reißerischer Fische getötet worden und du behauptest, das sei nicht wichtig?”
Während sie das sagte, fühlte sie, wie ihr die Tränen kamen. Der Panda, dem nicht entgangen war, dass Annette unter seiner fehlenden Anteilnahme litt, schlug sich mit der rechten Pfote ins Gesicht, als wolle er sich ermahnen, freundlicher und verständnisvoller zu sein. Dann fuhr er, in sanfterem Tonfall, fort:
“Es war nicht so gemeint. Tut mir leid. Ich bin nur furchtbar in Eile. Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr. Weißt du, es ist so, dass wir Tiere des Waldes in den Kreislauf von Leben und Tod eingebunden sind. Es gibt kein Entrinnen. Für uns ist es selbstverständlich, dass wir mit Gefahren vertraut sind, und dass wir in diesem Augenblick lebendig und im nächsten tot sein. Wir kennen es nicht anders. Es ist ein Kommen und Gehen, ein Fressen und Gefressenwerden.”
So ist das also, dachte Annette. Was ihr entsetzlich vorkam, war für den Panda ein alltägliches Geschehen. Wahrscheinlich wie es für einen Metzger alltäglich war, Schweine zu schlachten. Sie dachte an den Metzger in der Nachbarschaft, bei dem ihre Mutter regelmäßig Fleisch und Wurst einkaufte. Fast jeden Morgen drangen die Schreie der abgestochenen Schweine zu ihnen herüber. Es war grässlich.
Der Panda wollte nun endgültig aufbrechen. Aber Annette gab nicht auf. Sie packte ihn und hielt ihn fest. In ihrem Arm fühlte er sich weich und kuschelig an, wie ein Bündel Angorawolle. Annette konnte nicht verstehen, wie ein süßes kleines Tier wie dieses über Leben und Tod wie von einer banalen Angelegenheit sprechen konnte. Das war einfach unglaublich.
“Lass das.” Der Panda wehrte sich und schaffte es schließlich, sich aus der Umklammerung zu befreien.
“Du tust mir weh. Und außerdem mag ich es nicht, wenn man mich von meinen Tagesgeschäften abhält.”
Er war jetzt ziemlich aufgebracht und fest entschlossen, wegzulaufen. Annette verstellte ihm jedoch den Weg und trotzig beharrte sie darauf, noch mehr von ihm zu erfahren. Sie wollte nicht warten, bis er ihr den Weg zu ihrem Ziel beschrieben hatte.
“Los, sag mir erst, wie ich zum Engel der Weisheit komme. Dann kannst du meinetwegen gehen.”
Der Panda, der inzwischen begriffen hatte, dass Annette eine Fremde war und sich demzufolge mit den Gesetzen des Waldes und des Wassers nicht auskannte, besann sich und schlug einen Purzelbaum.
“Der Engel der Weisheit...”
Er schlug noch einen Purzelbaum und noch einen.
“Der Engel der Weisheit… Das klingt gut, wirklich gut.”
Annette fand ihn zwar recht putzig, wie er da seine Purzelbäume schlug, andererseits fürchtete sie aber, dass er sich insgeheim über sie lustig machte.
“Schluss jetzt", gebot sie daher. “Sag mir, wie ich weiterfahren muss. Ich habe nur noch einen halben Tag Zeit.”
“Ein halber Tag ist eine Ewigkeit", sagte der Panda. “ So viel Zeit habe ich nie. Beneidenswert!”
Vor lauter Begeisterung schlug er fünf weitere Purzelbäume. Dann war er erschöpft und fiel hin.
“Also, ehrlich gesagt, ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.”
Annette hielt den Atem an. Sollte das etwa bedeuten, dass sie sich verirrt hatte? Dann würde sie das Ziel ihrer Reise nie erreichen und ihre Freunde nie mehr wiedersehen. Das war zuviel. Vor Schreck brachte sie kein Wort mehr heraus und setzte sich niedergeschlagen in das Gras. Der Panda, der Mitleid mit ihr hatte, stupste sie mit seiner kleinen feuchten Nase an und sagte, um ihr Mut zu machen:
“Annette, kleine Annette. Ich kenne den Engel der Weisheit nicht. Aber ich habe einen Verdacht. Da unten, etwa 50 Kilometer von hier, befindet sich eine Siedlung. In dieser Siedlung wohnt jemand, der nachts manchmal Panflöte spielt. Ich habe allerdings noch nie Jemanden gesehen, so dass ich dir nicht sagen kann, wer die Flöte spielt.”
Annette schöpfte neuen Mut. Vielleicht war das der Ort, wo sie erwartet wurde.
“Bitte sag mir noch, wie es dort aussieht.”
Annette blickte um sich. Der Panda war verschwunden.
“Kuckuck, hier bin ich.”
Aus dem Dickicht drang eine kleine zarte Stimme an ihr Ohr. Annette versuchte, den kleinen Panda zu erhaschen. Wo steckte er nur?
“Kuckuck, hier bin ich.”
Diesmal kam die Stimme von der anderen Seite.
“Wo bist du denn? Sag mir doch endlich, wie du heißt. Meinen Namen kennst du ja bereits. Also, ich denke, es wird Zeit, dass du dich vorstellst.”
“Kuckuck", kam es nun wieder aus einer anderen Richtung.
“Hallo, Panda", rief Annette. “Lass dieses Versteckspiel. Ich weiß, dass du flinker bist als ich, aber...”
Der Panda kam aus dem Dickicht hervor und sagte:
“Nun brauche ich dir nur noch viel Glück zu wünschen. Den Weg kennst du. Dein Boot wird dich dorthin bringen. Und dann wird alles gut.”
Als er das gesagt hatte, rannte er davon, und Annette war allein. Sie machte sich sofort daran, das Boot loszubinden, sprang mit einem Satz hinein und setzte es in Gang. Es fuhr weiter geradeaus, nur diesmal viel schneller als vorher.
Eine leichte Brise kam auf. Annette schaute zum Himmel empor. Dunkle Wolken waren aufgezogen und kündigten einen Sturm an. Es begann zu tröpfeln. Die Tropfen wurden dicker und fielen alsbald in Strömen vom Himmel herab. Annette suchte Schutz im Unterdeck, um nicht nass zu werden. Das Boot schwankte stark und drohte jeden Augenblick umzukippen.
“Wenn das mal gutgeht", dachte Annette und überlegte, welche Sicherheitsmaßnahmen zu ergreifen waren. Das Beste war vermutlich, an Land zurückzufahren und den Sturm abzuwarten. Aber das ging nicht mehr. Es war leider zu spät; denn sie hatte nur noch zwei Stunden Zeit bis zur Abenddämmerung. Vielmehr kam es nun darauf an, einen kühlen Kopf zu bewahren und dem Sturm zu trotzen, so gut es eben ging.
Das Schiffchen schaukelte immer stärker, und Annette hörte die krachenden Wogen auf dem Deck über sich. Ein lautes Donnergrollen folgte. Wenn bloß kein Blitz einschlägt, dachte Annette und betete. Um sicher zu gehen, dass an Deck alles in Ordnung war, stieg sie die Treppen nach oben und rutschte dort augenblicklich auf den nassen Fußbohlen aus. Ihr Knöchel begann infolge des Aufpralls zu schmerzen, so dass sie es nicht schaffte, wieder aufzustehen. Sie suchte Halt an den Streben, die sich unterhalb des Steuerrades befanden, um nicht von Deck zu rollen und ins Wasser zu fallen. Ihre Kleider waren nass, und ihre Haut war klebrig und feucht. Das Regenwasser vermischte sich mit den Schweißtropfen in ihrem Gesicht und lief salzig in ihren Mund. Ihr wurde übel. Wenn ihr jetzt nicht bald eine rettende Idee käme, würde sie in Ohnmacht fallen. Da hörte der Regen schlagartig auf. Der Sturm legte sich.
Völlig erschöpft von der Anstrengung der vergangenen Stunde, stand sie auf. Sie fühlte sich wackelig auf ihren Beinen und setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Sie begab sich vorn an Deck, wo sich das Steuerrad befand. Das Schiff hatte inzwischen wieder normale Fahrt aufgenommen und fuhr weiter geradeaus. Bald zeichneten sich die Umrisse von kleinen Pfahlbauten am Horizont ab. Als das Boot näher kam, konnte Annette erkennen, dass die Häuser aus Bambus waren. Sie waren etwa drei Meter hoch. Es handelte sich um eine leichte Bauweise. Dadurch wirkten sie kompakt und praktisch.
Eine wunderschöne Melodie drang an ihr Ohr, gespielt von einer Panflöte. Sie klang traurig, weckte aber gleichzeitig Zuversicht. Erst spielte die Melodie langsam und schwer. Aber je näher sie kam, umso beschwingter wurde sie. Sie klang wie ein Willkommensgruß, einladend und freundlich. Weit und breit war niemand zu sehen. Die Hütten, die auf Pfählen fest im Wasser verankert waren, wirkten wie ausgestorben.
Ein scheinbar glückliches Ende
Als Annette ganz nah heran gekommen war, konnte sie auf einem Schild lesen, wo sie war:
MAIN SPACE - HAUPTLAND
Komm nur herein,
Nun bist du dein,
Nach langer Fahrt
Auf deine Art
Hast du gelernt,
Dass nicht entfernt,
Was du gesucht
Mit Glück und Mut.
Annette erinnerte sich, dass sie schon einmal ein ähnliches Schild gesehen hatte, damals vor dem Eingang der Höhle im Zwischenland. Wenn sie nun im Hauptland war, dann bedeutete das zweifellos, dass sie am Ziel angekommen war. Und die Inschrift auf dem Schild bestätigte ihre Vermutung. Sie war außer sich vor Freude.
Endlich hatte sie es geschafft. Endlich war sie angekommen, nach vielen Mühen und Hindernissen. Was sie allerdings beunruhigend fand, war, dass keine Menschenseele hier zu wohnen schien. Aber wer hatte die Panflöte gespielt? Annette lauschte. Nichts. Das Panflötenspiel hatte aufgehört, und das Boot fuhr direkt auf eines der Häuschen zu.
Annette band ihr Boot an einen Pfahl und stieg aus. Es gab keine Tür am Eingang, sondern nur einen Vorhang, der sich mit einem Ruck beiseite schieben ließ. Annette stand nun drinnen und schaute sich um. Auch hier war niemand. Nur ein Feuer in der Mitte des Raumes brannte langsam nieder. Feuer hatte im Laufe der Jahre das Dach imprägniert, so dass die Bewohner - sollte es welche geben - vor Unwetter geschützt waren. Außer dem Feuer befand sich nichts in dem Raum, kein Möbelstück, kein Bild, kein einziger Gegenstand. Annette dachte kurz nach und beschloss, das Häuschen nebenan aufzusuchen. Das tat sie auch, und siehe da, sie traf auf Little Fool und Kaukasus. Als sie sie sahen, liefen sie auf sie zu, um sie zu umarmen.
“Da bist du ja. Wir haben schon sehnsüchtig gewartet. Wo warst du so lange? Erzähle.”
Annette bat um einen Augenblick Geduld. Sie wollte sich setzen, aber sie fand keinen Stuhl, nicht einmal einen Schemel. Sie setzte sich auf den nackten Boden. Der Boden war weich und fest.
“Tja.” Annette zögerte und dabei fiel ihr etwas ein.
“Wo seid ihr eigentlich geblieben, da draußen in dem Gebirge?”
“Ach", sagte Little Fool. “Wir haben dich nicht mehr gesehen, nachdem du von der Klippe gestürzt warst. Wir suchten die Gegend ab, fanden aber keine Spur. Also zogen wir weiter.”
“Ihr seid aber nicht mit dem Schiff gekommen, sondern habt mir eine Nachricht übermittelt.”
“Ja, das ist richtig. Die Nachricht war aber nicht speziell für dich gedacht. Sie liegt immer in dem Boot, und wer auch immer sie findet, für den ist sie bestimmt. Es ist eine Nachricht für alle, die unterwegs hierher sind.”
“Was meinst du damit?” wollte Annette wissen.
Kaukasus antwortete: “Wir haben die Nachricht vor langer Zeit dort hinterlassen für den Fall, dass jemand den Weg zum Engel der Weisheit sucht, jemand, der wie du auf der Suche ist.”
“Ach so, das heißt, egal wer, Hauptsache, er sucht etwas?“
“Richtig", bestätigte Kaukasus. “Wir sind nämlich nicht auf das Schiff angewiesen; denn wir haben uns bereits gefunden, wie du siehst.”
Er wies mit einer vielsagenden Geste auf seine Lilienknospe. Annette lachte. Dann aber wurde ihr klar, dass Little Fool und Kaukasus sie ihrem Schicksal überlassen hatten, obwohl sie versprochen hatten, bis zum Ziel bei ihr zu bleiben und ihr zu helfen. Sie fragte daher misstrauisch:
“Ich hätte allerdings gern eine Erklärung. Wäre es nicht möglich gewesen, dass mir etwas zustoßen würde, so allein da draußen?”
Little Fool winkte ab.
“Ach was. Wer eingeladen ist, dem geschieht nichts. Das ist ein ungeschriebenes Gesetz.”
“Übrigens, nebenbei bemerkt, fällt mir ein: Weißt du nun, wer du zukünftig sein willst?”
Annette dachte nach. In Gedanken zogen die Abenteuer der vergangenen Tage an ihr vorüber. Sie sah die Dämonen. Das waren bekanntlich Projektionen ihrer Ängste gewesen. Sie sah den großen starken Wal und sie erinnerte sich, dass sie in der Höhle geglaubt hatte, das Wasser sei ihr Element. Inzwischen wusste sie es besser. Das Wasser war unberechenbar und gefährlich, selbst für scheinbar unbezwingbare Wesen wie den Wal. Auch die anderen Tiere des Wassers waren nicht gerade das, womit sie sich identifizieren konnte. Da fiel es ihr ein.
“Ja, jetzt weiß ich es. Ich will ...”
“Halt, noch nicht. Behalte dein Geheimnis für dich, bis wir dich dem Engel der Weisheit vorgeführt haben.”
“Wo ist er denn?” fragte Annette neugierig. Kaukasus antwortete ihr:
“Hab noch ein wenig Geduld. Wir werden dich gleich zu ihm führen. Aber jetzt kannst du dich erst einmal stärken. Hier, iss.”
Er gab Annette Brot und Käse, Milch und einen delikat angerichteten Salat. Eine Henkersmahlzeit, dachte Annette spöttisch. Sie war ziemlich aufgeregt, aber auch sehr hungrig und aß alles auf.”
“Und jetzt musst du dich noch umziehen", lud Little Fool Annette ein. Er gab ihr ein Kleid aus Seide, das über und über mit Perlen bestickt war, dazu einen Kopfschmuck, der aus einem Stück seidenem Stoff bestand und mit einem Lederband gehalten wurde. Als Annette angezogen war, riefen Kaukasus und Little Fool voller Bewunderung:
“Du siehst entzückend aus, wie eine kleine Märchenprinzessin. Nun komm. Der große Augenblick ist da.”
Sie führten Annette hinaus und begaben sich in eine der angrenzenden Hütten.
Rauch stieg aus der Hütte auf, und als Annette erwartungsvoll und mit klopfendem Herzen eintrat, sah sie in der Mitte des Raumes ein Feuer, das eine nebulöse und mystische Atmosphäre verbreitete. Im Hintergrund des Raumes stand erhaben und regungslos der zweiköpfige Engel, den sie bereits als Fata Morgana gesehen hatte. In seiner wirklichen Erscheinung wirkte er mächtig und Ehrfurcht gebietend. Die Gestalt bedeckte die gesamte hintere Wand des Raumes. Die vier Arme wirbelten um sie herum wie Schlangen, die mit ihrem Körper eine untrennbare Einheit bildeten. Der Engel öffnete die Augen. Sie waren von goldener Farbe und leuchteten Annette an, als wollten sie auf den tiefsten Grund ihrer Seele blicken. Annette befand sich in einer Art Hypnose. Sie wagte nicht, weiterzugehen. Wie angewurzelt stand sie da und betrachtete aufmerksam den Kopf der Gestalt. Dieser war mit einer gewaltigen Haarpracht bedeckt, die in kleinen Löckchen das Gesicht schmeichelnd umrahmte. Obenauf trug sie ein mit Edelsteinen besetztes Diadem.
Die beiden Körper vereinigten sich harmonisch und wirkten, als wären sie auf natürliche Weise miteinander verbunden.
Der Engel öffnete den Mund und eine breite Palette klangvoller Melodien strömte heraus, die seine Rede begleiteten. Einmal sprach er in hohem Sopran, dann wechselte er in Bass, dann wieder in Tenor, so dass seine Rede wie ein musikalisches Stück wirkte. Vada hob an:
“Du bist nach einer langen Reise zu uns gelangt, einer Reise, die du mit deinen Freunden und allein unternommen hast, um deine wahre Natur zu finden. Pan hat dich mit seiner Flötenmusik empfangen, und nun bist du unser Gast und sollst es so lange sein, bis wir erfahren haben, wer du bist. Deine Reise hat dir viele Möglichkeiten offenbart. Du kannst nun entscheiden, welche dieser Möglichkeiten dir am besten gefällt; denn du bist ein Mensch und hast den Wunsch, nach deinen Wünschen zu leben. Manche Menschen müssen erst wiedergeboren werden, um zu erkennen, wer sie wirklich sind. Andere erkennen sich schon im ersten Leben. Sag uns nun, ob du weißt, wer du wirklich bist.”
Annette zögerte nicht lange und rief:
“Ich bin ein Schmetterling.” Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, da griffen Vadas Arme nach ihr und umarmten sie.
-----
“Das Fieber ist zurückgegangen.” Die Mutter nahm ein feuchtes Tuch von Annettes Stirn. Sie legte das Tuch zusammen, lächelte und stand auf, um zum Waschbecken zu gehen. Annette schaute sich in dem Zimmer um, in dem sie lag. Sie erkannte, dass es ihr eigenes Zimmer war. Am Fenster stand eine Kakteensammlung, ein Efeugewächs, eine kleine Vase ohne Blumen darin und eine Kerze in Form eines Clowns. Die Mickeymaustapete fand ihre Fortsetzung in einer Lampe gleichen Musters, die von der Decke hing. Auf dem Nachttisch neben ihr lag ein Stapel mit Zeitschriften und Büchern, u. a. ihr Lieblingsbuch Alles begann mit einem Krokodil, einer deutschen Übersetzung des französischen Titels Tout a commencé par un crocodile.
Der Schreibtisch war aufgeräumt, was recht unüblich war. Wahrscheinlich hatte die Mutter das gemacht, während sie schlief. Aber hatte sie denn geschlafen und alle ihre Abenteuer nur geträumt? Um sicher zu gehen, fragte sie die Mutter, die das Zimmer gerade verlassen wollte:
“Was ist mit mir geschehen? Ich kann mich an nichts erinnern.”
“Du bist im Wald gestürzt und hast dir den Knöchel verletzt. Dann fielst du in ein Koma. Wir fanden dich dort. Der Arzt ist gekommen und hat dich untersucht. Er sagte, nachdem er dich verbunden hatte, du würdest bald wieder gesund sein. Gottseidank bist du wach. Fühlst du dich besser?”
Annette nickte. Es war wohl doch alles nur ein Traum, dachte sie bekümmert. Little Fool und Kaukasus waren nur Produkte ihrer Fantasie. Sie war auch kein Schmetterling geworden. Schade! Nur zu gern wäre sie zum Fenster hinausgeflogen und hätte sich auf Kaukasus Lilienknospe gesetzt.
“Ich habe noch eine gute Nachricht für dich. Dr. Kowalski ist für längere Zeit beurlaubt. Es geht das Gerücht, dass er nicht mehr zurückkehren wird.”
Annette fiel augenblicklich die Episode mit dem Schamanen ein, den sie irrtümlich für Dr. Kowalski gehalten hatte. Merkwürdig, dass er ausgerechnet in ihrem Traum aufgetaucht war, als er in Wirklichkeit seine Praxis auf unabsehbare Zeit geschlossen hatte. Ob es da einen Zusammenhang gab? Aber das ist doch alles Unsinn, ermahnte sie sich selbst.
“Ich will morgen wieder in die Schule", sagte sie mit einer Bestimmtheit, die sie selbst überraschte.
“Meinst du wirklich?” fragte die Mutter ungläubig. Sie kannte Annette als notorischen Schulschwänzer und hatte vermutet, dass Annette ihre Krankheit dazu benutzen würde, der Schule noch eine Weile fern zu bleiben.
“Klar, ich will meine Freundinnen und Freunde wiedersehen. Und überhaupt bin ich inzwischen der Meinung, die Schule ist nicht übel", entgegnete Annette aus tiefster Überzeugung.
Die Mutter sah sie einen Augenblick verwundert an, war aber erleichtert und sagte schließlich aufmunternd:
“Nur zu, je früher du aufstehst, umso eher bist du wieder gesund. Jetzt ruhe dich noch ein wenig aus.”
Sie verließ das Zimmer und schloss leise die Türe hinter sich. Annette legte sich hin, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und ließ die vergangenen Ereignisse an sich vorüberziehen. Hatten sie eine Bedeutung oder nicht, und was konnte ihr tiefer Sinn sein? Nein, sie waren bestimmt völlig belanglos, Hirngespinste, weiter nichts. Sie dachte an die Schmetterlinge, von denen sie besonders beeindruckt gewesen war. Während sie so da lag, um der Sache auf den Grund zu gehen, klopfte es an der Tür.
“Herein!” sagte Annette. Die Tür ging auf und der Bruder stand im Zimmer.
“Weiser Bruder!” murmelte Annette.
“Wie bitte?” fragte der Bruder, der - wie bereits erwähnt - Werner hieß.
“Ach nichts", erwiderte sie. Werner nahm sich einen Stuhl und fragte:
“Darf ich mich setzen?”
“Ja, natürlich. Aber seit wann bist du so förmlich?”
Der Bruder nahm Platz und sah Annette ernst und nachdenklich an. Er schwieg und wartete ab, ob Annette selbst die Antwort fand. Annette erinnerte sich an das, was er im Traum in der Höhle über den Computer erzählt hatte. Er schien ihre Gedanken zu erraten; denn in seinen Augen zeigte sich ein Glanz, den sie vorher noch nie an ihm wahrgenommen hatte. Und in seinem Mundwinkel war die Andeutung eines Lächelns zu erkennen.
“Ich wollte nur wissen, ob es dir besser geht", sagte er nach einer Weile vielsagenden Schweigens. “Meinen Computer habe ich übrigens verkauft.”
Annette war verblüfft.
“Verkauft?” fragte sie ungläubig. “Das ist nicht dein Ernst.”
“Doch, doch, er langweilte mich. Ich bin inzwischen zu der Überzeugung gelangt, dass es besser ist, wirkliche Spiele zu spielen. Du weißt schon, lebendige Spiele, in denen man miteinander reden kann.”
Annette sah ihn zweifelnd an. Meinte er wirklich, was er sagte? Aber er sprach aus tiefster Überzeugung.
“Mit dem Computer ist es wie mit allen Maschinen", erklärte er. “Sie tun, was du ihnen sagst, aber du kannst dich nicht mit ihnen unterhalten. Ich habe keine Lust mehr, mit mir allein zu sein. Lieber will ich mit anderen zusammen sein.”
Annette nickte zustimmend.
“Mir geht es genauso. Deshalb gehe ich morgen wieder in die Schule.”
Werner freute sich über Annettes Entschluss, stand auf und sagte mit einem fröhlichen Lachen:
“Viel Spaß wünsche ich dir dann noch. Und hoffentlich wirst du jetzt nicht mehr so oft fehlen.”
“Ganz bestimmt nicht", sagte Annette. Werner ging und Annette sah zum Fenster hinaus. Es dämmerte bereits. Die Mutter würde ihr gleich das Abendessen bringen, und danach wollte sie einschlafen. Morgen würde dann alles wieder wie früher sein.
Nach dem Klingeln rannte Annette in die Klasse. Sie setzte sich auf ihren Platz und war gespannt, ob der Lehrer eine abfällige Bemerkung über ihr wiederholtes Fernbleiben vom Unterricht machen würde. Zu ihrer Überraschung stellte sie fest, dass der Platz neben ihr, der bisher immer leer gewesen war, nun ebenfalls besetzt war. Ein Mädchen mit schwarzem Haar und dunkler Haut saß dort. Sie trug einen langen Sari aus gelber Seide und lächelte Annette offen und freundlich an. Dabei blitzten ihre weißen Zähne auf. Ihr Gesicht war klein und schmal. Sie hatte eine spitze Nase. Annette beschlich das Gefühl, ihr schon einmal begegnet zu sein.
Der Lehrer betrat das Klassenzimmer und begrüßte die Kinder. Nachdem er in gewohnter Weise das Klassenbuch aufgeschlagen und festgestellt hatte, dass alle Kinder anwesend waren, sandte er einen prüfenden Blick in Annettes Richtung. Seine Brille war vorn auf die Nase gerutscht, und seine blauen Augen schauten Annette vielsagend an. Er blickte ein wenig verschmitzt drein und sagte dann:
“Schön, dass es dir wieder besser geht, Annette. Wir haben dich sehr vermisst, nicht wahr?”
Die anderen Kinder nickten zustimmend. Dann fuhr er fort:
“Wie du siehst, haben wir einen Neuzugang. Darf ich dir Suleika Dan aus Indien vorstellen. Sie kann bereits die deutsche Sprache sprechen und wäre sehr froh, wenn du dich um sie kümmern würdest. Ich bin sicher, dass ihr euch gut verstehen werdet.”
Während der Lehrer ausführlich über algebraische Formeln dozierte, schaute Annette zum Fenster hinaus. Die Stimme des Lehrers war weit weg. Draußen schien die Sonne, und die Schmetterlinge hüpften auf den Blütenstauden auf und nieder. Annette lachte leise. Sie dachte an den Tanz der Schmetterlinge, an die Walzermusik, zu der sich Tausende und Abertausende von Faltern in die Luft erhoben hatten. Sie bildete sich ein, eine von ihnen zu sein. Von Blüte zu Blüte schwang sie sich der Sonne entgegen, während die Erde sich unaufhaltsam drehte. Sie flog über Wiesen und Felder, nach Japan, Indien, Kanada, weiter und immer weiter, einmal um die Erde herum. Immer schien die Sonne. Unaufhörlich spendete sie ihre Energie. Sie nahm sich von der Erde, was sie brauchte. Die Blumen gaben ihr die Nahrung. Sie fühlte sich eins mit der Natur, taumelnd und tanzend, summend und lachend. Ein sanfter Wind streichelte über die Blumen des Feldes und die Bäume des Waldes, der sein schützendes Dach über sie ausbreitete, wenn sie müde war auf ihrer Reise um die Welt.
Es klingelte. Die Schule war aus. Annette stand schnell auf und nahm Suleikas Hand.
“Komm, meine kleine Freundin. Komm mit. Ich will dir etwas zeigen, was dir gefallen wird!”
Und dann rannten und rannten sie gemeinsam vorbei an duftenden Wiesen, weißen kleinen Häusern, lichten Wäldern...
Texte: Alle Rechte liegen bei der Autorin.
Tag der Veröffentlichung: 31.12.2010
Alle Rechte vorbehalten