Sie versuchte zu gehen, aber ihre Knie wurden weich. Es war, als werde mit jedem Schritt ihre Angst größer, die diffuse Angst vor irgendwem, vor irgendwas. Diese Angst hatte sie in der letzten Zeit häufig. Manchmal traute sie sich nicht mehr, auf die Straße zu gehen. Sie konnte sich an keine Namen erinnern. Niemand verstand sie. Ihr Name war Sharifa. Sie hatte erkannt, dass sie sich verstecken musste, hinter einem Schleier oder hinter einem Pseudonym. Sie hatte erst den Schleier ausprobiert, aber weil er ihr zu eng geworden war und sie keine Luft bekam, hatte sie ihn wieder beiseite gelegt. Und dann hatte sie sich diesen Namen zugelegt. Sie war eine Fremde.
In ihrer kleinen Hütte konnte sie barfuß herumlaufen. Draußen brauchte sie Schuhe. Aber sie hatte kein Geld, um Schuhe zu kaufen. Und die alten Sandalen, die sie schon seit Jahren trug, waren inzwischen kaputt. Sie führte ein Dasein, das vom täglichen Kampf ums Überleben geprägt war. Für Luxus hatte niemand etwas übrig, weder Zeit noch Geld. Das Land, in dem sie lebte, war von Terror und Unterdrückung geprägt. Jeder konnte ein Feind, ein Spion, ein Eindringling sein. Hass zeichnete die Gesichter. Die der Frauen waren verhüllt. Die Männer trugen Bärte. Diejenigen, die noch Wünsche und Träume hatten, verbargen sie. Aber bei den meisten waren die Träume längst zu Alpträumen und die Wünsche zu Horrorvisionen geworden. Sie lebten ein Schattendasein, und je zurückgezogener sie lebten, desto sicherer fühlten sie sich. Manchmal dachte sie, es müsse ein Wunder geschehen. Aber nichts geschah. Sharifa glaubte an Wunder. Aber niemand außer ihr glaubte daran. Sie war ein Exot, ein Paradiesvogel, eine Fremde. Es geschah häufig, dass Frauen mit Fingern auf sie zeigten und etwas murmelten, das sie nicht verstand. Es hörte sich bedrohlich an. Überall lauerten Gefahren. Einmal, als sie noch den Schleier ausprobiert hatte, hatte eine Frau ihn unvermittelt vom Gesicht gezogen und sie angespuckt. Sie hatte sich zuerst erschrocken, dann wollte sie ihr etwas entgegnen. Aber die Frau war schnell weggelaufen und hatte dabei hämisch gelacht.
In ihrer ehemaligen Heimat hatte sie die Warnungen in den Wind geschrieben. Konnte man von Zuhause überhaupt sprechen? Eigentlich hatte sie keine Heimat. Sie hatte nie eine besessen. Sie war immer eine Fremde gewesen, selbst in ihrem eigenen Land. Sie führte das Leben eines Nomaden. Eigentlich wollte sie immer bleiben. Aber das war nicht möglich. Also war sie wieder und wieder umgezogen, bis sie nicht mehr wusste, wohin sie noch gehen sollte. Sie war es leid gewesen, jedesmal von vorne anzufangen und von neuem an Freundschaft und Zukunft zu glauben. Wie sollte sie auch an etwas glauben, wenn sie wusste, dass es eine Illusion war, eine schöne Lüge, mit der man sie zum Bleiben überreden wollte, obwohl sie in Gedanken schon weit weg war. Dieses Wissen war der Grund für ihren Aufbruch gewesen. Sie hatte sich ganz bewusst dieses Reiseziel im Orient ausgesucht, weil sie sich selbst beweisen wollte, dass sie die Lüge durchschaut hatte. Es war einfacher, mit der Wahrheit zu leben. Gleichwohl war es schwerer, aber im Land der aufgehenden Sonne hatte die Wahrheit noch eine tiefe Bedeutung, die es herauszufinden galt. Das machte sie neugierig. Sie wollte darauf verzichten, noch einmal enttäuscht zu werden und ihre Bemühungen dahin schwinden zu sehen. Sie hatte sich freiwillig in diese fremde Welt begeben und festgestellt, dass sie lieber dort war als in der, die sie kannte. Kopfschüttelnd hatte man sie gehen lassen. Das war ein Triumph gewesen, ein Sieg über die Verständnislosigkeit. Heimlich hatte sie gelächelt, als sie ihre Koffer gepackt hatte und sich auf die Endgültigkeit gefreut, die sie erwartete.
Sie machte sich auf den Weg zu der kleinen Teestube, in der sie arbeitete. Ein netter Mensch namens Achmed hatte ihr Arbeit verschafft. Sie verdiente ein bisschen Geld. Das reichte zum Überleben. Achmed, der Besitzer der Teestube, war ein wenig skeptisch gewesen. Er hatte sie auf die Gefahren aufmerksam gemacht, die ein Dasein als Kellnerin mit sich brachte. Aber er hatte erkannt, dass sie sich von ihrem Vorhaben nicht abbringen lassen wollte und schließlich eingewilligt, dass sie Abend für Abend für ein paar Stunden in der Teestube ausschänkte. Die Namen der verschiedenen Teesorten hatte sie sich rasch gemerkt. Es gab nicht viel Auswahl. Die meisten Besucher bestellten immer dasselbe. Inzwischen konnte sie auch ihre Sprache ein wenig. Sie konnte sich unterhalten, hielt sich aber stets zurück, damit sie nicht angepöbelt wurde. Es war schon einmal vorgekommen, dass sie einen Mann abwimmeln musste. Das war ihr gelungen, denn sie hatte ihm gedroht, sie würde ihn anzeigen. Und die Polizei ließ bei solchen Delikten nicht mit sich spaßen. Die Gäste konnten auch Essen bestellen. Jeden Abend hatte Achmed einen anderen Speiseplan. Es wurde eine einzige Mahlzeit angeboten, und immer war Reis dabei. Zuweilen reichte Achmed auch Cous Cous. Er hatte immer einen großen Sack im Keller. Und die Vorräte füllte er regelmäßig auf.
Zu diesem Zweck fuhr er in die nahe gelegene Hauptstadt Kabul. Dort ging er auf den Bazaar. Manchmal nahm er Sharifa mit. Sie war begeistert von dem duftenden Gemisch exotischer Gewürze. Es roch nach Kardamom, Ingwer, Curry, Knoblauch und Chili. Überall hingen getrocknete Blumen und Blüten, die neben Sträuchern und Gräsern aufgespannt waren. Sie dienten der Küche, aber sie wurden auch als Heilpflanzen genutzt.
Sharifa fühlte sich frei. Sie sang fröhlich vor sich hin, während sie auf dem Bazaar herumspazierte. Achmed verabredete mit ihr eine Zeit, zu der sie sich wieder treffen sollten, um nach Hause zurückzukehren. So konnte sie getrost eine Weile allein über den Markt gehen. Man kam auf Eseln, die Achmeds Cousin Mahmood gehörten. Er wohnte in Kabul und hatte dort einen kleinen Tabakladen. Er verkaufte alkoholische Getränke. Das war jetzt nicht mehr verboten. Aber die Nachfrage stellte sich nur zögernd ein. Jedes Mal, wenn Sharifa den Bazaar in Kabul aufsuchte, glaubte sie, in eine andere Welt einzutreten. Es herrschte ein starker Gegensatz zwischen dem Land- und dem Stadtleben. Das Landleben war von der Tradition geprägt. In der Stadt entwickelte sich eine neue Gesellschaft mit fröhlichen Männern und Frauen, die sich in schöne Kleider hüllten und Schmuck trugen. Sie hatten nur noch wenige Verbote zu beachten und waren nicht mehr den Gefahren von einst ausgesetzt. Der Staub der verkehrsreichen Straßen legte sich nicht auf ihre schmerzenden Füße. Hier waren die alten Sandalen, die Sharifa an ihren Füßen trug, nicht so empfänglich für den Staub. Sie hatte sich schon oft darüber gewundert, aber nicht weiter gefragt, woran das wohl liegen könne. Sie war viel zu sehr damit beschäftigt, sich die Auslagen anzusehen, die auf alten Teppichen und provisorischen Ständen dargeboten wurden. Das Geld, das sie bei Achmed verdiente, hatte sie schnell ausgegeben. Sie kaufte neben Obst und Gemüse auch ein bisschen Fleisch und Gewürze ein. Ab und zu suchte sie einen kleinen Buchladen auf und kaufte sich ein Buch aus Europa. Dies war meist die teuerste Anschaffung.
Der Weg in ihre Hütte führte über die Berge. Achmed hatte ihr eingeschärft, dass sie sich in acht nehmen müsse, denn überall lauerten Gefahren. Es kam häufig vor, dass Pendler von Straßenräubern überfallen und ausgeraubt wurden. Auch Morde waren nicht selten. Sie wurden aber nicht wie in Europa in den Zeitungen veröffentlicht. Und die Polizei war gegen die organisierten Banden machtlos, weshalb die Täter meist ungeschoren davonkamen. Sharifa hatte immer ein Messer und ein Pfefferspray bei sich. Bislang hatte sie Glück gehabt und war von den Straßenräubern verschont geblieben. So verhielt es sich auch an diesem Tag, als sie langsam und schweigend den Heimweg antraten und über die Hügel trotteten. Die Sonne brannte heiß vom Himmel und Achmed summte ein Gebet. Da Sharifa noch nicht genug Arabisch konnte, verstand sie nur ein paar Brocken. Das Gebet handelte von Allah und Mohammed. Mohammed pries Allah und Allah sagte, er sei stolz auf Mohammed. Obwohl die Sonne im Zenit stand und Sharifa die Hitze zu schaffen machte, sah sie nicht viel. Es schien, als sei es um sie herum stockdunkel geworden. „Es ist nur eine Sinnestäuschung,“ sagte sie zu sich. Sie wiederholte das mehrmals, um wach zu bleiben. Sie bekam entsetzlichen Durst und nach einiger Zeit sah sie eine Oase. Sie freute sich sehr, denn bald würde sie ihren Durst stillen können. Aber die Oase rückte immer weiter weg, je näher sie kam. „Es ist eine Sinnestäuschung“ sagte sie noch einmal. Sharifa war ziemlich erschöpft, als sie zuhause ankam und ging direkt in die Teestube. Es war sieben Uhr. Von sechs bis zehn durften die Bewohner der Stadt elektrisches Licht anknipsen. Das tat Sharifa auch. Sie fühlte sich benommen von der Reise und insbesondere von der Hitze. Ihre Knie schmerzten wieder, wie schon so oft in der letzten Zeit. Sharifa ging hinaus und führte die Esel zur Tränke.
Draußen spürte Sharifa die Dämmerung heranziehen. Sie hatte sich die Schuhe ausgezogen und war barfuß durch den Sand gelaufen. Das tat gut. Der Sand war um diese Zeit nicht mehr so unerbittlich heiß wie am Tage. Eine sanfte kühle Brise kam auf und Sharifa setzte sich in den Sand zu den Tieren. Sie lauschte den Geräuschen des Abends, dem Summen und Zirpen, dem Zischen und dem leisen Pfeifen, das aus der Ferne an ihr Ohr drang. Plötzlich spürte sie einen Schatten hinter sich. Er breitete sich über sie wie ein Dach. Jäh wandte sie sich herum und sah in das Gesicht eines Unbekannten. In seinem linken Auge blitzte es auf. Es war, als sei ein Stern aus dem Auge herausgeflogen. Der Unbekannte lächelte sie stumm an. Dann nickte er kurz und zeigte mit dem Finger nach oben. Sharifa sah einen Stern auf sie herab leuchten. „Die Hitze hat mir heute sehr zugesetzt“, dachte sie und erwiderte scheu das Lächeln des Unbekannten. Sie betrachtete den Fremden genauer. Er war in seidene Gewänder gehüllt, die in allen Farben leuchteten, blau, grün, rot und gelb. Um seinen Kopf hatte er einen Turban gewickelt, dessen Mitte aussah wie der Turm einer Moschee. An den Füßen trug er funkelnagelneue Sandalen. Sharifa beneidete ihn. Sie wollte ihn fragen, ob er ihr vielleicht in die Teestube folgen wolle, aber sie brachte keinen Ton heraus. Der Unbekannte schien verstanden zu haben und nickte zustimmend. Er gab ihr mit einer Geste zu verstehen, dass er bereit sei, ihr zu folgen. „Seltsam,“ dachte Sharifa, „woher konnte er wissen, was ich dachte? Und warum ist es auf einmal so hell geworden? Ob es an dem Stern liegt, der jetzt da oben leuchtet? Ach was, der Stern war sicher immer schon da gewesen, ich habe ihn bloß nie beachtet.“
Sharifa wusste wohl, dass Aberglaube und Charlatanerie im Orient sehr verbreitet waren, aber sie war zu vernünftig, um darauf hereinzufallen. Sie hatte in der Schule gelernt, dass die Naturwissenschaften die Antworten auf alle wichtigen Fragen des Lebens lieferten. Und sie glaubte daran, wie sie an Gott oder Allah glaubte. Ihrer Meinung nach waren Gott und Allah das Gleiche. Sie hatten nur unterschiedliche Namen. Aber sie verkörperten ein höheres Wesen, eine Macht, die über die Menschen wachte und sie ermahnte, mit sich und der Natur sorgsam umzugehen. Die von Menschen gemachten Gesetze waren wandelbar und konnten jederzeit außer Kraft gesetzt werden, sei es durch Revolutionen oder umstürzlerische Machenschaften, wie die der Taliban. Menschen hatten eigentlich keine Macht. Diese war nur geliehen. Von Zeit zu Zeit gaben sie sie zurück und bezahlten dafür Zinsen in Form von Blut und Rache. Der Unbekannte schien erneut ihre Gedanken erraten zu haben, denn er nahm sie bei der Hand und drückte sie ganz fest, als wolle er sie dazu auffordern, ihm zu vertrauen. Es war ein sanfter Druck, der ihren ganzen Körper mit wohliger Wärme durchflutete. Sie ließ sich von ihm führen, ohne zu protestieren.
Schweigend betraten sie gemeinsam die Teestube, in der sich inzwischen ein paar Gäste, Bewohner des kleinen Dorfes, eingefunden hatten. Unter ihnen war auch der junge Ali, Sohn eines Bauern, der fast jeden Abend kam und Tee trank, bis geschlossen wurde. Er mochte Sharifa. Das wusste sie. Er scherzte viel und brachte sie zum Lachen. Die anderen Gäste ließen sich gern von ihm unterhalten, weil er lustige Geschichten erzählte. Das Geschichtenerzählen hatte er von seinem Vater geerbt, der auch Geschichtenerzähler war. Er war tot. Nur seine Mutter lebte noch. Mit ihr zusammen bestellte er den Hof.
Der Unbekannte ließ Sharifas Hand los und setzte sich an einen der freien Tische in die Nähe von Ali. Ali berichtete von einem Schwein, das Mutter geworden war. Er behauptete, es sei eine schwere Geburt gewesen. Er habe ein wenig nachhelfen müssen, aber die kleinen Schweinebabys und ihre Muttersau seien wohlauf. Ali und die anderen Gäste hatten aufmerksam verfolgt, wie Sharifa mit dem Unbekannten hereingekommen war. Nachdem Ali seine Geschichte beendet hatte, herrschte erwartungsvolles Schweigen. Dann unterbrach Ali die Stille und bestellte sich einen grünen Tee. Der Unbekannte gab zu verstehen, dass er dasselbe Getränk haben wolle und Sharifa verschwand in der Küche, um den Tee zuzubereiten. Die Zubereitung dauerte nicht lange, und Sharifa kam mit einem Tablett aus Aluminium und zwei Kannen Tee wieder zurück. Keiner sagte ein Wort. Und Sharifa ging von Tisch zu Tisch, um die übrigen Bestellungen aufzunehmen. Als man sich an den Anblick des Unbekannten gewöhnt hatte, schlürften die Gäste ihren Tee und unterhielten sich miteinander über die üblichen Themen, den Bazaar in Kabul, das Wetter, die Geschäfte. Manche hatten auch Essen bestellt und Sharifa hatte viel zu tun. Die Zeit verging, und der Unbekannte hatte noch immer kein Wort gesagt. Die Gäste unternahmen keinen Versuch, ihn anzusprechen. Sie schauten nur von Zeit zu Zeit zu ihm herüber und wandten sich dann wieder ihrer Unterhaltung zu. Plötzlich stand der Unbekannte auf und verließ rasch die Teestube. Sharifa war in der Küche. Als sie in die Stube zurückkam, war er bereits verschwunden. Sie versuchte, ihn zu erwischen, aber als sie nach draußen trat, war er nirgends mehr zu sehen.
Traurig kehrte Sharifa wieder ein und ging auf den Tisch zu, an dem er gesessen hatte. Dort lag ein großes Goldstück. „Eine großzügige Bezahlung“ dachte Sharifa, „er ist sicher reich.“ Daneben lag ein Zettel mit einer Kritzelei darauf, die Sharifa nicht entziffern konnte. Bestimmt war es eine wichtige Nachricht. Sie bat Achmed, ihr bei der Entschlüsselung zu helfen, denn sie glaubte, es sei Arabisch. Aber Achmed zuckte nur mit den Schultern und sagte: „Das verstehe ich auch nicht. Das ist nicht Arabisch.“ Auch die anderen Gäste konnten die Nachricht nicht entschlüsseln. „Nein, das ist nicht Arabisch,“ bestätigten sie. Es war dunkel geworden und das elektrische Licht wurde ausgeknipst. Stattdessen wurden Kerzen und Öllampen angezündet, bis alle Gäste nach Hause gegangen waren. Sharifa verabschiedete sich kurz von Achmed und ging zu Ihrer Hütte zurück.
Dort wartete eine Überraschung auf sie. Vor dem Eingang stand ein Paar neue Schuhe. Erstaunt nahm Sharifa die Schuhe in die Hand und befühlte sie. Sie waren aus einem glänzenden Material, bunt und mit einem glitzernden Faden durchwirkt. Sie probierte sie an und stellte fest, dass sie genau passten. Es lag nahe, dass der Unbekannte ihr dieses Geschenk gemacht hatte. Sharifa bedauerte, dass sie sich nicht bei ihm bedanken konnte. Woher wusste er, dass sie Schuhe brauchte? Und warum hatte er ihr diese geschenkt? Und überhaupt, weshalb war er plötzlich gekommen und wieder verschwunden?
Noch lange saß sie auf ihrem Bett und dachte über diese Fragen nach. Sie überlegte, wer er wohl war. Wahrscheinlich kam er aus einem Land, in dem eine andere Sprache als Arabisch gesprochen wurde. Vielleicht stammte er aus Indien oder Pakistan. Wo war überhaupt der Zettel? Sie suchte ihn und fand ihn in ihrer Tasche. Behutsam faltete sie ihn auseinander und legte ihn auf den Tisch.
Da sie sehr müde war, legte sich ins Bett. Bald darauf schlief sie ein. In dieser Nacht hatte sie einen seltsamen Traum. Sie ritt mit dem Unbekannten auf einem Schimmel über die Berge. Er saß hinter ihr und hatte sie mit seinen starken Armen umklammert. Sie lachten und sangen die ganze Zeit. Sie waren auf einer Reise in ein Land jenseits der Berge, wo der Unbekannte wohnte. Er erzählte ihr, dass er in einem Palast wohne, der umgeben sei von Oliven-, Zitronen- und Orangenbäumen. Voller Freude erreichten sie ihr Ziel am frühen Morgen. Die Sonne war hinter den Bergen aufgegangen. Sie stiegen vom Pferd und der Unbekannte geleitete Sharifa in seinen Palast. Mit offenem Mund betrachtete sie die marmornen Säulen am Eingang. Der Unbekannte bat sie, die Schuhe auszuziehen. Barfuß betrat sie das Innere des Palastes. Drinnen war auch alles aus Marmor, sogar die Möbel, die Tische und die Stühle waren aus Marmor. Der Unbekannte bat sie, sich zu setzen. Er sah, dass sie fror. Zu ihrer Überraschung war das marmorne Sofa nicht unbequem. Es war weich und kuschelig. Sie schmiegte sich in die riesengroßen Kissen, die hinter ihr lagen. „Seltsam“, dachte sie. Aber dann sah sie, dass das Sofa nicht aus einem harten Material gemacht war und nur wie Marmor wirkte.
Der Unbekannte verschwand in der Küche und sagte, er wolle Tee zubereiten. Sharifa betrachtete die Wände. Dort hingen Masken aus Holz. Auch riesige Gemälde mit Tieren waren zu sehen, Eidechsen, Schlangen, Löwen, Antilopen und Pferde. Nur ein Gemälde zeigte keine Tiere. Es war das Abbild einer wunderschönen Frau mit schwarzem Haar und einer roten Schleife. Sie trug einen roten Kimono. Es handelte sich um eine Japanerin. Ihr Gesicht wirkte wie aus Porzellan. „Eine Porzellanpuppe aus Japan“, dachte Sharifa. Sie hatte nicht bemerkt, dass der Unbekannte den Raum wieder betreten hatte und erschrak, als er vor ihr stand. „Nein,“ sagte er, „das ist keine Puppe. Ich kannte diese Frau sehr gut. Ich war mit ihr befreundet, als ich in Japan war.“ Sharifa hatte sich daran gewöhnt, dass er ihre Gedanken lesen konnte und wunderte sich nicht mehr darüber. „Ich kannte sie viele Jahre, bevor ich hierherkam. Wir hatten gemeinsame Interessen und redeten stundenlang über die Vergangenheit, die Gegenwart und vor allem die Zukunft. Das klingt abstrakt, ist es aber nicht. Aus Vergangenheit und Gegenwart wird die Zukunft gewebt, aber nicht im mathematischen oder physikalischen Sinne. Es handelt sich um ein kosmisches Gesetz.“ Er lächelte freundlich und fuhr fort. „Die meisten Menschen glauben, sie seien von außen gelenkt, wie Marionetten an unsichtbaren Fäden. Sie haben vergessen, dass es darum geht, an seine innere Kraft zu glauben, und daran, alles verändern zu können. Was du hier siehst, ist kein prunkvoller Palast. Ich habe ihn geschenkt bekommen und nicht erworben. Es handelt sich um eine Fata Morgana, eine Luftspiegelung aus einem fernen Land. Das Schloss ist aus Marmor, einem harten Stein, kalt und bunt. Es stammt aus der Vergangenheit. Und hier ist die Gegenwart. “ Er sah Sharifa intensiv an und zeigte mit seinem Finger auf das Auge, aus dem der Stern herausgeflogen war. „Die Zukunft aber ist nicht hier, nicht in diesem Palast und auch nicht in den Dingen, die du hier siehst. Du hast mich sicher verstanden, wie ich dich verstehe, denn du bist mir ähnlich wie die Frau in dem roten Kimono dort, die eine Frau ist und keine Porzellanpuppe.“
Als Sharifa am nächsten Morgen erwachte, war es draußen hell . Sie erinnerte sich an den Traum der vergangenen Nacht und musste unwillkürlich lächeln. „Die Zeit, als ich an Prinzen glaubte, ist schon lange vorbei. Da war ich noch klein“, seufzte sie. Ihr Blick fiel auf den Zettel, der immer noch auf dem Tisch lag. Sie stand auf und nahm ihn in die Hand. Die Schrift war verschwunden. Der Zettel war leer. Rasch lief sie zur Eingangstür und öffnete sie. Erleichtert stellte sie fest, dass die Schuhe noch da standen. Sie probierte sie an. Sie passten genau. „Wie hübsch sie sind“ dachte sie und zog sie wieder aus. Die Nacht musste lang gewesen sein. Sie hatte tief und fest geschlafen und fühlte sich ausgeruht und frisch wie schon lange nicht mehr. Da sie noch ein wenig Zeit hatte, um sich anzuziehen und für den Abend fertig zu machen, dachte sie über den seltsamen Traum nach, den sie in der vergangenen Nacht hatte. Nachdenklich sah sie aus dem Fenster. Oben am Himmel blinkte der Stern, den sie am Vorabend entdeckt hatte. Klar und sanft wie das Quellwasser leuchtete er. Groß wirkte er und sehr nah.
Tag der Veröffentlichung: 28.12.2010
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