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Nachdem sie die Leiche gesehen hatte war ihr übel.
„…männlich, ca. 1,80 Meter groß, zwischen 20 und 35 Jahren alt…“ Am Telefon hatte das gar nicht so schlimm geklungen. Außer, dass er tot war natürlich.
Mareike war Hauptkommissar Gesecke zugeteilt. Sie hatte schon mal vorausfahren, den Tatort sichten und die Ermittlungen einleiten sollen. Zum ersten Mal alleine, da ihr väterlicher Mentor im Stau festsaß. Mareike hatte nur knapp geäußert: „Ich mach das wohl“, während ihr junges Herz ob der 1A-Profilierungsvorlage vor Begeisterung hüpfte. Das wirklich Furchtbare kam erst später. Nun war ihr nur noch zum Speien zumute.
Die Geschosswirkung war verheerend gewesen. Überall an den Wänden und auf dem Boden klebten Gewebefetzen, gehalten von schwammigen Blutkoageln, und man musste jeden Schritt im Voraus berechnen, um nicht auf einem der Fleischklumpen – einer Fingerkuppe, einem Stückchen Leber oder Hirn – auszurutschen bzw. die Spuren zu verfälschen.
Auf dem großen Küchentisch schließlich steckte mitten in all dem Blut ein abgerissenes gerolltes Stück Papier und eine rot darauf geschmierte Botschaft: „Ich habe dich“. Darüber prangte starr ein menschlicher Augapfel. Wie sich später herausstellen sollte, war es der rechte des Opfers. Der andere dagegen blieb unauffindbar. Ebenso eine Hand und die Zehenglieder beider Füße. Sämtliche Haare waren abgeflämmt, so dass der Ekel erregende Gestank an Schlachthof erinnerte. Alles atmete noch feuchtes Entsetzen.
Der oder die Täter hatten ihr schauriges Werk erst kurz zuvor beendet. Mareike Stenzel wusste, worauf es ankam bei der Spurensuche. Ein Stück seiner Erfahrung und die Herangehensweise hatte der alte Gesecke ihr vermittelt; zudem aber besaß sie den gleichen Spürsinn wie er. Dies bemerkte auch das übrige Team. Und so akzeptierten sie ihre Führungsrolle und witzelten auch jetzt nicht dumm herum, als sie ging.
Mareike hob schützend ihre Hand vor Mund und Nase, während sie den Ort verließ. Sie nahm den Weg durch den Park zur nächsten S-Bahn Station. An der frischen Luft wurde ihr besser, so dass sie wieder klar denken konnte. Der Kollege würde den Dienstwagen schon wieder zurück bringen.
Also, was hatte der Täter – inzwischen gingen sie bereits, trotz der vielen zeitraubenden Details dieser Mordtat, von einem Einzeltäter aus – was hatte er mit seinen blutigen Worten auf dem Zettel „Ich habe dich“ und dem darüber drapierten Auge gemeint? Er schien sich in einer großen Gemütsbewegung, ja in regelrechter Erregung befunden zu haben, auch wenn die Vorgehensweise einen Plan vermuten ließ. Was war die Ursache, war seine Motivation für so viel Brutalität gewesen?
Nicht, dass ihn davon irgendetwas wirklich hätte entlasten können, aber wenn sie seine – Mareike stockte. Wieso ging sie eigentlich von einem Mann als Täter aus? Frauen verübten tatsächlich keineswegs nur Giftmorde. Zumindest konnten sie ebenso unerbittlich grausam sein und standen den Männern in dieser Hinsicht leider in nichts nach. Und doch. Es war keine Frau. Das sagte Mareikes sicherer Instinkt, den es nun durch handfeste Indizien zu belegen galt.
Schweißgebadet wachte sie mitten in der Nacht aus dem Schlaf. Hatte sie jemand gerufen? „Ich krieg dich. Dich krieg ich auch“. Ihr klang die Stimme noch im Ohr, ganz real. Schnell drückte sie den Schalter der kleinen Nachttischlampe, so dass ein warmer Lichtschimmer den Raum erhellte, den sie erst kürzlich bezogen hatte. Unruhig bauschten sich die Vorhänge im aufkommenden Wind.
„Na typisch. Wieder mal typisch Frau.“ Mit einem süffisanten Lächeln kolportierte sie den „kleinen Rambo“ der Abteilung. Das wäre ja jetzt ein Sahnehäppchen für ihn gewesen. Sie stand auf und schloss das Fenster. Vier Uhr, der Morgen graute bereits. Noch müde tapste sie zur Kaffeemaschine in der anderen Ecke des Zimmers. An Schlaf war doch nicht mehr zu denken, und den „Alb“ wollte sie lieber im Wachzustand bearbeiten. Während zunächst die Kaffeemaschine leise seufzend ihren Dienst tat, sprang Mareike erst einmal unter die Dusche, legte mit dem Schlafshirt einen Moment lang auch die noch ungeordneten Gedanken ab und kühlte sich schließlich mit einem erfrischenden Kaltwasserguss das überhitzte Hirn. Nach dem Frottieren stieg sie in ihren Trainingsanzug, obwohl sie sich um diese Uhrzeit noch nicht zum Joggen hinaus begab. Eine Laufstrecke wollte sie sich erst in den nächsten Tagen auswählen, bis dahin würde sie die neue Gegend sicher schon besser erkundet haben. Während sie jetzt behaglich ihren Kaffee schlürfte – das war immer noch das Beste an einem solchen Morgen – begab sie sich gedanklich bereits wieder an die Arbeit.
„Ich habe dich“ – war das ein Triumpf der Rache gewesen? Oder war der einfach nur verrückt? Tsss. „Nur“ ist gut, dachte sie. Der ernsten Lage zum Trotz musste sie lächeln. Jetzt arbeitete sie schon Tag und Nacht ohne Unterbrechung an dem Fall. Ja, er hatte auch sie eingefangen, wie es schien. Unversehens fuhr ihr ein Schauer über den Rücken. Was wäre aber, spann sie ihre Gedanken weiter – und plötzlich saß sie vor Aufregung kerzengerade – was wäre, wenn das gar nicht alles, wenn dies nur der Teil einer Botschaft …, wenn die Flecken hinter diesem Satz keine Kleckser, sondern weiterführende Satzzeichen und durchaus gewollt waren?
Mareike Stenzel sprang auf und in ihre „Arbeitskleidung“ – einen dunkelblauen eleganten Hosenanzug – verließ rasch das Haus, nahm diesmal ihren eigenen Wagen – einen kleinen roten Flitzer – um möglichst rasch zum Präsidium zu gelangen und waltete wie selbstverständlich ihres Amtes.
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Ursula Strätling
Bildmaterialien: Ursula Strätling
Tag der Veröffentlichung: 24.06.2013
ISBN: 978-3-7309-3392-3
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