Und ewig probt der Mob
Der Mann sitzt zwei Plätze vor mir in der S-Bahn. Fips mag ihn sofort; anerkennend hebt er im Vorbeilaufen sein Bein. Das weiß der kahl geschorene junge Typ jedoch keineswegs zu würdigen.
„So eine Schweinerei! Du hast wohl keine Erziehung gehabt, was?“ Fluchend springt er von seinem Sitz, ein Kerl wie eine deutsche Eiche.
Instinktiv ducke ich mich und tue so, als gehöre der kleine Stromer nicht zu mir. Dabei jubele ich ihm insgeheim zu. Mein Hundchen scheint mir in jeder Hinsicht das rechte Gespür zu haben. Ist eben ein Naturtalent, auch ohne Drill. Zufrieden räkele ich mich auf meinem Platz, nachdem sich die kleine Aufregung da vorne gelegt hat.
Er scheint sich im Übrigen recht schnell mit seiner Misere abgefunden zu haben, stelle ich überrascht fest und spähe nun erstmals etwas genauer hinüber. Man sieht nur Kopf, Nacken und seine breiten Schultern – wenn er vielleicht mal einen Blick zur Seite ... in diesem Moment dreht der sich ganz herum, als hätte ich ihm mit dem Finger auf die Schulter getippt. Ich zucke unwillkürlich zusammen. Ertappt. Mein Kopf bläst sich auf wie ein Ballon und signalisiert Rot, jedenfalls fühlt er sich so an. Big Boy verbirgt seine Augen klugerweise hinter einer Sonnenbrille – das würde ich auch gern tun, verflixt! Ich komme mir dagegen richtig nackt vor. Wenn der weiter so zu mir rüberglotzt, wie's aussieht, steige ich an der nächsten Haltestelle aus.
„Hey Fips, lass meinen Schuh in Ruhe. Hörst du, jetzt nicht!“ Ich versuche ihn abzuschütteln ...
“Rrrrrrrrr“ – „Ja, ja, ich bin beeindruckt Kleiner, aber jetzt hör auf damit. Aus!“
„Ach, hat dieser kleine Halodrie dich auch so ins Herz geschlossen wie mich?“ tönt es da plötzlich laut lachend an mein Ohr.
Diese warme, herzliche Stimme – ich schlucke eine spitze Bemerkung hinunter, die mir bereits auf der Zunge lag. Leicht irritiert betrachte ich den Unbekannten nun aus nächster Nähe.
Ein breites Grinsen umspielt seinen Mund. Eigentlich sieht er gar nicht mal so unsympathisch aus.
„Na, was ist? Ich denke, ich hab einen Kaffee gut bei dir.“
Ganz schön unverschämt, schießt es mir durch den Kopf, doch irgendwie will er nicht so recht in mein vorgefertigtes Muster passen. Ich werde nun tatsächlich neugierig, aber das braucht der ... „wie heißt du überhaupt?“ ... natürlich nicht zu merken.
„Kaffee trink ich noch lange nicht mit jedem, weißt du?“
„Nee, weiß ich nicht, aber find ich schon o. k. Also ich bin Jesse und du? – Hat’s dir jetzt die Sprache verschlagen?“
„Ich? O, ich bin Sabrina“.
Hm, hätte bei ihm eher auf Siegfried getippt oder so.
„Ja, und das ist Fips. Seine Bekanntschaft hast du wohl bereits gemacht.“
„Mmm, und wenn’s dir nichts ausmacht, lasse ich die Hose an“, meint er daraufhin, fröhlich mit den Augen zwinkernd.
Für einen Moment schmelze ich fast dahin, reiße mich aber schnell wieder zusammen.
„Hier müssen wir raus, d. h. wenn du auf dem Kaffee bestehst.“
„Und ob! Strafe muss sein.“
Fast gleichzeitig springen wir aus der Bahn und lachen prustend los, als Fips vor lauter Eifer beinahe einen Purzelbaum schlägt.
Kaum ein Monat später und Jesse ist nicht mehr wegzudenken aus meinem Leben. So vertraut ist er mir nun, als kennten wir uns schon Ewigkeiten, und doch ist nur ein Augenblick vergangen seit meinem Irrtum in der Bahn.
Viel hatte es nicht gebraucht, die Skins schlugen ihn einfach seiner langen Haare wegen zusammen und schoren ihn anschließend kahl, so dass sogar ich ...
Diese Idioten. Und das alles, nur um überhaupt eine Rolle zu spielen.
Heftig schüttele ich meinen Kopf ob dieses Schmierentheaters.
Manchmal wache ich morgens auf, und alles scheint wie früher zu sein, bevor ich Jesse kannte. In solchen Momenten bin ich noch nicht in die bewussten Sphären des Seins vorgestoßen. An allen anderen Tagen im Jahr funktioniere ich gut genug um zu wissen, wie sehr sein Verlust mich schmerzen würde. – Und daher ist morgen ein bedeutender Gang zu tun. Es geht, – natürlich gemeinsam mit Fips, darauf haben wir bestanden – an einen ganz besonderen Ort. Ein alter ausrangierter S-Bahn Waggon sollte genau das Richtige sein für unseren Anlass. Wir werden uns trauen und laden alle ein, zur Probe unseres neuen Stücks ...
Texte: (c) U.Stg.
Bildmaterialien: (c) U.Stg.
Tag der Veröffentlichung: 18.11.2012
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