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Gefährliche Spur

Ein immer wiederkehrendes Geräusch holte Mareike aus tiefer Nacht zurück. Nur, dass es nicht hell wurde und die anfängliche Grabesstille um sie herum zunächst einzig durch das schmerzhafte Dröhnen in ihrem Kopf gestört wurde. Mit der Zeit, als die Sinne ihre Funktionen wieder aufnahmen, hörte Mareike immer wieder dieses leise Schaben, etwa wie … na, sie konnte es nicht benennen. Ihr war kalt, und sie wollte die Arme wärmend um sich schlingen. Jetzt erst bemerkte sie die Handfesseln, welche bei jeder ihrer Bewegungen die Gelenke schmerzhafter umschlossen. Aufstöhnend fuhr sie erschreckt zusammen, als es zudem plötzlich blendend hell wurde. Schützend und wie blind hob sie die gefesselten Hände vor ihre Augen.
„Naaaa, meine Kleine?“
Mareike spürte, wie sich eine kalte Schweißschicht auf sie legte und sie weiter auskühlen ließ. Unwillkürlich begann sie zu zittern, als die völlig schwarz gekleidete Gestalt auf sie zutrat.
Der Mann sprach kein Wort mehr, während er ihr die Handschellen – Ihre Handschellen – abnahm. Und eh sie sich’s versah, war er schon wieder draußen. Als sie zur Tür ging, entdeckte sie, dass er eine Decke, sowie ein paar belegte Brote und eine Flasche Wasser dagelassen hatte. Sie ließ ihren Blick durch den Raum, eine Art Kellergewölbe, schweifen und konnte gerade noch die Umrisse einer – Ratte? verflixt, war das eine Ratte? entdecken, bevor das Licht wieder ausging.
In der Dunkelheit schärften sich die Sinne. Oder wurde nur ihre Fantasie freigesetzt? Das leise Huschen rechts und links – ekelhaft. Mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt, hockte sie sich in der Nähe der Tür nieder und schlug die Decke um sich. Wo eine Ratte war, gab es auch weitere. Wenn sie ihr Brot nicht teilen wollte, musste sie es sofort essen. Und sie selbst? Was würde passieren? Immer wieder überfielen sie blitzlichtartig diese schrecklich-schaurigen Bilder des Tatortes, während sie die Brote hinunterwürgte – sie musste unbedingt bei Kräften bleiben. Doch verfing sie sich in der Angst wie in einem zähen Teig, der ihr die Atemwege zu verkleben drohte, und den sie nicht abstreifen konnte.
„Ruhig, ja? Ganz r u h i g !“ versuchte sie sich zu sammeln. „Nachdenken. Ich muss jetzt n a c h d e n k e n !“

Als nach einer Ewigkeit, wie es Mareike schien, der Schlüssel wiederum im Schloss rührte, war sie vorbereitet. Es ging blitzschnell. Im selben Moment, da der Entführer sich zu seinem vermeintlich unter der Wolldecke zusammengekauerten Opfer herabbeugte, trat Mareike mitleidlos zu. Sie traf ihn, wie geplant, seitlich am Hals, so dass er wie ein nasser Sack zu Boden ging. Diese kurze, durch Sauerstoffmangel des Gehirns
hervorgerufene Bewusstlosigkeit musste sie nutzen. Es war ihre möglicherweise einzige Chance, diesen Mörder zu stoppen. Doch gerade wollte sie ihm die Schusswaffe aus dem Gürtel ziehen, als er auch schon die Augen aufschlug. Sein sich klärender Blick ging ihr durch und durch, und so tat sie das einzig Richtige, indem sie nur noch zur Tür sprang, diese hinter sich zuschlug und mit einem Krachen den schweren Riegel vorschob. Keine Sekunde zu früh. Nach Luft ringend lehnte sie sich dagegen. Als sie das leise Klicken vernahm, konnte sie gerade noch zur Seite springen, bevor das Gewölbe von Pistolenschüssen widerhallte. Mareike rannte los und versuchte sich zu orientieren. Wo ging es hier bloß raus? Wo denn? Es war nur eine Frage der Zeit, bevor der sich befreien konnte und ihr auf den Fersen war. Da! Der tunnelartige Gang teilte sich auf. Was jetzt?
„Ich kriege dich“, schon holte sie das Echo ein. Also rechts, nur weiter! Und dann war es schlagartig stockfinster. Er musste das Licht ausgedreht haben. Mareike mühte sich zu erinnern, wo die Lampe angebracht war. Ihre tastenden Hände suchten die feuchtkalte Wand ab und – wurden fündig. Zum Glück war die Birne leicht herauszuschrauben. Sie wusste nicht genau warum sie dies tat, als sie sie in ihre Jackentasche steckte, doch sie fühlte sich ihm jetzt nicht mehr ganz so ausgeliefert. Allerdings war ihr klar, dass ihr nur eine Richtung blieb, sie den eingeschlagenen Weg weiter erforschen musste, und zwar rasch, wenn sie ihm nicht in die Arme laufen wollte. Also hetzte sie so geräuschlos wie möglich und mit einem schützend und weit ausgestreckten Arm voran, während der andere immer wieder die Wand berührte, um eine möglicherweise eingelassene Tür nicht zu verfehlen. Der Kellerflur schien nicht häufig genutzt zu werden. Immer wieder legten sich Spinnwebenfäden vor ihr Gesicht, deren Berührung sie zusammenzucken ließ. Ihre Sinne waren zum Zerreißen angespannt. Plötzlich blieb sie horchend stehen. Sie hatte dieses leicht schleppende Geräusch für ihren eigenen Atem gehalten, doch es kam von weiter hinten. Nun war sie sich ganz sicher. Er vermutete sie in diesem Gang und gab sich gar nicht erst große Mühe, leise zu sein. Ihm war ja klar, dass sie unbewaffnet war. Als sie sein leises Fluchen hörte, wusste sie, warum sie die Glühbirne gesichert hatte. Langsam ging sie nun in die Hocke und zog vorsichtig ihre Schuhe aus. Sie würde auf Socken weiterlaufen, dann konnte sie schneller vorankommen, ohne ihm akustische Anhaltspunkte zu geben. Plötzlich griff ihre tastende Hand ins Leere. Eine Tür oder ein weiterer Gang? Das Holz ließ auf Letzteres schließen. Schon wurde die Bedrohung durch seine nahenden Schritte hinter ihr deutlicher. Sie musste handeln. Schnell. Wenn Hirnströme Licht erzeugen könnten, wäre es jetzt taghell geworden in diesem Verließ. So aber konnte sie sich die Dunkelheit zunutze machen. Sicher würde er sie entweder in der Türaussparung oder bereits im weiteren Verlauf des Ganges vermuten. Also legte Mareike sich der Länge nach auf den Boden und presste sich so eng sie konnte mit dem Rücken an die der Tür gegenüberliegende Wand. Jetzt galt es, die Nerven zu behalten und sich nicht mehr zu rühren. Mareike stellte sich vor, sie sei für ihn, den sie bereits zu riechen glaubte, unauffindbar tief in die Wand eingelassen. Das Hin- und Herrücken eines Metallschiebers ganz nah, ließ sie den Atem anhalten. Er war da. Und wusste nun, dass sie den Riegel nicht betätigt haben konnte, um durch diese Tür zu gehn. Im nächsten Moment spürte Mareike den qualvollen, unerbittlich eisernen Griff der Angst um ihre Kehle, der ihr jegliche Luft nahm, so dass der Schrei ihre Lippen zum Glück gar nicht erst verlassen konnte. Sie nutzte sein lautstarkes Schimpfen dazu, sich unbemerkt zu entfernen. Mareike lief zurück. Wenn sie Glück hatte, vermutete er sie in der anderen Richtung, das mochte ihr einen Vorsprung verschaffen. Als sie irgendwann zurück zur Ganggabelung kam, wählte sie nun die andere Seite und nahm nach unendlich langer Zeit, wie ihr schien, einen grauen Lichtschimmer wahr. Da begann sie, dem entgegen zu rennen, bis sie vor einer
vergitterten und durch ein riesiges Brombeergestrüpp verborgenen Luke stand. Schon drohte sie die Panik wieder einzuholen.
„Wie? Ich sitze in der Falle! Aber ich will hier raus! Wie komme ich jetzt hier heraus? Es muss doch! Irgendwie! Hier rausgehn!“ rüttelte sie an dem Gitter, als dieses plötzlich nachgab und sie draußen mehr lag als stand. Ein überwucherter und ausgetretener kleiner Pfad, von einzelnen Sonnenstrahlen wie traumvergoldet, nur weiter vorne sorgfältig mit Gestrüpp abgedeckt, ließ sie gebückten Schrittes hinausfinden in die tiefe friedliche Stille einer abendlichen Waldlichtung. Da von außen durch nichts auszumachen, markierte sie den Eingang zu dieser Hölle hastig mit einigen Stofffetzen, die sie sich von der Bluse riss, und suchte sich die Umgebung gut einzuprägen. Schnell weiter. Durch das kleines Wäldchen, einige Wiesen und über einen Wirtschaftsweg zum nächsten Gehöft. Der Bauer schaute zwar etwas befremdet auf die ziemlich abgerissene junge Person, doch ließ er sie bereitwillig telefonieren. Mareike vergaß nicht, ihre Kollegen bei der Polizei auf einen möglicherweise zweiten Ausgang des Kellerverließes hinzuweisen. Irgendwo musste der Entführer ja auch sein Auto abgestellt haben, und bevor er noch verschwunden wäre … Aber dies mochte sie sich gar nicht erst vorstellen.


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Tag der Veröffentlichung: 27.10.2011

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