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Stadt der Vögel

Still stand das Haus auf der kleinen Anhöhe, den erwartungsvollen
Blick zurück auf das weite wilde Land gerichtet. Es schien, als
ducke es sich unter den herannahenden Flügelschlägen. Auch
Annalena spürte die Unruhe der alten Mauern, die sich in einem
leicht summenden Beben ausdrückte. Fast schien es, als zittere das
Haus. Ob vor Kälte oder Angst war dabei nicht auszumachen,
doch erhob sich Annalena besorgt und öffnete das Fenster, um
hinauszuschauen. Eine 1ser-Formation Wildgänse zog – zum
Greifen nahe – über den Dachfirst hinweg dem Städtchen zu. Als
Annalenas Blick sich nachdenklich auf die Straße senkte, blieb er
an dem alten Mann haften, der dort ja immer noch – wie lange
eigentlich schon? – die Straße fegte. Ihr prüfender Blick tastete
sich am Stiel seines Besens – nein, er sah eher aus wie ein Pinsel –
hinab. Nun tauchte er ihn tatsächlich in einen Eimer mit Farbe und
markierte eines der herumliegenden Blätter nach dem anderen mit
einem weißen Farbklecks. Jetzt erst sah Annalena all die Haufen
bereits gezeichneter Blätter, in die nun ein Windstoß fuhr, wie um
sie aufzufordern, es den Vögeln gleichzutun. Verwundert
schüttelte sie den Kopf über den wunderlichen Alten. Der jedoch
ließ sich nicht beirren und setzte seine Arbeit mit ernsthafter
Akribie fort. Wenn sie genau hinhorchte, konnte sie sein
beschwörendes Murmeln hören, welches bis zum Abend nicht
aufhörte und Annalena wie hypnotisierend in seinen Bann zog. Es
erinnerte sie an einen Bach, dessen strömendes Wasser sich wieder
und wieder an einem Felsen bricht. Selbst in der Nacht glaubte sie
es noch zu hören – Scharen von Vögeln schienen sich an seinem
kühlenden Nass zu laben – da erwachte sie.
Doch das Zwitschern und Krächzen ließ nicht nach. Als sie ans
Fenster trat, um nach dem Alten zu schauen, saß der wie ein Kind
in einem der riesigen Laubhaufen und wirbelte händeweise Blätter
in die Luft, und tatsächlich sahen diese mit ihren aufgemalten
Punkten aus wie ein Schwarm auffliegender Vögel. Einem von
den vielen vielen, die dort mit ihren rauschenden Flügeln immerzu
der Stadt zustrebten. Es lag ein dermaßen lautes Schwirren und
Schreien in der Luft, dass Annalena wie betäubt das Fenster
schloss. Sie kam sich schon vor wie in einem Taubenschlag, und
langsam wurde ihr auch ein wenig unheimlig zumute. Was hatte
das hier zu bedeuten? Eine derartige Ansammlung von Vögeln –
aller Arten, wie es schien – hatte sie noch nie zuvor gesehen. Ein
Naturphänomen. Doch was hatte es damit auf sich? Sie schienen
alle in dieselbe Richtung zu ziehn, nämlich in die nahe Stadt.
Schon war der Himmel fast schwarz von Tierleibern. Den ganzen
Tag über blieb das so. Dann kehrte Ruhe ein, und während der
folgenden Nacht ward eine solche Totenstille, dass Annalena kein
Auge zutat. Etwas Schreckliches, für ihr suchendes Auge
Unsichtbares, schien sich zu erfüllen. „... nurmehr zwei Exemplare
dieser Spezies werden es überleben …“ so war es angekündigt
worden, aber dies hatte niemand für vorstellbar und somit möglich
gehalten – Annalena hielt Ausschau nach dem Alten.



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Tag der Veröffentlichung: 21.10.2011

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