Das Wasser des Lebens
(Ein Märchen für Erwachsene)
Es lebte einst eine junge Frau, deren sehnlichster Wunsch es war, das Wasser des Lebens zu finden.
Seit geraumer Zeit schon verspürte sie ein Verlangen in sich, welches von Tag zu Tag größer wurde. Wenn nicht bald etwas geschah, würde sie jämmerlich verdursten, das wusste sie. Also nahm sie eines Tages all ihren Mut zusammen und machte sich auf die Suche.
Sie ahnte wohl, dass es ein schwieriger und gefahrvoller Weg sein würde.
Nach der ersten Freude und Erleichterung darüber, endlich losgegangen zu sein, beschlichen sie bald Unruhe und Verwirrung.
Es gab so viele verschiedene Straßen – welche davon würde sie an ihr Ziel führen?
Eine Zeitlang irrte sie so umher, ohne recht zu wissen, welche Richtung sie einschlagen sollte.
Wie viele Menschen sie auch nach dem Weg fragte – jeder gab ihr einen anderen Rat.
Bald merkte sie, dass sie so nicht weiterkam.
Sie beschloss, nur noch ihrer eigenen inneren Stimme zu folgen.
Doch zuerst musste sie diese zum Klingen bringen.
Eines Tages, als sie so abseits der großen Straßen dahin schritt, vernahm sie, zunächst ganz leise, dann immer deutlicher, eine wunderbare Melodie.
Als sie anfing danach zu tanzen, bemerkte sie plötzlich, dass sie nicht mehr allein war. Mit ihr drehten sich weitere Frauen und Männer im gleichen Rhythmus, und die Musik wurde immer vielfältiger und schöner.
Da sie nun alle so viel Freude daran fanden und zudem auch ein Guru (=Menschenführer) mit ihnen war, der sich bereit erklärte, sie zu führen, beschlossen sie, ein Stück Wegs gemeinsam zu gehen.
So zogen sie weiter.
Alles schien leicht,
sie sangen, tanzten, freuten sich,
und die Zeit verging ihnen wie im Fluge.
Nachdem sie einige Tage gegangen waren, stießen sie unverhofft auf einen breiten, wilden Strom, der ihnen den Weg versperrte.
Da baten sie den Guru: "Du bist unser Führer, bring uns da hinüber, denn wir können nicht schwimmen."
Er antwortete ihnen: "Es gibt eine Furt, und ich kann euch den Weg zeigen, doch gehen müsst ihr selber."
Und so zeigte er ihnen die Stelle. Sie stiegen ins Wasser, um hinüber zu waten. Doch es war ein mächtiger Fluss, und das Wasser stand einigen von ihnen bis zum Hals. Sie flehten in ihrer Furcht den Guru um Hilfe an, und er rief ihnen zu: "Werft euer Herz zuerst hinüber, dann werdet ihr es schaffen." – Nur drei von ihnen hatten es trotz aller Unterstützung der anderen aufgegeben. Sie blieben am jenseitigen Ufer zurück und suchten nach einem anderen Weg.
Nach der Überquerung des Flusses ruhten die Frauen und Männer eine Nacht lang und nahmen, frisch gestärkt, am nächsten Morgen ihre Wanderung wieder auf.
Das Erlebnis vom Vortage hatte sie einander näher gebracht.
Wieder gingen sie tagelang, ohne dass etwas geschah. Da wurden einige von ihnen ungeduldig und wandten sich an den Guru mit der Frage, ob es denn noch weit sei bis zu ihrem Ziel. Dieser holte nur lächelnd einen Spiegel aus seiner Tasche und sprach: "Sobald ihr euch in diesem Spiegel erkennt, seid ihr am Ziel". Neugierig sahen sie hinein und stellten bestürzt fest, dass er blind war.
Doch bevor sie noch weiterfragen konnten, gelangten sie an einen riesigen, finsteren Wald.
"Dies ist das Reich der Schatten, das es zu durchqueren gilt", sagte der Guru. "Noch ist Zeit, umzukehren. Überlegt es euch gut, denn wenn ihr erst einmal darinnen seid, gibt es keinen Weg mehr zurück."
Obwohl ihnen nun ein wenig bang wurde, beschlossen sie doch allesamt, das Wagnis einzugehen.
Nach und nach stießen sie immer tiefer in das Dickicht vor, und es wurde dunkler und dunkler. Bald durchdrangen nur mehr wenige Lichtstrahlen die Finsternis, so dass sie Tag und Nacht kaum noch zu unterscheiden vermochten.
Doch damit nicht genug.
Urplötzlich wurden sie von unheimlich und abstoßend ausschauenden Gestalten erschreckt, die immer gerade dann auftauchten, wenn sie nicht damit rechneten. Diese Geister der Finsternis peinigten sie so, dass sie vor Furcht und Abscheu die Hände vor die Augen schlugen, um nur ja nichts mehr zu sehen.
Als der Guru das bemerkte, forderte er sie auf, die Augen wieder zu öffnen und genau hinzuschauen. Und weiter sprach er: "Ihr werdet sehr traurig werden dabei, doch wenn ihr diese Traurigkeit aushaltet, denn wird sie sich in Freude verwandeln."
Und da sie Vertrauen zu ihrem Guru hatten, befolgten sie seinen Rat.
Wie durch ein Wunder lichtete sich kurze Zeit später der Wald allmählich, und die allgemeine, große Verzagtheit machte einer ungeheuren Erleichterung Platz.
Dankbar und zugleich erwartungsvoll blickten sie ihren Guru an.
Waren sie ihrem Ziel nun näher gerückt?
Wieder holte der Guru den Spiegel aus seiner Tasche, und als sie zögernd hineinschauten, konnten sie die Umrisse ihrer Gestalt erkennen.
Begierig darauf, immer mehr von sich zu entdecken, setzten sie ihre Reise fort, bis sie die "Wüste ohne Namen" erreichten.
Hier spürten sie eine Leere in sich aufsteigen, die von Tag zu Tag größer wurde. Während sie sich bald nur noch mühsam dahinschleppten und den Eindruck hatten, überhaupt nicht weiterzukommen, wurde ihre Ausdauer auf eine harte Probe gestellt. Zwischendurch plagte Müdigkeit und Zweifel sie, so dass, als sie an eine kleine Oase kamen, sie am liebsten dort geblieben wären.
Doch die Worte des Guru, der sie an ihr eigentliches Ziel erinnerte, ließen sie sich noch einmal aufraffen. Das "Wasser des Leben" galt es zu finden, nur dieses konnte ihren Durst wirklich löschen.
Und ihre Geduld wurde belohnt.
Als sie in der Ferne einen Streifen grünes Land erblickten, hielten sie inne. Nun waren sie zwei Jahre gemeinsam unterwegs, und der Guru zog wieder einmal seinen Spiegel aus der Tasche. Wortlos reichte er ihn weiter, und als sie hineinschauten, erkannten sie:
Das "Wasser des Lebens" sprudelt aus unserer eigenen inneren Quelle.
"Nun könnt ihr allein weitergehen", sagte der Guru zum Abschied.
"Eure innere Quelle wird unerschöpflich sein, – und wenn ihr den Spiegel eurer Seele täglich putzt, erscheint sie euch immer klarer."
Tag der Veröffentlichung: 03.10.2011
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