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Wunderliche Blüten

Valerie lag bereits seit geraumer Zeit wach. Angespannt horchte sie auf die Geräusche des sich ankündigenden Tages. Als um kurz vor halb sieben nebenan die Wohnungstür klappte, setzte sie sich mit einem Ruck im Bett auf, schlug die Decke zurück und wuchtete nicht ohne Anstrengung ihre müden Beine hinaus. Suchend strich der rechte Fuß über den Teppichboden. Als sie den zweiten Pantoffel nicht sogleich fand, hinkte Valerie hastig ohne diesen und nur mit dem Nachthemd bekleidet zum Fenster und spähte hinunter auf die Straße. Dabei umspielte ein listiges Lächeln ihren Mund. Sie würde dem heutigen Tag eine besondere Würze verleihen.
Draußen war es um diese Jahreszeit noch fast dunkel, Valerie vermied es jedoch, das Licht einzuschalten. Vorsichtig achtete sie darauf, ihren Aussichtsposten hinter der Gardine nicht durch eine unbedachte, auffällige Bewegung zu verraten.
In dieser Sekunde verließ Jürgen Meier das Haus. Noch vor dem Betreten der Strasse zündete er sich eine Zigarette an, klemmte dann die Aktentasche unter den Arm und schlenderte hinüber zu seinem Auto. Zufrieden nickte Valerie mit dem Kopf. Alles verlief so wie in den Tagen zuvor.
Sie sah, wie dieser Jürgen in die Manteltasche fasste, sah seine Hand mit dem Autoschlüssel wieder hervorkommen, sich in Richtung Türschloss zu bewegen, doch – mit einem schmatzenden Geräusch zog Valerie genüsslich ihre herabhängende Unterlippe zwischen die Zähne – heute sah sie ihn erwartungsgemäß scheitern bei dem Versuch, das Auto damit zu öffnen. Ihre Augen leuchteten kurz auf, als sein Schlüssel sich allem Anschein nach verbog, nachdem Herr Meier sich mit immer wütenderen, oder waren es verzweifelte Bewegungen? darum bemüht hatte, ihn gewaltsam ins Schloss zu stoßen.
Da gab er notgedrungen auf und setzte sich, nach einem missmutigen Blick auf seine Armbanduhr, Richtung Bushaltestelle in Trab.


Beim Einschalten der Deckenbeleuchtung wurde es taghell. Valerie bemerkte kaum die Kälte im Zimmer, und brummelte nun munter vor sich hin, während sie ihr karges Frühstück zusammensuchte.
Danach strich sie einen Teil des Tages ziellos durch die Gegend, doch bald schon drängte es sie wieder zurück zu ihrer neuen Behausung. Immerzu war sie in Unruhe, vielleicht etwas Wichtiges zu verpassen.
Die letzten Meter vor ihrem Haus verlangsamte sie den Schritt und ging gleichsam lauernd an dem Auto ihres Nachbarn vorüber, plötzlich überwältigt von der Erinnerung an den Unfall ihres Mannes vor einem Jahr. Sie erlebte die Szene von damals wieder: Edward trat aus dem Haus – dann kam das Auto. Dieses Auto hier. Valerie versetzte dem Reifen im Vorbeigehen einen erbitterten Fußtritt. Und es gab diesen furchtbaren, dumpfen Ton ... danach lag Edward auf der Straße und rührte sich nicht mehr. Er war sofort tot. – Sie fröstelte. – Doch nun galt es, endlich dem Schuldigen seine Verantwortung dafür deutlich vor Augen zu führen. Mit gestrafften Schultern ging sie zurück zum Haus.
In der Wohnung bezog Valerie nach einem stärkenden Imbiss nun ganz offen ihren Posten am Fenster und wartete ungeduldig darauf, dass sich irgendetwas tat. Gegen 16.00 Uhr näherte sich der Wagen eines Schlüsseldienstes. Ein Monteur stieg aus, kramte wichtig in seinem großen Werkzeugkasten und brauchte doch eine kleine Ewigkeit, um dieses versiegelte Sesam von Auto zu öffnen. Wie gewichtig mochte da erst die Rechnung ausfallen? Zufrieden kicherte Valerie in sich hinein.
Eine Stunde später kam e r. Sein erster prüfender Blick galt natürlich dem Wagen. Dann bemerkte er Valerie oben am Fenster, die ihm hämisch lächelnd zunickte und hielt zögernd inne. Noch hatte er sie nicht erkannt, denn er wandte sich mit einem Achselzucken dem Briefkasten zu. Der neue Schlüssel musste von dem Handwerker dort eingeworfen worden sein. Wieder blickte Jürgen M. nachdenklich hoch zu Valerie, ohne sie anscheinend richtig einordnen zu können. Dann verschwand er im Haus.


Als es offensichtlich nichts Aufregendes mehr zu sehen gab, zog Valerie sich vom Fenster zurück. Den Rest des Tages saß sie still in dem öden Raum, den sie erst kürzlich bezogen hatte und war ziemlich enttäuscht, wie es schien. Es wurde Nacht, ohne dass sie das Licht eingeschaltet hätte. Stumpf und tief in Gedanken versunken starrte sie Stunde um Stunde vor sich hin, ohne sich zu rühren. War doch nun ihre letzte Hoffnung auf Erlösung dahin. – Hatte sie wirklich geglaubt, sich mit diesem lächerlichen Akt der Bestrafung Erleichterung zu verschaffen? Gequält schluchzte Valerie auf. Sie konnte doch nicht annehmen, die schrecklichen Bilder damit bannen zu können. Auch kaum durch die Übergabe der Verantwortung an i h n . Hatte nicht jeder seine eigene Schuld, die ihm niemand abnehmen konnte? Wieder tauchten die Bilder des Unfalls vor ihr auf. Wie Edward sie angesehen hatte damals ... Valerie richtete sich verstört auf. Warum hatte er sie eigentlich so fragend angesehen? – Plötzlich zuckte sie heftig zusammen, und eine erschreckende Blässe ließ sie ganz krank aussehen. Ihr war etwas eingefallen, das sie bisher erfolgreich verdrängt hatte. An jenem Morgen. Sie hatte ihrem Mann noch etwas zugerufen. Er hatte sich auf der Strasse zu ihr umgedreht. Ein Auto passierte und ...
Sie war geschockt. Immer auf der Suche nach Gelegenheiten für ihren Rachefeldzug. Welch wunderliche Blüten waren da entstanden?
Valerie kramte einen kleinen Handspiegel aus der Schublade hervor und betrachtete sich lange Zeit sehr ernst.
Endlich fing sie an, ihr Haar zu richten.

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Tag der Veröffentlichung: 29.09.2011

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