Geborgte Zeit
Es ist still.
Das leise Knacken nur in ihrem Kopf.
Wie wenn ein kleiner Ast bricht.
Ein Geräusch, das sie fast wahnsinnig macht.
Zusammengekauert sitzt sie da, die Arme um den Kopf geschlungen, nur noch Sehschlitze und ein Atemloch freilassend.
Und plötzlich dieses Bild vor ihren Augen:
Das Reh, wie es in die Knie sinkt.
Langsam, fast andächtig.
Sein flackernder Blick, bevor er bricht. Ganz nah.
Sie meint noch, den warmen Atem zu spüren, bevor sich etwas wie Watte auf ihre Ohren legt. Der modrige Geruch von Erde dringt ihr in die Nase …
Grünes flirrendes Licht. Und diese unheimliche Stille.
Schon wieder? Immer noch?
Aus. Vorbei. Das soll aufhören! Wie wild wirft sie ihren Kopf. Hin und her. Wieder und wieder. Bis sie sich darin erschöpft.
„Marie! - Hörst du mich, Marie?“
Ein angestrengtes Lächeln huscht über ihr Gesicht, als sie aufschaut. Wer … ?
„Marie, wo bist du?“
Er kann sie nicht einfangen. Ihre Augen springen jetzt hin und her. Sie darf sich nur nicht im Dickicht …
Ein Gefühl schierer Angst überwältigt sie, lässt sie ganz hölzern werden. Etwas streicht ihr zum wiederholten Male übers Haar.
Sie bleibt stocksteif, regt sich kein bisschen, tut es dem Baume gleich. Denn der würde es nicht spüren so wie sie. Bei der dicken Rinde vielleicht wirklich nicht. Ihr Blick wandert an ihm hoch, ganz hinauf, bis er sich in dessen Krone verliert.
Es ist nichts mit ihr anzufangen. Die Leute meinen es gut, aber sie lässt sie nicht an sich heran. Zu riskant. Die wissen ja nicht, wozu der fähig ist. Ein Leben auszulöschen bedeutet ihm gar nichts, davon ist sie überzeugt. Das ist so, wie wenn er einen Schalter ausknipst, und das war`s. Da lässt sie sich lieber für verrückt erklären. Sie hat eh nichts mehr zu verlieren. Außer ihrem bisschen Leben nichts.
Zur Sicherheit schickt sie das ihr entgegen gebrachte Lächeln zurück. Sie muss die Götter gnädig stimmen. Alle.
Nachts erscheint er ihr im Traum. Dann schreckt sie manchmal laut schreiend aus dem Schlaf. Nie kann sie sich an etwas genau erinnern, doch immer beginnt alles zunächst völlig harmlos, bevor sich urplötzlich die Welt verdunkelt. Und dann ist da nur noch Panik.
Damals, sie war gerade vier oder fünf Jahre alt und mit all den anderen anlässlich des jährlichen Schützenfestes auf der Dorfwiese versammelt. Der Vogel war bereits geschossen und so zogen die Erwachsenen nun zur nahen Scheune des Dorfschulzen. Die Kinder jedoch vergnügten sich weiterhin in der freien Natur, denn es war ein wunderbarer Sonnentag. Dabei war es durchaus üblich, dass die Kleinen mit dabei blieben, während die Großen derweil ein Auge auf sie hatten. Doch manchmal gab es auch viel Wichtigeres zu tun, und da Marie
ungern stören wollte, kam es, dass sie während des Spiels unbesehen ein wenig abseits geriet. Ganz ihrer ausufernden Fantasie folgend, fand sie sich plötzlich mutterseelenallein im nahen Walde wieder, den fernen Klang der anderen Kinderstimmen noch im Ohr.
Lauschend blieb sie stehen, und ihr wurde zum ersten Mal bewusst, dass sie ganz alleine war.
Da fing es an.
Sie zieht sich wieder in sich zurück, verschwindet auch äußerlich fast, macht sich ganz klein. So klein, dass Er sie nicht finden kann. Dass er sie nicht finden wird.
Und doch. Schon wieder seine flüsternde Stimme. Beschwörend. Fordernd.
Sie versucht ihr zu entfliehn. Stürzt voran. Doch plötzlich bäumt sich tief in ihr drinnen etwas auf. Lässt sie in ihrer blinden Vorwärtsbewegung innehalten. –
Wie lange noch? Monate, Jahre – ihr ganzes Leben? Sollte es nichts anderes mehr geben? Nichts?
Gab es denn je etwas anderes als das? Angespannt runzelt sie die Stirn. Früh, und von ganz weit noch ein schwacher Schimmer. Wie ein fernes Versprechen an die Zukunft. An eine Zukunft. Nicht ihre. Irgendeine. Ein tiefes Seufzen entfährt ihr. Lässt sie zusammenschrecken. So fremd. War Sie das?
Plötzlich beginnen zuerst ihre Hände zu zittern, dann setzt sich die Bewegung in ihrem ganzen Körper fort. Es bilden sich Schweißperlen auf Stirn und Oberlippe. Etwas tropft ihr von oben auf die Hand, die sich in angstvoller Erwartung vor den Mund presst. Eine rote Woge droht sie fortzuspülen. Doch sie kämpft. Zum ersten Mal spürt sie, wie eine Welle ungeheurer
Wut sich in ihr auftürmt und gegen das Entsetzten anrollt. Ein ganz neues Gefühl von Kraft breitet sich in ihr aus, so dass sie fast jubeln möchte. Doch etwas hält sie noch zurück. Etwas Wichtiges. Sie sucht sich zu entsinnen, doch vergebens. Es bleibt nur das dumpfe Gefühl, etwas versäumt zu haben.
Statt sich zu beruhigen, wurde Marie im Laufe der Zeit immer schreckhafter. Die Jahre vergingen, und als aus dem Kind deutlich sichtbar eine hübsche junge Frau geworden war, geschah es, dass sie sich immer häufiger ganz plötzlich umschaute, wie, als wenn sie einen Verfolger auf frischer Tat zu ertappen suche. Die Leute fingen bereits an zu tuscheln und warfen ihr bald mehr als mitleidige Blicke zu.
Einmal, als ihr von einem feschen jungen Mann ob ihres samtenen langen Haares und der wunderschönen rehbraunen Augen ein Kompliment gemacht wurde, schrak sie derart zusammen, dass der sich verwirrt zu entschuldigen begann. Als sie bemerkte, was sie angerichtet hatte, errötete sie tief und ging darauf schweigend davon.
Nachdenklich schaute er hinterher und erkundigte sich anderntags nach der möglichen Ursache dieser überraschenden Reaktion.
Man erzählte ihm, dass die Marie eigentlich schon immer reichlich überzogen reagierte, zumindest, seit sie sich als Kind einmal im Wald verlaufen habe und erst sieben Tage später wieder aufgetaucht sei. Bis heute wisse niemand etwas über ihren Aufenthaltsort während dieser Zeit. Doch es sei warm gewesen und die Beeren hatten gut standen, so dass sie es wohl habe schaffen können, sich das Leben zu erhalten, auch als Kind.
„Marie.“
„Marie, du wirst ohne Sünde sein. Ganz für mich. Ohne Sünde.“ Eine Gänsehaut zieht sich über ihren Arm, über den Rücken, ihren gesamten Körper. Überzieht ihr Herz, erstickt es fast. Der Sonntag naht. Es wird ihr 17. Geburtstag sein.
„Nie Marie. Niemals!“ Sie schrickt zusammen.
Siebzehn? Schon?
Am folgenden Tag überstürzen sich die Ereignisse. Eine Leiche ist gefunden worden. Oder vielmehr das, was davon noch übrig blieb. Man sieht den Leuten Erstaunen, ja echte Verwunderung an. Sie leben nun schon so lange mit der Tatsache, dass die Marie ein wenig „spinnert“ und ihre Geschichte nicht recht zu glauben ist, halt einem überdrehten Hirn entsprungen – s’ ist fast schon Normalität inzwischen. Man hat sich an ihre Art gewöhnt und sie als gottgegeben hingenommen. Und nun scheint sich zu erfüllen … Wie, um ihr im Nachhinein die vorenthaltene Glaubwürdigkeit zu verleihen. Auch wenn es nicht sie selbst, nicht Marie ist, die da im hellen Sonnenlicht auf dem bemoosten Waldboden liegt. Sie kann es nicht sein. Ein Skelett nurmehr, von natürlichen Kräften blank geputzt, filigran, fast zeitlos schön.
Alle sind vollauf damit beschäftigt die Puzzleteile ihrer Geschichte zu erinnern. Doch wo ist Marie?
Marie weiß von alldem nichts. Sie ist ahnungslos.
Er weiß, dass man ihm nichts anhaben kann. Sonst nichts. Er wusste es immer. Bis heute. Ohne Leiche nicht. So ist das eben. Wird er es heute tun?
Er hat lange auf diesen Tag gewartet. Wird er es tun? Wird er?
Wieder dieses Knacken. Marie zwingt sich zu schaun. Sie will ihm nicht ausgeliefert sein. Sie wird ihm diesmal ins Gesicht sehn, ihren Albtraum ein für allemal beenden. Und wenn es sie das Leben kostet. – Da!
Wieder dieses Knacken.
Was war das?
Plötzlich steht ein Mann da. Nicht Er. Sondern der freundliche junge Bursche von neulich. Und Jetzt. Erst fällt ein Schus s s s – dann er. Auf die Knie. Sackt in sich zusammen. Ganz leise. Und schaut sie an dabei. Ein wenig wie verwundert fast. Er schaut nur stumm. Und da weiß sie es wieder. Ganz plötzlich fällt es ihr wieder ein. Ist der Schleier von ihrem Hirn genommen und die Erinnerung freigegeben. Doch es bleibt keine Zeit, sich ihr jetzt hinzugeben.
Wie ebenfalls getroffen, lässt sie sich über den Körper des Jungen fallen, den Griff der scharfen Klinge in der Hand unter sich verbergend. Keine Sekunde zu früh, denn schon hatte Er zum Fangschuss angesetzt. Kommt nun jedoch lauernd näher. Flüstert heiser vor Erregung ihren Namen „Marie?“ Sie rührt sich nicht. „Niemand wird dich bekommen, außer mir“, die letzten Worte schreit er fast. Ganz außer sich legt er noch einmal an und zielt auf den Kopf des Jungen. In diesem Moment schnellt mit angstgeschwängerter Kraft Maries Hand hervor.
Es muss eine junge Frau gewesen sein. Blutjung, kaum siebzehn Jahr, schätzungsweise. Durch einen Zufall wurde sie gefunden. Merkwürdig ihre vor der Brust gekreuzten Hände, deren Finger wie kunstvoll ineinander verhakt scheinen. Der Mädchenmörder? Da gab es vor Jahren einen Fall, eine Art Ritualmord, dessen grausame Details nicht mehr aus ihren Köpfen zu vertreiben
waren. Sie beleben die Fantasie wieder so, dass der Schuss ihnen jetzt, zusammen mit dem menschlichen Skelett, wie ein Teil davon erscheint, und sie zunächst nicht darauf reagieren. Dann jedoch allgemeines Stimmengewirr. Die Jagdsaison ist noch nicht eröffnet, also was … ?
Da er es anders nicht lassen konnte, hatte Er Marie für sich aufgespart. Bis zum heutigen Tag, der ein besonderer sein sollte. Ein krönender Abschluss sozusagen, für sie beide. Er hatte sie behütet und beschützt. Bis jetzt. Und Marie war sich dessen immer bewusst gewesen. Sie war nie allein. Aber nicht daran zerbrochen. Auch wenn sie manchmal nahe daran war, weil sie es nicht mehr ertrug. Ihn nicht mehr ertrug. Und nicht darüber reden zu können. Über ihre Angst. Und davor, wie es sein würde. Nichts war sicher, außer, dass Er es tun würde. Schon bald.
Die Stimmen kamen näher.
Bald würde all das ein Ende haben.
Tag der Veröffentlichung: 26.09.2011
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