Echtzeit
18.50 Uhr. Spätdienst. Noch ein paar Minuten. – Ich freue mich aufs Wochenende.
Kurzer Blick aus dem Fenster. Fröstelnd ziehe ich die Schultern hoch. Dann fahre ich los. 19.10 Uhr. Die Heizung funktioniert einwandfrei.
Gegen 19.35 Uhr schalte ich die Scheibenwischer ein. Erste Schneeflocken mischen sich unter den Regen. Noch 50 Kilometer.
Der Verkehrsfunk warnt vor Straßenglätte.
Momente später nurmehr rote Bremslichter vor mir. Kaum noch Durchblick. Dichtes Schneetreiben. Vorsichtig gleiche ich meine Geschwindigkeit dem Verkehrsfluss an.
19.45 Uhr. Vollsperrung der Autobahn wegen Lastwagenunfalls. Umleitung durch die Stadt. Stau auch dort.
Langsam schieben wir uns voran. Ampel für Ampel. Nach und nach löst sich die Kolonne wieder auf. Fahrrinnen, gerahmt von immer größer werdenden Wällen aus Schnee, je weiter ich nach Norden komme. An der Stadtgrenze machen erste Autos kehrt. 20.55 Uhr. Ich muss durch!
Alle Spuren der Zivilisation verweht. Verlasse bewohntes Gebiet. Es wird dunkel. Meine Eltern werden sich schon sorgen.
Ab und zu zittert milchiges Scheinwerferlicht lautlos an mir vorüber. Sofort wieder verschluckt von einem undurchdringlichen dunklen Vorhang. Nicht ganz allein im Schneetreiben auf der B und doch … Wenn ich jetzt liegen bliebe?
Die Strecke erscheint schier endlos. Höchste Konzentration ist gefordert. Nicht vom Wege abkommen! Nachtschwarz der Schnee, aufleuchtend im Lichtkegel meines Wagens. Verfremdet die Welt um mich herum.
Schon 21.45 Uhr. Hoffentlich komme ich durch. Die Eltern, sie kämen nicht gut alleine zurecht unter solchen Umständen. Meine Hände krampfen sich ums Steuer.
Da endlich. Die Ausfahrt. Achtung! Der Wagen schlingert, als er die ausgefahrene Spur verlässt. Und weiter. Bald bin ich da. Über die dunkle Ampel. Dann die nächste – Ein einsamer Fußgänger bahnt sich seinen Weg mit einer Taschenlampe. Jetzt erst wird mir klar: Alles! ist dunkel. Die Ampel, die Straße, der ganze Ort. Ich bin irritiert.
Aber Angekommen. Gott sei Dank.
Irgendjemand hat die Einfahrt freigeschaufelt. Ganz ganz sachte lasse ich den Wagen in die Garage rollen. Geschafft. 22.15 Uhr.
Aufatmende Freude im Haus.
Im Wohnzimmer wirft eine einsame Kerze flackernde Schatten an die Wand. Meine Eltern mit hungrigen Augen davor. Der Raum ausgekühlt.
Fehlender Zündfunke nicht nur bei der Gasheizung. Dank Stromausfalls eine lange Nacht mit eisigen Füßen. Aber das wird schon wieder. Morgen.
Dieselben Füße werden warm und die Arme lahm beim Schneeschippen anderntags. Derselbige so nass und schwer, dass er fast auf der Schaufel kleben bleibt.
Doch es sieht schön aus. Schon lange gab es keine solch traumhafte Winterlandschaft mehr in unseren Breiten. Allerdings kein Durchkommen. Schon gar nicht mit dem Auto. Wir wie abgeschnitten von der Welt. Nur schmale freigeschaufelte Pfade durch Schneeberge. Und immer noch rieselt es aus grauem Himmel auf uns herab.
Immer noch kein Strom. Was ist denn da los? – Ein wahres Glück sind der Gasherd und ein Feuerzeug. Wenigstens von innen momentweise ein wohliges Gefühl, und eine Wärmeflasche für die Nacht. Denn wer weiß schon, wie lange noch, dies alles?
Besorgte Anfragen übers Handy. Knappe Antwort. „Alles o. k. bei uns. Gasherd funktioniert. Aber Akku bald leer.“ – Sparsam sein!
Keinerlei Informationen. Radio, Fernseher, Zeitung – nichts davon steht uns zur Verfügung. Da fällt mir das Autoradio ein. Zur vollen Stunde räume ich das Tor der Garage wieder frei und setze mich in den Wagen. Die Schilderungen des Nachrichtensprechers machen mir erstmals das Ausmaß dieses Naturereignisses so wirklich klar. Und alle anderen wissen bestens darüber Bescheid. Nur wir nicht. Dafür sitzen wir mittendrin.
Man hilft, wo Not ist. Mancher wärmt sich und kocht seine Suppe, seinen Kaffee am Kamin oder mit dem Campingkocher des Nachbarn. Wir versammeln uns um den Gasherd unserer kleinen Küche und drehen alle Flammen voll auf. Der Rest des Hauses kühlt immer mehr aus. Hatte nicht geglaubt, dass da noch eine Steigerung möglich gewesen wäre. Das Lesen bei Kerze wird bereits ab 16.00 Uhr mühsam. Man sitzt noch ein, höchstens zwei Stündchen beisammen. Fröstelnd trotz der Wolldecken. Dann geht`s ins kalte Bett. Fast mit uns selbst als einziger Wärmequelle. Luxus, die Wärmeflasche. Doch auch mit ihr frierend. Die Kälte kriecht bis in die Knochen. Das Schlafen gelingt nur stundenweise, aber doch.
Am nächsten Morgen wachen wir auf, und merken zunächst gar nicht, dass das Licht brennt!
Doch dann Jubel!! Frühstück und richtiger Kaffee. Akkus schnell aufgeladen. Radio, Fernsehberichte. Große Augen!
Angebote der Lebensmittelketten, trotz der Sonntagsruhe die Läden für ein paar Stunden zu öffnen. Auch wir machen uns auf den Weg. Vorsichtshalber! Batterien, Kerzen, Feuerzeuge … und Brot, Suppen … Man sieht wieder Menschen. Mit Schlitten oder nur mit Einkaufsbeuteln bestückt. Alte Leute können noch immer nicht aus dem Haus. Zu mühsam, zu gefährlich. Und nicht alle haben den Strom schon wieder. Es wird noch daran gearbeitet. Zu viele Strommasten sind durch die Last des Schnees einfach in sich zusammengesunken. Unvorstellbar eigentlich.
Zum Glück ist auch die Kühltruhe wieder angesprungen. Ein Tag länger, und wir hätten, trotz Winters, den Großteil der Lebensmittel wegwerfen müssen. Grad noch mal gut gegangen. Wir sind dankbar.
Ein paar Stunden später fällt der Strom wieder aus. Alles abenteuerlich Spielerische ist nun endgültig verschwunden. Nur noch Frustration und Langeweile. Auf allem lastet schwer der Schnee. Bäume, Sträucher, Dächer – und die wenigsten Strommasten halten noch stand. Vielfach werden durch den Technischen Hilfsdienst Stromaggregate eingesetzt, die die größte Not lindern. In Krankenhäusern, auf Bauernhöfen, in Einkaufsmärkten. Von überall werden sie herangeschafft.
Immerhin hat es aufgehört zu schneien. Und ich habe den Montag sowieso noch frei, aber hätte eh nicht fahren können. Schönes erholsames Wochenende.
Im Laufe des Montag dann haben sie es endlich geschafft, zumindest in unserer Ortschaft, den Normalzustand wiederherzustellen. Doch dies kann man vom Umland noch lange nicht behaupten.
Es hat dann noch mindestens bis zu einer Woche gedauert, bis alle wieder ans Stromnetz angeschlossen waren.
Und ich fuhr am Dienstag wieder ganz normal zur Arbeit.
Hätte nicht irgendjemand gefragt, ob ich wohl auch von diesem ganzen betroffen gewesen sei, wäre es, 70 km entfernt, vielleicht gar nicht mal aufgefallen.
Für den Norden des Landes wurde Schneefall vorausgesagt.
Im Fernsehen, irgendwo weit weg –– da gab es ein Schneechaos, dessen Folgen noch lange sichtbar blieben.
Tag der Veröffentlichung: 25.09.2011
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