Ankunft
Die kleine Stadt war ihr fremd geworden. Die engen Gassen, der Baum bestandene Platz, das Himmel stürmende, gotische Gotteshaus. Fremd auch ihr suchender Fuß, den sie in dessen dämmrige Kühle setzte. Der Verkehrslärm der Außenwelt, welcher durch das Tor mit hinein geschwappt war, wurde sogleich von ihr verschluckt. Alles erinnerte Rike an die fernen, gedämpften Unterwassergeräusche in einer Taucherglocke. Wie das Tönen einer längst vergessenen Zeit – und doch auch wieder nicht.
Später, beim Hineinbiegen in die kleine Wohnsiedlung, deren Asphalt, von der Ausfallstraße abzweigend, den Boden in Form eines großen P versiegelte – einem P ohne Mitlaut, P wie Parken – an dessen innerem und äußeren Rand sich die Häuser gruppierten, beschlich Rike wiederum dieses eigenartige Gefühl, welches sie nicht zu deuten wusste.
Dann stand sie am Fenster ihres Zimmers im oberen Stock der Doppelhaushälfte und ließ den Blick von der Hügelwarte aus über die satte Münsterländische Parklandschaft gleiten. Linker Hand der nahe Wald, dessen Kuppe mit seinen Türmchen wohl noch immer durch das örtliche Wasserwerk okkupiert war.
Schon ging Rike die alte Stiege hinunter und hinten über die Veranda hinab in den Garten. Als ihr das schwarze Krächzen einer Gruppe aufgestörter Rabenvögel von den hohen Pappeln am Waldrand entgegen schlug, fing die junge Frau trotz des warmen Sommertages an zu frösteln und zog ihre Strickjacke fester um die Schultern.
Es musste nicht gleich morgen sein. Sie brauchte / sie gab sich Zeit. Vielleicht würde sie aber den Wald auch nie mehr betreten. Wie ein dunkles Haus lag er auf der Lauer. Als wartete er bereits auf sie. Sie, die allein sein Geheimnis lüften konnte. Wenn sie sich in seinen Räumen verfing, fände sie vielleicht nie wieder – hinaus?
Ein flaues Gefühl im Magen trieb sie zurück ins Wohnhaus ihrer Kinderzeit. Seit dem Frühstück – in einer anderen Galaxie, wie ihr schien – hatte sie vor Aufregung nichts mehr gegessen. Zum Glück konnte sie unterwegs am Einkaufsmarkt auf dem alten Garbrock´schen Hof vorsorglich einige Lebensmittel einkaufen, so dass sie jetzt nur noch das Teewasser aufsetzen und einige Brote schmieren musste. Danach machte sie es sich auf der breiten Veranda mit dem schönen, weiten Blick gemütlich und lauschte den fremd gewordenen Geräuschen, mit denen nun Stück für Stück tief vergrabene Erinnerung in ihr wach gerufen wurde. Doch bevor noch die Geister ihre Gräber ganz verließen, zog sie sich ins große Wohnzimmer zurück und überließ sich den Bildern eines alten Liebesfilms im Fernsehen, den sie nur müde mit einem Lächeln quittierte.
Unruhig warf sie sich in der Nacht auf den zerlegenen Matratzen hin und her. Das leere, alte Haus schien zu ächzen und zu stöhnen unter der Last ihres ersten Besuches nach so langer Zeit, als wüsste es – besser als sie – über die Geheimnisse ihres tiefsten Inneren Bescheid. Als
wenn wohl irgend Jemand … Das musste endlich ein Ende haben. Endlich ein Ende. Ein Ende. Sie wachte auf.
Es war noch dunkle Nacht, und im Halbdämmer ihrer Gedanken durchlebte sie die letzten, schrecklichen Wochen erneut. Nicht, dass es besonders schnell gegangen wäre. Dabei hatte sie sich die Freiheit so sehr gewünscht. Die Luft entwich mit einem unspektakulären pffft... Und durch die Lücke im Halt gebenden Rahmen schienen sich als erstes Kraft und Freude zu verflüchtigen. - Danach fühlte sie sich krank.
„Wenn sie doch reden würde!“ hörte sie die anderen ein ums andere Mal sagen.
Reden – ja! Wenn sie nur wüsste … Und so machte sie sich eines grauen Morgens schließlich auf.
Als sie nun den Buchenberg betrat, sah sie seine Spuren. Breit hatte Kyrill, der Schreckliche, seine wüste Bahn durch den Wald gezogen damals, und sich die Bäume zu Füßen gelegt. Nach dem Sturmtief blieb alles fremd. Auch wenn inzwischen ganze Waldstücke wieder aufgeforstet wurden, so brauchte es doch Zeit – viel Zeit – ihn wieder zu dem zu machen, was er einmal darstellte. Wenn das überhaupt möglich war. Einzelne Stationen eines neu errichteten Kreuzweges erzählten von fern eine andere Leidensgeschichte. Menschen, Häuser, Wälder – wo gab es da einen Unterschied? Sie setzte sich auf den warmen moosigen Boden, mitten zwischen all die jungen Schößlinge und spürte dem Entsetzen der Alten nach, die nun den Boden mit ihren Leibern nährten – oder Platz machten für Neues.
Langsamen Fußes setzte Rike bald darauf ihren Weg fort und mied dabei die stärker frequentierten Pfade. Sie brauchte Zeit für sich, das spürte sie. Aber wonach suchte sie eigentlich? Verwirrt schüttelte sie den Kopf, um sich dann bewusst konzentriert ihren Sinnen und der gleichmäßigen Bewegung ihrer Schritte hinzugeben. Allmählich wurde sie ruhiger.
Schon hatte sie den Kamm erreicht mit seinen Wassertürmchen. Hier war sie als Jugendliche einmal im Herbst zur Manöverzeit unverhofft auf ein getarntes Soldatenlager mitsamt Panzer gestoßen. Das auf sie zu zielen scheinende Abschussrohr hatte sie von der kindlichen Vorstellung geheilt, bei Gefahr den Wald als einen schützenden Hort zu sehen. Doch jetzt ging ihre Erinnerung noch weiter zurück, märchenhaft. Sie sah, nein, ehrlicher Weise ahnte sie nur noch, wo sie einst die Sieben Hügel voll mit raschelndem Buchenlaub hinauf- und hinabgestürmt war, als wäre sie einer der Sieben Zwerge, vielleicht auch ein Eroberer oder irgend sonst wie glücklicher Held. Aber nie allein, sondern nur in Begleitung der anderen, bereits älteren Kinder. Und weiter als bis hierher hatten sie auch nicht gehen dürfen. Niemals über den Kamm hinaus in unbekanntes Land vorstoßen. Denn es ging nicht einfach ins malerische Bagno und weiter nach Burgsteinfurt, sondern gemäß Kinderfantasie ganz in weite Ferne, vielleicht sogar in Feindesland! Nur im eigenen Territorium waren sie sicher und kannten sich aus. Wussten, wo sie sich verstecken konnten, falls nötig. Kannten verwunschene Plätze und solche, an denen sie spielen oder träumen konnten. Die alte Jagdhütte, ganz versteckt. Die große Sandkuhle am Waldrand vorne, und natürlich den Bach
mit seinem Tümpel, an dem sie sich nasse Füße und auch Wasserfrösche für den Biologieunterricht holten, ganz stolz ob des Mutes, solch Glibbertier überhaupt berührt zu haben.
Das Lächeln, welches sich während dieser Erinnerungen auf Rikes Gesicht gelegt hatte, wich urplötzlich einer Erscheinung, die sie wie ein Monster ansprang, so dass sie erschreckt zusammen fuhr. Vor ihrem geistigen Auge blitzte ein Bild auf, sah sie einen seltsam verrenkten Körper daliegen – ja, es war ein Mensch, tatsächlich. Fahles Entsetzen breitete sich ihr um Mund und Augen, und sie blieb zitternd stehen. Doch genau so schnell wie aufgetaucht, war diese schreckliche Vision auch schon wieder verschwunden. Nurmehr den Bruchteil einer Schrecksekunde blieb Rike wie erstarrt stehen, dann rannte sie los. Zurück zur Wohnsiedlung. Völlig verschwitzt und außer Atem kam sie endlich dort an. Doch es ging ihr nicht aus dem Kopf, dieses furchtbare Bild ließ sie nicht mehr los. Und immerzu schien der Wald zu rufen: Komm, komm doch! So lange habe ich auf dich gewartet!
Keine Ablenkung konnte sie lange davon befreien, nein, es unterbrach sogar völlig unvermittelt auch andere Gedankengänge, drängte sich ihr förmlich auf.
Und dann wagte sie es erneut. Schließlich war sie gekommen, endlich die Voraussetzung für einen Neuanfang zu schaffen. So, wie es war, konnte es, ja konnte sie nicht weiter gehen. Sie hatte sich geschworen, diesmal nicht eher den Wald zu verlassen, als sie das für sich geklärt, eine Lösung für sich gefunden hatte, mit der sie leben konnte.
Leben ohne Angst? – Sie überlegte kurz – nein, leben mit Klarheit, egal, was dabei herauskam. Fast schien sie beflügelt, mit einer noch ganz neuen Entschlossenheit ausgestattet.
Sorgfältig verstaute sie den Proviant und das Regenzeug sowie ein paar feste Schuhe und die Taschenlampe in ihrem Rucksack, bevor sie das Haus verschloss und energischen Schrittes den schmalen Weg Richtung Wald betrat. Sie nahm zunächst den Hauptweg. Unten am Acker, an der Pferdekoppel entlang, vorbei am Baumpilz mit der Bank, die den Stamm umschloss und dann hinauf bis kurz nach der Biegung, wo linker Hand schon die Wetterhütte zu sehen war. Doch ihr Blick richtete sich nach rechts und sie hielt suchend inne. Irgendwo hier mussten doch auch die alten Fischteiche noch sein? Alles schien mächtig verändert. Der Wald war nicht mehr derselbe, wahrlich nicht derselbe wie der, den sie als Kind erlebt hatte. Rike schlug sich nun suchend durchs Unterholz, und schon nach wenigen Metern war nichts mehr vom Wanderweg zu sehen. Sie blieb stehen und horchte. Sich entfernendes Stimmengemurmel, das Kläffen eines Hundes, dann Ruhe. Nichts mehr, außer dem leisen Tröpfeln des einsetzenden Regens, der auf die Blätter traf. Als sie sich umdrehte, sah sie die Wasserfläche eines der Teiche durch die Bäume schimmern. Also doch!
Es gelang ihr kaum, bis an den Rand des Gewässers vorzudringen, so zugewachsen war alles. Die Teiche schienen nicht mehr bewirtschaftet zu werden und versumpften immer mehr. Und doch war sie nicht der erste Mensch, der sich hier durchgeschlagen hatte. Vorsichtig sichernd bewegte Rike sich jetzt vorwärts. Sie wollte sich nicht plötzlich überrascht sehen von … irgend Jemandem. Ein rascher Blick zur Seite – nur ein Hase, den sie aufgeschreckt hatte. Ihr Herz klopfte ganz unangemessen laut. Hasenherz!
Rike bewegte sich langsam der tiefgründig glitzernden Wasserfläche entgegen, mit einem rasch ergriffenen Ast, prüfend vorwärts stakend und immer darauf bedacht, einen Halt zu finden, falls der Boden unter ihren Füßen plötzlich nachgeben sollte. Und doch verlor sie beinahe das Gleichgewicht, als grad in diesem Moment am jenseitigen Ufer wie aus dem Nichts eine Gestalt auftauchte. Wie erstarrt blieb Rike stehen, um sich gleich darauf ins niedrige Schilf zu ducken. Hatte sie sich zunächst entdeckt geglaubt, so bemerkte sie schnell, dass der Mensch da im hellen Regenmantel, der sich auf der wallartigen Uferbefestigung am gegenüberliegenden Gewässerrand befand, ihr wohl den Rücken zukehrte. Nun bückte er sich und machte sich auf dem Boden zu schaffen, doch Rike konnte nichts erkennen. 'Was ist denn … ? was macht der denn?' durchzuckte es sie nach einer Weile, während sie schlagartig anfing zu zittern. Was machte der da! Rike griff nach dem Holzbengel. Sie musste näher herankommen! Musste nachschauen, was da los war! Weit und breit keine Menschenseele hier. Niemand, den sie zu Hilfe holen konnte. Hastig und mit ängstlich suchendem Blick bewegte sie sich die Uferböschung entlang auf die Stelle zu, an der sie den Kerl vermutete. Ihr Atem ging stoßweise, als sie sich schließlich vorsichtig aufrichtete, um besser sehen zu können.
Nichts. Er war nicht da. Sie konnte ihn nirgends entdecken. Aber er war doch eben noch … Da vorne musste die Stelle sein, wo er gestanden hatte. Und was war da auf dem Boden gewesen? Verunsichert, und sich immer wieder nach allen Seiten umsehend, schlich sie sich näher heran.
Und dann sah sie es!
Das Mädchen, wie es kämpfte, sich aus einem Gestrüpp von Brombeerranken zu befreien und sich dabei die Arme blutig riss. Sah seine Angst und Not, während höhnende Worte, die Rike nicht sogleich verstand, auf es einschlugen. Deren Sinn wurde ihr jedoch nun Schlag LES auf Schlag BE klarer. L e s b e! Rike erstarrte. Langsam ließ sie die schützend über den Kopf erhobenen Arme sinken. Vor ihr auf dem Waldboden bauschte sich eine ehemals weiße Abdeckplane über einen kleinen Verhau für die Wildfütterung. Rike sank in die Knie. Ihr ganzer Körper zitterte, als sie die Plane anhob, und suchend den Boden abtastete, immer weiter gruben sich ihre Finger in den leichten Waldboden ein, bis sie schließlich auf etwas Hartes stießen. – Freya! - Schnell legte sie ein kleines verrostetes Blechkästchen frei, dessen Deckel sie nun fast andächtig öffnete. Fasziniert starrte sie auf den Ring, der da vor ihr auf dem kleinen Samtpolster lag und einen ruhigen Glanz ausstrahlte.
Zum ersten Mal fühlte sich Rike zuhause angekommen.
Tag der Veröffentlichung: 21.08.2011
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