Zerrissen
Die zwei Jahre waren so kurz gewesen, viel zu kurz. Jetzt war alles vorbei, für immer. Sie glaubte nicht daran, dass es jemals wieder so sein könnte wie vorher. Nein, es konnte ja nicht, denn auch wenn sie zu ihm zurück dürfte, die Angst, es könnte zur erneuten Trennung kommen würde die Freude vergiften und einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen. Der bittere Nachgeschmack des Glücks. Lange hatte sie geglaubt, dass sie nie von ihm getrennt sein würde, ausser natürlich, sie würde sich für einen neuen Weg entscheiden. Aus freiem Willen. Das hier war nicht freiwillig. Er zwang sie dazu, auch wenn er es selber gar nicht entschieden hatte.
Nach knapp einem Jahr kam die Angst zum ersten Mal auf Besuch, sie schlich sich in ihr Herz, bereitete ihr unruhige Stunden. Doch die Freude war gross, als die Zusicherung kam, sie durfte bei ihm bleiben, sie wurde nicht weggeschickt. Es folgte ein schwieriges Jahr, die Probleme häuften sich, er zickte nur noch rum. Trotzdem verschwendete sie keinen Gedanken daran ihn zu verlassen. Irgendwann aber, es muss um Weihnachten herum gewesen sein, trieb er es zu bunt. Nicht mit ihr, nein, mit den Anderen. Von einem Tag auf den anderen nahmen die Verantwortlichen ihn mit, sperrten ihn ein. Er sollte eine Weile darüber nachdenken, mit wem er da seine Spiele trieb und dann sollte er sich bessern, er sollte sich endlich der Zivilisation fügen. Sie versprachen ihr, er würde innerhalb weniger Wochen zurückkommen, soweit sie sich erinnern kann sagten sie Ende Januar. Dann Ostern. Sie wartete, irgendwann mussten sie ihn freilassen. Anfangs Mai durfte er nachmittags zu ihr zurück. Man versprach ihr, dass er bei guter Führung ab Juni ganz draussen sei. Es wurde Herbst und Winter und noch immer hielten sie ihn morgens bei sich, obwohl er sich inzwischen fast einwandfrei verhielt. Doch niemand glaubte ihm, niemand glaubte ihr, wenn sie versicherte, dass es bergauf ging mit ihm. Niemand.
Sie wartete noch immer. Es war kalt geworden, der Himmel grau, Schnee gab es in diesen Teilen des Landes leider nicht. Er hatte sie früher manchmal mitgenommen, in die Berge, in den Schnee und noch viel weiter, bis nach Mailand. Dort hatte er ihr die warme Sonne gezeigt, den besten Kaffee, er hatte ihr Italienisch beigebracht und ihr die Freude an diesem Land zurück gegeben. Sie würde wieder nach Rom fahren, zurück in die ewige Stadt. Auch dieses Jahr, aber ohne ihn.
Schliesslich hatten sie ihn frei gelassen, im November oder Dezember, sie konnte sich nicht mehr genau erinnern wann. Freudig hatte sie ihn erwartet, doch ihre gemeinsame Zeit war abgelaufen. Sie hatte an seiner Seite nichts mehr verloren, sie gehörte nicht mehr zu ihm. Ein Jahr lang hatte sie gewartet, vergebens.
Sie hätte nie gedacht, dass sie ausrangiert werden könnte, hatte immer gedacht, dass sie diejenige sei, die davonlaufen würde, irgendwann. Sie konnte sich ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen, warum waren 2 Jahre bloss so kurz? Jetzt lag sie im Bett und starrte den schwarzen Nachthimmel an, eine weitere schlaflose Nacht. Sie hätte jetzt aufstehen müssen, wenn alles so gewesen wäre wie früher. Dies tat sie dann auch, schlafen konnte sie sowieso nicht, die Sehnsucht brannte zu sehr, sie musste ihn sehen, musste dieses Zerren in ihrem Innern loswerden, und sei es auch nur für einen Moment. Wie früher fuhr sie zum Bahnhof, sie war nicht nervös, spürte nur die Tränen der Verzweiflung, die ihr die Sicht verschleierten. Sie sah in sofort, er stand dort, wo er immer gestanden hatte, stolz, umgeben von anderen, neuen Leuten. Sie wollte nicht dass er sie entdeckte, versteckte sich im Dunkel der Bahnhofshalle. Hinter einem Pfosten hervor betrachtete sie ihn, eine Ewigkeit lang, bis er ging. Endlich. Keine Erleichterung. Sie steht noch immer da, um sie herum wuseln die Menschen. Sie möchte ihm nach, ihm folgen, wenn nicht bei ihm, dann wenigstens in seiner Nähe sein, sie rührt sich nicht vom Fleck, kann nicht zurück, kann ihm nicht nach.
Tag der Veröffentlichung: 03.08.2010
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