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Die Stange

Die kühle Stange zitterte in ihren Händen, schon eine ganze Weile. Oder war es sie selbst, die zitterte? Nein, die Stange, es musste die Stange sein. Zum dritten Mal quietschten nun die Bremsen und die automatischen Türen fuhren heftig zur Seite um hunderte von Menschen auszuspucken und gleich darauf wieder eine ähnliche Menge in sich hineinzusaugen. Wumms, schon waren die Türen wieder zu und die Metro fuhr weiter. Sie war immer wieder erstaunt, wie dieser Wechsel so schnell funktionieren konnte!
Die Stange zitterte wieder. Hatte sie denn überhaupt aufgehört zu zittern als der Zug stand? Wenn nicht, dann wäre es wohl wirklich sie selbst, die da zitterte! Sie wusste es nicht, beim nächsten Halt würde sie darauf achten… aber wollte sie es denn überhaupt wissen? Ach zur Hölle mit dieser bescheuerten Stange! Sie hatte heute ohnehin schon genug erfahren, von dem sie eigentlich lieber gar nie gewusst hätte! ‚Oh Gott, bloss nicht daran denken, da konzentrier ich mich doch besser auf diese affige Stange und wer von uns beiden nun der Zittergreis ist, sie oder ich!’
Es war heiss in der überfüllten Bahn und sie spürte wie ihr die Schweisstropfen den Rücken runter liefen. Auch die Stange hatte längst die Temperatur ihrer Hand angenommen, sie war glitschig von ihren feuchten Händen.
„Colosseo“ nachher noch vier Stationen, dann war sie endlich am Ziel. Und dann, ja dann würde sie darüber reden müssen, das erste, nein eigentlich das zweite Mal. Sie wusste nicht, was sie ihnen sagen sollte, nur nicht daran denken. Das Zittern der Stange…
Wieder hatte sie verpasst zu schauen, wer nun zu viel Kaffee getrunken hatte, sie oder die Stange… ‚Shit, also konzentrier dich jetzt auf diese Stange und das Zittern!’
Ihr Blick war auf den Boden fixiert, der Gegenüber musste wohl bei der letzten Station gewechselt haben, was sie nun wahrnahm waren nämlich nicht mehr die braunen Latschen von vorhin, sondern glänzend polierte, schwarze Lederschuhe. ‚Gott, ich bekomme es nicht einmal mehr mit, wenn der Mensch vis-à-vis wechselt vor lauter Stangen und…’ Ihr wurde schwarz vor den Augen, die Hitze war unerträglich geworden. Noch immer das Zittern.
Sie konnte das Geschehene nicht länger vergessen. Die Schwärze vor ihren Augen rief förmlich danach Verdrängtes zurückzubringen. Die Stange, die Hitze, das Zittern, Schwüle, Schuhe, schwarz polierte Lederschuhe, dieselben Schuhe, die… jetzt waren sie wieder da, die Bilder, sie sah sie als wäre sie Zuschauerin ihres eigenen Lebens. Das Mädchen im Zimmer, alleine, alles weiss, Wände, Decke, Vorhänge, Tisch, ja selbst die Liege, auf der sie kurz zuvor noch gelegen hatte. Blendend weiss, unerträglich. Das Mädchen hielt den Blick auf den Boden gerichtet, als die Tür sich endlich öffnete und schwarze polierte Lederschuhe den Raum betraten. Sie wagte kaum den Blick zu heben, tat es dann doch, aus einem inneren Zwang hinaus. Ein Zwang der sie diese ganze Untersuchung überhaupt über sich hatte ergehen lassen. Der Wunsch nach Gewissheit. Gewissheit, von der sich doch nicht wusste, ob sie sie wirklich haben wollte.
Der Arzt, wie er in seinem langen Mantel das Zimmer betrat, das ernste Gesicht, sorgenvoller als gewohnt. Er hatte den Mund nicht zu öffnen brauchen, das Mädchen war in Tränen ausgebrochen. Der Arzt hatte vergeblich versucht sie zu trösten, hatte ihr versichert, dass es Menschen gäbe, die trotzdem noch Jahre lebten… Das Bild riss ab… Die Gewissheit, ununterbrochen hämmerte sie in ihrem Kopf, sie vermochte sie nicht mehr zu verdrängen.
Es hatte eine Zeit gegeben, da war sie glücklich gewesen, hatte diese Sorgen nicht gekannt, die sie nun auf zu zehren drohten. Lange war das her. Damals hatte es kein Messer gegeben, das selbst in ihren besseren Stunden unaufhörlich gewühlt hatte, ihr kein unbeschwertes Lachen mehr gegönnt hatte. Es hatte keine endlose Verzweiflung gegeben, die sie so oft nächtelang gefangen hielt, damals hatte es kein Wanken gegeben, zwischen Hoffnung und Selbstaufgabe, damals hatte die Welt noch einen Sinn. Doch diese Zeit schien so fern, schien einem anderen Leben an zu gehören, hatte nichts mehr zu tun mit ihr selbst.
Damals war noch nicht dieser verdammte Wunsch nach Gewissheit da gewesen. Doch es war nicht DIESE Gewissheit, die sie gewollt hatte, DAFÜR hatte sie nicht das Ganze Prozedere über sich ergehen lassen!!!
Noch immer zitterte die Stange, doch sie spürte es nicht mehr. Sie fühlte nicht die Tränen, die über ihre Wangen liefen, fühlte nicht die tröstenden Hand auf ihrer Schulter, sie fühlte nicht mehr die Hitze und den Schweiss, der ihre Kleider an den Körper klebte. Sie fühlte nur noch die kalte Gewissheit, die sie umgab…

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Tag der Veröffentlichung: 30.01.2010

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