Arachon
Musik schallte durch die leere Bahnhofshalle, die immer gleiche Melodie, etwas schwermütig, fernwehdurchtränkt. Sie kam von den Bildschirmen her, die die immer gleiche Werbung zeigten, begleitet von dieser Musik. Arachon hatte die Werbung tausend Mal gesehen, das heisst vor allem gehört, für was sie werben sollte hatte er jedoch keine Ahnung. Nur die Melodie, sie wollte seinen Kopf nicht mehr verlassen. Er wusste nicht von wem die Musik war, geschweige denn wie das Lied hiess, vielleicht liess sich das irgendwie herausfinden, über YouTube zum Beispiel, heute liess sich fast alles herausfinden. Dazu müsste er aber zuerst noch wissen für was diese Werbung denn eigentlich so sinnlos vor sich hin warb. Die Melodie einer verlassenen Bahnhofshalle, die Melodie des Fernwehs, sie würde ihn auf seinem Weg begleiten.
Arachon stand am Fenster, schaute zu wie die Flocken im orangen Licht der Laternen tanzten, oder war es doch rot? Darüber liesse sich diskutieren. Arachon sah es orange, doch ob andere es auch orange sehen würden, wusste er nicht, vieles sahen andere anders als er, er sah vieles anders als andere. Nicht mit anderen Augen, nein, dieser Ausdruck war völlig falsch, schliesslich war die Anatomie des menschlichen Auges bei den meisten Menschen ziemlich identisch, man konnte also gar nicht mit anderen Augen sehen. Arachon nahm also anders wahr, doch auch dies war Blödsinn, denn der Vorgang des Sehens war wiederum bei den meisten Menschen identisch, man konnte also gar nicht anders wahrnehmen. Und doch sah er die Sachen anders, was war falsch mit ihm? Warum liess man ihn nicht leben, er tat doch niemandem weh? Warum sah er nicht dasselbe wie ein „normaler“ Mensch? Und was war denn schon normal? Wenn Arachon am Fenster stand und die Schneeflocken betrachtete, sah er Tänze, er sah Schwingungen, er fand Synchronität wo keine war. Er sah die Flocken das Licht in allen Farben reflektieren, er sah Regenbögen, Formationen. Die Kunst des Schneefalls, kein Mensch könnte sie nachahmen, so einzigartig war sie. Die Melodie spielte noch immer in seinem Kopf und jetzt verlor sie den Charakter der Melodie des verlassenen Bahnhofs, jetzt wurde sie zur Tanzmusik des Ballets der Schneeflocken, sie schienen sich in ihrem Rhythmus zu bewegen, schienen ihren Tönen zu folgen.
Warum war er der einzige der dies sah?
Wenn er andern davon erzählte wurde er bestenfalls milde belächelt, wenn nicht gleich prustend angespuckt. Warum sah er die Welt anders? Es konnte doch nicht sein, Augen und Sehvorgang waren doch intakt, zumindest für die Augen wusste er das mit Sicherheit, er hatte sie mehrmals beim Optiker überprüfen lassen, auch sah er nicht besser als andere, nein, ganz normal. Den Sehvorgang konnte man leider nicht so leicht untersuchen, vielleicht war ja da bei ihm etwas schief gelaufen, irgendeine Verkabelung die versaut worden war… versaute die Natur manchmal Verkabelungen? Offenbar.
Im Hotelzimmer, das er sich als Überbrückung genommen hatte, schaltete er den Fernseher ein, er verstand kein Wort von der fremdartigen Sprache, liess ihn trotzdem laufen, vielleicht blieb ja was hängen, dachte er sich. Das wenige Gepäck hatte er im Koffer gelassen, er hatte ohnehin nicht vor lange an diesem Ort zu bleiben. Gedankenverloren schaute er aus dem Fenster, die Sonne war bereits im Begriffe wieder unter zu gehen, die hatte wohl auch Kurzarbeit bekommen, jetzt zu Zeiten der Wirtschaftskrise. In tausend Farben verfärbte sie den Himmel, spiegelte sich in der Fensterscheibe, im nahe gelegenen See, spielte mit den Bäumen verstecken und machte sich schliesslich unhörbar davon. Sie liess den Himmel noch stundenlang weiterglühen, brennen, als wäre der Weltuntergang gekommen. Er sah die Leute gleichgültig an diesem Spektakel vorbeigehen, eingemummt in ihre dicken Winterjacken waren sie abgeschirmt gegen die Kälte und gegen die Schönheit ihres Landes. Sie sahen nur die Dunkelheit, die während dieser Jahreszeit so lange dauerte, sie sahen nicht die tausend Sterne, sahen nicht ihre Geometrie, hörten nicht ihre Musik. Sie fühlten nicht die Schönheit jeder einzelnen Stunde.
Hatte er also doch einen Sehfehler? Er konnte es nicht abstellen, konnte nicht vorbeigehen, eingemummt, wie die anderen es taten. Was war bei ihm falsch gelaufen?
Aus dem Fernseher tönte eine Melodie. Die Melodie der leeren Bahnhofshalle, die Melodie der tanzenden Flocken, sie wurde jetzt zur Melodie des brennenden Himmels.
Tag der Veröffentlichung: 09.01.2010
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