Cover

Weck mich wenn wir in Mailand sind

Leerfahrt Domodossola- Milano, kein Inventar, keine Arbeit. An diesem Morgen kommt mir das ganz gelegen, ich bin müde, jeder Schritt ist mindestens drei zu viel und die Augen wollen beim besten Willen nicht offen bleiben. Es ist ein bewölkter Morgen irgendwann im Juni, in Domodossola auch nicht speziell warm. Lau. Ich kontrolliere trotz der Mitteilung meines Chefs den letzten Wagen, wär ja blöd wenn das Inventar da wär und ich im Abteil nebenan ein Schläfchen halten würde. Würde wohl keine sonderlich gute Gattung machen. Ich kontrolliere also, aber zum guten Glück ist da wirklich nichts, ich kann mich guten Gewissens auf einem der Bänke ausstrecken, die Schuhe ausgezogen versteht sich.

Es ist kühl in meinem Abteil. Obwohl die Sonne nicht scheint läuft die Klimaanlage auf hochtouren, so scheint es mir jedenfalls. Ich könnte aufstehen und den Knopf auf heizen drehen. Irgendetwas scheppert in der Lüftung, nur Phasenweise, ich höre es trotzdem durch die Musik hindurch mit der ich mich von der Aussenwelt abgekapselt habe. Es scheppert immer wieder. Wagons aus dem vorletzten Jahrhundert pflege ich zu sagen, ja sie stellen für diese Teilstrecke nicht das neuste Material zur Verfügung, warum auch, meistens sind nicht viele Leute anwesend und diejenigen, die es sich nicht verkneifen können dieses Abenteuer aus zu probieren, sind ja schliesslich selber Schuld. Für die Arbeit mit der Minibar sind diese Wagons nahezu das Mühsamste vom Mühsamen.

Heroes del Silencio. Ich bin in einer anderen Welt, der Himmel ist jetzt nicht mehr grau, ich sehe nicht die Tropfen auf den Scheiben. La Herida, la chispa adeguada, tragen mich fort aus dem engen Zug, hinaus aus dem zu kühlen Abteil, irgendwohin, weit weg von allem… irgendwann das unangenehme Surren des Lautsprechers: „Tra pochi minuti arriveremo nella stazione di Gallarate…“ Halbzeit.

Die Tür meines Abteils wird geöffnet, der Güsel-Heini(Mitarbeiter der Putzmannschaft) schaut herein, grinst, und wünscht mir eine gute Nacht. Ich richte mich auf, verschlafen, bekomme nicht ganz auf die Reihe was eigentlich vor sich geht, will ihm noch sagen er soll mich wecken wenn wir in Mailand sind, aber er ist auch schon wieder weg und so sitze ich da, quasi als lebendiger Cliff-Hänger, mit einer unabgeschlossenen Handlung im Kopf und einem nicht ausgesprochenen Satz im Mund. Trivialitäten. Ich spucke die Wörter trotzdem aus – runterschlucken bekommt meinem Magen nämlich gar nicht – und lege mich wieder hin.

Schlafen will ich jetzt nicht mehr, gedankenverloren schaue ich aus dem Fenster, höre noch immer Heroes del Silencio, Soundtrack für diese Fahrt, eine verkorkste Fahrt mehr, ein Arbeitstag mehr, der nicht nach Plan verlief. Es ziehen Häuser vorbei, Fabriken. Während wir uns langsam Mailand nähern, scheint es als wären wir längst in der Stadt. Kaffee kann nicht von Kuchen unterschieden werden, ich meine natürlich Vorortskaff nicht von Stadt. Wobei Vorortskaff möglicherweise die falsche Bezeichnung ist, Vorortsstadt wäre wohl treffender. Tiefe, graue Wolken hängen über der undefinierbaren Brühe aus Vorort und Stadt, über Bahnhöfen mit Name an denen ich 100 mal vorbeigefahren bin und die mir trotzdem nichts sagen. Wir fahren von renovierungsbedürftigem Häuserblock zu renovierungsbedürftigem Häuserblock von Bauruine zu Bauruine, brutta brutta Milano ti amo

. Oder war es doch erst Rho? Was weiss ich, es sieht alles gleich aus, obwohl die Häuser alle andersfarbig angestrichen sind, sind sie doch alle grau, strahlen ein grau aus, passend zum Himmel, garniert mit den Tropfen an den Schieben, die es schräg nach hinten zieht, der Zug fährt ja schliesslich. Vor den Fenstern und auf den Balkonen hängt die Wäsche zum trockenen im Regen, manchmal sind es auch zerfetzte Storen die so tun als ob.

Mailand, warum bist du so traurig?



Endlich fahren wir in den Bahnhof ein. Auf einem Abstellgleis standen über längere Zeit ein paar leere Wagons, offenbar ungebraucht von der Trenitalia, dafür umso emsiger benutzt von Mailands Obdachlosen. Seit ein paar Wochen sind diese Wagons ausgebrannt. Sie stehen immer noch dort, der Rost hat sich jedesmal wenn ich sie sehe etwas tiefer gefressen, sie fallen langsam in sich zusammen. Offenbar wird das Abstellgeleise auch nicht gebraucht, oder es wurde umfunktioniert zum Wagon-Friedhof. Ein Friedhof um den rund herum die Züge donnern, ohne Kreuze, ein Friedhof der keinen Frieden bringt.

Es wackelt und scheppert wieder. Das unerträgliche Surren des Lautsprechers: „Siamo in arrivo nella stazione di Milano Centrale, stazione termine, tutti viaggiatori sono pregati di scendere… „ wir werden wieder auf Geleise 3 hinausgestellt, ganz am Ende des Bahnhofs, ein unnützer Zug wird ins Nichts gestellt. Mein Abteil ist immer noch viel zu kühl, ich bin nicht aufgestanden. Jetzt muss ich sowieso aussteigen, sprich aufstehen, die Heizung stell ich trotzdem nicht an. Ich steige aus, dicke, sommerwarme, regennasse Luft schlägt mir entgegen. Ich will zurück in mein Abteil, weiterschlafen und weiterträumen. Brutta brutta Milano, ti amo

.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 21.09.2009

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /