Jetzt war alles still, die anderen schienen bereits tief und fest zu schlafen, das dicke Gehäuse schützte sie vor dem kalten Wind. Nur noch vereinzelt fuhren die Autos vorbei, immer in dieselbe Richtung, niemals zurück, spülte es sie fortwährend in die Stadt hinein, tagsüber in einem einzigen Fluss, jetzt nur noch tröpfchenweise. Das Gitter vor ihm müsste besiegbar sein dachte sich Jack, es sah nicht sonderlich stabil aus, ein wenig Anlauf, das dürfte dann reichen um ihn in die Freiheit zu lassen. Er selbst hatte das Gitter aufstellen müssen. Konnte sich gut erinnern wie leicht die einzelnen Teile gewesen waren. Das Problem war der Lärm, der durch das Überrollen des Stahlnetzes verursacht würde. Lärm war etwas das die Menschen stets erschreckte und sie herbeieilen liess. Mit Anlauf das Gitter niederzuwalzen stand also ausser Frage, es würde viel zu viel Lärm verursachen, die Menschen wären alarmiert und er käme wohl nicht weit. Also musste er sich eine andere Variante ausdenken.
Auf der anderen Seite war ein kleiner Hang, steil aber bezwingbar, unterhalb ein kleines Plateau, dann der Bach. Wenn er bloss schwimmen könnte, das würde die ganze Sache so viel leichter machen. Aber Wasser sei Gift für jeden seiner Gattung hiess es und die die es trotzdem mit Schwimmen versucht hätten, die hätte ein qualvoller Tod heimgesucht. Auf dem Grund des Gewässers seien manchmal Leichen gefunden worden, zerfressen vom Rost, der qualvollsten aller Todesarten, meist mit Sand im Getriebe, festgefahren im Schlamm, gefangen, und ohne die geringste Hoffnung aus eigener Kraft je wieder heraus zu kommen.
Trotzdem blieb die Option des Wasserwegs nach wie vor verlockend. Schliesslich bräuchte es keinen grösseren Kraftaufwand, er könnte sich nur treiben lassen, würde automatisch in den Rhein getrieben und auch dort müsste er sich nicht anstrengen, könnte sich treiben lassen, bis hinunter nach Holland, könnte damit auf seiner Flucht wertvolles Benzin sparen, welches dann zurück an Land ohnehin schnell genug alle sein würde. Ja, der Wasserweg war verlockend, auf keine andere Weise käme er mit einer Tankfüllung so weit. Seine Verfolger würden ihn sicher nicht in Holland suchen gehen, was bedeutete, dass er so gut wie weg wäre. Dann müsste er sich nur noch einen Menschen angeln, der ihm immer mal wieder ein wenig Benzin fütterte.
Plötzlich schreckte Jack aus seinen Gedanken hoch. Vor ihm war ein lautes Knurren ertönt, alarmiert schlug er sofort die Augen auf. Die Bagger der kleineren Gattung, stammend aus der Fabrikhalle, waren seit Menschengedenken Fluchtbagger und hatten daher einen sehr leichten Schlaf. Da sie in die Kategorie der Beutebagger gehörten mussten sie allzeit auf der Hut sein vor lauernden Krahnen oder grossen Baggern. Anders als diese zwei Gattungen gehörten die kleinen Bagger nicht zu den Dieselfressern, sondern zu den Bleifreifressern, was sie für erstere zu einem beliebten Nachtisch machte, denn der mit Benzin durchtränkte Motor schmeckte für einen Dieselfresser leicht süsslich.
Jack öffnete also sofort die Augen und wollte schon zur Flucht ansetzen, als er bemerkte, dass es nur der alte Sepp war, der Linienbus, der immer wieder aus derselben Richtung kam, obwohl er nie zurückfuhr.
Sepp wartete an der Haltestelle und nickte Jack kurz zu, er kannte den ungestümen jungen Bagger seit einigen Tagen, war schon oft an ihm vorbeigefahren.
Jack winkte mit der Schaufel und rief: „Hey Dieselfresser… fit?“ – „ Nenn mich nicht Dieselfresser, ich kann das Zeug ja auch nicht ausstehen, aber die Menschen füttern mich nun mal damit und von irgendwas muss ich ja leben!“ – „Ich habs ja nicht so gemeint, aber Sepp ist ja wohl auch nicht grad viel besser, das hört sich so nach einem Innerschweizer Bergpostauto an!“ – „Noch immer kein Respekt vor dem Alter! Wenn ich ein Krahn wäre, dann… dann… würde ich dich das Fürchten lehren!“ – „Sag mal, wie kommt es eigentlich, dass du immer aus der selben Richtung kommst? Du fährst nur immer von A nach B, aber niemals zurück!“ –„Das würde ein dummer kleiner Benzinfresser wie du nie verstehen!“ – „Das Alter hat einfach keinen Respekt vor der Jugend!“ – „Jetzt wird er auch noch frech! Ich muss sowieso weiter! Bis zum nächsten Mal!“ – Vrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrmmmmmmmmmmmmm…
Schon war er weg. Halb so schlimm, spätestens nächsten Morgen würde er wieder vorbeikommen. Dann würde er ihn nochmals fragen. Vielleicht konnte er ihm auch sagen, wie man fliehen konnte. Sepp schien recht frei zu sein, er fuhr zwar zwanghaft immer die selbe Strecke, aber das lag vielleicht am Alter, da sei man nicht mehr so offen für Neues hatte er gehört. Und zu guter Letzt hatte er immerhin Auslauf, ja, er konnte jeden Tag seinen Rädern ein wenig Bewegung verschaffen, war nicht so schrecklich eingezwängt wie er selbst.
Vielleicht hatte Sepp des Rätsels Lösung, vielleicht bestand sie darin, wie man ungesehen von B zurück nach A kommt! Das musste die Lösung sein!!! Jack machte einen Hüpfer vor Freude! Klar, das war es und Sepp wollte sein Geheimnis für sich alleine Behalten! Sepp wusste wie man sich ungesehen fortbewegte! Wie sonst würde er es Stunde um Stunde schaffen von A nach B zu fahren, ohne jemals von B nach A zurück zu rumpeln? Sepp hatte die Formel der unsicht- und hörbaren Fortbewegung entdeckt!
Morgen musste er ihn ausfragen, notfalls indem er ihn aufhielt, aber er musste die Antwort auf all seine Fragen aus ihm hinaus pressen! Unbedingt!
Die Tage waren jeweils anstrengend, sehr anstrengend und Jack fand kaum die Zeit nach Sepp Ausschau zu halten. Andauernd wurde er gebraucht, mal musste er dort die Erde aus einem Loch schaufeln, mal dort, dann musste er sie am anderen Ort wieder zurückschaufeln, was das ganze sollte wurde ihm nie so ganz klar. Aber gegen den Willen der Menschen gab es nun mal nichts einzuwenden. Irgendwann würde er den Schlüssel zur Selbstbestimmung finden, dachte er sich. Irgendwann würde er den Weg aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit finden. Blöderweise war seine Unmündigkeit nicht selbstverschuldet und dies gab ihm am meisten zu denken. Denn sogar Sepp, der doch so frei schien, hatte immer einen Fahrer in sich sitzen, also war auch Sepp nicht unmündig… Aber halt, dann müsste ja auch während der unsichtbaren Rückfahrt der Mensch dabei sein, denn schliesslich kam auch dieser immer wieder von derselben Seite, ohne jemals zurückzugehen. Folglich entwischte Sepp also auch nicht ganz der Unmündigkeit? Das konnte nicht wahr sein, das durfte nicht wahr sein, er musste mit seinen Gedanken völlig falsch liegen.
Ein harter Tritt in sein Gaspedal holte ihn in die Realität zurück. Jack begann lautstark zu fluchen, doch als Antwort erhielt er nur noch einen Tritt. Jack motzte weiter, er wollte sich diese alles nicht mehr gefallen lassen, wollte endlich seine Selbstständigkeit erreichen und hatte den ganzen Baustellenkindergarten sowieso komplett satt. Als Antwort auf sein Murren erhielt er diesmal eine Faust mitten ins Armaturenbrett. Das schmerzte, und zwar so sehr, dass er aufheulte und vollends zu streiken begann. Er wollte Selbstständigkeit und ausserdem mehr Rechte für Bagger! Vor allem für die der kleinen Baureihe, die so genannt untere Gewichtsklasse, die Bleifreifresser im Slang.
Jack erhielt noch ein paar weniger schmerzhafte Tritte in die Seite und an die Räder, dann wurde er allein gelassen. Aber nicht lange. Bald kam ein Transporter, ein Dieselfresser, Jack roch es bereits bevor er um die Ecke bog und wurde auf diesen hinauf gehoben, festgezurrt und weggefahren. Jetzt würde er Sepp in der Nacht nicht ausquetschen können! Mist! Wieso kam ihm das bloss erst jetzt in den Sinn? Er hätte sich das Ganze mit dem Streik doch früher überlegen sollen! Jetzt war es zu spät.
Langsam wurde er von der Baustelle weggefahren. Das war nun wieder mal typisch, so nah war er am Ziel gewesen und nun hatte er sich alles wieder selbst vermasselt! Möglicherweise war Sepps Fahrer auch Unmündig und vielleicht teilten sich die beiden ja eine Demokratie der Unmündigen, jeder mit drei Stimmen vielleicht, damit man dann auch Prozentsätze ausrechnen konnte, nach den Abstimmungen.
Und da sie beide alt waren wollte keiner von ihnen etwas Neues ausprobieren, so dass sie sich einig waren und nie eine Pattsituation erlebten, dass sie sich so zu sagen niemals gegenseitig blockierten! Jack wünschte sich er hätte auch einen Demokratieparnter… „Hey, Dieselfresser, machen wir zusammen eine Demokratie auf?“ – „Mit einem Benzinfresschen!!! Hahahaha… du weißt ja nicht mal was eine Demokratie ist! Du kriegst ja noch nicht mal deine Schaufel richtig hoch!“
Jack schwieg verlegen, enttäuscht, einmal mehr wurde ihm bewusst, wie sehr er doch den Durchschnittsdieselfresser hasste. Sepp war anders! Sepp hatte sich auch genervt, aber er hatte ihn nicht ausgelacht! Am liebsten wäre er fortgefahren. Runter von der Ladefläche, dann die Spur wechseln und im Strom der Auto immer weiter weg fahren, weg von diesem Dumpfbackendieseltrottel, weg von… aber halt mal! Auf dieser Strasse gab es ja gar keine Gegenspur! Wie dort wo er stationiert gewesen war! Nur dass diese Strasse in die andere Richtung führte! Hey, halt, aber, nein, das durfte nicht war sein! War das denn des grossen schönen Geheimnisses Lösung! Es gab keine Unsichtbarkeit und auch keine Demokratie zu zweit, keine Partnerschaft mit stillem Einverständnis… Sepp nahm nur jeweils diese Strasse zurück!
Nein! Das konnte nicht sein, er war doch so nah dran gewesen und jetzt brach das ganze Kartenhaus wieder zusammen! Zuerst wurde er getreten und geschlagen, darauf ausgelacht und verhöhnt und jetzt? Jetzt zerronnen auch noch all seine Hoffnungen und Illusionen einfach so zu Aceto Balsamico, oder eben Motorenöl.
Wo sie ihn jetzt wohl noch hinbrachten? Wahrscheinlich in eine Werkstatt überfüllt mit Durchschnittsdieselfressenen. Ach das Leben als Bagger war doch einfach beschissen! Was hatte man schon davon, man wurde nichts als herumkommandiert und schlussendlich auf dem Schrotthaufen in Pension geschickt und dem qualvollsten aller Tode überlassen, dem Verrosten! Wenn man Glück hatte, so wurde man in seine Einzelteile zersetzt und anderen Artensgenossen angesetzt. Organtransplantation nannten dies die Menschen. Diese Todesart war wenigstens schnell, zwar relativ schmerzhaft, aber doch schnell und man konnte ja immer noch darauf hoffen, dass mit seinem Blech vielleicht einem Bagger das Leben gerettet, oder besser gesagt verlängert werden könnte.
Aber neustens Spinnen die Menschen sowieso, dachte Jack, jetzt haben sie uns allen Sage und Schreibe Windeln angezogen, als wären wir noch Babys! Dabei sind wir längst aus der Werkstatt! Irgendetwas von Feinstaub hatten sie gelabbert!
Jack verstand die Menschen nicht und er hatte soeben beschlossen, die neusten Ereignisse betrachtend, dass er fortan das Leben hassen werde! Und wenn es ihn sein Baggerleben kosten würde, so konnte es nicht weitergehen, er wollte mit diesen blöden Menschen nichts mehr zu tun haben!
Anmerkung:
Die Fortsetzung der Geschichte wurde auf unbestimmte Zeit ausgesetzt, da das Fantasiebudget zur Zeit stark limitiert ist. Ich bitte um Verständnis.
Tag der Veröffentlichung: 14.09.2009
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