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Hörst du die Zwergsignale flüstern?

Man sieht sie nur des Nachts, obwohl sie auch tagsüber dort sind. Doch sie verschwinden im Geratter der Züge, im Nebel, im Dunst. Aber in der Dunkelheit, dann schauen sie aus tausend Augen, dem Ankommenden entgegen. Blinzeln nur selten, stellen den Blick schräg, neigen den Kopf zur Seite, scheinen stumm zwischen den glätzenden Linien der Schienen zu stehen. Das Licht der Laternen reicht nicht aus, sie unsichtbar zu machen, taucht nur die ganze Szene in einen orangen Schimmer. Ein oranges Fernweh.
Weißt du was die Zwergsignale des Nachts erzählen?
Sie scheinen stumm am Boden zu hocken, Zwerge, die nur schauen, beobachten, ohne zu blinzeln, die nicht ihre leuchtenden Augen befeuchten müssen, die endlos starren. Es scheint ihnen nichts zu entgehen, doch was sie gesehen, das werden sie auch nicht weitererzählen. Stumm wie sie sind. Stumme Beobachter.
Tagaus tagein sehen sie die Züge heran- und vorbeirollen. Furchtlos wie die kleinen Blümchen zwischen den Schwellen, aus einem Gedicht an dessen Autor ich mich nicht mehr erinnern kann, warten sie auf die donnernden Ungeheuer. Sie sehen alles, doch sie erzählen nichts weiter. Stumm stehen sie da und warten auf den nächsten Zug, starren ausdruckslos dem reisenden entgegen, stehen scheinbar verloren zwischen den glitzernden Linien, die sich alle samt in den Bahnhof ziehen. Stehen im orangen Fernweh. Wissen alles.
Wie sollte man sie auch hören, wann immer man ihnen begegnet sitzt man sicher im schalldichten Zug, im weichen Sitz, fern von der eintönigen Realität der Zwergsignale.
Wer weiss schon ob sie wirklich alles für sich behalten was sie sehen? Oder ob sie hin und wieder leise einen Kommentar zu dem ihnen am nächsten Stehenden zischen. Und wie steht es denn um ihre Beziehung zu den richtigen Lichtsignalen, den grossgewachsenen, den arroganten, die auf die Zwerge hinunterschauen, ja vielleicht sogar spucken, wenn es denn regnet!
Wie kannst du wissen, ob sie stumm sind, törichter? Du hast sie nie flüstern hören, nur weil du sie aus deinem Blickwinkel nicht flüstern hören kannst. Nur weil du ihren Blick, ihr Starren als leer deutest, nur weil du nicht verstehst, wie sie es wagen können sich zwischen die heranbrausenden Züge zu stellen, sie vorbeiziehen lassen ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Du verstehst nicht wieso sie hin und wieder den Kopf schräg neigen. Du verstehst nicht das orange Licht der Laternen, das ihre Augen noch mehr leuchten lässt in der Dunkelheit, siehst du nicht die Schönheit in ihrem Fernweh? Wieso sollten sie stumm sein?!?

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Tag der Veröffentlichung: 14.09.2009

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