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ESCAPE

 

Jeder Atemzug brannte in meinen Lungen, meine Beine schmerzten vor Anstrengung. Und doch blieb ich nicht stehen.

Die kalte Winterluft peitschte mir ins Gesicht und gefror die Tränen, die kurz zuvor noch heiß auf meinen Wangen gebrannt hatten. Wieder und wieder musste ich einem zu weit herunterhängenden Ast ausweichen, trotzdem zerkratzten mir einige Zweige das Gesicht und meine nackten Schultern und Arme. Der matschige Schnee flog bei jedem Schritt hoch; ließ mich manchmal darauf ausrutschen und mit den Armen rudernd nach Halt suchen, ehe ich einen Baumstamm finden konnte, um mich von ihm abzudrücken und um weiterrennen zu können.

Der Wald war finster, beinahe zu finster, um ausreichend sehen zu können. Doch die schmale Sichel des Mondes spendete gerade noch genug Licht, um mich orientieren zu können und um nicht gegen einen Baum zu stoßen.

Ewig war ich in dieser Hölle eingesperrt worden. Ich wusste nicht genau, wie viele Tage oder gar Wochen es gewesen sein mussten - kein Tageslicht hatte ich in diesem dunklen Keller gesehen, in dem ich sogar Probleme hatte, den Eimer zum Pissen zu finden.

Mein Atem ging stoßweise, ich verschluckte mich beinahe an der Luft, während ich weiter durch die Dunkelheit geisterte. Meine weichen, zerschlissenen Schuhe hatten schon längst die Nässe und Kälte des Winters in sich gesogen und meine Füße brannten von dieser Eisigkeit.

Ich hatte sein Gesicht nie gesehen, immer hatte er es mit einem schwarzen Tuch bedeckt gehabt. Nur seine Augen hatten unter dem dunklen Stoff hervorgeblitzt ... kalte, eisblaue Augen. Würde ich es wirklich bis nach Hause schaffen, so würden mich diese Augen trotzdem für immer verfolgen. Nie würde ich diese Härte und seine Wut darin vergessen, wann immer er die massive Türe öffnete und mit schweren Schritten auf mich zu ging, um mich zu schlagen. Dabei warf er mir immer denselben fremden Namen an den Kopf.

"Es ist alles deine Schuld, Maja ... ALLES deine Schuld! Du sollst in der Hölle schmoren! Du Miststück!"

Allein bei dem Gedanken daran, wie seine klobigen Finger meinen Hals umgriffen hatten und immer härter zudrückten, während ich gedacht hatte, diesmal wäre es nun wirklich vorbei, erzitterte ich und blieb unwillkürlich stehen, obwohl ich doch weiterrennen sollte.

"Ich bin doch gar nicht Maja!", hatte ich immer und immer wieder geschriehen, wenn er kam und erneut auf mich einschlug. Doch er glaubte mir nicht, schien mir nicht mal zuzuhören.

"Wer bist du?", rief ich ein Mal und versuchte sogar seine Maske runterzureißen, obwohl ich wusste, ich kannte ihn nicht und hatte ihn niemals zuvor gesehen. An seine eisblauen Augen hätte ich mich erinnert.

"Du wirst dich vor mir fürchten!", erwiderte er nur brüllend und schlug mir so hart ins Gesicht, dass ich sofort das Bewusstsein verlor.

Innerhalb dieser Tage - oder Wochen - war ich mehrmals bewusstlos gewesen. Deswegen hatte ich auch keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen sein mochte. Es war ein Wunder, dass ich noch lebte. Wahrscheinlich hatte dieser Bastard es genau darauf abgesehen ... dass ich so lange wie möglich Qualen litt, die der Geisteskranke eigentlich einer anderen, einer Maja, zufügen wollte. Genau genommen war es auch ein Wunder, dass ich noch laufen konnte, trotz des höchstewahrscheinlich gebrochenen Arms und des höllisch schmerzenden Knies. Aber das Adrenalin pumpte durch meine Adern ... denn ich hatte es endlich aus dieser Hölle geschafft.

Plötzlich rutschte ich erneut aufgrund des ruschtigen Schnees aus und landete in der matschigen, kalten Erde. Schwer atmend schaffte ich es gerade noch, mich aufzurichten, doch ich konnte langsam spüren, wie mein Adrenalinspiegel immer weiter sank. Meine Schmerzen wurden mir immer mehr bewusst und mein Kopf pochte, als ob jemand mit einem Presslufthammer versuchte, meine Schädeldecke aufzubrechen.

Als ich gehört hatte, wie er mit seinen zwei Schlüsseln wieder versucht hatte, die Schlösser der Tür zu öffnen, hatte ich mich so schnell wie möglich aufgerichtet und blind nach meinem Pisseimer gesucht. Als er endlich reingekommen und weit genug in den Keller getreten war, hatte ich den Eimer über ihn geschüttet. Er hatte laut geflucht und versucht, mich mit zusammengekniffenen Augen zu ergreifen als er gehört hatte, wie ich aus dem Keller gestürmt war. Fast wäre ich auf meinem eigenen Urin ausgerutscht und mein gesamter Fluchtversuch wäre gescheitert.

Als ich es endlich aus dem Haus durch ein von mir eingeschlagenes Fenster geschafft hatte, fand ich mich im Dunkel mitten in einem Wald wieder. Wo denn sonst? Sonst hätten doch alle im Umkreis von einem Kilometer meine täglichen Schreie gehört.

Ich hatte nicht mehr zurückgesehen, sondern war einfach gerannt, um so viel wie möglich Abstand zwischen ihm und mir zu bringen. In der Hütte hatte es gepoltert und ich hatte ihn wütend brüllen gehört.

Er konnte mich unmöglich einholen. Ich hatte einen Vorsprung, den er nicht einholen konnte, außerdem wusste er nicht, wohin ich gerannt war.

"Maja!", hörte ich ihn plötzlich in den Wald brüllen - und seine Stimme war gar nicht so weit entfernt.

Erschrocken blickte ich zurück. Er war zwar nicht zu sehen, dafür bemerkte ich aber auf einmal meine Fußabdrücke am Boden. Er wusste also sehr wohl wohin ich gerannt bin. Verfluchter Schnee.

Verzweifelt versuchte ich weniger Abdrücke zu machen, damit er mich nicht mehr verfolgen konnte, aber das machte mich nur noch langamer als ich ohnehin schon war. Nach all den Tagen war ich geschwächt - er allerdings war groß, stark und rasend vor Wut.

"Du kannst mir nicht entkommen, Maja!"

Seine Stimme klang nun noch lauter und ich war mir nicht mehr sicher, ob ich seine Schritte bereits hörte oder ob es nur meine eigenen waren.

Ein lauter Knall.

Instinktiv warf ich mich auf den Boden. Dann hörte ich das wütende Stampfen hinter mir.

Ich schaffte es nicht, rechtzeitig aufzustehen, aber ich drehte mich erschrocken um, als er sich auf mich warf und meine Schultern in den Boden drückte.

"Maja", zischte er durch seine zusammengepressten Zähne.

Verzweifelt versuchte ich, mich aus seinem Griff zu winden, aber schon grabte er mich unter sich ein und gab mir keinerlei Bewegungsmöglichkeiten. Die nasse Kälte drang von unten durch meine Kleidung.

Seine Haare waren noch nass und das stinkende Urin tropfte auf meine Wangen. Das Gesicht verziehend wollte ich mich von ihm wegdrehen, aber dann realisierte ich, dass er sein Tuch nicht mehr im Gesicht hatte, sondern es wohl unterwegs verloren haben musste. Eigentlich sah er aus wie ein ganz gewöhnlicher Mann, aber seine durchtriebenen Augen jagten mir eine Höllenangst ein. Ich wusste, zu was er fähig sein konnte. Ich hatte es in den letzten Tagen erlebt.

"Maja..."

Seine Stirn schlug gegen meine und sekundenlang sah ich nur Sterne vor den Augen. Dann stand er wieder auf, packte mich an den Haaren und flüsterte mir zischend ins Ohr: "Du wirst mir niemals entkommen. Niemals!"

Mit dem nächsten Schlag auf dem Kopf explodierte bereits alles in meinem Blickwinkel in ein großes Lichtspektakel und dann tauchte mich Schwärze in die Tiefen der Bewusstlosigkeit.

  

  

Als das Nichts mit einem Schlag verschwand und ich die Augen öffnete, sahen mir wieder zwei Paar eisblaue Augen entgegen. Kaltes Metall schnitt in meine Handknochen. Langsam erkannte ich die Umwelt wieder. Ich befand mich im Keller, der Hölle, der ich eben erst entkommen war. Helles Licht strömte von der Tür herein.

Der Mann befestigte noch die letze Fessel an meinem Fuß, dann kam er meinem Gesicht wieder unglaublich nah, sodass ich seinen stinkenden Atem in meinem Gesicht spüren konnte und mir die Eiszapfen in seinen Haarstränen ins Gesicht hingen.

"Niemals", flüsterte er und einen kurzen Moment lang huschte ein Grinsen über sein Gesicht. "Niemaaals."

 

 

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Tag der Veröffentlichung: 12.12.2016

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