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PROLOG - Ohne sie waren die Menschen verloren

 

Es hatte mit Vögeln angefangen.

Erst waren es nur wenige gewesen, jedoch trotzdem mehr, als man sonst sehen würde. Doch dann wurden es immer mehr, in allen Größen und Arten, und der Himmel wurde immer dunkler, bis er beinahe gar nicht mehr zu sehen war. Und das in binnen zehn Minuten. Der Himmel wurde kohlrabenschwarz, kaum ein Sonnenstrahl brach mehr durch die dicke Decke aus Federn. Es war wie der Untergang unserer Erde. Das permanente Schlagen von Flügeln und die lauten Rufe der Vögeln brachten eine unheimliche Atmosphäre über den Planeten. Als dadurch auch noch sämtliche Kommunikation ausfiel, die nur über die Satelliten funktionierte, breitete sich Panik aus.

Und doch währte dies nur eine Stunde, bis die Vögel sich verflüchtigt hatten und dann so taten, als wäre nichts geschehen.

Tausende von Experten versammelten sich und rätselten über dieses äußerst seltsame Ereignis, das auf der gesamten Erde stattgefunden hatte. Heftige Diskussionen wurden geführt, doch keine davon führte zu dem richtigen Ergebnis.

Doch wer von ihnen hätte dies schon erahnen können?

Ich frage mich bis heute, wieso es eigentlich Vögel waren. Abgesehen von ihren Federn und Flügeln haben sie nichts mit Engeln gemeinsam, sondern aufgrund ihrer Gestalt und ihres Verhaltens ähneln sich die Engel eher den Menschen. Vor allem die Erzengel. Sie gelten schon seit geraumer Zeit als die Schutzengel von Menschen und das waren sie auch eine lange Zeit gewesen.

Doch schlussendlich waren es eben Vögel gewesen, die gespürt hatten, dass sich etwas Großes verändert hatte, und eben nicht die Menschen. Und keiner von ihnen wusste, dass dies der Startschuss für so viel mehr war.

Seltsame Krankheitsbilder häuften sich und bis die Menschen wirklich realisieren konnten, was das war, brach die Pest bereits auf dem ganzen Planeten aus, ohne dass jemand sie noch aufhalten konnte. Doch nicht nur die Pest, sondern auch weitere längst besiegt geglaubte Krankheiten kamen, so wie auch neue, mutierte Versionen der Schweine- und Vogelgrippe.

Als dann auch die Naturkatastrophen das Land erschütterten, brach die Massenhysterie aus.

Ich hatte es von Anfang an als eine schlechte Idee angesehen, doch als mittlerweile die Massengräber nicht groß genug für alle Tote waren, musste nicht nur ich einen Schlussstrich unter dem ganzen ziehen. Die Erzengel waren zu weit gegangen.

Wir hatten unter den Engel nicht viel zu sagen, doch waren wir viele - aber vor allem Freunde der Menschen. Wir wanderten genauso unter ihnen wie wir auch im Himmel uns um die Organisation sorgten.

Die Menschen hatten ihrem richtigen Glauben den Rücken zugewandt. Doch war das noch lange kein Grund, wieso die Erzengel sie schutzlos zurückgelassen haben.

Sie wurden doch nicht grundlos „Schutzengel“ genannt. Sie waren es wirklich und ohne sie waren die Menschen verloren.

Um sie wieder gläubig zu machen, mussten die Engel ihnen nur wieder zeigen, dass es sie gab und dass nur sie ihnen Erlösung schenken konnten. Sie mussten sich den Menschen doch nur offenbaren. Und genau das hatten wir versucht, ihnen zu erklären.

Es tut ja auch mir weh, mit anzusehen, wie Menschen den Glauben verlieren und stattdessen sich gegenseitig zerstören. Auch mir zehrt es an meiner Kraft, sobald sie es tun.

Doch aus Rache, sich von ihnen zu wenden, das war genau die falsche Denkweise, die auch die Menschen führten. Unser Gott hatte uns gelehrt, statt Wut Nachsichtigkeit zu zeigen. Die Erzengel hatten dagegen gehandelt.

Als ihre Wut endlich geschürt war, mussten die Erzengel ihren Fehler einsehen. Außerdem hatten die Menschen aus Verzweiflung wieder angefangen zu beten, weswegen die Erzengel beschlossen, wieder zur Erde zurückzukehren und ihnen wieder als Schutzengel zu dienen.

Doch aufgrund des Chaos schaffte es der verstoßene Engel Samael zurück in dem Himmel und zog viele der Engel auf seine Seite, um zusammen mit ihm gegen Gott und sein System zu rebellieren. Er sagte, die Menschen waren dem Herren lieber als seine folgsamen Diener und fing damit einen Krieg zwischen den zwei Fronten im Himmel an. Würde Samael gewinnen, so würde er alle Menschen in die Hölle schicken und ein neues Paradies auf Erden schaffen, dass die Engel bevölkern würden.

Dieses Paradies war das, was viele heraus hören konnten, mehr nicht. Sie wollten wieder Frieden und wenn das der einzige Weg dafür war, dann mussten sie eben harte Methoden ergreifen - so meinten sie. Gerne würde ich meine Brüder und Schwestern aus den oberen Chören nicht dafür verurteilen wollen, da sie doch nur für den Frieden garantieren wollten. Doch ich tat es. Denn selbst wenn so viele Menschen es verdienten, in die Hölle zu kommen, weil sie so herzlos und blutrünstig waren wie nicht einmal der Teufel, so gab es viele, die unschuldig waren und die es nicht verdienten in die Hölle zu kommen. Vor allem nicht die Kinder.

Hätte ich kämpfen können, so hätte ich es getan, doch ich konnte es nicht. Unter meinen Leuten war ich die Einzige, die aktiv etwas dagegen unternehmen wollte. Es war gut, dass keiner von uns an Samaels Seite stand, sondern nur einige der anderen Chöre der Versuchung nachgegeben hatten, doch war es ein genauso schlimmes Vergehen, nichts dagegen unternehmen zu wollen. Stattdessen verbrachten sie alle die meiste Zeit auf der Erde und halfen den Menschen.

Ich sage nicht, es ist komplett falsch. Immerhin war es schon immer unser Job gewesen, wir waren dafür geschaffen worden, auf der Erde zu weilen und Menschen zu helfen. Vor allem in dieser schweren Zeit hatten sie es bitternötig. Doch es würde für sie nur noch schlimmer werden, wenn wir nichts gegen Samael unternehmen würden.

Aber was könnte ich allein schon unternehmen? Eigentlich war ich doch auch nur ein Mensch - nur eben mit den Fähigkeiten eines Engels und ich gehörte dem Himmel an, weswegen ich dorthin auch immer zurückkehren konnte.

Bis jetzt hatte ich noch keine Möglichkeit, dem Widerstand gegen Samael etwas beizuleisten. Selbst all meine Reden, die ich vor meinem Chor gehalten habe, brachten keine große Leistung. Meine Geschwister aus den Fängen Samaels zu befreien durch weitere Reden scheint genauso sinnlos gewesen zu sein.
Und ich bezweifle, dass ich alleine noch mehr erreichen könnte.

 

EINS - Ich werde sterben. Nicht wahr?

 

Ich lief schnell an Mia vorbei, um sie zu streifen, während ich auf meinen nächsten Patienten zu lief. Sie murmelte kurz eine Entschuldigung, als ob sie es gewesen wäre, die gegen mich gelaufen wäre, als sie auf dem Weg zu einem Kranken war. Nun war sie geheilt.

Sie war viel zu jung, um ebenfalls so ernsthaft zu erkranken, außerdem leistete sie großartige Hilfe im Krankenhaus. Beinahe war ich eifersüchtig auf sie, da sie scheinbar mehr erreichen konnte als ich. Doch das sollte ich nicht sein.

Es würde lange Zeit dauern bis sie vielleicht wieder krank werden würde, selbst wenn sie hier im Krankenhaus arbeitete. Ihr Körper hatte genug Antikörper gebildet, um dagegen eine Weile anzukommen.

Wenn die Leute plötzlich geheilt wurden, sahen es alle als ein Wunder an. Doch ob ich mich als ein Wunder ansehen sollte, wusste ich nicht. Immerhin konnte ich nur einen minimalen Bruchteil der Erkrankten retten. Zu mehr als einer, selten maximal zwei Heilungen am Tag war ich nicht fähig.

Zu Anfang hatte ich immer die Erstbesten geheilt, bis ich merkte, dass ich weise vorgehen musste. Niemand verdiente es, zu sterben, doch manche rettete man eher als andere - und dabei schaute ich weniger darauf, wie gläubig er war, sondern mehr, wie sehr es sich dafür lohnen würde und wer daran leiden würde, nicht geheilt zu werden. Es war nicht einfach und würde es auch niemals sein. Aber meine Kraft in Mia zu investieren würde sich lohnen. War sie geheilt, würde sie umso länger anderen helfen und sie heilen.

Früher hatte ich täglich geweint und hatte da zu den stärksten aus meinem Chor gehört. Mittlerweile waren wir alle abgehärtet. Naja, eher hatten wir gelernt, damit besser umzugehen.

Es war nicht einfach, andere sterben zu lassen, aber wir konnten nicht alle retten.

Ich erinnerte mich an ein altes Ehepaar. Noch nie waren mir solche Leute untergekommen. Sie hätten es vollends verdient, geheilt zu werden. Doch es gab andere Prioritäten. Und so seltsam es auch klingt: Ich war froh, dass sie so gestorben waren. Kurz bevor beide, beinahe gleichzeitig, verschieden, lächelten sie und hielten Hände. Sie hatten ein langes, glückliches Leben geführt.

Ich schritt in ein Zimmer mit einem kleinen Mädchen darin, vielleicht acht Jahre alt. Ich konnte sie nicht heilen. Nicht nur, weil es andere zu retten gab. Für sie konnte selbst ich nichts mehr tun. Ihre Familie war bereits gestorben und sie hatte sich selber zu spät hier einquartiert.

Ich kam rein. Sie war wach.

„Na? Wie geht's?“, fragte ich und lächelte gezwungenermaßen.

Sie sah hoch und ihre Mundwinkel hoben sich etwas.

Ihr ging es elend. Ich sah es nicht nur an ihren Augenringen, ihrer blassen Haut und dem gequälten Gesichtsausdruck. Ich spürte es. All den Schmerz, den sie besaß: Ich konnte ihn fühlen. Er tat mir nicht auf dieselbe Weise weh wie ihr, sondern eher wie Herzschmerz - wie Seelenschmerz.

Genau dies war der Grund, wieso so viele der Brüder und Schwestern meines Chores zusammengebrochen waren unter all dem Schmerz in dieser Welt. Wir waren ihn gewohnt gewesen, aber seid die Erzengel sich von den Menschen gewandt, existierte dieser Schmerz im einem neuen Maße und das auch noch überall, an jedem Fleckchen der Erde.

Es freute mich, dass einige Erzengel wieder unter uns waren und ihre Hand über einige bedrohte Gebiete hielten. Und doch waren es nicht genug und wenn sie da waren, dann nur für eine begrenzte Zeit. Oben herrschte der Krieg, für hier unten hatten die wenigsten Zeit. Erst wenn die Gefahr oben gebannt war, so würde die Erde wieder wie früher werden.

Ich lief auf das Mädchen zu und setzte mich neben sie hin. Vorsichtig strich ich ihr durchs Haar.

Sofia wunderte sich schon lange nicht mehr, wieso ich nicht wie die anderen Abstand von ihr und ihrer Krankheit hielt. Genauer gesagt seit etwa einer Woche, seid sie da war und ich sie zum ersten Mal besucht hatte. Ich besuchte sie nicht jeden Tag, dafür gab es genug andere, die meine Seelsorge ebenso brauchen.

Wieso ich aber in dem Moment bei ihr war und still neben ihr lag, während ich so vielen anderen helfen und schließlich sogar heilen konnte?

Sie hatte es verstanden.

„Ich werde sterben. Nicht wahr?“, krächzte sie.

Erneut strich ich durch ihr dunkles Haar, dann nickte ich.

Sie schluchzte. „Genauso wie meine Familie, oder?“

Wieder nickte ich.

Nun weinte sie los. Tränen rannen über ihr weißes Gesicht und sie schluchzte fürchterlich.

Ich nahm sie fester in dem Arm, sagte aber weiterhin nichts.

Das Schluchzen verebbte schneller, als ich erwartet hatte. Sie atmete tief durch.

„Werde ich meine Familie wiedersehen?“ Ihre Stimme glich der eines kleinen, piepsenden Vogels.

Ich lächelte und sah sie an. „Ja, das wirst du. Du siehst sie gesund und munter im Himmel wieder. Und du wirst deinen Frieden finden.“

Ihre nassen, großen Augen sahen mich furchtvoll an. „Ich habe aber Angst! Was, wenn ich sie nicht sehe?“

„Du wirst sie sehen.“

„Woher weißt du das?“

„Ich weiß es. Ich sehe sie. Und sie lieben dich vom ganzen Herzen.“

Ich konnte sie nicht sehen. Aber ich wusste, dass sie im Himmel waren, das konnte ich genauso fühlen, wie ich Sofias Schmerz und ihre Angst spüren konnte. Und es ging ihnen dort gut.

Sofia versuchte sich zu beruhigen, atmete tief durch und trocknete sich die Augen.

Ich stand auf und lächelte sie traurig an. „Bist du bereit?“, fragte ich. „Bist du bereit, zu sterben?“

Ich konnte ihre Angst spüren, aber genauso ihren Schmerz. Sie entschloss sich, ihm ein Ende zu setzen. Sie glaubte mir, dass ich ihre Familie sehen konnte.

Dann nickte sie.

„Ich kann dir helfen, zu deiner Familie zu kommen. Aber ich möchte es nur machen, wenn du es auch möchtest. Willst du es denn jetzt?“

Sie zitterte, sowohl vor Kälte, als auch vor Angst. „Das kannst du machen?“

„Ja, aber nicht auf die Art, wie es die anderen machen würden.“ Kurz lies ich die Energie in meiner Hand aufleuchten. Sofias Augen wurden groß. „Ich kann dich nicht mehr heilen. Aber ich kann dich zu deiner Familie bringen. Willst du das?“

Sie schloss die Augen. Als sie sie öffnete, antwortete sie mit „ja“.

Mein Lächeln verschob sich nicht. „Es wird nicht weh tun. Ich werde nur die Energie, die deinen Körper am Leben hält, von dir nehmen. Du wirst einfach nur müde und schläfst ein. Und wenn du deine Augen wieder aufschlägst, so wirst du keinen Schmerz mehr fühlen und deine Familie wiedersehen.“

Wieder sammelten sich Tränen in ihren Augen, doch diesmal waren es keine der physischen oder psychischen Schmerzen. Ich spürte, wie plötzlich eine Last von ihr fiel und sie sich leichter fühlte.

Ich nahm das als Startsignal. Erneut strich ich ihr sanft durchs Haar, dann lehnte ich mich vor und küsste sie auf die Stirn. Als ich meine Hand an ihren Kopf legte, sog ich langsam die Kraft aus ihren Körper, sodass sie in einen sanften Schlaf fiel. Sie wollte mir noch etwas sagen, doch dann fielen ihre Augen schon zu. Ihr Herz schlug immer langsamer. Als es still war, schlug das veraltete Gerät neben mir aus. Ich schaltete es aus und bedeckte Sofias Gesicht mit der Decke. Dann ging ich aus dem Zimmer, um den anderen Bescheid zu sagen.

Ich wusste, was sie mir hatte sagen wollen. Sofia hatte es zwar nicht mehr sagen können, jedoch hatte ich es trotzdem gehört.

Eine Träne schlich sich aus meinem Augenwinkel.

Sie hatte mir danken wollen.

 

ZWEI - Doch diese Gedanken schlichen sich immer wieder zurück

 

Wütend strich ich mir diese verräterische Träne aus dem Gesicht. Ich sollte so etwas gewohnt sein. Es sollte kein Grund zum Heulen mehr sein, wenn ich damit jeden Tag konfrontiert wurde.

Nicht jeder konnte so lange und glücklich leben wie manch andere. Das war schon immer so gewesen. Und wenn selbst wir nichts dagegen unternehmen konnten, dann war es eben so.

Ich sollte es positiv sehen. Sofia hatte mir erlaubt, sie in den Himmel zu schicken. Nicht nur sie hatte einen Vorteil daraus gezogen, sondern auch jemand anderes, der heute sein Wunder erleben würde. Ich hatte Sofia das Leben praktisch ausgesaugt. Mit dieser zusätzlichen Kraft könnte ich eine weitere Person heute heilen.

Nicht oft geschieht es, dass die Menschen ihren kommenden Tod akzeptieren. Sie haben ständig das Gefühl, noch irgendetwas Wichtiges erledigen zu müssen. Sei es auch nur, jemanden Bestimmten zu sehen. Und selbst dann sind sie immer noch nicht bereit. Ich wäre sicher nicht anders gewesen, würde ich nicht sicher sein, dass es nach dem Tod noch ein Leben gibt. Es ist friedlich, wenn auch nicht ganz so ereignis- und emotionsreich. Steigen die Seelen nach dem Tod in den Himmel auf, so leben sie in ihrem ganz eigenen Paradies; kein Engel hat die Kraft, durch die Tür dieses Paradieses zu dringen und die ruhenden Seelen zu stören.

Es ist nicht richtig, jemanden sterben zu lassen, wenn er noch nicht bereit ist. Gerne würde ich ihnen alles zu ihrem Glück geben, doch ich war nicht allmächtig. Genauso nicht wie Gott. Wäre er es, könnte er mit dem Fingern schnippsen und alles wäre normal. Doch das geht nicht, denn um das zu schaffen, müsste er entweder uns töten oder unser Gedächtnis löschen. Dafür müsste er ganz von vorne anfangen und das würde er nicht erneut machen.

Ich will keine todkranken Menschen umbringen, die noch nicht sterben wollen, auch wenn ich damit diese Kraft nutzen könnte, um andere zu heilen. Sind sie noch nicht bereit, so sind sie es noch nicht - doch sterben sie schlussendlich trotzdem ohne es akzeptiert zu haben, so habe wenigstens nicht ich sie getötet. Wie können diese Menschen im Himmel Frieden finden, wenn sie das Gefühl haben, irgendetwas nicht erledigt zu haben, weil ein Engel sie zu früh umgebracht hat? Selbst wenn sie dann erfahren würden, dass stattdessen ein anderer geheilt worden ist, so fühlen sie sich denen gegenüber benachteiligt.

Ein böser Gedanke taucht in letzter Zeit immer öfter in meinem Hinterkopf auf.

Denke nicht immer nur an die Menschen, denke auch mal nur an dich! Höre auf, dich mit den Schmerzen der Menschen zu quälen! Verschwinde von hier! Lasse sie zurück!

Denke auch endlich mal an dich!

Doch ich dränge diese Gedanken so weit zurück, wie ich nur kann. Und dann quälen mich Fragen.

Bin ich die Einzige mit solchen Gedanken? Bin ich egoistisch?

Haben die anderen sie auch? Und wenn sie sie haben, was denken sie darüber?

Was, wenn wir uns plötzlich alle von den Menschen wenden?

Vor diesem Gedanken graut es mit am meisten und jedes Mal erschauderte ich, wenn ich es mir nur vorstellte.

Und dann bin ich immer fest entschlossen, dies niemals zu tun.

Doch diese Gedanken schlichen sich immer wieder zurück.

 

DREI - Für sie war ich die Tagträumerin

 

Ich machte nie Pausen. Aber da ich nicht vor den Menschen vierundzwanzig Stunden täglich arbeiten konnte, wechselte ich alle zwölf Stunden das Krankenhaus. Dieser Wechsel fand aber auch nur unter zwei Krankenhäusern statt. In anderen waren bereits die Brüder und Schwestern meines Chores.

Nie lief ich von einem Ort zum anderen. Die Eigenschaften eines Engels gaben mir die Kraft der Teleportation. So war mir die lange Laufzeit von hier zum nächsten Krankenhaus erspart, die ich dafür nutzen konnte, Menschenleben zu retten. Und da ich es nicht immer auf meine Art erledigen konnte, half ich ihnen so, wie es auch die Menschen taten. Es heilte die Erkrankten nicht so, wie ich es können würde, doch war es manchmal unglaublich, was manche Medikamente und die Verpflegung von Krankenschwestern leisten konnten.

Alle meine Kollegen meinten, ich würde von so viel Arbeit übermüden, da sie mich täglich diese zwölf Stunden durcharbeiten sahen. Andauernd rieten sie mir, etwas frei zu nehmen – ich machte ja nicht mal Pausen, außer ich simulierte, dass ich gerade essen würde. Wenn sie aber wissen würden, wer ich wirklich war, würden sie mich bitten, ihre Familien zu heilen. Das konnte ich aber nicht.

Manchmal half ich auch in den Gebieten aus, die es gerade sehr schwer getroffen hatte. Meine Kollegen dachten dann, ich nahm mir (endlich) einen freien Tag. Tatsächlich war ich dann aber irgendwo anders und half weiterhin Menschen. Es war mein Job. Und wenn ich nicht übermüden konnte, so musste ich auch weiter helfen.

Ich hatte versucht, es mir geschickt einzurichten. Um acht Uhr morgens Ortszeit war ich immer im Krankenhaus in der Nähe von Phoenix, Arizona, arbeitete meine zwölf Stunden dort ab und reiste dann ans andere Ende der Welt, wo ich in Russland, nahe Jekaterinburg, meine Schicht um acht Uhr morgens antrat.

Manche Engel machten es genauso wie ich, andere arbeiteten tagsüber in einem Krankenhaus und kamen dann in ein anderes, nahegelegenes zur Nachtschicht. Ich persönlich arbeitete lieber nur tagsüber, da in dieser Zeit einfach mehr los war und ich mehr helfen konnte.

Seid über sechs Stunden hatte ich nun mit meinen Kollegen im Krankenhaus gearbeitet – in Russland schlief zu dieser Zeit Mia tief und fest – und jetzt machte ich mit der zweiten Hälfte Pause. Während sie sich zu dritt unterhielten und die anderen fünf arbeiteten, saß ich da und überprüfte mit meinen Kräften geistig die Lage der Gebiete, die vor kurzem wieder von neuen Grippewellen überrollt wurden. Mittlerweile war die Zahl der Grippeerkrankten in den meisten Städten zurückgegangen. Dafür hatte es aber neue Überschwemmungen an Küstengebieten gegeben, außerdem weitere Erdbeben in Europa. Die Zahl der Toten war dort wieder in Unmögliche angestiegen.

Beinahe zuckte ich zusammen, als meine Konzentration gestört wurde.

„Opal.“

Beim Hören meines Namens schaute ich auf und legte das Brötchen, das ich nur ein Mal angebissen hatte, weg. Als ich zu meinen drei Kollegen rüber sah, finden sie an zu lachen. Kopfschüttelnd drehte ich mich wieder um und musste mir ein Lächeln verkneifen.

Für sie war ich die Tagträumerin. Immer wenn ich die aktuelle Lage der Erde überprüfte – und das ging meist nur in den Pausen – dann driftete ich vom Ort meines Seins ab und das konnten sie mir wohl ansehen. Und da das sehr oft geschah, machten meine Kollegen sich über mich lustig.

Ich legte mein Brot zur Seite und stand auf, um nach draußen zu gehen. Vielleicht würde ich dort die nötige Ruhe finden.

Es war heiß draußen, so heiß wie es hier immer war. Deswegen gab es auch so eine besonders hohe Ansteckungsgefahr. Selbst wenn die Menschen hier von Erdbeben und Überschwemmungen größtenteils verschont wurden, gab es viele Tote. Dazu kamen noch die immer häufiger und heftiger werdenden Wirbelstürme.

Wieder sank ich in mein Unterbewusstsein hinein, um von dort aus die Erde zu beobachten. Ein großer Tornado verwüstete den Südosten von Arizona. Vielleicht würden die Winde auch uns einen schicken – solange sah es genau danach aus. Im Moment hatte ich noch relativ wenig im Krankenhaus zu tun. Ich könnte solange nach Südostarizona gehen und den Verletzten dort helfen.

„Opal.“

Fast hätte ich geschnaubt.

„Träumst du wieder?“

Dylan stand an der Treppe vor dem Eingang zum Krankenhaus und lehnte sich lässig an das Geländer. Da ich unten auf der Bank saß, musste ich zu ihm hochschauen.

Ich deutete den Ansatz eines Lächelns an. „Was ist los? Soll ich wieder rein? Braucht ihr mich?“

„Nein, nein.“ Er grinste. „Ich wollte nur wie du etwas an die frische Luft.“

Dylan war einer der Krankenpfleger. Er hatte bis vor einem Jahr noch in Kalifornien Medizin studiert, musste es dann aber abbrechen, als der Staat überflutet wurde und sein Vater als einer der ersten hier in der Stadt erkrankte und in Quarantäne gesteckt wurde. Als auch noch seine Mutter krank wurde, fing er an, sich hier im Krankenhaus ausbilden zu lassen.

Beide starben. Seine Mutter hatte ich gerade noch kennengelernt, bevor sie verschied. Sie hatte zu den wenigen gehört, die ihren Tod akzeptiert und die ich früher in den Himmel geschickt hatte. Als sie von meinem Sein erfahren hatte, in dem Moment, als ich ihr die Erlösung schenken wollte, musste ich ihr versprechen, Dylan zu heilen, sobald er erkranken würde. Doch bis jetzt hielt er sich recht gut.

Er kam die Treppen runter und setzte sich neben mich.

„Du hast wieder kaum etwas gegessen“, sagte er. „Dein Brot liegt wie immer angebissen da, aber nicht zu Ende gegessen.“

Ich fragte mich, wieso er sich deswegen überhaupt Gedanken machte. „Ich hatte wie immer keinen Hunger.“

Er seufzte. „Du brauchst die Kraft. Du arbeitest von uns hier am härtesten.“

„Ich war noch nie jemand, der viel gegessen hat.“

Dylan lachte auf. „Ich hab keine Ahnung, wie du das mit so wenig Essen aushältst. Ich hab ja schon nicht viel, aber ich esse trotzdem mehr als du.“

„Bist du noch hungrig? Du kannst mein Brot haben, ich will es nicht mehr.“ Es zu essen wäre sowieso Verschwendung, ich brauchte es nicht.

„Als ob ich dir dein Brot weg essen würde. Du bist schon dünn genug.“ Er lachte.

„Du findest mich zu dünn?“, fragte ich.

„Nein.“ Er lächelte. „Genau perfekt.“ Dylan räusperte sich plötzlich, als ob er sich verschluckt hätte. „Ich frage mich, wie du so wenig essen und dann immer noch so aussehen kannst.“

Ich zuckte mit den Schultern. „Ich fresse mich vor dem Schlafengehen immer voll.“ Genau das sagte mir Mia auch immer, wenn ich ihr sagte, sie sollte etwas essen.

Er lachte. „Das kann ich mir vorstellen. Wo wohnst du eigentlich? Ich hab dir schon mehrmals hinterher gesehen, um das herauszufinden, aber du verschwindest dann plötzlich immer.“

Ich hob eine Augenbraue – dieses Augenbrauenheben hatte ich mir bei einer anderen Person, Mary, abgeguckt. „Du spionierst mir nach?“

Er räusperte sich wieder. „Ähm ... Nein. Das hab ich nur bemerkt.“

Ich lächelte ihn an. „Komm. Wir sollten wieder rein.“

 

VIER - So etwas hatte ich noch nie in meinem gesamten Leben gesehen

 

Nach diesem Tag hatte es drei Tote gegeben. Eigentlich ein guter Tag.

Einer der Opfer war an Hunger gestorben. Man hatte den Obdachlosen heute Abend ohnmächtig eingeliefert. Der Hunger hatte seinen Körper so sehr von innen zerfressen, dass selbst ich ihn nicht aus seinem Koma holen könnte. Bevor wir ihn an die Geräte schalten konnten, schickte ich ihn in den Himmel.

Ich ging in einem schnellen Tempo nach draußen, um mich unentdeckt hinter ein paar Büschen nach Russland zu teleportieren. Doch dann hörte ich Schritte hinter mir.

„Opal.“

Ich drehte mich um. „Dylan.“

Er schaute mich eine lange Zeit an. Seine ehemals kurzgeschorenen Haare waren länger geworden, sein Bartschatten lies ihn älter aussehen als er tatsächlich war.

„Wohin gehst du?“, fragte er dann.

Ich grinste leicht. „Nach Hause. Schlafen. Mich vollfressen. Das weißt du doch.“

„Ich habe es ernst gemeint, als ich sagte, ich würde dich nie nach Hause laufen sehen.“ Er schaute mich an. „Wo wohnst du?“

Mein Grinsen verschwand. Dazu sagte ich nichts. Ich wollte nur so schnell wie möglich nach Russland, ich würde sonst zu spät zu meiner Schicht kommen. Er hielt mich mit seinem unnötigen Misstrauen nur auf.

„Sag mir nicht, du hast gar keinen Schlafplatz, sondern du schläfst auf der Straße. Weißt du wie gefährlich das sein kann? Wie viele Verrückte diese Situation ausnutzen können und werden?“ Er schüttelte sich und sah mich besorgt an. „Du ...“

Ich unterbrach ihn. „Ich kann mich gut genug um mich selbst kümmern. Dass genau so etwas nicht passiert.“ Anschuldigend sah ich ihn an, bis ich verwirrt über die Situation meinen Kopf schüttelte. „Außerdem habe ich ein Zuhause. Du brauchst dich nicht um mich zu sorgen. Mir geht es gut.“

Wieder sah er mich an, nicht wissend, wie er jetzt handeln sollte.

„Ich muss mich jetzt beeilen.“ Ich drehte mich um.

„Wieso?“

Fast wäre ich aus Wut vor ihm verschwunden, doch das hätte Fragen aufgeworfen. Also blieb ich und wandte mich ihm wieder zu.

„Das sollte dir egal sein.“ Wieder drehte ich mich um.

„Wieso?“, fragte er diesmal dringlicher.

Ich stöhnte und versuchte, mir eine passende Antwort zurechtzulegen. „Ich bin müde. Ich will schlafen.“

Dylan seufzte. „Du weißt, du kannst jederzeit zu mir kommen. Du solltest nicht auf der Straße schlafen.“

Langsam verlor ich die Geduld. „Ich habe doch gesagt, ich ...“

So, wie er mich ansah, als ob er alles wissen würde, verstummte ich einfach. Er wusste doch sowieso gar nichts. Und ich konnte gehen, wann ich wollte, er konnte daran nichts ändern.

Ich stampfte schnell davon, um dann verschwinden zu können, sobald ich aus seinem Blickwinkel war. Hinter mir hörte ich ihn hinterherlaufen und meinen Namen rufen. Ich beschleunigte meinen Schritt und hoffte, ihn abhängen zu können.

Plötzlich ertönte ein Knall wie der eines Donners – nur sehr viel lauter. Ich drehte mich schnell um und sah Dylan vor Schreck zusammenzucken. Dann war es plötzlich sehr hell. Er musste sich die Augen zuhalten, als es zu grell wurde, während ich schockiert realisierte, was gleich geschehen würde.

Sie kamen. Engel. Auf die Erde.

Aber wieso?

Es knallte erneut.

Und wieso kündigen sie sich auf diese Weise an?

Es konnte dafür eigentlich nur einen triftigen Grund geben. Die Engel waren wohl wieder wütend geworden.

„Renn zum Krankenhaus!“, rief ich Dylan zu. „Schnell!“

„Ich kann aber nichts sehen! Es ist zu hell!“

Ich packte ihn am Arm und zog ihn hinter mir her. Ein paar Mal stolperte er, bevor er sich fing.

Als das grelle Licht langsam schwächer wurde, war es er, der mich hinter sich herzog, da ich viel zu sehr auf das Geschehen fixiert war, das sich über uns abspielte. Für Menschen war es zu hell, um oben etwas erkennen zu können, aber ich konnte es nicht nur erkennen, ich wusste sogar, was das da oben war – und es schien noch schlimmer zu sein, als ich vermutet hatte.

„Renn schneller!“, rief ich wieder. Er lief und ich blieb stehen.

Das kann einfach nicht wahr sein. Nicht hier. Nicht auf der Erde.

Etwas schlug auf den Boden ein. Was für Menschen aussah, wie eine riesige Leuchtkugel, war aber ein Engel.

Michael.

Der Boden bebte. Wäre ich nicht schon dabei hingefallen, so hätte Dylan und mich die kommende Druckwelle zu Boden befördert. Ich hörte Glas splittern. Die Fenster des Krankenhauses zerbrachen.

Ich fiel auf meinen Hintern und sog scharf die Luft ein, als ich auch wirklich sicher war, dass er über uns war.

Samael.

Er stürzte sich auf den sich mittlerweile aufgerichteten Michael. Dann begann der Kampf erst richtig. Die Lichtkugeln lösten sich auf und man sah die zwei Männer gegeneinander kämpfen. Und zwar teils in der Luft und mit riesigen Lichtbällen um sich werfend.

Dylan sah das alles genauso wie ich. Ich sah seine Lippen „Was ist das?“ formen, doch aufgrund des Lärms konnte ich ihn nicht hören.

Ich stolperte auf ihn zu. „Renn! Mach, dass du ins Krankenhaus kommst und die Patienten in Sicherheit bringst!“

Erst wollte er meinem Befehl folgen und rannte los, doch dann drehte er sich zu mir um. „Und was ist mit dir?“

„Ich habe das schon mal gesehen. Ich weiß damit umzugehen.“

Es war eine Lüge. So etwas hatte ich noch nie in meinem gesamten Leben gesehen und dass dies auch noch auf der Erde stattfand, obwohl die Menschen nichts damit zu tun hatten ... Aber wenigstens konnte ich von allen hier am meisten etwas dagegen unternehmen.

„Was?“, rief Dylan. „Nein! Komm mit mir mit!“

„Jetzt geh und hilf den Patienten, verdammt nochmal!“ Ich fluchte selten, aber jetzt war ich mit dem Nerven komplett am Ende. Die Engel hatten sichtbar nichts auf der Erde zu suchen – und vor allem nicht, wenn sie sich die Erde als Kampfarena ausgesucht hatten. Sie könnten so tausende Menschen nicht nur gefährden, sondern mit ihrem Kampf auch umbringen.

Dylan sah mich kurz unentschlossen an, ehe er loslief. Ich seufzte erleichtert. Dann rannte ich so schnell wie möglich auf Michael und Samael los.

FÜNF - Dann spürte ich den Tod

 

Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was ich gegen die beiden unternehmen könnte. Im Vergleich zu ihnen war ich schwach, außerdem ein Engel des zehnten Chores und hatte ihnen deswegen nichts zu sagen. Ich gehörte ja nicht mal den offiziellen drei Sphären an, die Menschen wussten nichts von uns. Also wie konnte ich sie aufhalten?

Es war so laut, dass die meisten Menschen, die in der Umgebung waren, einen Gehörschaden erleiden würden. Es lag nicht allein an ihrem Kampf, sondern einfach an ihrer wahren, sichtbaren Form, mit der sie hier auf der Erde waren. Ihre wahre Form war zu viel für Menschen, weswegen sie meist nur in einer Menschenhülle hier unten waren oder eben unsichtbar. Aber nun waren sie wirklich hier – ohne Hülle, sichtbar und gegeneinander kämpfend.

Ich teleportierte mich einige Meter weiter nach vorne, so dass ich jetzt direkt im Geschehen stand. Die zwei Männer, die immer noch leuchteten, die aber erkennbar waren, schlugen gegenseitig aufeinander ein. Wäre ich nicht rechtzeitig ausgewichen, wäre Samael fast gegen mich gestoßen worden – ein heftiger Zusammenprall, der mich ziemlich verletzt hätte.

„Stopp!“, schrie ich. „Hört auf!“

Doch sie hörten nicht auf mich, sondern waren zu sehr abgelenkt von ihrem Kampf. Als ich mich zwischen sie werfen wollte, damit sie mich wenigstens bemerkten, warf mich Michael mit Telekinese gegen einen Baum, der hinter mir sofort zerbarst. Etwas benommen richtete ich mich aus den Baumresten auf, rannte dann wieder auf die Engel zu.

Bevor Samael einen erneuten Angriff auf Michael starten konnte, stellte ich mich vor ihn.

„Stopp!“

Michael wollte mich davon stoßen, doch ich hielt ihn mit meiner geistigen Kraft so weit fest, dass er sich kurz nicht bewegen konnte.

„Es ist mir egal, was ihr macht! Aber verschwindet von der Erde! Die Menschen haben damit gar nichts zu tun, ihr gefährdet sie nur grundlos!“

„Denkst du nicht, dass genau das auch der Sinn war?“, fragte mich Samael. Michael hatte sich von meiner Kraft lösen können, blieb dennoch hinter mir stehen. „Ich bin doch mit Michael extra hier her gekommen, weil ich es mit ihm so ausgemacht hatte.“ Er versteifte sich hinter mir. „Wo sollen wir denn sonst unsere Kämpfe halten? Die Menschen sind doch sowieso alle dem Tode geweiht.“

Wütend sah ich an. „Sind sie nicht!“

„Du hast eine eingeschränkte Sichtweise. Du wurdest schließlich dafür geschaffen, ihnen zu dienen und zu helfen, mehr als wir normale Engel.“

Also waren wir abnormale Engel?

„Natürlich kannst du das nicht verstehen. Aber ihr werdet auch alle untergehen.“

Er wollte also uns auch auslöschen. Mit den Menschen.

Ehe ich etwas sagen konnte, begann der Kampf wieder von Neuem. Michael teleportierte mich weg, was aber aufgrund seiner fehlenden Konzentration auf mich nicht sehr gut gelang und ich nur hundert Meter weiter landete.

Ich war geschwächt und konnte mich nicht zurück teleportieren, also rannte ich den Weg zurück zu ihnen. Ich hatte keine Ahnung, was ich alleine gegen sie erreichen konnte und vor allem wusste ich nicht, was ich tun könnte, um sie doch irgendwie dazu zu überreden, woanders zu kämpfen. Meine Reden, die ich vor meinem Chor gehalten hatte, haben schon wenig Nutzen gebracht, das hier war nicht mal meine Welt.

Als ich da war, hatten die zwei Engel ihren Kampf bereits um weitere hundert Meter verlagert. Es war nicht mehr weit bis zum Krankenhaus, in dem so viele Menschen waren.

Wieder rannte ich. Ich brauche Hilfe!, sandte ich allen Engeln meines Chores. Dann schickte ich ihnen geistig noch schnell das Bild des kämpfenden Michaels mit Samael.

Diesmal hatte ich es nun wirklich geschafft, zu ihnen zu kommen. Doch ich blieb am Rand des Geschehens stehen, um auf meine Brüder und Schwestern zu warten. Sie hätten meine Nachricht schon längst gehört und da sein sollen.

Doch selbst weitere zehn Sekunden später war ich alleine.

Bitte!, rief ich. Das ist eine sehr ernsthafte Situation!

Doch keiner antwortete mir und keiner kam.

Alleine würde ich es niemals schaffen, etwas gegen die beiden Engel auszurichten, doch vielleicht könnten wir alle zusammen sie zumindest dazu bewegen, ihren Kampf woanders auszutragen. Also wieso kam niemand?

Ich merkte, wie der Kampf durch Samael immer weiter Richtung Krankenhaus verlagert wurde. Meine Augen wurden riesig, als ich sein Vorhaben durchschaute.

NEIN!“, rief ich. „STOPP! AUFHÖREN!

Schnell rannte ich ihnen hinterher, doch waren meine Beine zu langsam. Ich schaffte es, mich ein Stück nach vorne zu teleportieren, doch waren sie schneller am Krankenhaus, als ich sie hätte einholen können.

„Michael, hör auf!“ Meine Stimme versagte langsam, das Schreien setzte meinen Stimmbändern immer mehr zu. „Er will durch diesen Kampf Menschen töten!“ … und dich danach dafür in Verantwortung ziehen.

Im selben Moment sah ich, wie Michael Samael von sich stieß und dieser voller Wucht gegen das Krankenhaus krachte. Aus Schock versagten meine Beine und ich blieb paralysiert stehen.

Als Samaels Engelskörper gegen die harten Betonwände krachte, brachen sie, als ob sie aus Stroh gewesen wären. Der Westflügel des Krankenhauses krachte in sich zusammen. Als sich Samael aus den Trümmern aufrichtete, war er zwar schmutzig, aber unversehrt. Er lachte, laut und abscheulich böse.

Ich hörte Menschen schreien, fühlte auf einmal eine riesige Schmerzenswelle, die genau aus dieser Richtung kam. Dann spürte ich den Tod.

Ich rannte wieder, meine Beine wehrten sich gegen die Befehle meines Kopfes, der mir sagte, ich sollte schleunigst verschwinden und mich verstecken. Ich rannte auf den zerstörten Teil des Krankenhauses zu und Samael und Michael entgegen.

Plötzlich krachte auch Michael gegen das Krankenhaus, als er von Samael dagegen geschleudert wurde. Eine erneute Schmerzwelle brach über mich zusammen, die ich nicht so schnell und so heftig erwartet hätte, und ich fiel auf den Boden, verkrampfte mich, als ich weitere Menschen sterben spürte. Mit Mühe richtete ich mich auf, rannte trotzdem weiter, ohne zu wissen, was ich danach hätte tun können.

„Hört auf!“, brachte ich unter Krächzen hervor.

Ein Lichtball landete genau in dem Moment im Krankenhaus, als ich dort angekommen war. Er fraß sich durch die Wände, verbrannte alles auf seinem Weg, ehe er nach und nach erlosch, bevor er das ganze Krankenhaus zerstören konnte.

Die Wucht des Lichtballs traf mich ebenfalls, da er direkt neben mir fiel, und ich flog hin, verbrannte die linke Hälfte meines Körpers. Doch die Schmerzen waren nur ein Bruchteil davon, was ich von den Menschen zu spüren bekam. Ich wollte diesen Schmerz unterdrücken und war erleichtert, als es mir gelang – bis ich realisierte, dass die Schmerzen verschwanden, weil ein Großteil dieser Menschen starb.

Ich riss mich zusammen, obwohl mir Tränen über die Wangen flossen, richtete mich auf und rannte wieder auf die Engel zu. Im Vorbeirennen sah ich, dass nur noch ein Viertel des Krankenhaus stand. Mein Herz zerriss am Schmerz.

„Michael!“ Meine Stimme glich nicht mehr als einem Piepsen.

Michael und Samael hatten sich bereits etwas von Krankenhaus entfernt und trotz Schmerzen holte ich sie ein.
Wieder wusste ich nicht, was ich unternehmen könnte. Die anderen Engel meines Chores hatten sich noch immer nicht blicken lassen, die Umgebung im Umkreis von einem Kilometer war zerstört worden.

Sie schlugen hart aufeinander ein. Ich sprang zwischen sie, versuchte, Samael wegzuziehen. Doch ich konnte nicht viel dadurch erreichen, ich war geschwächt und er viele Ränge höher als ich – trotzdem schaffte ich es, ihn wegzureißen und er stolperte einige Meter zurück.

Ich drehte mich um und schrie: „Michael! Sieh, was ihr angerichtet habt! Sieh, was DU angerichtet hast!“

Seine Augen wurden klarer und er schaute auf das Chaos und die Zerstörung um sich herum. Dann öffnete er benommen den Mund.

Hinter mir lachte Samael.

„Eine hübsche Zerstörung, nicht wahr?“

Als ich mich zu ihm umdrehte, grinste er.

„Ich wollte eigentlich noch mehr erreichen, aber so sieht es auch nicht schlecht aus.“

Fassungslos und nach Luft japsend starrte ich ihn an.

„Das Leid der Menschen bereitet dir Schmerzen zu“, stellte er fest und grinste, während er meinen halbverbrannten Körper betrachtete, der nur sehr langsam im Vergleich zu sonst heilte.

„Es ist erstaunlich, dass du geblieben bist, obwohl wir dich nicht hier haben wollten. Dass du die Einzige bist, die überhaupt hier ist. Wo sind denn deine Brüder und Schwestern? Ich habe gehört, wie du sie gerufen hast. Also, wo sind sie? Haben sie sich in ein Loch verkrochen?“

Er kam immer näher auf mich zu. Ich versuchte, stark und selbstbewusst zu wirken, doch ich fühlte mich schwach und schlecht dafür, dass meine Brüder und Schwestern wirklich nicht gekommen waren, weil sie zu feige waren.

„Was suchst du noch hier, ha?“, brüllte er mich an.

Ich tat unwillkürlich einige Schritte zurück und zuckte zusammen.

„Wieso bist du noch hier?“, brüllte er noch lauter.

Dann seufzte er und drehte sich um. Erschrocken stand ich noch da, als er sich plötzlich umdrehte und mich brüllend gegen einen Baum schleuderte.

Kurz wurde mir schwarz vor Augen, aber als ich wieder einigermaßen klar sehen konnte, sah ich wie Samaels und Michaels Kampf von Neuem begann. Verzweifelt schüttelte ich den Kopf. Die beiden würden mit der Zerstörung, hervorgegangen aus ihrem Kampf, weitermachen.

Wieder richtete ich mich aus den Splittern des Baumes auf, um sie aufzuhalten. Doch im selben Moment kollidierte Michael mit Samael und hielt ihn fest, als ein Licht aus ihm heraus zu kommen schien. Es wurde immer heller und blendete mich immer mehr, als ich stolpernd auf sie zu rannte. Und dann explodierte das Licht und im selben Moment verschwanden auch Michael und Samael.

Die Druckwelle der Lichtexplosion katapultierte mich wieder zurück und ich flog in einem unglaublich schnellen Tempo immer weiter durch die Luft, bis ich mit dem Kopf gegen die Trümmer des Krankenhaus krachte. Mit einem Schlag wurde alles schwarz.

SECHS - Jetzt war ich einem Nervenzusammenbruch nahe

 

Nach einer scheinbar endlosen Dunkelheit kam ich wieder zu mir. Und kaum war ich wach, da spürte ich wieder den Schmerz anderer Menschen in mir.

Meine Augen waren von einer zur anderen Sekunde geöffnet und ich richtete mich sofort auf. Als ich auf das weiße sterile Bett sah, auf dem ich lag, stellte ich fest, dass ich im Krankenhaus war.

War das Krankenhaus nicht zerstört worden?

Ich stolperte aus dem Bett, als ich den Stoff weißer, leicht dreckiger Kleidung an mir bemerkte, der meinen sich heilenden Körper verdeckte. Eine Infusionsnadel steckte auch in mir. Ich zog sie aus meinem Arm und legte sie weg.

Ich schob den weißen Stoff zur Seite und betrachtete die Brandwunden. So schlimm wie davor sahen sie zwar nicht aus – ich hatte keine offene Wunde mehr und meine Haut an diesen Stellen war nun lederartig – allerdings brauchte dieser Heilungsprozess deutlich länger als der mancher anderer Wunden. Aber da dieser Lichtball der eines Engels gewesen war, war es nicht untypisch, dass von ihnen verursachte Wunden länger zum Heilen brauchten. Also bezweifelte ich, dass meine Haut noch in den nächsten vierundzwanzig Stunden wieder makellos sein würde.

Es war stockdunkel draußen. Die einzige Lichtquelle kam aus dem Flur, wo manchmal einige meiner Kollegen und Unbekannte in Arztumhang hin und her eilten.

Ich trat mit nackten Füßen raus. Staub und Dreck blieb an ihnen kleben.

Schaute ich nach links, so ging der Gang dort weiter in andere Zimmer. Schaute ich allerdings nach rechts, so endete der Gang irgendwann abrupt im Trümmern. Kühle Nachtluft wehte von dort ins Krankenhaus hinein.

Wenn einer der fremden Arztkittelträger an mir vorbeilief, kümmerten sie sich nicht um mich. Stattdessen eilten sie in andere Räume direkt neben mir. Und ich brauchte nicht hinzugehen, um zu wissen, wieso sie dorthin rannten. Denn ich fühlte, wie dort das reinste Chaos herrschte. Mehr als die Hälfte der Menschen dort schwebte in Lebensgefahr, der Tod war allgegenwärtig. Es war wie am Anfang der Apokalypse, als die Erzengel uns verlassen hatten: So viel Schmerz und so viel Tod – ich konnte kaum atmen.

Ich lief mit einem der Ärzte mit, wollte helfen. Er bemerkte mich aus Stress gar nicht.

Als ich in einem der Zimmer war, tat es mir in meiner Brust noch mehr weh als zuvor. Ich hatte seid dem Wiederauftauchen der Engel auf die Erde nicht mehr mit so viel Tod gerechnet und doch lagen jetzt rechts neben mir mindestens zehn Leichen, alle mit einem einzigen großen Tuch verdeckt – und das allein in diesem Zimmer.

Währenddessen standen direkt daneben sechs Liegen, auf denen Menschen lagen, die unbeschreibliche Quälen erlebt haben mussten.

Ich stolperte auf den Nächsten zu und hielt meine Hand an seine Stirn. Seine Schmerzen trugen sich nun etwas auf mich über. Er quälte sich zwar nicht so sehr wie die anderen und doch war er dem Tod so nah wie kein anderer. Er hatte dieselben Brandwunden wie ich, aber seine heilten nicht mehr. Entsetzt stellte ich fest, dass er sterben würde.

„Nein“, flüsterte ich.

Er war eigentlich nur wegen eines Beinbruchs im Krankenhaus gewesen, er hatte niemals in Lebensgefahr geschwebt. Doch jetzt …

Ich legte meine Hand auf den Teil seines unversehrten Arms und wollte ihn heilen. Er hatte es nicht verdient, er musste leben!

Aber als ich plötzlich merkte, dass all meine Kraft für meine eigene Heilung verbraucht war, war ich entsetzt.

"Nein!", wiederholte ich. "Nein!"

Eine meiner Kolleginnen, Mary, bemerkte mich, während sie neben einem Patienten stand, der von den abgebrochenen Betonwänden getroffen worden war. Wahrscheinlich würde er es gerade noch überleben, aber trotzdem sah es im Moment nicht sehr gut für ihn aus.

„Opal!“ Als sie sich versicherte, dass der Patient kurz alleine gelassen werden konnte, lief sie auf mich zu.

Ich schlug mir dir Hand an dir Stirn. „Ich kann ihn nicht heilen!“

„Du musst ihn auch nicht heilen“, beruhigte sie mich. „Du bist selbst verletzt!“

„Aber ich könnte ihn heilen, wenn ich nicht selbst verletzt wäre!“, entgegnete ich zittrig.

Mary war schockiert über meinen Zustand. Wenn es irgendeinen Notfall gab, war immer ich diejenige gewesen, die die Ruhe bewahrt hatte. Jetzt war ich einem Nervenzusammenbruch nahe.

„Das hätte alles nicht passieren sollen! Ich hätte es verhindern müssen!“ Als ich mit den Händen durch meine noch verbliebenen Haare fuhr, zitterten sie.

„Beruhig dich! Du kannst nichts dafür, du hättest nichts verhindern können.“ Sie berührte mich an meinem unverletzten Arm. „Die Kopfverletzung setzt dir stark zu. Leg dich lieber wieder hin. Du kannst jetzt nichts mehr tun.“

Ich atmete tief durch und versuchte einen klaren Kopf zu kriegen. Aber als ich mir die Haare aus dem Gesicht streichen wollte, merkte ich, wie meine Hand nur noch heftiger zitterte.

„Ich habe keine Ahnung, was das war, aber das hättest du als normaler Mensch niemals aufhalten können. Genauso wenig wie andere Naturkatastrophen.“ Beruhigend strich sie mir über den Arm. „Wobei ich mich wirklich frage, was das für eine Naturkatastrophe war“, fügte sie noch etwas verwirrt hinzu.

Ich hätte es verhindern müssen. Aber Mary hat ja keine Ahnung von der Wirklichkeit.

Wieder atmete ich durch und versuchte mich zu beruhigen.

„Du musst dich jetzt hinlegen“, meinte Mary müde. „Du hast eine ziemlich schlimme Kopfverletzung.“

„Habe ich nicht“, widersprach ich. Ich konnte keine Kopfschmerzen fühlen und strich mir zur Sicherheit noch über den Hinterkopf.

„Doch“, sagte Mary. „Jack hat gesagt, er hat dich auf den Trümmern des Krankenhauses gesehen und du hattest eine schlimme Kopfverletzung.“

Mir fiel wieder ein, dass ich ziemlich hart mit den Kopf gegen den Beton gestoßen bin. Aber da diese Verletzung nicht von einem Engel kam, war sie schnell verheilt.

Mary ging hinter mich und schob meine dunklen Haare zur Seite, um sich meinen Hinterkopf anzusehen. Aber auch sie entdeckte nichts.

Irritiert wandte sie sich wieder mir zu. „Das verstehe ich nicht. Jack hat jemanden zum Nähen der Wunde zu dir gerufen. Eben hat er noch gesagt, vor wenigen Minuten erst hat er dich reingebracht und hat sich um deine Brandwunden gekümmert.“

Ich schaute an mir runter. Er hatte dies auch ziemlich gut getan. Die verbrannte Kleidung hatte er gegen ein weißes Krankenhaushemd gewechselt und ich schien mich zu erinnern, dass kühles Wasser zum Saubermachen der Wunden neben dem Bett gestanden hatte – allerdings nicht mehr klar, sondern mit Blut versetzt.

„Wann war das?“, fragte ich.

„Gerade eben, das habe ich doch gesagt“, erwiderte Mary. Dann eilte sie wieder hektisch auf einen Patienten zu, um ihm zu helfen.

Ich stellte fest, dass ich nicht sehr lange bewusstlos gewesen bin. Der Kampf hatte kurz nach acht Uhr abends Ortszeit begonnen, vielleicht hatte er um halb neun geendet. Jetzt war es es zehn Uhr. Und Jack musste mich vor höchstens zehn Minuten draußen entdeckt haben, auf der Suche nach weiteren Opfern.

Ich stellte mich neben Mary, beobachtete ihre Bewegungen, die mich beruhigten. Schließlich begann auch ich, mitzuhelfen. Das Zittern meiner Hände hatte jedoch nicht aufgehört.

Draußen auf den Fluren rannten noch immer Menschen in Kitteln hin und her, man hörte ihre hektischen Schritte und weiter weg Schmerzensschreie der Menschen. Ich versuchte mich nicht darauf zu konzentrieren, sondern den Menschen hier so viel ich konnte zu helfen.

Nach nur vier Minuten starben jedoch zwei, darunter auch der eine Mann, dem ich anfangs unbedingt noch helfen wollte, aber nicht konnte. Die anderen waren jedoch so ziemlich aus der lebensbedrohlichen Situation hinaus, weswegen Mary in andere Zimmer rannte, um dort auszuhelfen. Mich zwang sie zu bleiben, falls es hier noch Probleme geben würde. Ich merkte, dass ihre Absicht dahinter war, mir die Möglichkeit zu geben, mich auszuruhen, da ich ihrer Meinung nach selbst ein Patient war, dem geholfen werden musste. Ich war zu erschöpft, um ihr zu widersprechen und ihr zu folgen.

SIEBEN - War es falsch, sich Seelenfrieden zu wünschen?

 

Ich strich ab und zu der Frau neben mir ein feuchtes, kaltes Tuch übers Gesicht, damit ihr nicht mehr so heiß war, doch mehr hatte ich nicht mehr zu tun und somit lehnte ich mich an die Fensterbank und schloss die Augen. In mir pulsierte der Schmerz der leidenden Patienten. Ich wollte, dass er aufhörte, aber ich konnte nichts mehr machen, ich war zu schwach, konnte kaum mehr auf meinen eigenen Beinen stehen. Ständig musste ich mich dazu zwingen, aufzustehen und den Menschen in den kleinen Dingen zu helfen.

Plötzlich stürmte jemand in das Zimmer und ich schlug die Augen auf. Jack schaute sich hektisch um, ehe seine Augen mich fanden und er sich entspannte. Doch gleich darauf wurde sein Körper wieder angespannt.

„Was tust du hier?“, fragte er. Seine Stirn glänzte vor Schweiß, seine Haare hingen ihm nass ins Gesicht.

Irritiert sah ich ihn an. „Ich helfe.“ Das tat ich jetzt zwar weniger, als ich vorgehabt hatte ... aber ich tat es.

„Dir muss selbst geholfen werden!“, erwiderte er, er wurde leiser, als er merkte, dass er dadurch jemanden aufgeweckt hatte.

„Ich habe dich gesucht!“, flüsterte er laut. „Als ich dir den Doktor zum Nähen geschickt habe, weil ich dachte, du würdest gleich vor meinen Augen sterben, warst du plötzlich nicht mehr da, als der Doktor ankam. Weißt du, wie sehr ich mich erschrocken habe, als er gesagt hat, du warst nicht im Zimmer? Ich habe gedacht, man hat sich zu den anderen Leichen getragen!“

„Aber ich lebe doch. Und ich habe keines Wegs in Lebensgefahr geschwebt – selbst wenn, hättest du nicht nach mir suchen brauchen. Kümmere dich nicht um mich, es gibt so viele andere, die deine medizinische Hilfe bräuchten.“

Jack stöhnte und fuhr mit der Hand seine nassen Haare aus dem Gesicht. „Du wärst vor meinen Augen fast gestorben! Du hast Brandwunden vierten Grades und eine Kopfverletzung, von der du eigentlich hättest sterben sollen. Wie kann es dir dann jetzt gut gehen?“

Ich stockte. „Ich habe keine Kopfverletzung.“

„Natürlich hast du die und sie muss sofort genäht werden!“ Hektisch lief er auf mich zu.

„Nein, ich habe keine“, wiederholte ich eindringlich. Ich drehte mich um und schob meine Haare zur Seite.

Mitten in seinen Bewegungen blieb er stehen, als er nichts als eine heile Kopfhaut mit dunklen Haaren darauf entdeckte.

„Das musst du dir eingebildet haben“, sagte ich. Es fühlte sich nicht gut an, das zu sagen – ihn anzulügen, zu sagen, dass seine optischen Wahrnehmungen ihn getäuscht hatten. Aber es ging nicht anders.

„Ich kann mir das aber nicht eingebildet haben! Ich hab es doch gesehen!“ Mit großen Augen starrte er mich an, während ich mich wieder zu ihm umdrehte.

„Aber wie du siehst, habe ich keine Verletzung am Kopf.“ Ich holte tief Luft. „Es ist viel passiert. Da ist es normal, wenn du Dinge anders siehst, als sie wirklich sind.“

Jack starrte mich noch immer an, ohne zu wissen, was er glauben sollte.

Und ich tat das, was jeder Mensch an meiner Stelle tun würde. Ich nahm ihn in die Arme und strich ihm beruhigend über den Rücken.

„Es ist viel Seltsames und nicht Erklärbares geschehen. Ich bin genauso verwirrt und frustriert über die letzten Stunden wie du. Und ich weiß auch nicht, was ich glauben soll und was nicht.“

Das entsprach der vollen Wahrheit. Ich war verwirrt und frustriert und fragte mich ununterbrochen, wieso Samael uns das angetan hatte. Die letzten Wochen ging es noch bergauf mit der Situation auf der Erde, endlich wollten die Erzengel wieder zurückkehren. Doch nun kam uns Samael in die Quere und Michael drehte durch, weil er es wahrhaftig zugelassen hatte, dass der schreckliche Kampf auf der Erde stattfand.

Jack erwiderte verspätet die Umarmung. Erst zögerlich, dann immer fester schlang er seine Arme um mich, als ob er ein Boot in einem großen Meer gefunden hatte, das ihm wieder Hoffnung spenden konnte.

Neben uns stöhnte ein Patient. Sofort löste ich mich von Jack und eilte zu ihm rüber.

Als ich ihm etwas Wasser gegeben und seine Verbände gewechselt hatte, drehte ich mich zu Jack, der seine Position nicht verändert hatte und etwas neben sich da stand.

Beruhigend strich ich ihm über den Arm. „Heute war ein schrecklicher Tag – für uns alle. Aber nun ist es Zeit, sich wieder zu fassen und weiterzumachen. Nicht nur für uns, sondern auch für die anderen. Für die, die wir lieben. Und für die, die uns brauchen.“

Tränen sammelten sich in Jacks Augen, doch er hielt sie tapfer zurück.

„Deine Schwester braucht dich, dein Zusammenbruch würde auch ihr schaden. Und genau in diesem Moment, genau jetzt brauchen dich die Patienten.“

Er nickte benommen. „Ja.“

Ich spürte seinen inneren Konflikt, die Entscheidung zwischen alles hinwerfen und aufgeben ... oder die Verantwortung, die er gegenüber seinen Mitmenschen trägt.

Manchmal, aber nur manchmal, so führe ich denselben inneren Monolog, bei dem ich mich immer so schlecht fühlte, weil ich es überhaupt wagen konnte, so etwas zu denken.

Ich könnte all diesen Schmerz hinter mir lassen, all die Menschen, und an Samaels Seite die Erde zu einem neuen Paradies machen. Aber konnte ich auch wirklich die Menschen alleine und das schreckliche Schicksal über sie ergehen lassen?

Nein. Die Antwort lag in meinen Genen, ich war programmiert wie ein Computer, der genau das ausspuckte, was ihm vorgeschrieben wurde.

Es war richtig. Das wusste ich. Aber war es denn falsch, sich selbst keinen Schmerz mehr und stattdessen den eigenen Seelenfrieden zu wünschen?

„Es war einfach ein harter Tag. Ich bin nur verwirrt“, sagte Jack monoton und riss mich damit aus meinen Gedanken. „Du hast recht. Ich muss stark sein, für mich und für die anderen.“ Während er das sagte, versuchte er sich selbst davon zu überzeugen.

„Der Tag war wirklich nicht einfach. Aber er ist so gut wie vorbei. Wie viel Uhr ist es jetzt? Zweiundzwanzig, dreiundzwanzig Uhr?“

Er nickte. „Ja, so ungefähr.“

„Und mit dem neuen Tag können wir wieder von vorne anfangen. Wir können wieder Hoffnung schöpfen. Dieser Tag hat nur mit Schmerz und Tod geendet? Dann freuen wir uns, dass er zu Ende ist. Wir können daran nichts mehr ändern, denn es ist Vergangenheit. Aber wir können versuchen, den morgigen Tag besser zu machen.“

Als Jack mir in die Augen sah, stahl sich sogar ein kleines Lächeln in sein Gesicht. Erneut nickte er. Dann nahm er mich in den Arm, ehe er die Schultern straffte und sich auf den Weg machte.

„Ich schaue nach den anderen. Und du legst dich hin. Auch wenn ich mit der Kopfverletzung falsch gelegen habe, so hast du trotzdem schlimme Brandwunden. Ich frage mich, wie du noch stehen kannst und mich überhaupt umarmen konntest. Also leg dich bitte hin und schlaf etwas.“

Ich nickte und er ging, auch wenn er nicht ganz überzeugt davon war, dass ich seiner Bitte nachkommen würde.

Wie sollte ich denn schlafen, wenn ich es schlichtweg nicht konnte?

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 04.04.2016

Alle Rechte vorbehalten

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