Etwas ruckelte. Ich spürte, dass ich irgendwo lag und dass es sich hoch und runter bewegte, aber ich konnte die Augen nicht öffnen, um zu schauen, wo ich mich befand. Zu groß war der Schmerz, den ich in Kopf und Nacken verspürte.
Ich wollte mich bewegen, aber ich war irgendwie bewegungslos. Bewegungslos wie eine Statue. Außerdem konnte ich meinen Körper nicht einmal mehr spüren.
Meine Augen konnte ich trotz Bemühungen nicht öffnen und ich fühlte mich benebelt wie in einem Rausch. Ich stöhnte leise auf, was alles aber nur noch schlimmer machte.
Plötzlich spürte ich eine kaum wahrnehmbare Bewegung neben mir. Kalte Finger schlossen sich um meinen Kopf und ich war wieder weg.
Der Nebel, der in meinem Kopf gewesen war, lichtete sich langsam. Ich nahm langsam wieder etwas wahr.
Ich saß. Mein Rücken lehnte sich an etwas Kaltes, das meiner Körpertemperatur ziemlich identisch war.
Leider spürte ich durch den schwindenden Nebel wieder meine Schmerzen an Hals und Kopf. Ich stöhnte laut auf und öffnete gequält die Augen, die nicht weiter als zu zwei kleinen Schlitzen aufgingen.
Alles was ich sah, waren nur sehr verschwommene Umrisse. Ich saß in einem kleinem grauen Raum. Fenster oder Licht hatte es nicht.
Die Erkenntnis, an das, was passiert war, traf mich wie ein Schlag.
Wieso lebe ich noch? Man hat mich doch umgebracht! Oder doch nicht? Aber...
Verwirrt versuchte ich mich an irgendwas Anderes zu erinnern, dass nach meinem anscheinenden Tod passiert war. Aber da war nur die Erinnerung daran, dass ich irgendwo gelegen habe... Ich vermutete, es war in einem Auto, bevor ich wieder abgeschaltet hatte.
Was suchte ich denn noch hier? Hatte Clas dem einen großen Muskelpaket, der mich festgehalten hatte, nicht befohlen, mich umzubringen? Hatte er mir nicht meinen Kopf abgerissen?
Verdammt viele Fragen, die ich nicht beantworten konnte, schwirrten wild durcheinander durch meinen Kopf. Meine Kopfschmerzen schienen sich zu verschlimmern.
Als ich versuchte mich zu konzentrieren, wurde meine Sicht etwas besser. Die Umrisse wurden immer schärfer und ich nahm immer mehr war. Der Raum, in dem ich saß, war vollkommen mit irgendeinem Metall ausgekleidet. Weder Möbel noch sonst welche Ausstattungen standen hier. Es stank hier nach Chemikalien. Ich rümpfte meine Nase.
Links von mir war eine Tür. Ich sprang auf und ignorierte die starken Schmerzen, die sich anfühlten, als ob in meinem Inneren jemand, nein, tausende Jemande mit einem Presslufthammer versuchten, meine Schädeldecke von Innen aufzubrechen.
Ich rüttelte daran. Verschlossen. Ich trat ein paar Mal kräftig gegen sie. Die Tür erzitterte nicht einmal.
Was ist das denn jetzt für eine verdammte Scheiße?
Ich hämmerte mit meinen Fäusten noch mal dagegen, aber es brachte mir nicht das erwartete Ergebnis.
„Hallo?“, schrie ich ein Mal laut und hoffte, jemand würde mich hören.
Obwohl... was würde es mir bringen? Der, der mich hier eingeschlossen hatte, würde sicher nicht einmal auf die Idee kommen, mich hier rauszuholen. Wieso sonst hatte er mich dann eingesperrt?
Und da waren sie wieder, meine Kopfschmerzen, die mich daran erinnerten, dass ich nicht alleine war.
Seltsamerweise hörte ich trotzdem Schritte, die schnell in meine Richtung liefen. In einer Sekunde stand die Person vor der Tür. Anstatt etwas zu machen oder zu sagen, stand der große Mann, den ich nicht ein mal kannte, einfach nur so da und wartete auf etwas.
„Hallo?“, fragte ich irritiert und starrte auf die Tür.
„Hallo“, antwortete der Mann.
Ich hob aus Verwunderung, das er überhaupt etwas machen konnte, außer rumzustehen, meine Augenbrauen.
„Hey, also ich habe hier ein kleines Problem“, schilderte ich ihm durch die Tür meine Situation und versuchte lieb zu klingen. „Könntest du mir vielleicht die Tür hier öffnen?“
„Nein.“
Ich runzelte die Stirn.
„Gut, dann helfe ich mir hier selber raus!“, murmelte ich und schlug gegen die Wände.
„Das wird dir nichts bringen.“
Ich wurde wütend und warf mich mit viel Wucht gegen die Tür. Sie bekam nicht mal eine kleine Delle und man hörte lediglich ein dumpfes Geräusch, als ich gegen die Wand prallte.
„Und wieso nicht?“ Ich schlug nochmal auf die Tür ein.
„Weil der Raum mit einem Schutzzauber belegt ist. Von Innen lässt sich die Tür weder öffnen noch zerstören, genauso wie bei den Wänden.“
Wieder gab die Tür nicht nach. Aufgeben kam trotzdem noch nicht in Frage.
„Und wieso besteht der Raum aus Metall und nicht aus Stein, wenn der Schutzzauber sowieso nichts zerstören lässt?“
„Es war fraglich, ob der Zauber auch gegen deine Gabe standhalten kann. Sicher ist sicher.“
Ich warf mich nochmal gegen die Tür, während die Schmerzen in meinem Kopf andere Orte zum wehtun gefunden hatten.
„Wer hat den Zauber eigentlich gelegt?“ Die Tür wollte mal wieder nichts für mich tun und blieb unversehrt.
„Ein Vampir mit der Gabe, Schutzzauber zu legen.“
Das musste man ihm lassen: Er konnte durchgehend nur knapp antworten. Ich konnte aber von Glück reden, dass er nicht nur mit „Ja“ oder „Nein“ antwortete.
„Und wieso willst du mich nicht rauslassen?“
„Weil Clas es mir so befohlen hat.“
Die Antwort lies mich stutzen. Also war es Clas' Idee gewesen, mich hier einzusperren und er wollte mich hier wohl verrotten lassen.
„Du gehörst wohl auch zu denen, die alles tun, was der allzu tolle Clas einem sagt.“
„Ja, und ich empfehle es dir, es auch zu tun. Sonst kommst du hier nicht mehr raus.“
War das etwa eine Drohung?
„Was soll das heißen?“
„Das heißt genau das, was ich gesagt habe.“
Na toll! Und was jetzt?
„Gibt es vielleicht noch etwas was ich wissen sollte?“ Langsam machte die Situation hier mich verrückt.
„Vielleicht, dass du hier eine Weile drinnen bleibst und dass du hier drinnen kein Blut hast. Den Rest kannst du dir zusammen reimen.“
„Was?!“, schrie ich auf.
Ja, das konnte ich mir zusammenreimen. Clas hatte vor, mich hier verhungern zu lassen.
Wenn ich hier über eine Woche bleiben würde und das ohne Blut, dann würde ich laut Anthony ziemliche Schmerzen erleiden. Mein eigenes Gift würde mich selbst auffressen, da ich ihm nichts zu Essen geben würde. Und es würde fünfzig Jahre dauern, bis die Schmerzen überhaupt aufhören würden.
Wie lange hatte Clas vor, mich hier leiden zu lassen? Ich hatte immerhin nicht mein ganzes Leben Zeit – also nicht meine Ewigkeit. Und ich wollte doch mindestens noch ein Mal meine Familie wiedersehen, bevor...
Verdammt, wieso habe ich an Anthonys Geburtstag das gesagt und all das getan?
Ich hatte mir sozusagen mein eigenes Grab geschaufelt. Erst war ich durchgedreht und hatte fast Lissy getötet, dann sagte ich Clas meine ehrliche Meinung über ihn – und die war nicht gerade nett. Und nun rächte er sich an mir, in dem er mich verhungern lies.
Das hast du ja toll gemacht, Milana! Das nächste Mal wirfst du dich lieber gleich ins Feuer. Tut weniger weh, so zu sterben, als zu verhungern!
Ich spürte, dass der Mann vor der Tür verschwunden war und ich setzte mich verzweifelt gegenüber der Tür auf den Boden hin. Starrte auf meine nackten Füße und auf mein ehemals rotes und schönes, jetzt verschmutztes und zerissenes Kleid.
Hier würde ich wohl eine ganze Weile ausharren müssen. Zeit, Bekanntschaft mit dem Raum zu machen. Wenn wir schon eine lange Zeit miteinander verbringen mussten, dann mussten wir wenigstens Freundschaft schließen.
Hallo, ich heiße Milana und wie heißt du?
Ich hatte gedacht, es gab nichts Schlimmeres, als auf seinen Tod zu warten.
Ich hatte mich eindeutig geirrt. Drei Tage, nach dem ich aufgewacht war, waren beinahe vorüber und mein Hunger meldete sich. Wenn ich alles richtig berechnet hatte, dann war ich ganze drei bis vier Tage bewusstlos gewesen, bevor ich in der Metallkammer zu mir kam.
Ich wusste nicht, ob sich der Hunger schon nach sechs oder nach sieben Tagen meldete, aber mir war klar, das ich in den nächsten Tagen richtige Schmerzen erleiden musste. Und ich litt bereits schon jetzt, allein durch die Gedanken an die Vergangenheit und die Zukunft.
Die Schmerzen wurden von Stunde zu Stunde schlimmer. Am Anfang war da nur das Hungergefühl, das sich aber schnell in Brennen des Rachens änderte. Und von Stunde zu Stunde brannte bei mir immer mehr, immer schlimmer.
Das Brennen änderte sich dann schlussendlich in Zerreißen und Auffressen des Inneren. Jede Sekunde fühlte es sich so an, als ob man mir irgendein Organ oder Körperteil von meinem Körper herausreißen würde, auf die brutalste Art und Weise. Jede Sekunde. Mein Inneres schien mich selbst aufzufressen und ich wusste nicht ob ich von Innen oder von Außen zu zerfallen schien.
Ich wollte schreien, aber ich konnte nicht anders als mich krümmend auf dem Boden zu wälzen. Das Schreien würde mir nichts weiter bringen.
Ich versuchte mich vom Boden hochzuziehen und mich sitzend an die Wand zu lehnen. Stöhnend schaffte ich es bis hierhin. Die Schmerzen waren so schlimm, dass sie gar nicht mehr schlimmer werden konnten. Meine Augen konnte ich vor Schmerzen schon gar nicht mehr öffnen.
„Ich halte das keine Sekunde mehr länger aus!“, schrie ich. Ich klang wirklich schrecklich mit meinem Krächzen, das von meinem brennendem Rachen ausging.
Ich spürte über mir Vampire laufen und sich über mein Gestöhne und mein Geschrei aufzuregen. Ich grinste leicht. Ja, das war meine Art, Schadenfroh zu sein. Selbst in dieser Situation. Und die Idee, zu schreien kam mir gar nicht mal so übel vor, wenn ich gleichzeitig jemanden nerven konnte. Zur selben Zeit konnte ich sogar meine Wut auf alles und auf wieder nichts rauslassen.
Ich kreischte laut auf. Es klang wirklich schrecklich.
Wie hoch ich kreischen konnte! Ich konnte es gar nicht fassen. Meine eigenen Ohren fingen an zu klingeln.
Ich kreischte nochmal, diesmal richtig lange, fast eine Minute, und lies dabei alles raus, was sich jemals bei mir angestaut hatte und ich spürte wie ein paar Fenster über mir zu vibrieren begannen. Genauso wie mein Körper aufgrund der Schmerzen vibrierte.
Ich hatte Spaß dabei. Die Vampire begannen aus dem Raum über mir zu verschwinden, um sich lautstark irgendwo darüber aufzuregen.
Ja, es tat so richtig gut, endlich mal etwas zu lächeln und Spaß zu haben und das, wenn man am Verbrennen war. Anstatt mich auf die Schmerzen zu konzentrieren und sie im Mittelpunkt zu haben, tat es so richtig gut, nur an das Schreien zu denken. Zwar verschwand das Gefühl vom Zerreißen meines Körpers nicht, es wurde sogar immer schlimmer, aber ich konnte es beinahe vergessen. Beinahe.
Ich kreischte noch ein Mal. Und noch ein Mal. Alle Vampire, die mich hörten, also alle, schien es zu stören. Kein Wunder, wenn sogar die Fenster dadurch vibrierten. Ihnen mussten wohl schon allen die Ohren wehtun. Meine taten wahrscheinlich auch schon weh, aber ich konnte es einfach nicht spüren, da ich schlimmere Schmerzen ertragen musste. Viel schlimmere.
Ich lachte wieder halbherzig auf, als ich hörte, wie jemand die Hände auf die Ohren schlug.
Ich fühlte mich auf irgendeiner Weise müde. Nur schade, dass ich nicht schlafen konnte. Ich kannte tausend Momente in meinem Vampirleben, in denen es einfach einfacher gewesen wäre, wenn ich schlafen könnte. Die Hälfte der Momente führt auf die letzten acht Tage zurück.
Es war echt wie verflucht. Früher hatte ich mir gewünscht, ich hätte Schlaf nicht nötig. Was damals auch irgendwie besser gewesen wäre, mit dem Schulstress und so. Aber jetzt...
Verflucht lange war ich hier drin schon eingesperrt. Ich nannte diese Grotte schon „die Hölle“. Ich brannte im Feuer und konnte gar nicht mehr hier raus.
Ich konnte die Tage schon gar nicht mehr zählen, zu groß waren die Schmerzen, die ich jeden Tage hatte ertragen müssen, die mich jede Sekunde gequält hatten. Höllisch gequält hatten. Ich schwankte zwischen elf und dreizehn Tagen, aber ich konnte nichts genau bestimmen.
Was eine Sache der Unmöglichkeit war. Menschen konnte das vielleicht passieren, aber auf keinen Fall Vampiren.
Das zeigte schon genug, wie schwach ich in Wirklichkeit. Wie viel Kraft mir der Hunger raubte. Und das nach nicht mal zwei Wochen. Ich hatte fast keine anderen Gedanken, als die, an die Schmerzen, die mich von Innen auffraßen. Es war schwer, jede Sekunde zu überleben. Fast würde ich am liebsten einfach nur sterben. Dann hätte ich alles einfach hinter mir.
Aber genau das war ja auch das Problem. Ich würde alles hinter mich lassen. Meine Familie, mein Leben, mein altes, wie auch mein neues... Und Anthony.
Ich sollte aufhören, an ihn zu denken, aber so einfach war das nicht. Jedes Mal, wenn das Brennen in meinem Körper meine Gedanken nicht komplett beherrschte, musste ich an ihn denken.
Ich hatte ihn so enttäuscht an seinem Geburtstag. Falscher konnte das, was ich getan hatte, gar nicht sein. Schlimmer konnte sein Geburtstag gar nicht zu Ende gehen. Dümmer konnte nicht einmal gehandelt werden, nicht dümmer, wie ich es getan hatte.
Dabei sollte das sein schönster Tag in seinem Leben sein, genau so wie es alle geplant hatten. War eigentlich klar, dass ich das versauen musste. Typisch Milana!
Ich verdrehte meinen Kopf und die Schmerzen kamen wieder heftiger, so heftig, dass sie mir kein Raum für andere Gedanken ließen.
Ich fing wieder an zu schreien. Es half einfach meine Wut zu bändigen. Es war viel einfacher, als bei den Schmerzen aufzustehen und gegen die Tür zu hämmern.
Ich stampfte mit meinen Füßen wie verrückt auf den Boden und fing wieder an, hysterisch zu schreien.
Ich wollte nicht mehr. Ich konnte nicht mehr. Ich wollte, dass das ganze endlich aufhörte. Ich fühlte mich wie in einer Gummizelle für Irre, deren Arme nach hinten gebunden wurden, damit sie sich nicht mehr bewegen konnten. Nur dass ich keine Zwangsjacke anhatte, die mich auf dem Boden hielt. Es war der Hunger, der mich auffraß.
„Clas, du Arschloch! Lass mich endlich hier raus!“, schrie ich und kreischte danach nochmal. Ich konnte es hier drinnen nicht mehr aushalten.
„Hast du gehört, du Feigling? Bist du zu feige, um dich mir gegenüber zu stellen? Lass mich hier rauus!“
Und so ging das noch ziemlich lange weiter.
Stumme Tränen liefen meine Wangen hinunter.
Ich will das nicht mehr! Ich will hier raus!
Die Schmerzen waren zwar nicht schlimmer geworden, aber nach dem Maßstab der Schrecklichkeit der Schmerzen stand ich schon lange über der Grenze zur Unmöglichkeit. Jede Sekunde fühlte es sich so an, als ob in mir irgendetwas explodierte.
Was ich alles dafür geben würde, dass die Schmerzen einfach nur aufhörten. Relativ viel, wenn auch nicht alles, wenn ich so nachdachte.
„Bitte!“, rief ich heulend mit schwacher Stimme. „Lass mich raus! Ich halt das nicht mehr lange aus. Bitte!“
Die Bitte war an Clas gerichtet. Auch wenn es kaum zu glauben war, vor allem nicht, nachdem ich ihn ein paar Tage zuvor so beschimpft hatte. Aber ich würde sogar sein verdammter, Fuß küssender Diener werden und ihm gehorchen, wenn er mich hier nur rauslassen würde.
Ich wollte einfach nur hier raus.
Ich heulte laut auf, als die Schmerzen plötzlich heftiger wurden. Es war unmöglich, dass sie schlimmer werden konnten, aber so wie es aussah, konnte es sehr wohl so werden.
Schmerzen überdimensionalen Ausmaßes bohrten sich tief und immer tiefer in meinen Körper. Ich schien beinahe zu zerbrechen unter der Last der Schmerzen, die auf meinen Körper drückte.
Wieder flossen Tränen aus meinen Augen und sie wollte gar nicht mehr aufhören zu fließen. Laut schluchzte ich auf und fing wieder an, um Gnade zu betteln, während ich krampfend auf dem Boden lag.
Ich spürte, wie jemand auf meine persönliche Hölle zulief, mit der ich mich hatte anfreunden müssen. Ich versuchte meine Augen zu öffnen, aber das stellte sich als weitaus schwieriger heraus als gedacht. Immerhin waren meine Augen schon seit einer Ewigkeit geschlossen gewesen und sie wieder zu öffnen, war eigentlich vergleichsweise ein kleines Problem, wenn man meine anderen mit dazu zählte.
Seit dieser Ewigkeit hatte ich nichts gesagt, nicht geschrien, mich nicht bewegt und nichts anderes getan, als mit geschlossenen Augen an eine Wand gelehnt zu sitzen und die Schmerzen auszuhalten.
Auf die kommenden 50 Jahre!, dachte ich und hob in Gedanken mein Glas und brüllte „Prost!“.
Langsam ließen sich meine Augen zu kleinen Schlitzen öffnen, doch sofort schloss ich sie wieder, da kleine Blitze durch meinen Kopf jagten. Dass ich die überhaupt wahrnehmen kann, bei den Schmerzen...
Dann würde ich eben auf meine anderen Sinne vertrauen müssen. Was ein weiteres Problem darstellte, da sie auf mindestens fünfzig Prozent abgestumpft waren. Trotzdem versuchte ich mich zu konzentrieren.
Wenn ich mich nicht irrte, schloss jemand gerade die Tür auf.
Automatisch verschärften sich meine Sinne. Ich riss die Augen auf und sprang auf die Tür zu. Was aber eher aussah, nach einem Fallen auf die Tür.
Zu spät. Die Tür war bereits wieder verschlossen. Ich nahm die Klinke in die Hand und rüttelte an der Tür. Nichts.
Ich sank auf den Boden und schlug mit dem Kopf auf dem Boden auf.
Jetzt krieg ich auch noch Halluzinationen!
Dieser kleine Kraftakt, mich stolpernd auf die Tür zu stürzen, hatte mir die allerletzte Kraft geraubt, die ich gerade mal ansatzweise besaß. Wieder bewegungslos lag ich auf dem Boden und versuchte mich auf etwas zu konzentrieren, das mich von meinen Schmerzen ablenken lies.
Schmerzen... Blut, Blut, Blut,..
Hatte ich nicht gerade gewollt, mich von den Schmerzen abzulenken? Nein, ich dachte ausgerechnet an den Grund dieser Schmerzen. Blut! Meine Gedanken schwirrten nur noch darum, ich konnte mich auf gar nichts Anderes mehr konzentrieren. Es war, als könnte ich es beinahe schmecken.
Ich streckte meine Hand aus und suchte unwillkürlich nach etwas, aber es brachte mir nichts. Meine Gedanken kreisten sich nur noch um das Eine.
Der leichte Geschmack auf meiner Zunge und der Hauch eines Geruchs lies meine Augen öffnen. Ich suchte den Raum nach Blut ab.
Nein, das kann nicht wahr sein!
Wie ein wild gewordenes Raubtier sprang ich auf und riss den Blutbeutel an mich, der neben der Tür gelegen hatte. Wie hatte ich den nicht bemerken können?
Ich drehte ihn ein bisschen in meiner Hand, um sicher zu gehen, dass ich nicht halluzinierte. Dann steckte ich meine spitzen Eckzähne rein und saugte den Beutel in wenigen Sekunden leer, so schnell, wie ich es bisher noch nie geschafft hatte.
Ich fühlte mich wie jemand, der tagelang in der Wüste herumlief und dann auf eine Wasserquelle traf. Nein, besser! Wie jemand, der gerade zu ersticken drohte, im letzten Moment Sauerstoff bekam. Nein, das war es auch nicht. Man konnte dieses Gefühl einfach nicht beschreiben.
Das Blut floss wie Honig an meiner Kehle runter. Überall, wo es mich berührte, verschwanden die Schmerzen fast augenblicklich. Eine Welle der Euphorie durchströmte mich und ich fühlte, wie das Blut bis in meine Fingerspitzen kam und nur noch Stärke und Wärme hinterließ.
Dann war es doch keine Halluzination gewesen, als ich dachte, dass die Tür aufginge. Es war tatsächlich jemand in die „Hölle“ gekommen.
Ich dachte noch mal an den Moment zurück, wo der Blutbeutel noch voll gewesen war. Ich wollte wieder mein köstliches Elixier haben, dass mir wieder Kraft zum Leben gab.
Das war eindeutig noch nicht genug gewesen, dieser eine Blutbeutel. Immer noch schmerzte mein Körper, auch wenn es viel besser geworden war. Ich wollte wieder mehr.
Meine Gedanken wendeten sich sekundenschnell.
Wieso habe ich Blut bekommen? Welchen Sinn hat es, es mir zu geben?
Wahrscheinlich, weil die fünfzig Jahre schon fast rum sind, ohne das ich es mitbekommen habe, und ich nach diesen fünfzig Jahren eigentlich keine Schmerzen haben sollte. Deswegen haben sie mir das Blut gegeben, nur damit ich die Schmerzen bald wieder habe.
Aber sollte ich jetzt nicht wie eine schimmelnde Leiche aussehen?
Vielleicht kam ich hier bald raus? Am liebsten würde ich Freudensprünge machen; aber was wäre, wenn ich mich irrte?
Nur so als Beweis für mich, dass ich in Wirklichkeit hier nie raus kommen würde und dass das nur eine Wunschvorstellung war, ging ich noch ein Mal zur Tür und wollte versuchen, sie zu öffnen.
Als ich die Klinke runterdrückte, schwang die Tür plötzlich auf. Bewegungslos stand ich hinter dem Türrahmen und schaute auf die aufgeschlossene Tür und den Weg vor mir.
Lass es bitte keine Halluzination sein, dachte ich und streckte meine Hand aus, um zu überprüfen, ob die Tür vielleicht doch noch geschlossen war. Und lass es bitte auch kein Traum sein! Was aber auch nicht sein konnte. Denn ich konnte schlichtweg nicht schlafen. Oder jetzt vielleicht doch? Und wieso hatte ich es vorhin nicht geschafft, die Tür zu öffnen?
Langsam trat ich einen Schritt nach vorne. Und noch einen. Meine nackten Füße berührten jetzt die Grenze zwischen der „Hölle“ und dem Gang in die Freiheit. Der Gang endete zehn Meter vor mir. Beinahe in Lichtgeschwindigkeit war ich am Ende dieses Ganges angelangt, stieß jedoch unangenehm gegen die Wand. Ja, es war sehr ungewohnt, wieder zu laufen. Vor allem so schnell.
Ich lehnte mich erschöpft an die Wand, schaute mich angestrengt um und überlegte, wohin ich jetzt gehen sollte.
Na toll, sobald ein großes Problem verschwand (in dem Fall mein Eingesperrtsein), kamen tausende kleine hinzu (zum Beispiel das, dass ich nicht wusste, in welche Richtung ich gehen sollte).
Mein zerschlissenes Kleid war mir schon über den Hintern gerutscht. Ich zog es runter. Durch die vielen Risse sah man aber genauso viel wie davor. Was mich jetzt eher weniger interessierte und ich mich wieder meinem eigentlichen Problem widmete.
Instinktiv bog ich links ab und riss den Blutbeutel an mich, der mitten im Weg lag. Zu schnell war er leer. Ich roch in der Luft, nach noch mehr suchend. Schnell lief ich eine Treppe hoch und sah am Ende noch einen liegen. Kaum, dass ich ihn gesehen hatte, war er schon leer. Ich tapste vorsichtig weiter und fand wieder einen. Und wieder. So schnell ich konnte, folgte ich den Blutbeutel; mein Hirn war vollkommen ausgeschaltet.
Als ich nach über fünfzehn weiteren nicht mehr wusste, wohin ich laufen sollte, da ich keine weiteren mehr roch, kam mein Verstand langsam wieder in den Vordergrund.
Wieso lagen hier überall Blutbeutel?
Aber bevor ich meine langsamen Gedanken zu Ende führen konnte, roch ich wieder den Geruch von Blut. Keine Sekunde später stand ich knapp vor der Quelle des Geruchs. Nur eine Tür versperrte mir den Weg. Ich riss sie schwungvoll auf und sie krachte geräuschvoll gegen eine Wand.
Vor mir sah ich Clas in einem dreißig Quadratmeter großem Raum mit sechs – na ja, wie sollte ich es anders formulieren? – mit sechs Bodyguards. Hinter mir schloss jemand schnell die Tür und verriegelte sie. Wohl der siebte Bodyguard. Nicht das eine verschlossene Tür oder gar er mich aufhalten würde. Außer sie wäre mit einem Schutzzauber belegt, wie bei der „Hölle“.
Mich ergriff die Panik, da mein Verstand fast vollständig wieder zurück gekehrt war. Plötzlich bekam ich Platzangst, hier mit Clas in einem Raum zu sein war zu viel. Immerhin hatte er mich einsperren lassen, er war es, der mich nun hasste und er war es, den ich aufs Übelste beschimpft hatte.
Ich atmete langsam und gleichmäßig ein und aus, um mich zu beruhigen.
Was hatte er jetzt vor?
Hinter mir hörte ich den siebten Bodyguard leise grinsen aufgrund meines Verhaltens, aufgrund meiner spürbaren Angst.
Wut ballte sich plötzlich in mir auf. Leise knurrte ich, aber der hinter mir lachte wieder auf.
Wo war meine Angst denn plötzlich geblieben?
Clas' anfangs dominante Miene wurde leicht angespannt, sauer. Anstatt mich kultiviert zu verhalten, wurde ich wieder aggressiv. Und das passte ihm gar nicht, denn ich hatte mich nicht verändert.
Verdammt, ich hab's schon wieder zu weit getrieben!
Ich versuchte mich zu beruhigen, aber das Lachen des Bodyguards hinter mir regte mich so auf!
Ich lies einen kleinen Teil der Steinwand hinter ihm explodieren, sodass es wie Staub über ihm herunter regnete. Er zuckte zusammen und wischte sich dann etwas erschrocken den Staub von den Schultern.
Oh ja, ich hatte es immer noch drauf. Sogar besser als davor. Ich konnte jetzt wieder mehr machen. Schon wieder etwas Neues: Steine sprengen.
Ich fühlte mich einfach unverbesserlich. Am liebsten hätte ich jetzt ganz laut gelacht und zwar in etwa so:
„Muhahahahaaa, ich hab's so was von drauf!“
Wäre ich gerade nicht am Sterben unter Clas' bohrendem Blick.
„Du bist hier nicht da, um Wände zu sprengen“, sagte Clas kalt.
Ach ja? Und aus welchem beschissenen Grund bin ich dann hier?
Ich konnte mich gerade noch zurückhalten, es nicht herauszupressen. Ich bemühte mich um einen neutralen Gesichtsausdruck, was mir aber nach Clas' Miene nicht gut gelang.
Konzentrier' dich! Andererseits kommst du hier nicht raus! Höchstens tot...
Ich sollte mich wirklich beherrschen, wenn ich wollte, dass Clas gnädig war und mich frei lies. Oder ich hätte von Anfang an schlau sein müssen und den Blutbeuteln nicht folgen sollen. Und jetzt erkannte ich auch, was für ein Geruch mich von draußen hergelockt hatte. In einer Ecke lag ein weiterer Blutbeutel, den ich nun versuchte nicht anzugaffen.
Wofür lag er eigentlich da?
Zum Herlocken, wegen was denn sonst?
Halt die Klappe, Verstand! Du hast mich schon oft genug verlassen, ich brauche deine Kommentare jetzt nicht!
Jedenfalls wäre es für mich am schlausten, einfach nur die Klappe zu halten und zu hören, was Clas zu sagen hatte. Und nicht die Blicke der anderen zu beachten, die auf meinem zerrissenen, einst blutroten Kleid und meinem halbnacktem Körper lagen.
Konnte ich noch von Glück reden, dass ich darunter noch halbwegs unversehrte Unterwäsche trug? Vielleicht schon, nach so wenig Glück wie ich in den letzten Tagen hatte.
„Es war mir von Anfang an klar gewesen, dass es schwierig mit dir sein würde“, begann Clas zu erzählen.
Oh nein, bitte erzähl mir jetzt keine stundenlangen Geschichte!
„Mir war klar gewesen, dass du Probleme haben würdest, ein erwachsener Vampir zu werden.
Ich hatte mir eigentlich gedacht, dass dein Blutdurst dich noch umbringen würde. Aber es war nicht dein Blutdurst, womit du zu Kämpfen hattest. Um ehrlich zu sein, hast du ihn so gut bewältigt, wie sonst kaum jemand in so schneller Zeit. Nein, das war nicht dein Problem. Dein Problem war und blieb deine Frechheit!« Das letzte Wort spuckte er aus, als ob es giftig wäre.
„Ja, deine Frechheit kann wirklich nichts übertreffen!“, sprach er mit einem angewidertem Gesichtsausdruck weiter. „Ich habe kaum jemanden gesehen, der einen Älteren so ohne Respekt behandelt hat. Was rede ich, ich habe noch niemanden gesehen, der zu jedem so respektlos war.“
Verdammt, jetzt sorgte er dafür, dass ich mich schlecht fühlte.
Um ihn nicht anzuschauen, wollte ich weggucken, aber um nicht kleinlich auf dem Boden zu gucken, schaute ich mir seine Bodyguards an.
Den hatte ich ja noch nie gesehen. Kein Wunder, so hässlich wie der war, war er leicht zu übersehen.
Der Mangel von Blut führt nicht nur Schmerzen zu, er führt wohl auch zu Oberflächlichkeit und Arroganz.
Na toll, woher kam jetzt meine kleine besserwisserische Stimme im Kopf? Hatten jetzt alle Lust, mich mit Offensichtlichkeiten zu bewerfen, sobald ich es gar nicht gebrachen konnte? Am liebsten würde ich laut aufstöhnen.
Mein Blick fiel von mir selbst genervt auf den nächsten Bodyguard. Mit einem Mal stieß es mir alle Luft aus den Lungen.
Anthony!
Ich schaute schnell zu Boden.
Oh Gott! Seit wann ist er hier? Entweder ich bin zu dumm, um ihn sofort zu sehen oder seine andere Gabe ist es, sich unsichtbar zu machen. Wie sonst hatte ich ihn nicht sehen können?
Ich versuchte gegen mein Tränen anzukämpfen. Glücklicherweise gelang es mir. Wieso war ich auch so nah am Wasser gebaut?
Am liebsten würde ich laut schimpfen. Wie sollte ich mich denn jetzt auf Clas konzentrieren, wenn er im Raum war?
Ich blickte kurz auf, um nochmal auf Anthony zu gucken. Er schaute mich an. Irgendwie betroffen. Aber vor allem so ernst und... hart. Schnell senkte ich wieder meinen Kopf.
„Du hast aber lang gebraucht, um ihn zu finden. Gratulation!“, rief Clas sarkastisch durch den Raum. „Das hast du eigentlich ziemlich gut angestellt, das mit seinem Geburtstag. Wenn du vorhattest, das sein sensationeller dreihundertster Geburtstag, an dem alles bis aufs kleinste Detail geplant war, in einer Katastrophe enden zu lassen, dann muss ich sagen, es ist dir gelungen!“
Dumme Augen, ihr dürft jetzt nicht weinen! Brav, richtig, genau so! Bleibt so, heulen könnt ihr später.
„Also ganz so katastrophal, wie gesagt, war es nicht, aber nach dem Vorfall war die Stimmung ziemlich gedrückt. Vor allem unser lieber Anthony war nicht mehr ganz er selbst, nachdem man jeweils deinen Kopf und deinen Körper weggebracht hat. Er hat nicht mehr so ausgelassen gefeiert wie davor.“
Bleibt bloß wo ihr seid, Tränen! Keinen Schritt weiter! Mein Blick war weiterhin auf den Boden geheftet.
„Wusstest du, dass du es Marx, zu verdanken hast, dass du noch lebst? Meiner Meinung nach, wärst du sofort im Feuer gelandet. Aber Marx hatte eine bessere Idee. Du könntest dich bei ihm bedanken.“
Die nächsten Worte flutschten mir nur so hinaus. „Okay, ich nehme es mir zur Kenntnis und ich werde mich bei ihm dafür bedanken, dass er mich für eine unglaublich lange Zeit eingesperrt hat, ohne Blut. Ich bin ihm auch wirklich sehr dankbar für diese erlebnisreiche und schmerzvolle Zeit.“
Clas hob verwundert die Augenbrauen. „Wenigstens warst du höflich. Schon ein großer Fortschritt!“
Das fand ich auch.
„Um ehrlich zu sein, wundert es mich immer wieder aufs neue, wie stark du bist“, sprach Clas weiter. „Kurz nachdem Georg dir den Kopf abgerissen hatte, habe ich euch mit einem Auto zurückgeschickt. Er hat mir erzählt, dass, kaum eine Stunde vergangen, dein Kopf mit deinem Körper wieder etwas zusammengewachsen ist und du sogar kurz zu Bewusstsein gekommen bist. Und da ich nicht an der Stärke Georgs zweifle und daran, dass er es nicht hinkriegen kann, jemandem richtig den Kopf abzureißen, kann das auch nur an dir liegen.“
Das erklärte mir, wieso ich mich an eine kurze Zeit in einem sich bewegendem Fahrzeug erinnerte.
Plötzlich runzelte Clas belustigt die Stirn. „Oder als wir dich nach einem Monat rausholen wollten. Wir haben uns immer wieder zwischendurch gefragt, woher du die Kraft nimmst, so zu schreien. Und als du dann eine Weile still warst und der Monat, den wir dich drinnen lassen wollten, vorbei war, da fingst du an mich zu beschimpfen. Also deine Stärke hat uns wirklich tagtäglich beeindruckt.“
Ich riss die Augen auf. Ein Monat? Da hatte ich mich wohl mit dem Tagezählen total verzählt. Denn ich war auf kaum zwei Wochen gekommen.
„Ich muss sagen, dass selbst ich dir niemals zugetraut hätte, nach so langer Zeit ohne Blut, noch genug Gedanken fassen zu können, um mich so zu beschimpfen.“ Er grinste in dem Moment sogar.
„Es wäre natürlich sehr unpassend gewesen, dich in dieser Zeit rauszulassen, in deiner aggressiven Phase. Also ließen wir dich einfach länger drinnen.
Und ich habe eigentlich gedacht, diese Zeit würde gar nicht mehr kommen, aber sie kam: Nachdem du zu Ende geschrien und geheult hattest, wurdest du endlich schwach und endlich ruhig. Natürlich ließen wir dich noch eine Weile dort, das musste einfach sein. Zur Strafe.“
Ich hätte früher rauskommen können. Ich hätte weniger leiden müssen. Aber dann musste ich ja unbedingt los schimpfen.
Du Dummkopf!
Ich erschauderte auf einmal. Und entdeckte mich auf dem Boden sitzen. Wann hatte ich mich hingesetzt?
Clas' Gesicht wurde undurchdringlich. „Deine Stärke verdient echt Respekt. Würdest du den anderen nur auch mit Respekt begegnen.
„Merke dir, was ich dir jetzt sage – merke es dir einfach: Niemand wird es länger mehr dulden, dir bei deinen Lächerlichkeiten zuzusehen. Das nächste Mal erhältst du keine zweite Chance.“
Es lief mir erneut kalt den Rücken runter. Ich schaute in sein Gesicht. Er würde diese Drohung wahrmachen. Daran hatte ich kein Zweifel.
Dadurch, dass ich saß, sah Clas viel größer aus und er schüchterte mich durch seine strenge Haltung ein. Ich musste nicht viel darüber nachdenken, um festzustellen, dass er es beabsichtigte. Ich erfüllte ihm seinen Wunsch und tat, als sei ich sehr eingeschüchtert und nicht nur ein bisschen, auch wenn ich mich sehr dagegen sträubte. Aber es musste einfach sein, um Clas zu zeigen, dass ich mich unterwarf – zum allerersten Mal.
Er schien es mir zu glauben, denn in seinem Gesicht erschien endlich Ruhe und Dominanz.
„Du musst wissen, ich halte dich nicht umsonst hier“, sagte mir Clas so, als sei er mir das schuldig – was er auch war. „Ich könnte dich auch in die Welt schicken und morden lassen, wie Jungvampire es normalerweise tun, aber ich sitze nicht umsonst auf dem Thron. Ich sitze auf dem Thron, um genau das zu vermeiden. Wir müssen vermeiden, dass die Menschen von uns erfahren und dass die Situation eskaliert. Dafür ist der Herrscher und, wie du sie nennst, seine Diener da, um genau das zu vermeiden!
Sobald einer der unseren anfängt, uns zu verraten, beseitigen wir ihn.“
Ich wollte nicht wissen, was mit „beseitigen“ gemeint war. Aber was mir Clas zu erklären versuchte, verstand ich.
Wenn die Menschen reihenweise durch Vampire getötet werden würden... Na ja, dazu brauchte ich nicht mehr sagen. Es ging schlichtweg nicht. Alleine bei dem Gedanken daran wurde mir schlecht.
Und wenn die Öffentlichkeit, die Menschen, von den Vampire erfahren würden, würden sie sich um ihre Sicherheit sorgen und uns alle abschlachten. Alle nach einander. Daran hegte ich keinen Zweifel. Denn Menschen schlachteten alles ab, was sie nicht kannten. Aber ich verübelte es ihnen nicht. Nicht, weil ich vor kurzem selber einer gewesen war, sondern weil ich es auch nicht anders machen würde.
Also wahrscheinlich doch, weil ich selber vor kurzem ein Mensch gewesen war.
„Dafür brauchen wir viele Helfer, die uns dabei helfen. Deswegen wurdest du verwandelt, damit die Erde nicht in einer Katastrophe endet. Je mehr wir sind, desto besser.
Wenn wir fertig sind mit deiner Entwicklung zum vollständigen und erwachsenem Vampir, dann könnten wir dich gehen lassen, wenn du willst. Aber wir brauchen dich hier. Genauso wie jeden anderen.
Verstehst du, was ich dir hiermit sagen will? Verstehst du jetzt die Gründe, wieso wir dich hier sozusagen erziehen?“
Ich verstand. Sehr gut sogar. Jetzt schämte ich mich ein bisschen für mein Verhalten. Aber nur ein bisschen. Dass ich oft übertrieben hatte, verstand ich, aber alles war gerechtfertigt. Und ich drehte ja nicht immer mit Absicht durch. Wie gesagt, ich musste erst ein erwachsener Vampir werden, dann könnte ich mich besser kontrollieren.
Ich nickte. Clas entspannte sich – ich merkte erst jetzt, dass er angespannt gewesen war – und wurde so ruhig, wie ich ihn noch nie gesehen hatte.
„Vergiss nicht, was ich gesagt habe. Halte dich an die Regeln, denn du bekommst keine zweite Chance.“ Er atmete hörbar aus und massierte sich die Schläfen. Hatte er wirklich Kopfschmerzen oder war das eine alte Angewohnheit?
„Du kannst in dein Zimmer gehen.“
Etwas benommen stand ich auf, zögerte aber als ich den einen Bodyguard an der Tür breitbeinig mit verschränkten Armen sah. So wie es aussah, wollte er mich nicht gehen lassen.
Ich seufzte. „Wenn der da nicht weggeht, gehe ich durch die Wand“, sagte ich und drehte mich zu Clas. Das war mein voller Ernst gewesen. Denn auf eine Konversation mit ihm, der einer Prügelei folgen würde, hatte ich keine Lust. Dann lieber mit dem Kopf durch die Wand, wie ich es auch sonst immer gemacht habe, nur diesmal wortwörtlich.
Mit einer Handbewegung deutete Clas, dem Klotz von der Tür wegzugehen.
Nervös, aber es nicht den anderen zeigend, schritt ich durch die Tür.
Als ich endlich durch den Türrahmen trat, spürte ich, wie mir die tonnenschwere Last von der Brust weggenommen wurde... und sogleich das doppelte Gewicht wieder draufgelegt wurde. Sobald meine Freude über das Verlassen dieses Zimmers weg gedrängt wurde, schien ich unter der Last, die meine Gedanken verursachten, zu ersticken. Schnell brachte ich Abstand zwischen mir und Clas.
Es war einfach zu viel für mich. Die neue Verantwortung, die mir aufgetischt wurde, konnte ich nicht auf mich nehmen. Nein. Niemals.
Ich wurde dazu ausgebildet, ein Vampirkiller zu werden!
Natürlich würde ich dabei nur Gutes tun, ich würde dafür sorgen, dass diese nichts mehr anstellen konnten. Nicht mehr morden würden. Nicht unser Geheimnis verraten würden, wenn auch eher indirekt, durch den Massenmord.
Trotzdem. Ich hielt den Druck nicht mehr aus. Es war zu viel für mich in der letzten Zeit. Erst meine Verwandlung. Meine Eingliederung, die mir, verdammt nochmal, nicht leicht gefallen war. Der Verlust meiner Familie, die ich in nächster Zukunft nicht einmal besuchen konnte. Der Blutdurst, an den ich mich immer noch gewöhnen musste und der mir Schuldgefühle gab, die mich von Innen zerfraßen. Die letzten Tage, der unerträgliche Durst nach Blut, mein brennender Körper, mein eigenes Gift, das mich zerfraß. Anthony...
Ich wusste nicht, was geschah, aber plötzlich wurde der Boden unter meinen Füßen weggezogen und ich fiel in eine Tiefe ohne Boden.
Alles war schwarz. Ich sah nichts, hörte nichts, roch nichts, spürte nichts. Ich dachte an nichts, weil ich einfach an nicht denken konnte. Ein schwarzer Schleier lag über meinen Erinnerungen und Gedanken. Das einzige, das ich fühlte, war die unüberwindbare Traurigkeit, die mich immer tiefer in ihren Sog zog.
Nebel. Überall Nebel. Der mir die Sicht verschleierte, mir mein Gehör, meinen Geruchssinn und mein Gespür abstumpfte.
Ich hörte Stimmen, Welten entfernt. Es war, als ob ich in einer anderen Welt gelandet wäre, abgeschottet von meiner eigenen.
Langsam drangen Stimmen an die Oberfläche, deren Ursprung ich nicht ausfindig machen konnte.
„... passieren?“
„Ich weiß nicht. So etwas ist meines Wissens bisher noch nie passiert. Ich verstehe es einfach nicht. Eine Art Burnout...“
„Aber...“
Wieder verschleierte sich alles in einem dichten Nebel. Und genauso schnell schwand er wieder. Gerüche, viele verschiedene, strömten langsam auf mich ein.
Es roch nach... Schokolade. Daraus konnte ich schließen, dass ich in meinem Zimmer war, keine Ahnung wieso. Mehr aber auch nicht.
Wieso bin ich hier?
Das Letzte, woran ich mich erinnern konnte, war die dunkle Tiefe, die mich wieder in ihre Einsamkeit hinunterziehen wollte. Davor... war ich mit Clas in einem Raum gewesen. Aber der Grund dazu wollte mir nicht einfallen.
Ich hörte die Stimmen, die wieder näher kamen. Dennoch waren sie viel zu weit entfernt, als dass ich sie hören konnte. Langsam jedoch hörte ich sie deutlicher. Ich versuchte mich auf die Gerüche zu konzentrieren und fing den Geruch von Clas auf. Und von einem anderen Vampir, den ich nicht identifizieren konnte. Wahrscheinlich kannte ich ihn gar nicht.
Noch mehr Vampire. Ich sog die Luft etwas ein. Daniel und Anthony.
„Ich weiß es nicht!“, hörte ich den unbekannten Vampir schreien. „Aber sie müsste bald zu sich kommen.“
„Na na!“, sagte ich und hörte, wie meine Stimme krächzte. Ich klang genauso übel wie ich mich fühlte. „Man schreit den Herrscher der Vampire doch nicht an!“
Langsam und qualvoll öffnete ich die Augen, um nicht wieder in den tiefen Sog der kompletten Dunkelheit zu fallen. Um sie gleich danach wieder zu schließen, denn die Deckenbeleuchtung war viel zu grell. Meine Deckenbeleuchtung.
Und schlagartig erinnerte ich mich, was passiert war. Die „Hölle“, das Gespräch mit Clas, der Boden, der unter meinen Füßen plötzlich schwand. Ich schüttelte meinen Kopf, um meine Gedanken zu sortieren und bekam dabei mit, das ich auf meinem großen Himmelbett lag, umringt von vier Vampiren. Clas, Daniel, Anthony und Mister Wer-ist-das.
„Wie fühlst du dich?“, fragte mich der unbekannte Vampir mit harter Stimme. Er hatte helle Haut, Sonnen gebleichte Haare und seltsam graue Augen. Nämlich so grau, wie Steinwände links und rechts von mir, was sehr seltsam aussah. Ein kalter Schauder lief mir über den Rücken.
Es ging mir wirklich beschissen. Denn wie sollte ich sich nach so etwas fühlen? Nach dieser Dunkelheit, dieser Trostlosigkeit.
Aber das sagte ich nicht.
„Immerhin gut genug, um zu wissen, wie viele Finger ich an einer Hand habe.“ Meine Stimme klang schon besser, aber dieses Krächzen wollte einfach nicht verschwinden.
Clas seufzte als er mich reden hörte. Sowohl aus Erleichterung, als auch aus... irgendeinem anderen Grund. „Wir müssen uns keine Sorgen mehr machen. Sie ist wieder ganz die Alte.“
„Hallo. Ich bin Doktor Ambrosius!“, sagte der blonde Doktor in den Dreißigern und streckte mir die Hand vor die Nase.
Aus reinem Reflex zuckte ich erst davor zurück, als plötzlich die Hand – ein potenzieller Feind – vor meinem Gesicht war.
„Wie wäre es, wenn wir die Förmlichkeiten gleich lassen und du mir gleich deinen Vornamen nennst?“, krächzte ich und nahm seine Hand langsam an.
Doktor Ambrosius runzelte die Stirn. „Das ist mein Vorname.“
Ich schloss die Augen und hätte am liebsten aufgestöhnt. Ich war mal wieder in ein Fettnäpfchen getreten. Aber wer nannte sein Kind denn Ambrosius?
„Ja, es ist eindeutig. Sie ist wieder komplett die Alte...“, murmelte Clas. Daniel kicherte und auch Anthony konnte sich gerade noch ein Grinsen verkneifen. Ich blickte durch die Schlitze meiner Augen unauffällig zu ihm.
Irgendwie sah er nicht mehr ganz so fröhlich aus, wie er es immer in meiner Nähe gewesen war. Er wirkte auf eine Art ernst, hart. Den ernsten Blick hatte ich auch schon vorhin in der Kammer mit Clas bemerkt.
Was hatte ich nur angestellt? Wie konnte ich ihm nur so etwas antun? Verdammt, wieso konnte ich nicht ein Mal etwas richtig machen? Nein, ich musste immer irgendwas falsch machen! Es ging bei mir ja nicht anders. Es ist noch nie anders gegangen.
Anthony war mir immer entgegenkommend gewesen. Immer nett und lieb und unbeschreiblich hilfsbereit. Mehr als das. Nicht nur ein guter Freund, nein, der beste Freund, den man sich nur wünschen konnte. Sogar etwas mehr als nur ein ganz normaler Freund...
Und ich? Er war der einzige neben Daniel gewesen, der mir wirklich geholfen hat, mich hier einzuleben, mich in mein neues Leben zu integrieren. Und womit hatte ich ihm gedankt?
Ich schloss seufzend meine Augen, darauf hoffend, dass mich die Dunkelheit wieder zu sich zog. Auch wenn es dort unerträglich war. Ich wollte nur dorthin, wo mich Anthonys Blicke nicht mehr begegnen konnten. Wo die Dunkelheit meine Gedanken über ihn verschlucken und nicht wieder hergeben würde. Wo ich nicht mehr an ihn denken musste. An gar nichts denken konnte.
„Milana?“, hörte ich Doktor Ambrosius' Stimme. „Geht es dir gut? Ist dir wieder schlechter geworden?“
Ich schüttelte kurz den Kopf um zu signalisieren, dass nichts war. Stöhnte aber zeitgleich auf, da ich mich aufrichten wollte und die Schmerzen in meinem Kopf explodierten. Ich hielt mir eine Hand an den Kopf und lies mich wieder zurück ins Bett fallen. Mit meinen Fingern massierte ich mir die Schläfen.
Ich hatte diese Schmerzen verdient. Nach all dem, was ich getan hatte. Menschenleben genommen. Clas und vielen anderen den letzten Nerv gekostet. Anthony enttäuscht und verletzt.
Am liebsten würde ich meinen Kopf gegen die Wand schlagen, dafür dass ich so war, wie ich war und damit ich größere Schmerzen bekam als diese vergleichsweise leichten – aber so gesehen hatte ich eigentlich meine „Strafe“ beim Hungern schon abgesessen.
Den Gedanken, meinen Kopf gegen die Wand zu hauen und mir dadurch bereitwillig Schmerzen zuzufügen, verwarf ich, denn sonst würde ich garantiert von Mister Professor Doktor Das-ist-mein-Vorname Ambrosius psychiatrisch betreut werden. Allein bei dem Gedanken, wie dieser unheimliche Kerl mir eintrichtern würde, dass alles gut wäre und ich keine Strafe verdient hätte, bekam ich einen Würgereiz.
„Weist du noch, was als letztes passiert ist? Kannst du dich noch erinnern?«, fragte wieder Doktor Ambrosius ganz der Doktor.
Ich nickte und das entpuppte sich als großer Fehler. Schmerzen knallten mal wieder gegen meine Schädeldecke und mir wurde schwarz vor Augen. Meine Augen verdrehten sich und mein Kopf kippte zur Seite. Sofort sprangen alle auf, um mir zu helfen. Nur um sich am Ende höchstens einen Meter von ihrer Stelle fortzubewegen und mich weiterhin ratlos anzustarren.
„Ich würde gerne ihre Temperatur oder ihren Puls messen, um zu wissen, was mit ihr los ist. Was aber leider nicht möglich ist...“, hörte ich Doktor Ambrosius nachdenklich murmeln.
Die Schwärze vor meinen Augen breitete sich langsam auf meine Gedanken aus. Alles, was ich bis vor wenigen Sekunden noch gedacht hatte, verschwand, wurde verschluckt von dem großen schwarzen Loch in meinem Kopf.
Und da spürte ich es wieder. Die Kälte, die ich wenige Minuten zuvor schon verspürt hatte. Die mich wieder in Besitz nehmen wollte. Sie zog mich wieder runter und nahm mir alles, woran ich gedacht hatte. Und es wurde immer dunkler. Und dunkler.
Und ich fiel tiefer.
Ein harter Schlag auf meine Wange brachte mich wieder zurück in die Realität. Noch einer. Und ich entglitt der Dunkelheit.
Ich fuhr hoch, riss die Augen auf und schlug mit voller Wucht ein Mal um mich. Traf nur leider nichts.
„Das ist keine korrekte medizinische Methode!“, hörte ich rechts von mir Doktor Ambrosius aufbrüllen. Er schrie jemanden links von meinem Bett an. Ich drehte meinen Kopf um hundertachtzig Grad.
Dort stand ein grinsender Daniel und zuckte mit den Schultern. „Wieso? Es hat doch funktioniert.“
Ich holte aus und traf mit der Faust in Daniels Schulter.
„Wieso schlägst du mich?“, brüllte ich ihn an und war schlagartig stocksauer. Er hatte nicht das Recht dazu!
Daniel lachte und rieb sich seine Schulter. „Da wünscht man sich manchmal, man hätte dir nichts beigebracht. So stark, wie du schlagen kannst!“
Gerade wollten Doktor Ambrosius und ich uns wütend auf ihn stürzen, da sagte Clas: „Alles ist medizinisch korrekt, solange es auch wirklich funktioniert. Ich glaube eher, dass du, Ambrosius, wütend auf Daniel bist, weil er es geschafft hat, Milana aus ihrem Koma zu holen, bevor sie in ihn fällt – und du nicht.
Und du, Milana, du solltest froh sein darüber, dass er dir geholfen hat. Werde nicht wieder wild!“
Das Wort „wild“ erinnerte mich an etwas. An meinen ersten Tag hier.
Ich hoffe wirklich sehr, dass wir dich nicht umbringen müssen, falls du zu wild wirst.
Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken, während mir gleichzeitig ganz heiß wurde. Ich setzte mich wieder normal auf mein Bett und merkte erst jetzt, dass ich völlig überreagiert hatte. Mal wieder. Am liebsten hätte ich mir mit der flachen Hand gegen die Stirn geschlagen.
Ich schaute schuldig mit großen Augen zu Daniel und murmelte leise „Danke“.
Daniel grinste nur und lachte dann auf. Er war so drauf wie immer. Witzig und unbeschwert. Er hatte es sich nicht zu Herzen genommen. Ich konnte aufatmen.
„Können wir jetzt endlich hoffen, dass du uns nicht mehr umfällst oder müssen wir noch auf dich aufpassen?“, fragte Clas, kalt wie immer.
Ich wollte am liebsten erwidern, dass jetzt alles okay war und dass es mir gut ginge und er sich sein nicht vorhandenes Interesse an meiner Gesundheit sonst wo hin stecken konnte. Aber dann fiel mir auf, dass ich das für die Zukunft nicht garantieren konnte. Es ging mir jetzt echt gut, so gut wie schon lange nicht mehr, aber ich hatte keine Ahnung, ob mir so etwas nicht wieder passieren würde. Was, wenn ich in Stresssituationen immer mit einer Art Ohnmacht regieren würde?
Ich blies die Luft, die ich zum antworten geholt hatte, wieder raus.
Clas bemerkte meinen Zweifel und seufzte erneut. Und sagte danach nichts mehr.
„Wie ist es passiert?“, meldete sich Anthony zum ersten Mal seit einer Ewigkeit zu Wort.
Fast zuckte ich zusammen vom Hören seiner rauen Stimme. Ich schaute auf. Er blickte geradewegs in meine Augen.
Seine wunderschönen grünen Augen.
Schnell senkte ich meinen Blick und zuckte mit den Schultern. Ich hatte wirklich keine Ahnung. Wie konnte ein Vampir in ein, wie Clas sagte, „Koma“ fallen?
„Ich weiß es nicht. Vielleicht liegt es an dem Blutverlust?“ Ich zuckte erneut mit den Schultern.
„An dem Blutverlust kann es nicht liegen. Sie ist ja nicht die Einzige, die jemals zum Hungern verdonnert wurde. Das ist bisher bei niemandem geschehen. Es muss an etwas anderem liegen“, sagte Clas energisch und sprach über mich, als ob ich ich gar nicht anwesend wäre.
„Bis wir keine andere Lösung gefunden haben, müssen wir es wohl auf dein Alter schieben. Außerdem kann es auch aufgrund von Depressionen geschehen, ähnlich wie bei einem Nervenzusammenbruch“, fügte Doktor Ambrosius hinzu und kratzte sich am Kinn.
Danke, Doktor!, dachte ich ironisch. Jetzt weiß es echt jeder! Nur, dass es kleine nervige Probleme sind, keine Depressionen!
Ich legte mich zurück in mein Bett und tat so, als ob mich gar nichts interessierte. Die anderen diskutierten derweil noch über meine angeblichen Probleme.
„So, und jetzt werden wir einige Untersuchungen durchführen“, sagte Doktor Ambrosius mit seiner harten Stimme und deutete den anderen zu gehen. „Dabei brauchen wir keine Zuschauer!“
Widerwillig schoben sich Clas, Anthony und Daniel zu Tür hinaus, Clas dabei eher, weil ihm indirekt etwas befohlen wurde, Anthony und Daniel eher wegen Sorge.
Als endlich alle draußen waren und die Tür hinter sich schlossen, sagte Doktor Ambrosius sein erstes Wort seiner Predigt über die Übungen, für die ich ihm zu einem späteren Zeitpunkt den Hals umgedreht hätte.
„So, wir werden jetzt einige Übungen durchführen, um zu überprüfen, ob es nur so scheint oder ob du wirklich wieder okay bist. Dabei wäre es aber am besten, wenn du auch alles mitmachen würdest.“ Er bedachte mich eines strengen Blickes. Da wusste wohl jemand über meine Vergangenheit Bescheid.
Ich musste mir ein Schmunzeln verkneifen. Wer wusste schon nicht über mich Bescheid? Vermutlich schon die ganze Welt, vor allem nach meiner überragenden Show in der Öffentlichkeit bei Anthonys Party.
„So, und jetzt steh einmal ganz schnell auf, wir überprüfen, ob es dir danach schwindelig wird. Sag dann einfach Bescheid, wenn es so ist.“
Ich stand schnell aus meinem Bett auf und landete kerzengerade auf dem Boden mit den Füßen.
„Gut, schnell warst du und umgekippt bist du auch nicht. Ist dir jetzt schwindelig?“
Hätte ich nicht Bescheid sagen müssen, wenn es so wäre? Ich schüttelte nur den Kopf.
„Gut und jetzt renn' mal schnell zu der Wand da drüben. So überprüfen wir deine Koordination und...“ bla bla bla.
Ich hörte nicht weiter seinem langweiligem Gerede zu, sondern rannte so schnell wie möglich dahin. Landete natürlich mit voller Wucht gegen die Wand, weil ich nicht rechtzeitig abbremsen konnte.
„Oh, das war gar nicht gut. Ich glaube, wir sollten...“
„Das ist mir vor meinem Koma auch schon passiert. Das liegt am Blutverlust und ansonsten an nichts anderem. Machen wir einfach nur weiter!“
Während er überllegte, kratzte Doktor Ambrosius sich am Kinn. „Wenn du meinst. Aber wenn du die nächsten Übungen auch nicht so gut meisterst, dann müssen wir...“
Ahh! Es war zum Haareraufen! Hatte er nichts Besseres zu tun, als zu reden und mich vollzuquatschen? Ich wollte doch nur, dass er so schnell wie möglich verschwand und ich meine Ruhe hatte!
Die nächsten Übungen meisterte ich mit Bravour, da sie zum Teil auch so einfach waren, dass es einfacher nicht ging. Zu meinem Pech wollte er auch noch ein paar mehr machen, „nur zur Sicherheit!“. Es fehlte ihm nur noch das Klemmbrett, damit er aussah wie ein richtiger psychiatrischer Doktor. Aber dieses Klemmbrett mit allen wichtigen und unwichtigen Einzelheiten war ja bereits in seinem Kopf.
„Gehört auch zur Übung einen Doktor umzubringen? Oh, bitte, bitte!“ Ich faltete meine Hände und warf mich theatralisch auf die Knie.
Er beäugte mich kritisch und sagte dann darauf: „Dann müssen wir wohl die nächste Übung nicht machen.“
Ich wollte gerade erleichtert aufseufzen, als er noch hinzufügte: „Weil die nächste Übung war, sich auf den Boden werfen, aber das hast du ja bereits erledigt.“
Ich brauchte eine Weile bis ich merkte, dass das ein Scherz war. Aber bei ihm konnte man ja nie wissen, wann er scherzte. Nicht, wenn er immer den gleichen Ausdruck im Gesicht hat und seine Scherze übelst schlecht waren.
Ich stand genervt wieder auf und hörte wieder darauf, was er zu sagen hatte, damit ich es befolgen konnte. Wieso hatte ich das nicht auch bei Clas machen können? Mich unterwerfen und Flickflack machen?
Und jetzt steckte ich in diesem Schlamassel fest. Bei meinem Seufzen guckte Doktor Ambrosius mich noch ein Mal komisch an, bevor er fortfuhr.
„Wenn noch was ist oder du dich plötzlich wieder seltsam fühlst, dann sorge umgehend dafür, dass ich davon erfahre. Verstanden?“
Ich folgte Doktor Ambrosius zur Tür, sagte drängend „Jaaa!“ als ich sie schnell hinter ihm schloss, damit er ja nicht auf die Idee käme, wieder reinzukommen und fortzufahren mit seinen heißgeliebten Übungen.
Ich seufzte laut erleichtert auf und wäre am liebsten in Freudentränen ausgebrochen. Natürlich um meine Freude theatralisch überzeugend darzustellen.
Wer hätte gedacht, dass er jemals aus meinem Zimmer kommen würde?
Ich hätte an ihm fast Mord begangen, so schrecklich genervt war ich von ihm. Ich hätte ihm schon fast zugetraut, mir zu befehlen, ich sollte den Mond von Himmel holen, nur um zu schauen, ob es mir wirklich gut ginge.
Wenn ich mich gut fühlte, dann war mir gut. Dafür brauchte ich keine verdammten Übungen zu machen. Vor allem nicht so viele und keine, die nichts, aber auch wirklich nichts brachten. Am allerliebsten wäre mir wirklich, ich hätte ihn gleich am Anfang umgebracht. Bei so viel Leid erspart, wie mir erspart gewesen wäre, da wären mir selbst die Konsequenzen egal.
Was mir allerdings nicht so egal war, war die Tatsache, dass ich nicht mehr mein Kleid trug. Das hieß, jemand hatte mich umgezogen und mich in einen schwarzen Bademantel gesteckt. In diesem Fall konnte ich sehr wohl von Glück reden, dass ich darunter noch Unterwäsche trug. Wenigstens hatte ich noch die an und man hatte sie mir nicht mit ausgezogen. Nicht das ich prüde war, aber diese Vorstellung gefiel mir ganz und gar nicht.
Was, wenn Doktor Ambrosius mich umgezogen hatte? Als Doktor war es immerhin sein Job, sich um das Wohlbefinden seines Patienten zu sorgen.
Oh Gott, wie das klingt. Bei dem Gedanken daran bekam ich wieder einen Würgereiz.
Ich legte den Bademantel weg, legte mich in Unterwäsche in mein Bett und überlegte. Über dies. Über das. Über alles.
Wie ich überhaupt hergekommen war. Wie ich von mir meinem Sein erfahren hatte. Mein erstes Treffen mit Anthony. Meine gemeinsame Zeit mit Anthony. Unser erster Kuss...
Meine Gedanken schweiften wieder in diese Richtung. In die Richtung, die ich mir verboten hatte. Zwar waren alle Erinnerungen an ihn nur mit schönen verbunden, aber sobald ich am Ende meiner Gedanken angelangt war, musste ich daran denken, was ich getan hatte.
Wie lange war Anthonys Geburtstag eigentlich schon her? Welchen Monat hatten wir bereits? Es konnte höchstens April sein. Ich war doch „nur“ zwei Monate in der „Hölle“ gewesen. Mehr nicht. Oder? Mehr konnte ich mir nicht vorstellen.
So oder so. Ich konnte ihm nicht mehr unter die Augen treten. Nicht danach. Ich konnte es einfach nicht. Konnte die ernsten, vorwurfsvollen Augen nicht mehr sehen. Es ging einfach nicht.
Früher – vor seinem Geburtstag – da hatte ich es geliebt in seine glänzenden Augen zu starren, so oft hatte ich mich in ihnen verloren. Ihn allgemein anzusehen war für mich vor allem in letzter Zeit gewesen als ob ich ein wertvolles Objekt eines Museums anschaue. Oder sogar einen Gott.
Aber ihn heute anzusehen... Das erinnerte mich im Endeffekt immer nur daran, was ich getan hatte. Denn seine Ausstrahlung war mir gegenüber nicht mehr dieselbe, selbst seine Körperhaltung war eisig. Durch diese Härte und Ernsthaftigkeit erinnerte jede Faser seines Körpers mich an meine Dummheit, für die ich mich hätte schlagen sollen. Und zwar hart.
Ich versank wieder in Gedanken.
Was soll ich jetzt nur mit mir machen?
Die einzige Lösung, die es für mich gab, und ich meinte wirklich die einzige – denn die anderen waren alles Schwachsinn –, war, mich zu einem Vampirkiller ausbilden zulassen, um dann Clas, meinem allerliebsten Vampirherrscher, zu dienen und zu ehren und die Welt zu einem besseren Örtchen zu machen.
Bei den letzten Gedanken hatte ich mal wieder das Bedürfnis, mich zu übergeben. Konnten das Vampire überhaupt?
Ich fühlte mich dreckig. Richtig dreckig. Immerhin hatte ich seit... was weiß ich wie vielen Monaten zum letzten Mal einen Wassertropfen angefasst. So entschloss ich ins Bad zu gehen und zu duschen.
Gesagt, getan. Aber nach einer Stunde kam ich immer noch nicht raus. Wer konnte es mir verübeln? Ich hatte so lange gelitten und gehungert, dass ich mindestens etwas Ruhe im Bad alleine verdient hatte.
Den ganzen Dreck der letzten Tage fortzuspülen, spülte auch die Sorgen der letzten Tage von mir weg und lies sie im Abfluss verschwinden.
Konnte Stein eigentlich von Wasser aufweichen? Haut konnte es, aber Stein? Ich hatte keinen Plan, aber es fühlte sich genauso für mich an, nachdem ich so lange unter heißem Wasser gestanden war.
Frisch geduscht, abgetrocknet, mir ein Handtuch um den Körper gewickelt und mit einem Turban auf den Kopf, verließ ich nach vier Stunden das Bad. Ich hatte meinen persönlichen Rekord gebrochen - vier Stunden waren schon eine echt lange Zeit. So viel Badedampf hatte ich noch nie in einem Haufen gesehen. Da konnte ich echt froh sein, dass ich die Wasserrechnungen nicht zahlen musste.
Als ich gut gelaunt, fast schon singend, durch die Badezimmertür in mein Zimmer trat, schrak ich zurück. Alle Luft wich mir aus den Lungen.
Anthony!
Er stand mitten in meinem Zimmer und starrte mich an. Seine Haare standen wie immer wirr von seinem Kopf ab. Und seine Kleidung war auch so wie immer, schwarze Jeans und ein schwarzes Hemd. Nur der Ausdruck in seinem Gesicht war anders, härter, selbst seine grünen Augen glänzten nicht mehr so wie früher.
Ich trat den Rückzug an und verschwand wieder schnell durch die Badezimmertür im Bad. Die Tür fiel laut ins Schloss als ich sie zuknallte. Dann lies ich mich an der Tür mit dem Rücken hinuntergleiten.
„Scheiße!“, murmelte ich.
Das war wohl nicht der schlauste Weg um seine Probleme in den Griff zu kriegen. Ich seufzte laut auf, versuchte dann aber wieder leiser zu sein, da Anthony jeden meiner Schritte hören konnte. Verdammt, jetzt rollten auch noch Tränen über meine Augen. Ich wischte sie schnell weg.
Was hatte er hier zu suchen? Ich hatte ihm den Geburtstag versaut und nun... Was wollte er? Mir höchstpersönlich den Kopf abreißen? Ein verräterisches Zittern überkam mich.
Ich wollte ihn nicht sehen. Jedenfalls nicht diesen Anthony. Ich wollte wieder das glückliche Glänzen in seinen Augen sehen, sein Lächeln.
Aber da draußen war ein anderer Anthony. Der wütende Anthony, der mich nun wohl hasste. Der, den ich nicht sehen wollte, denn ich wollte mir nicht die ganzen Vorwürfe anhören, die er äußern würde.
Ich atmete tief ein und aus.
Ich hatte mal den Spruch gehört „Sei mal zwanzig Sekunden mutig“. Das hieß, ich sollte jetzt mindestens zwanzig Sekunden mutig sein und mich alles mögliche trauen, und danach wieder so sein wie immer. Manche Leute ließen sich so durchs Leben leiten. Dann müsste es doch auch bei mir funktionieren.
Aber das Gespräch mit Anthony würde garantiert länger als zwanzig Sekunden dauern. Wenn es ein Gespräch werden sollte und keine Hinrichtung. Was sollte ich also nach diesen zwanzig Sekunden machen? Einen erneuten Nervenzusammenbruch erleiden?
Nein, da blieb mir nur eine Lösung. Ich straffte meine Schultern, stand auf, lies das gelöste Handtuch auf meinem Kopf einfach auf dem Boden liegen und öffnete mit nichts als einem Handtuch um den Körper geschlungen die Tür.
Eins. Zwei. Drei. Ich lief auf direktem Weg auf mein Kleiderschrank zu. Vier. Fünf. Sechs. Ich war an Anthony vorbei gelaufen, der mich nun kritisch beobachtete. Sieben. Acht. Neun. Ich öffnete meinen Kleiderschrank und holte wahllos irgendein Kleid und irgendwelche Unterwäsche. Zehn. Elf. Zwölf. Ich schloss schnell meinen Kleiderschrank und schoss an Anthony vorbei, versuchte aber möglichst gelassen auszusehen. Dreizehn. Vierzehn. Fünfzehn. Ich öffnete die Badezimmertür und mir schlug heißer Dampf entgegen. Sechzehn. Siebzehn. Achtzehn. Ich trat durch die Tür und schloss sie schnell. Neunzehn, Zwanzig. Ich atmete leise aus. Ich hatte es geschafft!
Na ja, soweit. Aber ich musste mich immer noch Anthony stellen. Ein Seufzer entglitt mir.
Immerhin trage ich dabei Kleidung, dachte ich während ich mich anzog. Dann kann ich mich besser konzentrieren.
Ich holte kurz Luft und trat durch die Tür in mein Zimmer.
Die Mut, die ich vor wenigen Sekunden noch besessen hatte, verschwand, als ich Anthony ernst vor mir sitzen sah. Ich blies die Luft wieder aus meinen Lungen.
Er saß jetzt mit gebeugter Haltung auf meinem Bett, die Ellenbogen auf seinen Knien und beobachtete seine Hände. Aber er konzentrierte sich mit all seinen Sinnen auf mich, wie auch vorhin, als ich im Bad gewesen bin.
Auch ich beobachtete ihn, fokussierte mich auf jede seiner Bewegungen. Nur das er sich nicht bewegte. Er saß vollkommen regungslos in einer Starre auf dem Bett und starrte auf seine Hände, die in seinem Schoß gebettet waren.
So gerne würde ich jetzt auch auf seinem Schoß sitzen und alles vergessen.
Ich schüttelte meinen Kopf, um meine Gedanken zu sortieren. Am liebsten würde ich mein Gehirn ohrfeigen.
Ich lehnte mich an die Wand hinter mir, den Abstand zwischen mir und ihm im Auge behaltend.
„Was machst du hier?“, fragte ich schärfer und härter als ich wollte. Mein Körper fing an zu zittern. Es erforderte meine höchste Konzentration, um das Zittern abzustellen.
Anthony schaute bei meinen Worten auf und begegnete meinen Augen.
Mein Blick wich sofort zur Seite. Darauf war ich nicht vorbereitet gewesen. Auf seine Augen. Die mich vorwurfsvoll anstarrten. Ich wollte sie nicht mehr sehen. Für eine kurze Zeit schloss ich meine Augen.
„Was ich hier mache?“, fragte Anthony mich. „Auf diesem Bett sitzen, siehst du doch.“
Okay, er war eindeutig sauer auf.
„Und wieso bist du denn wütend auf mich? Was habe ICH denn getan, dass dich wütend machen könnte?“, fuhr Anthony auf.
Ich presste die Lippen zusammen. „Nein, so hab ich das nicht gemeint. Ich hab mich nur am Tonfall verschätzt“, murmelte ich. Wenn er nicht gleich aufhören würde mich anzufahren, würde ich wahrscheinlich losheulen.
Es war ruhig für eine kurze Zeit. Unheimlich ruhig. Denn die Spannung zwischen uns knisterte nur noch so in dieser Stille.
„Was hattest du eigentlich vor, an meinem Geburtstag? Warst du es so leid zu leben? Zuerst das Kleid, dann die Aktion mit Lissy und dann fährst du auch noch Clas so an! Warst du wirklich darauf aus zu sterben?“ Seine Stimme war laut, wütend. Zum ersten Mal in diesen Monaten, die ich hier verbracht hatte, hatte ich richtig Angst vor ihm. Er war schon ein Mal ausgeflippt, klar – aber um mein eigenes Leben hatte ich dabei noch nie Angst gehabt.
Anthony starrte mich die ganze Zeit an, während ich den Blick auf meine Füße fixiert hatte. Und unablässig konnte ich spüren, wie er mich am liebsten mit seinem Blick töten wollte. Jetzt senkte er seinen Kopf.
„Nach dieser Aktion habe ich überhaupt keine Ahnung, was mit dir nicht stimmt! Was wolltest du damit erreichen? Ich verstehe es nicht!“
Ich hatte seine Stimme immer so geliebt, so rau, so männlich, so... vertraut. Aber jetzt schmerzte es, sie so wütend zu hören.
„Was ich vorhatte?“, fragte ich eher mich als ihn. Dann fuhr ich ihn an. „Hast du vergessen, wie alt ich bin? Ich bin gerade in der verdammten Phase stehengeblieben, in der die meisten Menschen Selbstmord begehen, in der Phase, in der die Hormone verrückt spielen, da wo ich komplett der Welt ausgeliefert bin und mich allem und allen stellen muss. Mein Leben war schon als Mensch verdammt nochmal nicht einfach, aber du kannst dir nicht vorstellen, wie es mir jetzt geht! Du hast selbst gesagt, dass Vampire schneller aggressiv werden als sie es als Menschen werden würden, und du kannst dir nicht vorstellen, wie aggressiv ich manchmal auf alles bin, das sich bewegt und bei fünf nicht auf dem Baum ist.
Und mein Hass geht natürlich immer als erstes an die, die mein Leben schwerer machen oder gemacht haben. Wegen Clas bin ich hier, wegen Clas bin ich ein Vampir, weil er unbedingt neue Talente braucht! Mein Hass geht natürlich auf ihn, er hat mir mein Leben weggenommen! Und wenn ich nicht mal auf ihn wütend bin, dann auf Amalia und David, die mich überhaupt erst hergebracht haben! Und es macht mir überhaupt keinen Spaß, wenn mir jeden Tag etwas vorgeschrieben wird, das ich nicht im geringsten verstehe und deswegen gar nicht befolgen will. Und an deinem Geburtstag bin ich auch nur durchgedreht, weil Lissy mich erst dazu gebracht hat.
Kein Wunder, dass ich andauernd durchdrehe und immer bockig bin! Verdammt, ich bin erst fünfzehn, ein Teenager!“
Anthony räusperte sich. „Eigentlich bist du schon sechzehn.“
Mir klappte die Kinnlade runter. Also hatte ich ganze drei Monate in der „Hölle“ verbracht, wenn nicht noch mehr. Ich hatte drei ganze Monate einfach nur so verloren. Und ich hatte meinen sechzehnten Geburtstag verpasst. Ich rutschte an der Wand runter und saß dann plötzlich auf dem Boden. Meine Hände fuhren über mein Gesicht.
Ich seufzte. Dann fuhr ich fort.
„Was erwartest du von mir? Ich bin ein pubertierender Teenager, der sich allem widersetzt, was ihm gesagt wird, weil es einfach in seiner Natur liegt! Und so werde ich auch immer bleiben, weil ich beim Alterungsprozess einfach stehen geblieben bin. Und ist das meine Schuld?
Außerdem bin ich schon immer so gewesen. Selbst als Kind habe ich mich jedem widersetzt, der es einfach nicht wert war.
Denkst du, ich hatte Lust auf dieses Leben als Vampir gehabt? Am liebsten wäre ich jetzt immer noch ein Mensch! Wo mir Clas nicht sagt, was ich anziehen soll, was ich essen soll, wann ich essen soll, was ich machen muss, wohin ich ihm hinterher dackeln soll, wann ich raus darf oder ob ich es darf; wo mir Clas NICHTS zu sagen hat und wo ich einfach normal weiterleben kann, ohne diesen Blutdurst, der bei mir, wenn ich nur daran denke, so viele Schuldgefühle auslöst, dass ich jede Sekunde anfangen will zu heulen!“
Ich zählte alle meine Punkte an den Finger ab und je mehr Punkte ich hatte, desto lauter wurde ich, meine anfängliche Besorgnis über meine verlorene Zeit schwand mit jedem dieser Punkte. Diesmal fiel es mir nicht schwer ihm in die Augen zu sehen, nicht nachdem er mich so angefahren hatte. Und ich hielt seinem Blick stand.
„Ich glaube du verstehst nicht, was du da redest.“ Anthony stand jetzt wütend auf und zeigte dann mit dem Finger in meine Richtung. „DU bist nicht die Einzige, die sich an ihr neues Leben als Vampir gewöhnen muss! Jeder hat das durchgemacht, wirklich jeder, verdammt, aber keiner hat so viel Scheiße angestellt wie du!“
Langsam kam mir der überaus wütende Anthony entgegen.
„Es liegt weder an deinem Alter, noch an irgendeiner Person, die dich angeblich provoziert und dir nur Schlechtes antun will, noch sonst an irgendetwas Anderem. Es liegt alles an dir, an deinem Charakter, an deiner Person! Du kannst nichts Anderes, als ALLES kaputtzumachen, nicht anders, als ALLES zu zerstören und hast nichts Besseres zu tun, als ALLES mögliche dafür zu tun. Es liegt verdammt nochmal nicht an mir oder Clas oder irgendeinem Käfer! Es liegt einzig und allein nur an DIR!“
Wütend stand er über mir und ich spürte, wie der Schmerz scharf in mich hineinfuhr. Jedes seiner Worte verletzte mich und verursachte schlimme Schmerzen in meinem Herzen.
Er hasste mich. Er hatte es gerade zum Ausdruck gebracht. Und ich saß getroffen von seinen harten Worten vor ihm auf dem Boden und presste meine Lippen aufeinander. Vielleicht hatte er ja Recht und ich war das Miststück, das jeden nur auf Selbstmordgedanken brachte.
Ich stand auf und starrte ihm dabei fest in die Augen.
„Vielleicht stimmt das ja. Vielleicht sollte ich wirklich lieber am Abgrund der Hölle verrecken anstatt hier noch weiter zu leben“, sagte ich noch relativ ruhig, aber noch mit einer harten Stimme.
„Aber überleg' doch mal: Hast du jemals jemanden getroffen, der mit fünfzehn verwandelt wurde und erst wenige Monate ein Vampir war?“
Ich hob etwas meinen Kopf um ihm in die Augen zu sehen. Sein Blick war immer noch hart und wütend. Doch er sagte dazu nichts.
„Normalerweise gibt es doch keine, die so jung sind wie ich“, fuhr ich ihn etwas schärfer an. „Denn diese werden zu wild, sie sind einfach zu jung für die große Welt und die ganzen Möglichkeiten, die sich vor ihnen öffnen. Sie kommen damit nicht klar. Und das wusste Clas und hatte sich auch deswegen so sehr erschrocken, als er von meinem Alter erfahren hatte.“ Ich presste meine Zähne zusammen und schaffte es nur kaum durch diese die nächsten Worte zu sagen. „Und du willst mir jetzt allen Ernstes sagen, es liegt an meiner Person?“
Er sah mich weiterhin mit hartem Blick an.
„Du willst mir wirklich all das in die Schuhe schieben?“ Aus meinen Augenwinkel stahlen sich heiße Tränen. „Gerade du, der selber mal im jungen Alter verwandelt wurde?“ Meine Stimme war wieder laut geworden und mit der steigenden Tränenanzahl wurde ich wütender. „Du hattest doch selber deine Probleme gehabt! Du hast doch monatelang nach den Vampiren gesucht, die deine Familie umgebracht haben und dabei jeden, der dir im Weg stand, umgebracht, wenn das stimmt, was du mir mal erzählt hast! Du warst sogar schlimmer als ich und dabei noch viel älter! Und dann soll ICH auch noch eine schlechte Person sein? Wie soll ICH schlechter sein als DU, wenn...“
Anthony unterbrach mich. „Das ist doch etwas komplett anderes! Die Vampire haben meine Familie UMGEBRACHT! Wie hätte ich da reagieren sollen?“
„Ist das wirklich dein Ernst? Nach diesem Maßstab hätte ich auch schon längst alle umbringen sollen! Im Vergleich zu dir, bin ich ja richtig zivilisiert gewesen!“
Ein scharfer Schmerz explodierte in meinem Gesicht. Mein Kiefer verschob sich und ich krachte mit meiner rechten Gesichtshälfte gegen die Wand. Dann fiel ich zu Boden.
Schockiert schaute ich hoch. Ein leichter Schwindel von dem Schlag überfiel mich dabei.
Anthony schaute wütend auf mich hinunter, seine Faust immer noch oben. Doch dann veränderte sich sein Gesichtsausdruck. Entsetzt blickte er erst auf seine geballte Hand und dann wieder auf mich.
Ich renkte mir den Kiefer wieder ein, wobei mir ein Jaulen entwich und fing dann heftig an zu heulen.
Als er sich fassen konnte über das, was er getan hatte, kam Anthony langsam zu mir runter.
„Geh weg!“, schrie ich und rutschte dabei an der Wand von ihm weg. Heiße Tränen flossen pausenlos über meine Wangen auf meine Knie.
Anthony starrte mich lange an, bis er den Blick von mir wandte. Ich konnte mich währenddessen mit dem Weinen nicht mehr halten und schluchzte die ganze Zeit laut auf.
„Es...“, fing er an, machte dann aber eine kurze Pause. Er holte tief Luft.
„Es... tut mit Leid“, murmelte er und raufte sich die Haare. „Ich... ich... ich weiß nicht, was...“
Er stöhnte laut und rieb sich übers Gesicht. „Ich habe keine Ahnung, was... was in mich gefahren ist, ich...“ Er schüttelte seinen Kopf und ballte dabei seine Fäuste.
Ich umschlang meine Beine und versteckte mein Gesicht dazwischen.
Und plötzlich rutschte er auf mich zu.
„Nein!“, kreischte ich. „Bleib von mir weg!“
Ich schlug mit meinen Beinen nach ihm aus und hoffte, er blieb weg. Und sah ihn dabei entgeistert an.
Sein Blick war nun nicht mehr wütend und sein Gesicht vor Zorn nicht mehr verzerrt, dafür aber verzerrt von Erschütterung und Schock. Er presste verzweifelt seine Lippen aufeinander, als er mein Tränen überströmtes und angsterfülltes Gesicht sah.
„Bleib weg von mir!“, wiederholte ich. „Hau ab!“
Er starrte mich weiterhin schockiert mit Schmerz in seinen Augen an, bis er wütend mit der Faust auf den Boden schlug. Ich zuckte zusammen.
Mit zusammengebissenen Zähne stand er schnell auf und verschwand.
Heulend saß ich in der Ecke und schluchzte.
Er hatte mich angeschrien und mich dann geschlagen. Und er hasste mich.
Neue Schluchzer überfielen mich und ich konnte dazwischen nicht mal mehr atmen. Ich rollte mich einfach nur in eine Kugel und lies die Zeit an mir vorbei gehen.
Selbst nach Stunden hatte ich immer noch nicht aufgehört zu heulen. Immer noch spürte ich den Schmerz auf meiner Wange. Immer noch sah ich den wütenden Anthony vor mir stehen, mit gehobener Faust. Es tat immer noch so weh.
Ich erzitterte, als ich merkte, dass er plötzlich wieder in meinem Zimmer stand.
Anthony.
Er stand vor der Tür. Und ich saß immer noch da, wie einige Stunden zuvor.
„Verschwinde!“, schrie ich wütend und wischte mir die getrockneten Tränen aus dem Gesicht. „Ich hab doch gesagt, du sollst abhauen!“
Er holte tief Luft. „Milana“, fing er an und trat dann langsam näher. „Das was passiert ist, das habe ich nicht gewollt.“
Bei jedem Laut seiner näher kommenden Schritte zuckte ich zusammen. Ich wollte nicht, dass er mir näher kam.
„Bitte“, sagte er. „Bitte, hör mir jetzt einfach zu und versuch mich zu verstehen!“
Ich schaute hoch und blickte ihn verdattert. Ich brauchte nichts zu verstehen. Ich brauchte es nur zu akzeptieren. Er hasste mich und hatte es mit dem Schlag nur zum Ausdruck gebracht. Und ich hatte es verdient. Den einzigen Gefallen, den er mir nun machen musste, war, mir einfach fernzubleiben. Aber das konnte er wohl nicht.
Mit vorwurfsvollen Augen starrte ich ihn an. Denn er hatte hier wirklich nichts mehr zu suchen.
Anthony holte Luft um etwas zu sagen, allerdings stöhnte er dann nur.
„Verdammt, ich kann nicht mit dir reden, wenn du mich so anschaust!“ Er fuhr sich mit den Händen übers Gesicht.
„Okay, jetzt hör zu“, wiederholte er die Worte von vorhin nochmal, nur um dann nochmal zu stöhnen, als er mich wieder ansah. Nun fing er an, ratlos im Zimmer zu laufen. Den Sinn davon konnte ich nicht verstehen, aber so wie es aussah, konnte er nicht ruhig stehen bleiben.
„Okay, du hattest Recht!“, brachte er plötzlich hervor. „Ich war wirklich schlimmer, als du, als ich noch jung war. Ich war ein verdammtes Monster!“
Ich starrte ihn weiterhin an und war erst verwirrt über seine Worte.
Hat er das wirklich gerade gesagt?
Fassungslos schüttelte ich den Kopf. „Du denkst wirklich, ich wollte hören wie du sagst, dass ich Recht hatte?“
„Das wollt ihr Frauen doch sowieso alle“, murmelte er und fuhr sich mit den Händen durch die Haare. Er hatte es geschafft, sich zu setzen und lief endlich nicht mehr nervös durch mein Zimmer, denn ich bekam es jedes Mal mit der Angst zu tun, wenn er mir dabei näher kam.
Zuerst holte ich tief Luft, um darauf zu antworten, runzelte dann aber die Stirn, als ich über sein Gesagtes länger nachdachte. Außerdem erschien mir der Grund, wieso er überhaupt hier war und mit mir sprechen wollte, immer kurioser. Wollte er sich nun wirklich dafür entschuldigen, dass er mich geohrfeigt hatte, oder wollte er mir doch noch mehr Schuld aufhängen und mich noch lauter anbrüllen?
„Es ist mir scheißegal, ob du denkst, dass ich Recht hatte oder nicht. Jedenfalls ist es mir jetzt egal.“
Anthony sah zu mir hoch und schaute mich verwirrt an.
Ich schluckte. „Aber was ich jetzt von dir erwarte, ist, dass du mich in Ruhe lässt“, sagte ich und blickte ihn an. „Du hast mich geschlagen? Fein! Aber bleib ab jetzt bloß weg von mir!“
Es war für eine kurze Zeit still.
„Was?“ Verdattert sah er mich an.
Ich drehte meinen Kopf zur Seite. Also, wenn er mir diesen Wunsch nicht erfüllen wollte, dann wusste ich auch nicht mehr weiter.
Anthony schüttelte den Kopf. „Und genau da liegt das Problem: Ich will nicht von dir fern bleiben. Auch wenn ich dich nicht sehr lange kenne, du bist eine echte Freundin geworden und dieser Ausraster... Ich habe keine Ahnung, was das war, aber ich war in dem Moment nur so wütend auf dich, da... bin ich ausgebrochen.“
„Was?“ Dieses Mal schaute ich ihn verdattert an.
Ich verstand gar nichts mehr. Er war erst wütend auf mich und hatte mich geschlagen – man hatte ihm angesehen, wie er mich hasste und wie sehr er mich umbringen wollte. Doch plötzlich war ich seine Freundin und das eben war nur ein Ausraster gewesen.
Er stöhnte. „Ja, das... das ist halt manchmal so. Manchmal raste ich aus und... Ich weiß nicht, woran das liegt, aber es gibt dann so Zeiten, da...“ Sein Mundwinkel hob sich etwas und auch nur ganz kurz, dann zitierte er mich. „Da bin ich auf alles wütend, das bei fünf nicht auf dem Baum ist.“
Ich blickte ihn verwirrt an. Alles machte immer weniger Sinn.
Anthony holte wieder Luft, um etwas zu sagen, stöhnte dann aber erneut. „Verdammt, Mila, ich hab doch gerade gesagt, ich kann nicht reden, wenn du mich so anschaust!“
„Wie schaue ich denn?“, fragte ich und spuckte die nächsten Worte aus. „Wie eine, die von einem ehemaligen Freund geschlagen worden ist?“
Ich war sauer. Auch auf mich und die Dummheit, die ich an Anthonys Geburtstag getan hatte, denn diese hatte mir das alles erst eingebrockt. Aber vor allem war ich sauer auf Anthony. Er war mein Freund gewesen und hätte mich nicht schlagen dürfen.
Anthonys Blick wurde immer verzweifelter und er kippte seinen Kopf nach hinten. Dann murmelte er etwas Unverständliches.
„Was?“, fragte ich.
Er schüttelte seinen Kopf. „Nichts. Ich hasse nur Personen, die alles so drehen und wenden, dass sie schlussendlich unschuldig erscheinen.“ Ein halbes Lächeln stahl sich dabei aus seinem Gesicht und er rieb seine Hände wieder übers Gesicht.
Ich starrte ihn lange ratlos an, ehe ich das im Gehirn verarbeitet hatte.
Wo war ich bei ihm dran? Hasste er mich oder doch nicht?
„Eigentlich war ich ja richtig wütend auf dich, denn DU hast mir meinen Geburtstag versaut. Und jetzt bin schlussendlich ICH der Böse.“
Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Mir fiel nichts ein, mein Hirn war wie leergefegt. Das Einzige, was bei mir da noch herumschwirrte, war die Frage, ob er mir jemals verzeihen würde.
„Eigentlich habe ich ja nicht geplant auszurasten, aber dann hast du auf meine Vergangenheit zurück gegriffen, und dann...“ Anthony seufzte laut. „Wie gesagt, das passiert mir manchmal. Ich weiß auch nicht woher es kommt, aber manchmal kommt der Moment, indem ich durchdrehe.“
Er schaute mir nun tief in die Augen. „Es tut mir leid. Ich wollte dich nie schlagen. Es... Wahrscheinlich war es genauso bei dir gewesen. Du hast an meinem Geburtstag ja auch die Kontrolle verloren. Und so war das bei mir wohl auch.“ Er seufzte. „Und wieso sollte ich von dir verlangen, dass du mir diese Ohrfeige jemals verzeihen würdest, wenn ich dir für deine Aktion an deinem Geburtstag nicht verzeihe?“
Es blieb für eine lange Zeit still.
„Ja“, durchbrach Anthony kurz die Stille, das war es aber auch schon, da ich nichts darauf antwortete.
„Also, ich glaube, wir...“ Anthony fing an, etwas zu sagen. Und ich konnte mir vorstellen, was er sagen wollte, man konnte es seinem Gesicht ansehen.
Aber ich war noch nicht so weit. Ich war immer noch dabei, all dies zu verarbeiten.
„... wir könnten doch einfach vergessen, was passiert ist. Ich will, dass wir wieder normal miteinander umgehen.“
Ich schaute hoch. „Also verzeihst du mir?“, fragte ich.
„Ja, verdammt“, antwortete er. „Irgendwie muss ich dir doch verzeihen, wenn ich wieder mit dir befreundet sein will.“ Ein kleines Lächeln stahl sich über sein Gesicht, als er mich anschaute. „Böse kann ich dir sowieso nicht lange sein, so wie du mich immer anguckst“, fügte er noch hinzu.
Ich starrte ihn an. Aber ich sah nicht mehr den Anthony, den ich sonst immer in ihm gesehen hatte. Keinen fürsorglichen und aufmerksamen Freund. Nein, ich sah einen aggressiven Anthony, trotz der Tatsache, dass er mich gerade lächelnd anblickte.
Ich hatte einfach schrecklich Angst vor ihm.
„Ich...“ Kurz räusperte ich mich und schluckte dann. „Kannst du bitte gehen?“
Anthony runzelte die Stirn. „Was? Wieso?“ Das Lächeln aus seinem Gesicht verschwand, stattdessen wurde es durch einen fragenden Gesichtsausdruck ersetzt.
„Ich kann das nur noch nicht“, antwortete ich und sah ihn an.
Sein Blick blieb weiterhin fragend und schüttelte den Kopf. „Was kannst du noch nicht?“ Und gegen all meine Hoffnungen kam er ein paar Schritte auf mich zu.
„Bleib“, fuhr ich auf und sog scharf die Luft ein, „einfach nur da, wo du bist und komm mir bloß nicht näher!“
Er riss seine Augen auf und schaute mich entsetzt an.
„Bitte, ich... muss das erst verarbeiten“, sagte ich. „Ich kann dir einfach nicht näher kommen, ich...“
„Aber...“, unterbrach mich Anthony, aber meine Stimme wurde lauter und ich schnitt ihm scharf das Wort ab.
„Ich habe ANGST vor dir!“
Er blickte mich lange an, keine einzige Regung zuckte dabei durch sein Gesicht.
„Geh einfach, bitte!“
Es fiel mir schwer es zu sagen, vor allem, weil ich in dem Moment an den Anthony denken musste, den ich kennengelernt hatte. Zu ihm hätte ich das niemals sagen können.
Anthony biss die Zähne zusammen. Ich konnte den Schmerz in seinen Augen erkennen, aber dagegen konnte ich nichts unternehmen, ich wollte einfach nicht mehr in seiner Nähe sein.
Dann ging er einfach, ohne Widerworte.
Ich schlug mir mit den Händen ins Gesicht. Was hatte ich getan?
Ich besaß nur wenige Freunde und dann schickte ich auch noch einen davon weg. Und das, obwohl er sich wieder mit mir versöhnen wollte.
Aber andererseits konnte ich einfach nicht anders. Den aggressiven Menschen, den ich gerade in Anthony kennengelernt hatte, war eine ganz andere Person. Und diese wollte ich nicht sehen.
Mein Kopf brummte und ich wollte nur noch raus. Ich stand auf und stürmte aus der Tür. Erst lief ich, ohne richtig zu überlegen, irgendwohin, doch dann merkte ich, dass ich zum Saal lief. Dabei wollte ich eigentlich irgendwohin, wo ich niemandem begegnen würde.
Schnell wollte ich wieder zurück, doch dann hörte ich plötzlich die wütende Stimme von Clas. Wäre sie nicht so laut und aggressiv gewesen, hätte ich sie gar nicht erst gehört.
„Das ist doch wirklich einfach nur Dummheit! Wie konntest du das nur machen? Bist du komplett durchgedreht?!“, schrie Clas irgendjemanden an.
„Verdammt, es war doch nicht mit Absicht!“
Ich erschrak, als ich die Person hinter der Stimme erkannte. Es war Anthony.
„Es ist mir verdammt noch mal egal, ob du es so gewollt hattest oder nicht!“, brüllte wieder Clas. „Hast du eine Ahnung, was du da angestellt hast? Vielleicht hast du sogar alles versaut!“
Ich wollte verschwinden, aber meine Füße klebten am Boden fest. Ich musste einfach wissen, was Anthony angestellt hatte, das Clas so aufbrachte.
„Ich war wütend auf sie!“, verteidigte er sich. „Sie hat mir meinen Geburtstag zerstört und dann darf ich nicht mal wütend darüber sein?“
Ich zuckte zusammen. Redeten sie über mich?
„Und deswegen musstest du sie schlagen?“, fragte Clas aufgebracht.
„Ich habe doch gesagt, ich wollte das nicht. Es ist mir ausgerutscht!“
„Und was wäre, wenn mir plötzlich die Hand ausrutscht und ich dich erst köpfe und dann aus Versehen ins Feuer werfe?“
Ich hörte Anthony stöhnen.
„Und was ist, wenn du nun ihr Vertrauen verloren hast? Für immer?“, stellte Clas die Frage. „Was ist, wenn unser Plan gescheitert ist? Und sie uns am Ende noch abhaut? Sie ist nicht gerade ein Geschenk an die Menschheit und soll lieber da bleiben, wo sie gerade ist.“
„Ich kriege das wieder hin.“ Es blieb kurz still. „Ich kriege das wieder hin“, wiederholte Anthony. „Ich gewinne ihr Vertrauen zurück.“
Clas seufzte. „Das möchte ich auch hoffen!“
Ich schaffte es, meine Füße vom Boden zu lösen und rannte los. Einfach nur weg. Raus.
Die Stimmen von Clas und Anthony wurden immer leiser und ich hörte sie schon nach zwanzig Schritten nicht mehr. Es blieben bei mir nur noch die letzten Worte von Anthony hängen, die ich gehört hatte.
„Ich habe sie am Haken. Es wird eine Leichtigkeit, sie..“
Als ich endlich durch die ganzen Gänge und Türen an die frische Luft kam, atmete ich sie tief ein.
Das, was ich gerade gehört hatte, verwirrte mich. Die einzigen klaren Gedanken, die ich dazu fassen konnte, sagten mir, dass seit einiger Zeit irgendetwas hinter meinen Rücken lief und dass es mit mir zu tun hatte.
Die erste Frage, die sich mir überhaupt stellte, war, woher Clas wusste, dass Anthony mich geschlagen hatte. Es war schlichtweg unmöglich, dass Anthony es ihm selbst gesagt hatte – außer er wäre suizidgefährdet.
Doch die nächste und viel wichtigere Frage war: Welcher große Plan war am Laufen und was hatte er mit mir zu tun?
Ich rieb mir die Stelle zwischen meinen Augenbrauen, weil ich auf keine Antwort kam.
Wahrscheinlich war alles noch verwirrender und mehr ineinander verwoben als ich es mir vorstellen konnte. Und meine endlos vielen Fragen konnte ich sowieso niemals beantworten. Doch am meisten verwirrte mich eines:
Welche Rolle spielte Anthony in diesem Spiel und wieso war es für Clas so wichtig, dass Anthony mein Vertrauen hatte?
Das Wetter war wirklich schön – zu schön für einen Mai.
Ich fuhr mir durch die Augen. Mai war es wahrscheinlich auch gar nicht mehr. Vielleicht Juni oder Juli, schlimmstenfalls sogar August. Und anstatt das Wetter und das Leben zu genießen, hatte ich meine Zeit in der „Hölle“ verbracht und unter Blutdurst gelitten.
Bevor ich wieder anfing zu heulen, wischte ich mir schnell die Tränen aus den Augenwinkeln und versuchte an etwas Anderes zu denken. Allerdings konnte ich mich in dem Moment an nichts erinnern, das in meinem Leben nicht traurig geendet hatte.
Ich holte tief Luft und starrte auf das Blätterdach über mir, durch das nur wenige Sonnenstrahlen den Weg zum Boden fanden.
Mein Leben war beschissen. Ich wurde von meiner Familie weggerissen, damit ich mich in einen Vampir verwandeln und in Zukunft ein Vampirkiller werden konnte. Dazu hatte ich auch noch über drei Monate mit Hungern verloren und einer meiner zwei Freunde spielte irgendein seltsames Spiel mit mir, von dem wahrscheinlich alle, außer mir, wussten.
Jetzt hatte ich nur noch Daniel als einzigen Freund. Der würde es mit mir auch nicht einfach haben.
Vermutlich aber steckte Daniel auch in diesem Plan. Ich konnte nicht darauf vertrauen, dass er davon nicht das Geringste wusste.
Wieder gingen mir Anthonys Worte durch den Kopf.
Ich gewinne ihr Vertrauen zurück.
Ich habe sie am Haken.
Wenn ich nur wissen würde, was genau er vorhatte. Es gefiel mir gar nicht, dass Anthony irgendwas hinter meinem Rücken im Schilde führte und das seit geraumer Zeit. Ewig hatte er es verheimlicht und ich bezweifelte, dass ich jemals von ihm erfahren würde, was hinter all dem steckte.
Die größte Angst, die ich besaß, war die, dass Anthony mein Vertrauen schon immer zu seinem Zweck ausgenutzt hatte. Das aber fiel nicht mit dem Überein, was Clas plante. Es konnte doch einfach nicht sein, dass Anthony mich küsste und versuchte dadurch mein Vertrauen zu gewinnen, aber Clas davon nichts erfahren durfte – denn wenn wir uns geküsst hatten, dann hatten wir das immer heimlich getan; also konnte das nicht zum Teil von Clas' Plan gehören.
Anthony wollte mein Vertrauen zurückgewinnen? Dann musste ich wohl etwas dagegen wirken, denn so leicht wollte ich es ihm nicht machen. Nun wusste ich, dass er es nicht aus freien Stücken tat, dadurch war ich vorbereitet.
Aber ein kleiner Teil meines Gehirns sagte mir, dass Anthony so etwas nie tun würde. Er hatte sich nicht bei mir für die Ohrfeige entschuldigt und wollte wieder mit mir befreundet sein, weil es Teil eines Plans war. Vielleicht mochte er mich wirklich. Vielleicht war das alles nur ein Missverständnis.
Gerade wollte ich mir wieder widersprechen, da hörte ich es auf einmal hinter mir rascheln. Schnell drehte ich mich um.
„Hey!“, sagte Daniel und kam lächelnd auf mich zu.
Ich atmete auf.
„Hey“, murmelte ich.
Er kam rüber und setzte sich zu mir unter den Baum.
Erst wusste ich nicht, was ich machen sollte, setzte mir dann aber ein Lächeln auf und drehte mich zu ihm.
„Und, wie waren die paar Monate ohne mich?“
Daniel lachte. „Ziemlich ruhig, muss ich sagen!“
Während meines aufgesetzten Lächelns biss ich mir auf die Lippe. „Mhm.“
Es war für eine ganze Weile still und man hörte nur noch ein paar Vögel zwitschern und das Rascheln der Blätter im Wind.
„Wieso bist du überhaupt hier?“, fragte ich, um der unangenehmen Stille ein Ende zu setzen.
„Du bist raus gestürmt, da bin ich dir gefolgt“, antwortete Daniel. „Was ist eigentlich passiert?“ Er schaute mich fragend und gleichzeitig aufmunternd an.
Ich schüttelte bloß den Kopf und lehnte meinen Kopf an den Baum. Darüber wollte ich weder sprechen noch denken. Es war genug geschehen und ich war zu aufgeregt, um noch länger diesen Salat in meinem Kopf zu beachten.
„Welcher Tag ist heute eigentlich?“ Meine Augen schauten zu ihm hoch, aber mein Kopf blieb aber unbewegt.
„Sonntag.“ Er lachte. „Aber ich glaube du wolltest das Datum wissen, nicht?“
Ich nickte.
„Es ist mittlerweile Juni, Milana.“
Seufzend schloss ich die Augen. „Vier ganze Monate“, nuschelte ich in meine Haare.
Ich konnte es einfach nicht glauben. Natürlich, ich hatte sogar mit mehr gerechnet, als ich den ersten Schritt aus der „Hölle“ trat – für mich hatte es sich angefühlt, als hätte ich dort Jahre gelitten. Doch eigentlich hatte ich nach einigem Überlegen mit einem verlorenen Monat gerechnet. Und jetzt waren es doch vier Monate, die ich einfach so verloren hatte. Ich fühlte mich elendig.
„Du hast im Endeffekt nicht viel verpasst“, meinte Daniel. „Diese paar Monate waren richtig langweilig, ein paar Freudenausbrüche von Amalia, außerdem sind ein paar von deinen Schreien taub geworden und deswegen absichtlich gegen Wände gelaufen, aber sonst ist nichts passiert.“
Ich drehte mich kopfschüttelnd zu ihm und grinste. „Du weißt wohl wie man andere dazu bringt zu lächeln, nicht?“
Er schaute mich bescheiden an. „Ich hatte genug Zeit, um das zu erlernen, also...“ Er zuckte mit den Schultern.
Ich stöhnte laut. „Es ist nur so: Auch wenn ich die Ewigkeit vielleicht vor mir habe, lebt meine Familie nicht ewig. Ich will sie endlich sehen und nicht so lange warten bis es zu spät ist!“
Mein Blick fiel auf sein Gesicht. Die vertrauten, tiefliegenden braunen Augen schauten mich aufmunternd an.
Und ohne, dass ich es sagen musste, rutschte Daniel zu mir rüber und nahm mich in den Arm. Ich schmiegte mich an ihn und vergrub mein Gesicht dabei in seinem Hemd. Es tat gut, endlich jemanden in seiner Nähe zu haben und nicht immer nur alleine in der Kälte zu sein – denn trotz unserer kalten Körpertemperatur fühlte sich Daniel sich für mich warm an. Zum ersten Mal seit vier Monaten fühlte ich mich wieder geborgen.
„Danke“, murmelte ich. „Das brauche ich gerade.“
Darauf antwortete Daniel einfach nichts und wir blieben in dieser wohltuenden Stille.
„Du denkst die ganze Zeit über schlechte Sachen nach“, durchbrach er plötzlich die Ruhe, in der nur die Vögel zwitscherten.
Das hatte ich noch gar nicht gemerkt. Eigentlich dachte ich die ganze Weile in der Stille über mein neues Leben nach und da mir dazu nichts schönes mehr einfallen konnte, dachte ich nur an die negativen Seiten.
„Woher weißt du das eigentlich?“, fragte ich stirnrunzelnd und schaute zu ihm hoch.
Er lächelte. „Denkst du, ich merke nicht, wie angespannt du die ganze Zeit bist und wie du andauernd zuckst, während du auf mir liegst?“
„Oh.“ Ich streckte mich etwas und versuchte mich zu entspannen. „Du merkst so etwas wohl schneller als ich“, lachte ich.
„Ja und anstatt runterzukommen, wirst du immer verspannter! Komm, jetzt denk doch mal an was Schönes!“ Er bedachte mich eines strengen Blickes und ich lachte deswegen laut los.
Beim Versuch seinem Rat zu folgen, fielen mir erst nur Momente mit Anthony ein. Ein weiteres Mal merkte ich, wie schlecht es um mich stand. Obwohl er mich geschlagen hatte, ich deswegen Angst vor ihm hatte und ich wusste, dass er etwas hinter meinem Rücken im Schilde führte, konnte ich nicht aufhören an ihn zu denken und liebte ihn immer noch wie verrückt.
Ich fuhr mir übers Gesicht und dachte an etwas anderes.
Plötzlich lachte ich los. „Ich weiß noch, wie ich dank Stephan herausgefunden habe, wo sich ungefähr die Blutkammer befindet.“ Lachend hielt ich mir den Bauch. „Der hat mich gefragt, was ich in dem einen Gang zu suchen hatte und da wurde mir klar, dass sie sich irgendwo dort befinden musste.“
Endlich hatte sich meine Anspannung durch das Lachen gelöst und ich konnte zwischendurch nicht mal mehr atmen. „Mann, ist der wütend geworden, als ich es herausgefunden habe!"
Daniel schaute mich erst lange an, dann runzelte er deine Stirn. „Denkst du das wirklich?“
„Was? Wieso nicht?“
„Also glaubst du wirklich daran, dass du weißt, wo die Kammer ist?“, fragte er mich und seine Mundwinkel hoben sich an.
Ich nickte ernst.
Plötzlich bekam Daniel einen Lachanfall. „Dir ist schon klar dass Stephan und David dich verarscht haben? Diese Masche ziehen die bei jedem Neuen ab. Die Kammer ist in Wirklichkeit ganz wo anders.“
Meine Augenbrauen schossen in die Höhe. „Ernsthaft?“
Durch seinen Lachflash schaffte es Daniel nur mit Mühen zu nicken.
Ich fühlte mich plötzlich richtig dumm, denn ich war wirklich darauf reingefallen. Dann musste ich wohl wirklich dümmer sein als ich es vermutet hätte. Am liebsten hätte ich meinen Kopf gegen einen der Baumstämme gehauen.
Daniel hatte sich einigermaßen eingekriegt und er erzählte: „Eigentlich machen die das nur, um die jungen wilden Vampire davon abzuhalten, alles auszutrinken und deswegen blutrünstiger zu werden. Und ich hatte eigentlich vermutet, du wärst schon hinter diesen Irreführung gekommen.“ Nachdem er das sagte, lachte er von neuem los.
Zum Spaß guckte ich beleidigt. Dann wurde ich aber wieder ernst. „Ich hatte eigentlich keine Zeit, darüber nachzudenken, vor allem deswegen nicht, weil es mich eigentlich nicht wirklich interessiert hat.“ Natürlich musste ich mich selbst verteidigen und dabei merkte ich, dass mein Gesagtes wirklich stimmte.
Daniel fuhr sich übers Gesicht, um mit dem Lachen endlich aufzuhören. „Klar doch!“
Erst wollte ich widersprechen, doch es würde sich nicht lohnen. Daniel zog mich nur wie immer auf.
Ich schüttelte grinsend den Kopf.
Endlich war die ganze Anspannung der letzten Monate von mir gefallen. Der Druck auf mir war nur noch halb so schwer und selbst wenn heute noch die Welt untergehen würde, wäre es mir egal. Mir war alles egal. Jetzt zählte nur noch: An nichts denken und die Erde einfach weiterdrehen lassen, ohne sich darüber aufzuregen.
Daniel war einfach der beste Mediziner der Welt. Er wusste, was zu tun war, wenn es jemandem schlecht ging. Stundenlang bin ich mit ihm in einer Umarmung gelegen und konnte ihm einfach alles erzählen. Wie es mir in der „Hölle“ ergangen ist, der Streit mir Anthony und seine Entschuldigung, die ich nicht annehmen konnte. Dass ich Clas und Anthony belauscht hatte, verschwieg ich allerdings.
Auch wenn uns eine Menge trennte – das Alter, die Erfahrung –, teilten wir beide denselben Humor. Außerdem wurde mir klar, dass es beinahe unmöglich war, so einen Freund in seinem Leben zu finden und ich war richtig glücklich darüber, dass Daniel die Zeit überhaupt mit mir verbringen wollte.
Ein kleiner Teil meines Gehirns fragte sich, ob Daniel vielleicht nicht auch Teil von Clas' mysteriösem Plan war, denn immerhin besaß er einen hohen Stellenwert und es war sehr unwahrscheinlich, dass er davon nicht wusste. Das alles, diese Freundschaft, konnte ein Fake sein. Allerdings zwang ich mein Hirn, nicht daran zu denken, denn ich wollte einfach nicht darüber denken. In dem Moment war mir sowieso alles egal.
Ich saß nun in der Blutbeutelvorratskammer, die Daniel mir gezeigt hatte, nach neun ganzen Stunden draußen mit ihm. Und ich fühlte mich gut und entspannt.
Eigentlich hatte es keinen Sinn gemacht, wieder in diese fensterlosen Gänge der Burg zu kommen. Hier drinnen gab es nichts außer Steinwände, die bei mir fast Klaustrophobie auslösten. Die engen und scheinbar endlosen Gänge waren dabei weniger der Grund, sondern eher die Tatsache, dass ich diese Wände spüren konnte. Ich spürte ihre Form und Struktur und sie schrien schon fast danach, dass ich sie verformte oder gar zerstörte. Allein durch einen einzigen Gedanken konnte ich sie dazu bringen, das zu tun, was ich wollte und das machte es mir schwer, sich nicht auf diese Steinblöcke zu konzentrieren.
Draußen wäre ich nicht so eingeengt gewesen und hätte meine Freiheit, doch der Blutgeruch machte mir zu schaffen. Überall hing der Duft von Menschen; vor allem, wenn starker Wind wehte, strömte mir ihr Geruch in die Nase. Lange konnte ich das nicht aushalten, diese neun Stunden draußen mit Daniel waren erst mal genug, denn ich hatte nach meinem Koma wieder so einen riesigen Hunger.
Ich schlürfte meinen siebten Beutel zu Ende und setzte mich auf. Es kam jemand her und ich sollte so langsam verschwinden. Doch je näher diese Person kam, desto mehr erkannte ich sie an den Schritten. Schnell stürmte ich raus.
Nachdem ich aus der Tür war, bog ich eilends um die Ecke. Doch er verfolgte mich schnell.
„Warte doch mal!“, rief Anthony.
Mir blieb nichts anderes übrig als stehenzubleiben. Ich seufzte. Früher oder später musste ich sowieso noch mit ihm reden.
„Ich habe dich gesucht und Daniel hat gesagt, dass du bist hier bist“, meinte Anthony und kam auf mich zu, während ich immer noch mit dem Rücken zu ihm gewandt da stand. „Ich wollte noch mit dir reden.“
Ein kleiner Blutstropfen floss meinen Mundwinkel runter und ich wischte ihn schnell weg.
Nun stand er direkt vor mir. „Können wir vielleicht irgendwohin und kurz miteinander reden?“
„Weißt du was?“ Ich schaute ihm direkt in die Augen. „Mir geht es gerade so gut und ich möchte mir die Laune nicht mehr verderben lassen. Es ist mir sowieso egal!“
Ich lief los.
„Ach, ist es dir das?“, rief er mir hinterher. Dann folgte er mir.
„Hör zu: Ich will, dass wir das jetzt wirklich mal regeln! Wir können uns nicht ewig aus dem Weg gehen!“
Ich stoppte. „Falsch. Du kannst es nicht, ich kann es!“ Dann lief ich schnell weiter.
Anthony stöhnte. „Findest du nicht, du übertreibst?“
Unwillkürlich blieb ich stehen und starrte ihn verständnislos an.
„Ernsthaft?“
Anthony starrte so lange in meine Augen bis ich Schmerz in seinen Augen sah und er sich abwandte.
Anstatt zu gehen und es zu vergessen, versuchte ich, es ihm zu erklären. „Ich habe Angst vor dir! Und das geht nicht einfach so von heute auf morgen weg!“
„Aber genau das will ich ja versuchen zu ändern! Deswegen will ich mit dir reden!“, unterbrach er mich.
Ich schüttelte den Kopf. „Aber ich kann schon nicht mal mehr normal neben dir laufen! Ich habe Angst, dass du wieder durchdrehst und mich schlägst, vielleicht sogar umbringst.“
„Das würde ich niemals tun!“, verteidigte er sich.
„Sicher?“, fragte ich nach. „Ich würde nicht mal so weit gehen und einen Freund überhaupt schlagen.“
Er stöhnte frustriert.
„Und früher konntest du wegen einem ganz anderem Grund nicht normal neben mir laufen – nicht ohne mich anzufassen“, murmelte Anthony.
Es war wie ein leichter Schlag auf den Hinterkopf. War ich wirklich so anhänglich gewesen?
Ich guckte ihn schräg an. „War vielleicht ein Fehler gewesen.“ Dann holte ich nochmal tief Luft. „Es war wohl allgemein ein Fehler gewesen, dir zu vertrauen. Aber nun ist das ja kein Problem mehr, denn ich habe kein Vertrauen mehr in dich.“ Und wahrscheinlich auch einzig und allein aus dem Grund, weil ich dich und Clas über irgendeinen verdammten Plan habe reden hören.
Nun lief ich los in mein Zimmer. Nicht mehr in der menschlichen Geschwindigkeit, sondern mit der Höchstgeschwindigkeit eines Vampirs.
Das war genug Stress gewesen und ich brauchte nicht noch mehr Sinnloses von Anthony zu hören.
Als ich davonlief, merkte ich, dass ich ihn immer noch sehr liebte. Obwohl ich Angst vor ihm hatte, wollte ich ihm immer noch nahe sein und obwohl ich wütend auf ihn wegen der Ohrfeige war, wollte ich nichts anderes als ihm zu verzeihen und ihn in die Arme zu schließen.
Doch wenn das alles wirklich nur gespielt gewesen war? Wenn alles zu Clas' Plan gehörte und ich von Anthony nur ausgenutzt wurde?
„Milana!“, rief Anthony und holte mich fast ein. „Verdammt!“
In meinem Zimmer angekommen, stellte ich mich schnell hinter mein beschützendes Bett und anstatt dass Anthony seine Manieren behielt, stürmte er gegen meinen Willen ins Zimmer.
„Ich bin noch nicht fertig mit dem Reden!“, meinte er.
„Ich wüsste nicht, wann wir damit angefangen haben und wann ich dir erlaubt hätte, in mein Zimmer zu kommen!“
„Ach, bitte!“, rief Anthony. „Sei doch mal vernünftig und hör mich doch mal zu!“
Ich runzelte die Stirn. „Ich und vernünftig in einem Satz? Ich habe gedacht, dass habt ihr schon alle aus eurem Wortschatz gestrichen. Ihr haltet mich doch eh alle für einen wilden Teenager.“
„Dann sei doch mal anders, als man es von dir erwartet und hör mir endlich zu!“
Ich seufzte nur noch und gab auf. Anthony würde nicht locker lassen. Somit setzte ich mich auf mein Bett, schloss die Augen und wartete.
Anthony holte tief Luft. „Ich kann es einfach nicht ertragen, wenn du mir nicht mehr vertrauen kannst. Und erst recht nicht, wenn du Angst vor mir hast! Ich habe mit dir eine gesamte Freundschaft aufgebaut und das tue ich nicht einfach so! Du hast mir wirklich gefallen und du gefällst mir immer noch. Dieser Schlag hat nichts zu bedeuten, es war wirklich nur ein Ausraster und ich weiß wirklich nicht, wie ich überhaupt auf die Idee gekommen bin, dir wehzutun!“
Ich schlug meine Augen auf und schaute ihn an. Ich wollte es glauben und zum Teil glaubte ich es ihm sogar, wäre da nicht eine kleine Stimme in meinem Hinterkopf, die mich immer noch vor ihm warnte.
„Es tut mir wirklich leid, aber genauso bin ich es leid, ständig mit der Angst zu leben, dass du mich für immer hassen wirst! Ich will das nicht! Ich will nicht, dass du mich für böse hältst oder sonst noch irgendwas.“ Er seufzte und holte nochmal Luft bevor er weitersprach. „Ich mag dich. Wirklich.“
Was ich darauf antworten sollte, wusste ich nicht. Aber wenn er wirklich die Wahrheit sagte, dann wäre ich richtig dumm, wenn ich ihm nicht verzeihen würde.
Aber das Problem war: Ich hatte immer noch Angst vor ihm. Zwar war sie in dem Moment wirklich weniger geworden, trotzdem wollte ich nicht, dass er mir zu nah kam, denn vielleicht würde er nochmal ausrasten.
Ich seufzte. Aber langsam verarbeitete ich die Situation zwischen uns. Auch wenn es erst wenige Tage her war, kam es mir schon fast so vor wie eine meiner endlosen Erinnerungen. Aber leider nur fast.
„Ich verstehe, dass es dir leid tun.“ Ich räusperte mich. „Und ich glaube, ich verzeihe dir dafür.“
„Wirklich?“, fragte er.
Ich nickte.
Mehr oder weniger tat ich das. Es war nun geschehen und Anthony tat es leid – wenn er das nicht vorspielte.
Und selbst wenn es vorgespielt war – dann musste ich eben dasselbe tun. In den Momenten, in denen ich Anthony nicht vertraute, sollte ich ihm genau das Gegenteil vorspielen. Denn wenn es wirklich alles Clas Plan war und Anthony mich wirklich ausnutzte, so sollten die beiden ruhig glauben, sie hätten mein Vertrauen.
Aber als mir Anthony mit einem Lächeln im Gesicht näher kam, merkte ich, dass es sich als schwierig herausstellen würde. Nicht das Vorspielen würde mir schwer fallen – das konnte ich auch nur so gut, weil meine Gefühle teils echt waren; es würde schwer werden, weil ich Anthony wirklich vertrauen wollte und es vielleicht sogar machen würde – also genau das Gegenteil von dem was ich erreichen wollte.
Er setzte sich neben mich auf das Bett und grinste.
„Also ist jetzt alles gut?“, fragte er.
Ich zuckte mit den Schultern. „Ich glaub schon.“ Ich schaute hoch und ich sah ihm ins Gesicht.
Er war viel zu nah an mir dran. Das letzte Mal, als wie uns so gegenüber saßen, endete es in einem Kuss. Ein angenehmes Kribbeln breitete sich in meinem Bauch aus und ich merkte, wie lange es schon her war, dass ich das gespürt hatte.
Vor meinem inneren Auge blitzte das Bild von dem wütenden Anthony auf, kurz bevor er mich schlagen wollte.
Erschrocken wich ich zurück und presste meinen Rücken an die Wand hinter mir.
Anthony schaute mich ebenfalls erschrocken an. „Alles okay?“
Ich nickte etwas betäubt. „'Tschuldigung“, murmelt ich und setzte mich wieder normal hin, allerdings beobachtete ich den geringen Abstand zwischen uns beiden.
„Tja, Angst geht wohl nicht schnell weg, was?“, meinte Anthony.
Ich konnte wieder nur nicken. „Ich weiß nicht, wieso“, sagte ich, „aber ich sehe in dir immer noch den Anthony, der total ausgeflippt ist.“
Dieses Mal war es an Anthony zu nicken. Nachdenklich fuhr er sich durch die Haare.
„Amalia hat sich doch sicher total gefreut, das ich man mich umbringen wollte, nicht?“, meinte ich und versuchte etwas vom Thema abzulenken. Sie hasste mich schon lange, aber noch mehr, seit ich ihr fast ihren Arm abgebrochen hatte.
„Klar hat sie das. Aber als sie dich dann doch am Leben lassen wollten, hat sie sich tierisch aufgeregt.“ Anthony lächelte. Ich schmunzelte ebenfalls.
„Ich bin eigentlich richtig stolz auf dich, weißt du das?“, lenkte er nun weiter vom Thema ab und lachte. „An meinem Geburtstag, da hat Lissy an mir geklebt wie Kaugummi. Ich war so froh gewesen, als du mich zum Tanzen von ihr weggezogen hast.“
Ich runzelte die Stirn. Sprach er gerade wirklich die Wahrheit?
„Und als du sie attackiert hast... Na ja, so toll war's nicht, aber ich bin stolz, dass du in deinem Alter sie mit einer Leichtigkeit besiegt hast, genauso wie die anderen, die dich aufhalten wollten.“
Ich legte mein Kopf schräg. „Hör auf dich einzuschleimen!“ Dann musste ich kichern.
„Also du hast es nicht gemocht, dass Lissy die ganze Zeit bei dir ist?“, fragte ich und ein kleiner Hoffnungsschimmer keimte in mir auf.
„Ich rede davon, dass ich stolz auf dich bin und du redest von Lissy? Sprechen wir beide eigentlich noch vom Selben?“ Er lachte.
„Um zu deiner Frage zurück zu kommen: Zwar mag ich Lissy und war auch richtig froh darüber, dass sie da war, aber sie ist so anhänglich wie ein Klammeräffchen. Und auf die Dauer nervt es.“
Das Grinsen auf meinem Gesicht wurde immer breiter und die Wärme um mein Herz breitete sich immer weiter aus.
Und erst dann merkte ich, wie sehr Anthony mich kontrollieren konnte. Immer noch. Er erzählte etwas, was mich freute und ich schmolz deswegen nur so dahin. Wie er es bereits zu Clas gesagt hatte: Er hatte mich am Haken. Und ich war der verdammte Fisch, der bald gefressen werden würde.
Obwohl ich innerlich zusammenbrach, versuchte ich mein Grinsen zu behalten, doch das erwies sich als schwer. Je mehr Zeit verging, desto mehr verwandelte sich mein Gesicht zu einer missglückten Grimasse. Schnell versteckte ich mein Gesicht an Anthonys Brust und tat so als würde ich ihn umarmen.
Er fing an zu lachen und seine Brust vibrierte dabei. Wieder fühlte ich mich wohler als ich mich fühlen sollte. Seine Nähe machte mich vernarrt und meine Körper kribbelte wie verrückt an den Stellen, an denen er mich berührte.
Auch Anthony schloss die Arme um mich und wir saßen nun in einer Umarmung auf meinem Bett.
Ich wusste nicht, wie ich mich fühlen sollte. Einerseits hatte ich immer noch Angst, die zwei starken Arme könnten mich ohne Problem jetzt zerdrücken und umbringen. Außerdem war das alles nicht echt, sondern nur ein verlogenes Spiel.
Andererseits fühlte es sich so gut an, ihn endlich wieder an mir zu spüren. Ich hatte ihn so vermisst, seine Berührungen, seine Küsse. Und nun war diese Gefühle mir wieder so nah – und dann durfte ich ihm nicht mal näher kommen, wenn ich nicht verletzt wollte. Ich war verliebt, verdammt, und das lies sich nicht so einfach wieder abstellen.
„Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich dich vermisst habe“, nuschelte er in meine Haare.
Und du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich dich vermisst habe, unter welchen Qualen. Und was ich trauriges am Ende über dich dann herausfinden durfte...
„Wahrscheinlich bin ich deswegen so ausgerastet. Ich hab dich so lange nicht mehr gesehen, dass am Ende alles auf einmal raus gekommen ist.“ Er lachte wieder. „Was Dümmeres gibt es wohl nicht.“
Doch. Ich war so dumm gewesen und habe dir vertraut.
Ich konnte schon spüren, wie sich Tränen anbahnten. Meine Umarmung wurde stärker und ich versuchte so, meine Wut und Trauer wegzudrücken.
Anthony deutete es wohl als Freude, die in meiner Umarmung steckte und musste grinsen. Fast hätte ich ihn deswegen geschlagen.
Ich hatte keine Ahnung, wie lange wir so noch saßen, aber ich wollte es auch gar nicht wissen. Wäre es sehr lange gewesen, würde ich mich dafür schämen, dass ich mich so lange weich geschlagen lies und mit ihm in einer Umarmung saß. Aber gleichzeitig wollte ich nicht loslassen.
Ich saß in einer Zwickmühle fest.
Als ich es schaffte, meinem Körper den Befehl zu geben, er sollte die Umarmung lockern, geschah genau das Gegenteil von dem was ich erhoffte. Anthony hob mein Kinn an und ich sah hoch zu ihm.
Und da war er wieder. Der Zauber in seinen smaragdgrünen Augen, der mich fesselte. Nach einer so langen Zeit, die ich sie nicht gesehen hatte, war dieser Bann nur noch stärker und ich war mal wieder verzaubert von den Schönheit seiner Augen.
Als ich merkte, dass sie mir langsam näher kamen, zuckte ich fast zurück. Anthony lehnte sich langsam zu mir vor und uns trennten nur noch wenige Zentimeter.
Er würde mich gleich küssen.
Er würde mich gleich küssen! Und ich durfte nicht zurückweichen, denn sonst würde er vielleicht Verdacht schöpfen.
Ich wollte es nicht. Ich war schon so zu verrückt nach ihm und musste ihn vergessen. Aber das würde nicht funktionieren, wenn er mich jetzt küssen würde.
Unsere Lippen trennten nur noch wenige Millimeter und ich schloss meine Augen. Egal, wie sehr mein Körper es wollte und danach verlangte, mein Hirn rebellierte – doch mir blieb kein Ausweg.
Anthonys Griff um mich wurde fester, als wir uns küssten. Er drückte mich so nah an sich, dass kein Blatt mehr zwischen uns passen konnte. Und in dem Moment genoss ich das Zusammenspiel unserer Lippen. Ein Schalter in meinem Kopf legte sich um und ich hörte auf zu denken. Im Mittelpunkt stand jetzt nur noch Anthony.
Mein Atem ging flach, während ich auf Anthony saß und ich merkte, dass es ihm genauso ging. Ich packte ihn, wie ich es immer tat, am Nacken und kaum dass sich unsere Lippen kurz voneinander trennten, lagen sie schon wieder aufeinander.
Ich liebte ihn, liebte ihn zu sehr. Und obwohl ich wusste, dass es nicht echt sein konnte, dass jede seiner angeblichen Zuneigung nicht echt war, spürte ich, wie sehr er mich auch wollte.
Er lies sich nach hinten fallen und plötzlich lag ich auf ihm. Dabei trennten sich unsere Lippen kein einziges Mal voneinander.
Obwohl ich mich nur auf unsere Leidenschaft konzentrieren konnte, war ich auf einmal unglaublich sauer auf mich. Ein kleiner Gedanke bahnte sich einen Weg in mein Bewusstsein und machte mir deutlich, dass ich die Tatsache, dass alles Fake war, ignorierte. Aus Wut packte ich Anthony nur noch härter. Er stöhnte auf.
Plötzlich löste er sich von mir und blickte mir in die Augen. Mein Kopf drehte sich und ich wusste nicht, wo oben und unten war. Dieser plötzliche Abbruch verwirrte mich.
Und da hörte ich die Schritte und verstand, wieso Anthony den Kuss unterbrochen hatte. Jemand kam zu uns. Zu mir.
Anthony setzte mich etwas weiter von sich weg und beobachtete mich schweigend. Und ich ihn.
Hatte ich genauso geschwollene Lippen wie er? Ich leckte mir darüber. Wahrscheinlich schon. Darauf hoffend, dass es dadurch verschwinden würde, presste ich meine Lippen zusammen.
Genau in dem Moment ging die Tür auf und Doktor Ambrosius kam einmarschiert – anders konnte man seine Gangart nicht beschreiben.
„Milana“, sagte er.
„Doktor Ambrosius.“
Dann runzelte ich die Stirn. „Was ist los?“ Ein Grinsen lies sich nicht unterdrücken. „Musst du jemandem den Arm amputieren und benötigst meine Hilfe?“ Und ist dieser Jemand zufälligerweise Amalia?
Der Doktor schaute mich komisch an und sagte mit harter Stimme: „Bevor du wieder umfällst, wäre es doch besser, ich erkundige mich um dein Wohlbefinden.“
Ich nickte. „Okay. Danke. Aber ich werde dir versprechen, dass ich mein Bestes geben werde, nicht umzufallen!“
Doktor Ambrosius – Wieso sprach ich ihn die ganze Zeit mit Doktor an? – wollte gerade etwas erwidern, als er wieder den Mund schloss und tatsächlich lächeln musste. Dass er überhaupt lachen konnte, wusste ich nicht.
„Geht es dir auch gut?“
„Ja, es geht mir ausgezeichnet!“
Anthony neben mir grinste, als ich das sagte und ich hätte ihm am allerliebsten den Ellenbogen in den Bauch gerammt.
Doktor... Ne, kein Doktor... Ambrosius blickte von mir zu Anthony und ich sah, dass er immer noch geschwollene Lippen hatte, wahrscheinlich genauso wie ich. Ich presste meine Lippen verlegen zusammen.
„Aha“, murmelte Doktor – streicht das Doktor – Ambrosius. Es war einfach unmöglich ihn durch seine Verhalten nicht Doktor zu nennen.
„Okay, ich vertraue dir,“ meinte er nach einer Weile, „aber falls etwas ist: Du sagst Bescheid!“
„Natürlich mache ich das!“, sagte ich und setzte mein bestes Lächeln auf.
Ambrosius ging und ich wunderte mich, wieso er so schnell schon gegangen war, denn das letzte Mal wollte er gar nicht aus meinem Zimmer verschwinden.
Sobald er außer Hörweite war, murmelte ich noch hinzu: „Aber vielleicht lasse ich lieber Daniel rufen, wenn es mir schlecht geht. Der kriegt das mit seiner Erfahrung besser hin.“
Anthony lachte laut auf. „Ja, da hast du Recht. Gegen seine Erfahrung kommt niemand an.“
Ich merkte, dass mehr dahinter steckte und fragte nach. „Wie meinst du das, mehr Erfahrung?“
„Mehr Erfahrung wie mehr Jahre auf dem Buckel.“
Ich runzelte die Stirn. „Ernsthaft?“ Daniel ist mir wegen seiner lockeren witzigen Art immer so jung vorgekommen. Ich hatte mich nie gefragt, wie alt er in Wirklichkeit war.
„Und wie alt ist er denn?“
„Definitiv älter als Ambrosius.“
„Und wie alt ist Dok... Ambrosius?“
„In etwa so alt wie Clas, ein paar Jahre jünger.“
Ich blickte Anthony schräg an. Er lachte wieder auf. Dann realisierte ich, dass Daniel älter war wie Clas und mein Mund klappte auf.
„Clas ist 765 Jahre alt. Daniel um die 900 Jahre, das weiß keiner so genau. Außer ich natürlich.“ Anthony zwinkerte mir zu. Aber ich war viel zu geschockt, um jetzt deswegen zu kichern.
„Daniel ist älter als Clas? Aber wieso ist dann Clas jetzt der König oder Herrscher oder was auch immer? Wäre nicht Daniel diese Ehre gestattet?“
Ich konnte es nicht fassen. Der Daniel, den ich für meinen neuen Bruder gehalten hatte, war fast tausend Jahre auf dieser Welt. Da war ich ja im Vergleich dazu ein Kaninchenfurz. Und ich hatte immer gedacht, dass so alte Vampire immer den Faible hatten, sich so höflich und arrogant wie möglich zu verhalten. Daniel war da die große Ausnahme.
Mein Mund schloss sich wieder, aber diese Tatsache war immer noch unfassbar für mich.
„Man hatte natürlich Daniel mehrmals diesen Platz angeboten, selbst vor ein paar Jahrhunderten noch“, griff Anthony auf das Thema zurück, „aber er hatte immer abgelehnt. War nicht so machtbesessen wie andere. Es liegt ihm auch nicht, andere zu beherrschen und herumzukommandieren, sagt er. Das siehst du ja eigentlich auch an seiner lockeren, witzigen Art.
Natürlich könnte er unser Herrscher werden, ein sehr guter sogar, finde ich, aber er will es nicht. Seine Stärke liegt eher im Kämpfen. Er ist beinahe unbesiegbar. Verständlich, nach all den Jahrhunderten, die er dafür nutzen konnten, es zu lernen. Und das ist auch der Grund, warum er Zahlreiche in seinem Handwerk unterrichtet.“
Jetzt verstand ich auch, warum Daniel nicht gerade der Größte war, sondern mit seiner Kopfhöhe eher zu den Kleineren zählte, auch wenn er nicht so besonders klein war – nur etwas kleiner als die anderen Männer eben. Er war nicht einfach nur klein, weil seine Eltern es ihm so weitervererbt hatten. Die Menschen sind im Laufe der Zeit immer ein Stück gewachsen. Früher, vor tausend Jahren, war ein Durchschnittsmensch heutiger Zeit ein Riese. Und ein Durchschnittsmensch damaliger Zeit heute ein Winzling. So gesehen war mein Bruder in spe also ein recht großer Mann in seiner Zeit gewesen. Ich musste kurz lächeln.
Ich konnte mir Daniel eigentlich sehr gut in der Rolle des Herrschers vorstellen. Streng, aber witzig. Schade, dass er nicht wollte. Ich seufzte. Wäre eigentlich echt geil gewesen.
Anthony lachte bei meinem Seufzer. „Das war auch meine Reaktion gewesen, als ich davon erfuhr. Aber alles hat seinen Grund. Du kannst ihn später mal selber fragen.“
Jetzt machte er mich aber neugierig geworden. Ich brannte schon darauf, die Antwort aus Anthony zu quetschen und konnte mich gerade noch zurückhalten. Aber wenn er meinte, ich sollte ihn selber fragen, dann hatte es einen Grund. Ich musste mich wohl gedulden. Nicht gerade meine Stärke...
„Wie wäre es, wenn wir einfach damit weiter machen, womit wir aufgehört haben?“, fragte Anthony mit verräterisch tiefer Stimme und beugte sich etwas zu mir.
Unwillkürlich musste ich grinsen. Ja, ich wollte damit weitermachen und ja, ich fühlte mich unglaublich bescheuert dabei. Aber selbst wenn ich es nicht wollen würde, ich musste mitspielen. Als ob das so schwer wäre.
Ich hob meine Kopf zu ihm hoch und wir setzten das fort, was wir unterbrochen hatten.
Ich wollte es nicht, es machte mir einfach keinen Spaß, Menschen umzubringen, nur damit ich weiterlebte; aber gleichzeitig wusste ich, dass es anders nicht ging. Auch wenn ich es nicht tun würde, mich dazu verweigern würde ihr Blut zu trinken, damit würde ich keinem Menschen im Saal das Leben retten. Eher einem Vampir eine Freude bereiten, wenn ich ihm meine Mahlzeit überlassen würde.
Ob ich es glauben wollte oder nicht, ich stand wieder in dem gigantischen Saal und wartete auf die Touristen.
Eigentlich hatte ich damit aufhören wollen, weil ich es nicht länger ertragen konnte, Menschenleben zu nehmen. Andererseits, wenn ich es nicht tun würde, dann jemand anderes. Es gab für diese Menschen sowieso keinen Ausweg mehr. Sie würden alle sterben, egal ob durch mich oder auch nicht. Keinen Ausweg.
Ja, und ich spaltete sich meine eigene Meinung darüber.
Blutbeutel wären eine gute Alternative gewesen, aber da es sowieso warm als Buffet serviert wurde, hatte ich keine andere Wahl.
Und eine Wahl hatte ich hier bisher noch nie gehabt. Außer die Wahl zwischen Gehorchen oder Schmerzen.
Es war eigentlich dasselbe wie immer. Nur dass mein letztes Mal ein Weilchen – mittlerweile viereinhalb Monate – hinter mir lag.
Als ich so wie alle anderen fertig mit dem Trinken war, wischte ich mir mit dem Handrücken den Mund sauber und leckte diesen wieder ab.
Ich atmete tief durch und schaute auf das Desaster vor meinen Füßen. Der Mensch, von dem ich getrunken hatte, war blutbesudelt, was wohl daran lag, dass seine Kehle halb aufgerissen war.
Ich war aggressiver geworden. Die ersten paar Tage nach meinem Koma waren noch einigermaßen normal gewesen, aber die letzten zwei Wochen waren für meine Freunde kein Zuckerschlecken gewesen.
Direkt aggressiver war ich ja nicht geworden, denn meine Persönlichkeit blieb so wie sie war. Aber der Grad zwischen meinem Verstand und meinen wilden Instinkten war dünner geworden.
Anthony hatte es als Erstes bemerkt und zwar vor ungefähr einer Woche. Als ich mit dem Stuhl auf ihn losgegangen war, hat er den Schlussstrich gezogen und mir erzählt, dass mit mir irgendwas nicht stimmt, weil ich so aggressiv geworden war. Ich konnte erst nicht begreifen, was aggressiv daran war, auf jemanden loszugehen, weil man schlecht gelaunt war – aber langsam verstand ich, was er gemeint hatte.
Ich konnte meine eigenen Gedanken nicht mehr kontrollieren und wurde zum Tier, sobald sich die Tore des Saals öffneten, die Menschen reinkamen und der Geruch pulsierenden Blutes zu mir strömte – aber so war es ja schon immer gewesen. Aber diese Brutalität, mit der ich auf die Menschen losging, diese Aggression, die war mir neu. Nicht, dass ich sie zerfleischte oder solcherart Abscheuliches, aber ich merkte, wie ich sie gröber packte, fester aussaugte und energisch weg warf. Und ihnen aus Versehen dabei fast die Kehle aufriss.
Anthony hatte sich nicht geirrt, das wusste ich auch schon in dem Moment, als er es mir gesagt hatte. Ihm glauben konnte ich es aber erst jetzt.
Ich wusste nicht, woher es kam, aber ich wollte diese Aggressivität loswerden. Das Problem lag nur darin, dass ich nicht wusste, wie.
Das Problem musste ich an der Wurzel packen. Bloß, wie sollte ich das anstellen?
Das Einzige, wovor ich am meisten Angst hatte, war, jemanden außerhalb dieser Mauern umzubringen. Denn sie waren nicht diesem gewaltsamen Tod geweiht; anders als die, die sich hierher verirrt hatten.
Aber wie sollte mir das bringen, meine Aggressionen zu bewältigen?
Sollte ich raus gehen und zuerst unschuldige Menschen umbringen, dann traurig sein darüber, um danach zu realisieren, dass ich zu weit gegangen bin?
Nein, nur um das zu erreichen, war das Leben der Menschen zu wertvoll. Sollte ich deswegen wirklich noch mehr Leben nehmen?
Ich schloss die Augen und hoffte, wenn ich sie öffnete, würde ich zu Hause auf meinem Bett liegen und von einem Albtraum aufwachen. Von dem Albtraum, in dem man mich getötet hatte, zwei Mal sogar. Wo ich seltsamerweise auch Spaß gehabt hatte. Und in dem ich mich unglücklich verliebt hatte.
Ich eilte aus dem Saal und hörte plötzlich Somala nach mir rufen. Als ich mich umdrehte, stand die Amazone mit den gefleckten dunklen Haaren direkt vor mir.
„Marx, Clas und ich erwarten dich in zwei Stunden hier. Ist das in Ordnung?“, fragte sie kurz und blickte mir in die Augen.
Ich nickte. „Okay.“ Gerade wollte ich fragen, was ich denn schon wieder angestellt hätte, als sie sich schon umdrehte und davon stolzierte. Ich guckte ihr nur sehr kurz hinterher, ehe ich aus dem Saal lief.
Ich hatte Lust, ganze Bäume auszureißen, nur um irgendeinen Frust auszulassen. Ich wusste nicht, worauf ich wütend war, aber ich wollte irgendetwas zerstören. Mein Verstand schien sich schon wieder auszuschalten, als ich meine Faust ballte, um gegen die Wand zu schlagen.
Und da ist sie ja wieder, meine Aggressivität, dachte ich und verdrehte meine Augen. Meine Hände entspannten sich langsam wieder, als ich versuchte, an etwas Anderes zu denken.
Nicht das erste Mal lief ich nun durch die Gänge ohne eine bestimmte Richtung. Es entspannte viel mehr als man es sich vorstellen konnte.
Plötzlich erkannte ich zwischen dem Stimmengemurmel aus allen möglichen Zimmern der Burg zwei ganz besondere. Wenn diese einzeln sprechen würden, wäre das ja okay, aber sie sprachen tatsächlich zusammen. Ich hörte ihre Stimmen schon von weitem, hatte nur nicht realisiert, dass diese zwei Stimmen miteinander sprachen – und zwar in einem freundschaftlichen Ton.
Ich schüttelte den Kopf und hörte genauer hin.
Doch es waren ganz sicher Amalia und Anthony.
Und sie scherzten miteinander?
Was genau sie redeten, verstand ich nicht, aber ich hörte ihren Ton raus.
Nun verstand ich gar nichts mehr. Regte Anthony sich nicht auch immer mit mir über sie auf? Hasste er sie nicht auch? Wieso sonst hatte er mit mir immer über sie gelästert?
Verwirrt trat ich den Rückzug an. Also war auch dieser Hass Amalia gegenüber gespielt gewesen? Konnte das wirklich war sein, dass Anthony sogar so etwas gefaket hatte?
Mit schwirrendem Kopf lief ich schnell nach draußen, denn ich musste hier raus. Musste frische Luft schnappen, die Luft in der Burg wurde mir zu stickig.
Ich lief den selben Weg hinauf wie immer und drückte die Aufzugtüren oben auf.
Und roch einen besonders anzüglichen Geruch.
Ich runzelte die Stirn. Was ich roch, war ein Mensch, der eigentlich auf der Burg nichts zu tun hatte, jedenfalls nicht um diese Uhrzeit, außerhalb der Öffnungszeiten. Direkt war drinnen dieser Mensch zwar auch nicht, denn er lungerte hinter der Tür, durch die ich gerade rausgehen wollte.
Langsam schritt ich auf die Tür zu, ignorierte den brennenden Schmerz im Rachen und das sich sammelnde Gift in meinem Mund.
Wer zum Teufel will freiwillig um diese Uhrzeit hier rein?
Es könnte irgendein Räuber auf der Suche nach wertvollen Gegenständen in der Burg sein oder irgendeiner, der sich vielleicht verirrt hatte.
Ich versuchte mich auf die Person hinter der Tür zu konzentrieren. Es war ein Mann oder ein Junge und er schwankte leicht, als ob er betrunken wäre. Als ich irgendein gerauchtes Gras roch, wurde mir klar, dass dieser Mann bekifft war. Dann musste ich mir keine Fragen mehr stellen, wieso er hier hoch gekommen war.
Er rüttelte an der Tür. Sie öffnete sich nicht.
Die Tür ist verschlossen?
Ich schritt zur Tür und riss sie auf. Sie öffnete sich ohne Probleme und nicht, weil ich sie aus dem Anker gerissen hatte.
Waren Menschen etwa so schwach, dass sie diese leichte Tür nicht einfach öffnen konnten oder lag es daran, dass der Junge hinter der Tür, der höchstens zwei Jahre älter war als ich, high war? Ich glaubte Letzteres, denn die Tür war wirklich nicht so schwer zu öffnen, sie klemmte nur etwas.
Als ich die Tür geöffnet hatte, zuckte der Junge zurück und fiel fast nach hinten. Seine haselnussbraunen Augen zuckten hin und her und seine Haare standen durcheinander in der Luft. Ich fragte mich, wie man so zugedröhnt sein konnte, dass man schwankte wie ein dünner Ast im Wind.
Er richtete seine hin und her zuckenden Augen auf mich, bemerkte, dass ich ein Mädchen war, lehnte sich etwas ungeschickt an einem Baum, wobei er fast umfiel, und sagte mit einem Schlafzimmerblick: „Hey!“
„Hey“, erwiderte ich angewidert.
„Wie viel hast du eigentlich gekifft? Du kannst ja nicht mal richtig stehen.“
Er schwankte weiter und antwortete: „Etwas. Wenn du willst, kannst du zu mir kommen, dann machen wir zusammen weiter.“ Er lächelte und sah dabei ziemlich weggetreten aus. Sein Blick glitt über mich, meinen kurzen schwarzen Rock und mein enges Top.
Ich beobachtete ihn dabei kritisch.
Ist so etwa jeder bekiffter Jugendlicher?
„Ich habe außerdem Hunger nach etwas...“, nuschelte er und lief auf leicht wackeligen Beinen auf mich zu, dabei einen seltsamen Ausdruck im Gesicht. Würde ich es nicht besser wissen, hätte ich diesen Ausdruck nicht entschlüsseln können.
„Also, um ehrlich zu sein, habe ich auch Hunger nach etwas...“, murmelte ich gerade laut genug, dass er es hören konnte. Nun bekam ich wirklich wieder Hunger nach Blut, obwohl ich gerade erst getrunken hatte. Meine Augen wurden immer schwärzer.
Sein Grinsen wurde breiter und er kam mir immer näher. Plötzlich stolperte er über seine eigenen Füße und fiel auf mich. Ich war gelähmt und stand nun da wie eine Statue. Und ganz zufälligerweise waren auf einmal seine Hände auf meinen Brüsten.
„Du kannst deine Hände da wegnehmen. Gibt's sowieso nicht viel anzufassen.“ Ich starrte ihn wütend an. Blöderweise verstärkte er seinen Griff.
„Wo kommst du eigentlich her?“, fragte ich noch einigermaßen gefasst.
Doch ehe er antworten konnte, lenkte mich sein pulsierendes Blut ab, das durch seine Halsschlagader pulsierte. Ich konnte es nicht mehr aushalten, einen Menschen so nah an mir zu haben, und meine Fänge durchbohrten seine weiche Haut an seinem Hals.
Kaum hatte ich einen Schluck, wurde mir schummrig. Und ich fühlte mich, als ob ich fliegen würde, auf einer Wolke des Glücks. Ich nahm noch einen Schluck und dieses Gefühl wurde stärker.
Plötzlich erschlaffte der Junge auf mir. Da ich durch sein Blut selber bekifft worden war, gaben meine Beine nach und ich fiel um.
Er muss wohl richtig high sein, wenn ich schon nach einigen Schlucken seines Blutes selber so dicht bin, dass ich nicht mehr stehen kann, dachte ich mit leicht vernebelten Gedanken.
Auf einmal ergriff mich Panik. Denn was wäre, wenn es doch nicht ein paar Schlucke seines Blutes waren, sondern ich sein ganzes Blut getrunken hatte? Ich war so blau, dass ich so etwas schlecht herausfinden konnte.
Ich legte meine vor Nervosität und Zugedröhntheit wacklige Hand auf die Halsschlagader.
Sie pulsierte nicht! Glaubte ich jedenfalls, denn meine Hände wollten nicht mehr mir gehören.
Die zwei kleinen von meinen Zähnen verursachten Löcher in seinem Hals waren mit etwas Blut verkrustetet. Mit einer ungeschickten Bewegung wischte ich es weg und legte ihn so weit wie möglich von der Burg weg.
Nein! Nein, nein, verdammt! Ich habe ihn umgebracht! Nein!
Durch meine verschleierten Gedanken konnte ich es gar nicht fassen.
Wie konnte das passieren?
Ich stolperte in die Burg und vergaß dabei, die Tür wieder zu schließen.
Die Wände bewegten sich plötzlich auf mich zu, ich wurde von ihnen eingeengt. Panisch lief ich los und krachte durch eine Wand, in die ich lief. Sofort stand ich aus den Steinmassen auf und lief weiter, ohne eine spezielle Richtung einzuschlagen. Ich lief einfach nur.
Ich habe ihn umgebracht. Wieso habe ich das getan? Nein. Das kann nicht sein. Aber er hat keinen Puls mehr! Er hat keinen Puls mehr. Ich habe ihn selber gemessen. Da war keiner!
Oh nein, nicht schon wieder! Wieso laufen diese Wände hinter mir her? Ich muss wegrennen!
Plötzlich rannte ich wieder gegen eine Wand.
Au! Verdammt! Diese Wände stehen doch wirklich überall. Wieso stellen die sich die ganze Zeit vor mich?
Nervös lief ich weiter weg, doch die Wände verfolgten mich und waren mir dicht auf den Fersen.
„Was wollt ihr von mir? Lasst mich in RUHE!“, rief ich hysterisch.
Hört endlich auf, mich zu verfolgen!
Ich rannte weg. Rannte weg vor den mich jagenden Wänden und vor dem Tod des Jungen. Mein Atem ging unkontrolliert und flach.
Irgendwann landete ich in meinem Zimmer. Ich wusste nicht wie, aber auf einmal lag Anthony neben mir und drückte mich ins Bett, sobald ich aufspringen wollte, und beruhigte mich mit Schsch-Lauten, wenn die Wände wieder auf mich zu kamen.
Nach eineinhalb Stunden war der Rausch komplett vorbei. Was auch gut so war, denn ich sollte mich gleich mit Somala, Clas und Marx treffen.
Ich hatte keine Ahnung, was das für ein Zeug gewesen war, das der Junge gekifft hatte, aber sie war mörderisch – und zwar im negativen Sinne. Das war das letzte Mal, das ich mit solchen Drogen in Berührung kam!
Trotz der Tatsache, dass der Rausch nun vorüber war, blieben die Schuldgefühle wegen dem Jungen.
Ich habe ihn umgebracht!
Anthony wusste die ganze Geschichte, warum ich bekifft gewesen war und was das alles mit dem Jungen auf sich hatte. Immerhin hatte ich sie die ganze Zeit vor mich hin gemurmelt. Im völligem Rausch.
Und die Moral aus der Geschicht: Trink aus berauschten Menschen nicht!
Eigentlich wollte ich gerade aufspringen und in den Saal eilen, bevor ich noch zu spät kam und noch mehr Minuspunkte kassierte. Aber Anthony drückte mich wieder ins Bett.
„Kein Stress! Ich habe ihnen Bescheid gesagt, dass du etwas später kommst.“
Ich runzelte die Stirn. „Wann denn? Und was hast du ihnen gesagt?“
Er schüttelte nur den Kopf und lies es auf sich beruhen. Wütend schaute ich ihn deswegen an, lehnte mich dann aber zurück und sagte nichts.
Wann war er eigentlich weg gewesen, um es es ihnen zu sagen? Eigentlich hätte ich es doch wissen sollen, wenn er weggegangen wäre!
Na ja, oder halt doch nicht. Nicht in dem Zustand.
„Was?“ Anthony zog ungläubig die Augenbrauen hoch. „Du willst mich nicht erschlagen, weil ich dich zwischendurch kurz verlassen habe?“, machte er einen Scherz.
Ich verdrehte die Augen. „Also langsam kommt in mir doch das Bedürfnis hoch, dich zu schlagen“, erwiderte ich, meinte es aber weniger ernst.
Anthony überspielte meine Antwort und runzelte die Stirn. „Ernsthaft nicht? Sag mir jetzt nicht, deine Aggressionen sind vorüber.“
„Ich habe und hatte nie Aggressionen“, sagte ich, wusste aber, dass es nicht so war, dass ich welche hatte. Oder gehabt hatte. Denn jetzt verspürte ich nicht mehr den Drang, irgendetwas durch die Luft zu werfen und alles um mich herum zu zerstören. Es wurde unterdrückt von einer tiefen Trauer, die ich wegen der Ermordung empfand.
„Das Menschenleben war es nicht wert“, murmelte ich und holte tief Luft, um den Kummer in mir zu bekämpfen. „Wenn es wirklich das war, um mich zur Vernunft zu bringen, dann hätten sich ein paar weitere Monate in der 'Hölle' viel mehr gelohnt.“ Selbst wenn ich dafür wirklich schrecklichen Hunger leiden musste.
Ich hatte dem Jungen das Leben genommen. Das Wertvollste, das er besaß. Und nun war es zu spät. Mein verdammter Drang tief in mir, Menschen zu töten und ihr Blut zu saugen, drang sich wie immer irgendwann in den Vordergrund und machte mir das Leben schwer. Ob ein Leben ohne Gewissen leichter wäre?
Anthony küsste mich auf die Stirn. „Das es irgendwann passieren würde, war doch klar gewesen«, sagte er, die Lippen immer noch auf meiner Stirn.
Ich schnaubte. Nicht, wenn ich es hätte verhindern können. Ich hätte es wirklich verhindern können, wenn ich mich nur wirklich zusammenreißen konnte. Denn ich wollte nicht so grausam sein wie Amalia und David. Sie hatten mich auf offener Straße umbringen wollen; nur durch ein Glück lebte ich noch (wenn auch nur indirekt als Untote). Und anstatt dass die beiden damit aufhörten, machten sie immer weiter, sie brachten immer noch Menschen um. Es war eigentlich kaum davon zu unterscheiden von dem, was wir jeden Monat in der Burg taten, aber damit hatte ich mich einigermaßen abgefunden. Wie gesagt, wenn die Leute sich schon hierher verirrten, war es ihre Schuld und sie konnten aus dem Schlamassel sowieso nicht mehr raus.
Anthony küsste mich kurz auf die Lippen und hinterließ mir damit einen brennenden Abdruck und Flattern im Bauch.
„Gehen wir!“, flüsterte er und lenkte mich von meinen Gedanken ab.
„Wohin?“
Er lachte auf. „Wollten wir nicht zu Clas?“
„Ich schon. Du auch?“, fragte ich.
Anthony nickte.
Nach kurzem Überlegen steig Panik in mir auf. Als wir uns zum ersten Mal geküsst hatten, hatte er mir danach befohlen, es niemandem zu verraten. Daraus konnte ich schließen, das solche Beziehungen hier verboten waren. (Was das aber mit dem ultimativen Plan von Clas auf sich hatte, verstand ich nicht.)
Hatte Clas also von uns erfahren? Nicht das es ein 'uns' gab, aber wir sind uns schon mehr als ein Mal zu nah gekommen. Hatte Ambrosius uns verraten?
„Was ist los?“, fragte Anthony. „Clas will dich nicht bestrafen, weil mal wieder irgendwas getan hast. Beruhige dich. Ich weiß schon, was er von dir will und du musst dir deswegen keine Sorgen machen.“
Ich glaubte ihm einfach. Auch wenn ich ihm nicht vertrauen durfte, blieb mir jetzt sowieso keine Wahl.
Wir machten uns gemeinsam auf den Weg zum Saal. Es war immer noch ein seltsames Gefühl, mit ihm umzugehen, als ob alles wieder normal wäre. Aber es tat mir gut, dass er wieder mit mir befreundet war. Allerdings gefiel mir die Freundschaft-plus-Sache nicht so, denn ich wurde umso verliebter, je mehr wir uns küssten.
Als ich in den Saal eintrat, standen Clas, Marx und Somala in einer perfekten Position rechts und links von ihm und taten nichts Anderes als... stehen und mich angucken. Wenn jetzt noch eine schaurige Musik laufen würde, dann wäre das Gänsehaut-Feeling perfekt gewesen. Wie sie da standen, so herrisch und durch ihre Größe so mächtig, jagte mir einfach Angst ein.
Hatten sie etwa nichts Besseres zu tun, als da rumzustehen und einfach zu warten?
„Ich bin da!“, sagte ich mit gezwungener gutgelaunter Stimme, um die unheimliche Stille zu brechen. Allerdings hätte ich mich dafür gleich ohrfeigen müssen.
„Gut“, meinte Clas.
„Wieso wolltet ihr mit mir reden?“, fragte ich und wandte mich zu ihnen.
»Oh, das hat einen ganz schlichten Grund«, antwortete Marx.
Ich wollte mich zu Anthony umdrehen, der einige Meter hinter mir stand, denn dieses Spiel wurde mir langsam zu viel. Sie sahen doch wie nervös ich war! Wieso spannten sie mich auf die Folter?
„Also.“ Clas machte eine kurze Pause. „Es gibt da so ein kleines Problem, das wir beheben müssen“, fing Clas zu erzählen, „und wir fanden es ist an der Zeit, dass du auch mal auf einen Auftrag gehen musst.“
„Natürlich bevor du den rauchenden Jungen umgebracht hast.“ Somala begann nun zu reden.
Und nun haben sie allen Glauben an mich verloren.
„Aber jetzt wissen wir immerhin, dass du deine Beute auch selber aussuchen kannst. Und das hat unseren Glauben an dich nur gestärkt.“
Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Beinahe wäre ich aufgefahren und hätte sie gefragt, was so gut an diesem Tod war und wieso sie mich deswegen lobten. Eher hätten sie mich dafür bestrafen sollen. Aber ich lebte nun mal bei blutrünstigen Vampiren, das war so etwas alltäglich.
„Es gibt ein paar Vampire, die unsere Regeln nicht befolgen können“, fuhr Somala fort. „Deswegen schicke ich dich und Anthony zu ihnen, damit ihr dort etwas auskundschaften könnt. Danach kommen ein paar andere, je nach dem, wie viele Vampire dort sind und wie alt, dann könnt ihr sie gemeinsam erledigen.“
„Die Vampire sind in New York“, sprach nun Marx. War doch klar, dass er die Schreckensbotschaft überbringt. „Sie drehen dort an einem Set einen Film oder ähnliches. Nicht weiter schlimm, wenn es nur nicht ein Horror-Vampir-Streifen wäre und sie nicht ziemlich knapp bei Kasse wären. Und da sie auf Filmeffekte pfeifen, dachten die wohl, es wäre besser, wenn sie filmen, wie sie jemanden in Wirklichkeit umbringen und auseinanderreißen.“
Mein Körper versteifte sich. Nein, so grausam konnte man nicht sein. Das konnte nur ein Scherz sein. Oder?
„Ob es wirklich so toll ist, wie sie denken, bezweifle ich, vor allem, wenn sie andauernd neue Schauspieler brauchen.
Ihr müsst jedenfalls für eine Weile diese Vampire beobachten – wir würden euch drei Tage geben. Ihr sammelt Informationen und gebt diese an uns weiter. Wir schicken euch dann Verstärkung und einen Plan, damit ihr sie eliminieren könnt.“
Ich schluckte den Klos in meinen Hals runter. Oh nein. Jetzt war es tatsächlich so weit. Ich wurde ein Vampirkiller. Es schien mir, als würde mein nicht schlagendes Herz vor Schreck einen Schlag tun.
Oh Gott! Wie soll ich das schaffen? Ich kann mich gerade mal verteidigen, nicht kämpfen! Okay, ich kann kämpfen, sehr gut sogar, aber ich traue es mich nicht! Ich... Nein!
„Der Flug geht morgen um zwölf Uhr mittags. Ihr fahrt mit dem Auto fünf Stunden früher zum Flughafen in Wien, da die Hinfahrt über drei Stunden dauert. Bis dahin: Packt eure Sachen!“, sagte Clas.
Fast hätte mein Kopf sich gedreht. Es würde bald so viel passieren.
„Anthony, du kannst jetzt gehen. Milana, du bleibst da, Daniel kommt gleich. Ihr trainiert und Daniel erzählt dir dann noch das Wichtigste, was du wissen musst.“
Mit einer Handbewegung signalisierte er, dass allen gehen konnten. Auch er ging und lies mich im Saal alleine. Glücklicherweise kam gleich Daniel herein, sodass ich nicht lange alleine da rumstehen musste. Irgendwie wurde mir ganz mulmig zumute, sobald ich an die Zukunft dachte. Wer wusste schon, ob ich nicht gleich wieder einen Nervenzusammenbruch kriegen würde?
„Hey!“, begrüßte mich Daniel. „Na, wie geht's?“
„So wie jedem anderem auch. Ich lebe als Untote und erleide vielleicht im schlimmsten Fall an Flüssigkeitenmangel.«
Daniel lachte auf. „Ja, genau, so geht es mir auch.“
Ich zuckte mit den Schultern. „Na ja, ich...“
Kaum hatte ich dazu geantwortet, sprang Daniel schon auf mich los. Ich wich aus und parierte ein Schlag, der von der Seite kam.
Es endete zum Glück nicht wie das letzte Mal, als ich über meine eigenen Beine stolperte und nach Daniels Meinung „schon nach nur einer Sekunde mausetot“ wäre. Das war vor einer Woche gewesen, kurz nachdem ich aufgewacht war.
Das war wahrscheinlich mein letzter Schlaf für lange lange Zeit gewesen.
Nach „einfachen“ Aufwärmübungen kamen wir richtig zur Sache: Wie tötet man einen Vampiren?
Wir hatten das Thema schon oft durchgenommen, aber jetzt wurde es richtig ernst, denn ich musste es jetzt können. Egal, wie oft es mir den Bauch umdrehte, allein bei der Vorstellung.
Er sagte mir, dass ich es mir nicht in den Kopf setzen sollte, meinen Gegnern den Kopf abzureißen, da ich sonst sehr verwundbar wäre. Meine Hauptsorge sollte meine eigene Sicherheit sein, denn seinen Kopf konnte man in einem Gefecht ziemlich schnell verlieren, wenn man nicht aufpasste – wortwörtlich. Allerdings konnte man mit ein paar einfachen Techniken den Gegner ablenken. Ich musste aber aufpassen, dass mein Gegner diese an mir aber auch nicht anwandte.
„Ähm, Daniel?“, fragte ich nach einer Stunde über rollende Köpfe und fliegende Gebeine.
Er schaute mich fragend an. „Ja? Irgendwas unklar gerade?“
Ich schüttelte den Kopf und fragte: „Wie alt bist du eigentlich? In Wirklichkeit.“
„Hat Anthony dir Stoff zum Überlegen gegeben, was?“ Er lachte.
Ich lachte ebenfalls, fragte mich aber, woher er das wusste. Hatte er das wirklich so leicht erraten können?
„Wieso glaubst du, ich verrate dir mein Alter?“ Er legte seinen Kopf schräg.
„Weil du mein Freund bist?“, riet ich und versuchte, charmant zu lächeln und mit den Wimpern zu klimpern. „Außerdem bin ich sonst auch immer ehrlich zu dir, also kannst du mir problemlos dein wahres Alter verraten.“
Ich wusste nicht, ob ich ihn nun dazu überredet hatte oder doch nicht, denn in seinem Gesicht konnte ich es nun gar nicht mehr ablesen. Stattdessen kam er bedrohlich näher und flüsterte, dass nur ich es hören konnte: „Weist du, nicht nur du bist raffiniert. Du hast dir hier einen neuen Namen zugelegt, ich habe vor ein paar Jahrhunderten etwas mit meinem Alter gemogelt.“
Ich riss die Augen auf. Woher wusste er, dass ich von Anfang an nicht meinen echten Namen genannt hatte? Wie hatte er das erfahren?
„Woher ich das erfahren habe? Das gehört wohl zu den größten Mysterien der Welt.“
Nein, oder? Er ist Gedankenleser? Oh mein Gott!
Ich schaute ihn an. Er hob seine Augenbrauen.
„Na? Sind deine Gedanken nachgekommen?“
„Kommt darauf an, ob du es weist.“
„Was?“
„Weiß ich es etwa?“
„Kommt drauf an, was du denkst.“
„Weißt du denn, was ich denke?“
Daniel grinste über beide Ohren. „Ich schon. Du auch?“
Oh mein Gott. Er kann wirklich Gedanken lesen. Meine Gedanken werden ausspioniert, wie Deutschland von der NSA! Jetzt gehört nichts mehr mir allein!
Panik kroch in mir hoch. Wie viel wusste er?
„Jetzt hör mal! Ich höre nicht alles. Wenn ich etwas nicht hören will, dann höre ich es nicht.“
„Natürlich spionierst du mich aus! Ich...“
„Ich sage es nochmal: Ich höre nicht alles, wenn ich nicht will. Und ich würde dich nie ausspionieren.“
Das sagst du jetzt, dachte ich. Hoffte aber, er würde es nicht hören.
„Okay, ich glaube dir. Vorerst!“, meinte ich. Trotzdem hatte ich noch die Angst davor, dass er mich hören würde.
Okay, du darfst jetzt an nichts Falsches denken. Denk an Blümchen.
Unwillkürlich musste ich daran denken, wie ich von drei Tagen im Wald gewesen bin. Weil mich die Steinwände mal wieder erdrückt hatten. Und plötzlich stand da Anthony vor mir. Er gab mir eine Blume, die er irgendwo vom Waldboden aufgepickt hatte und entschuldigte sich erneut bei mir für alles, was er jemals getan hatte. Auch wenn ich fand, das er furchtbar übertrieb, hatte ich nicht andersgekonnt und hatte ihn geküsst.
Nein. Nein. Nein! Verdammt, wieso musste ich jetzt daran denken? Daniel konnte alles hören!
Ich drehte mich zu ihm, um zu schauen, ob er es wirklich mitgehört und gesehen hatte.
Er hob entschuldigend die Schultern. „Entschuldigung. Aber wenn du deine Gedanken so hinausschreist, dann kann ich nicht anders, als sie zu hören.“
Ich legte meinen Kopf in den Nacken und schlug mir die Hände ins Gesicht. Na toll! Ich konnte vielleicht noch von Glück reden, dass wir übers Küssen noch nicht hinaus waren, dass Daniel wenigstens das nicht sehen konnte.
„Wie alt bist du jetzt?“, fragte ich um vom Thema abzulenken.
Daniel durchschaute meine Strategie – natürlich –, antwortete aber. „Siebenhundertneunundneunzig Jahre.“
Hätte ich nicht davor schon ungefähr geahnt, wie alt er war, wären mir jetzt die Augen aus dem Kopf gefallen. „Das heißt, du feierst auch bald dein Jubiläum?“
Er schüttelte den Kopf. „Nein. Es weiß doch niemand, wie alt ich in Wirklichkeit bin und das darf auch weiterhin keiner erfahren. Außerdem bin ich erst vor kurzem so alt geworden.“
Und das war der Moment, in dem ich mich entschloss, Anfang des nächsten Jahres ihn mit einem Geburtstagskuchen zu überraschen. Wenn er meine Gedanken nicht bereits gelesen hatte und ich das mit der Überraschung knicken konnte. Ich blickte zu ihm.
„Nein, ich lese nicht deine Gedanken.“
„Woher weist du dann, das ich gerade daran gedacht habe?“
Er seufzte. „Wenn man so alt ist wie ich, dann weiß man sogar ohne Gedankenlesen, was der andere denkt, allein am Gesichtsausdruck.
Und verrate ja keinem etwas von dem, was du gerade herausgefunden haste. Das weiß kaum jemand und so soll es auch bleiben.“
Ich nickte und fragte mich, ob Daniel Anthony das „Gesichtelesen“ beigebracht hatte, da er es genauso gut konnte. Und erinnerte mich gleich darauf an eine andere Frage.
„Wieso wolltest du nicht der Herrscher der Vampire werden? Ich meine, du hattest die Chance dazu gehabt.“
„Zu viel Verantwortung.“
„Und?“, bohrte ich nach.
„Was und?“
„Und weiter?“
„Langsam gehst du mir auf die Nerven, weist du das?“, fragte Daniel mich, aber nicht sehr ernst gemeint und lachte. „Ich mag vielleicht nicht wirklich machthungrig wirken – ich bin es eigentlich auch nicht –, aber ich werde es sobald ich Macht besitze. Da ich schon des öfteren mit meinem Alter geschummelt habe, war ich als Mensch sogar im jungen Alter ein Mal Bürgermeister gewesen.
Davor war ich noch nie gierig nach Macht gewesen, aber als ich dann diese Macht hatte, allein über eine kleine Stadt... Ich bin vollkommen durchgedreht und wickelte mich schlussendlich mit Kriminellen ein. Die zufälligerweise Vampire waren. Ich kann froh sein, dass ich gestorben bin mit Vampirgift in Organismus“, erzählte Daniel.
Ich runzelte die Stirn. „Du bist wirklich auf diese Weise ein Vampir geworden?“, fragte ich.
„Klar, aber wie wäre es, wenn wir uns den wichtigeren Fragen widmen?“ Daniel bedachte mich eines strengen Blickes, der mich zu sehr an den eines lehrenden Lehrers erinnerte.
Ich stöhnte. Dann klärten wir weiter die Fragen auf, wie man am besten einen Vampir köpfte.
Meine Sachen waren für New York nun gepackt und ich lag auf dem Bett und wusste nicht, was ich tun sollte.
Eigentlich hätte ich das mit dem Packen gleich sein lassen können, denn so große Auswahl hatte ich auch nicht. Na ja, eigentlich schon, aber mal wieder regte mich die Tatsache auf, dass ich nur schwarze Klamotten besaß. Es gab schlimmere Probleme auf der Welt, aber dieses regte mich im Moment extrem auf. Ich musste deswegen unbedingt noch mit Clas reden – wenn ihn dieses Problem eigentlich interessierte. Er hatte sicher Besseres zu tun.
In schwarzen Kleidern in der Burg zu laufen war ja nicht schlimm, es taten ja immerhin alle hier. Aber draußen würde es nur auffallen.
Entschlossen stand ich auf. Lieber ich sprach mit ihm jetzt oder ich kam nicht mehr dazu. Immerhin brauchte ich seine Erlaubnis, etwas Anderes tragen zu können.
Plötzlich knackste etwas und ich schrie schmerzhaft auf. Erst als der Schock und der Schmerz vorübergingen, merkte ich, dass ich auf dem Boden lag.
Was war das?
Ich atmete laut ein und aus. Vielleicht... ach, ich hatte keine Ahnung, was das gewesen sein könnte.
Ich wollte gerade wieder aufstehen, das knackste wieder etwas. Mein Bein verbog sich seltsam und ein scharfer Schmerz durchfuhr meinen Körper. Ein weiterer Schrei entwich meiner Kehle.
Kaum hatte ich mich davon erholt, geschah dasselbe mit meinem Arm. Und es geschah erneut. Ich schrie.
Es hatte sich zwar viel länger angefühlt, aber nach einer halben Minute war es schon vorbei. Der Schock blieb aber.
Plötzlich stürzte irgendjemand in mein Zimmer. Ich kannte diese Person nicht, aber die Frau war wohl vorbeigelaufen, als ich angefangen hatte zu schreien.
Sie sah mich ganz normal in meinem Bett sitzen. „Alles okay?“, fragte sie mich und wirkte etwas erschrocken.
Ich nickte noch etwas benommen. „Ja, ich... Ich bin nur gestolpert und hab mich deswegen ziemlich erschrocken. Habe auch deswegen geschrien.“ Mein Versuch, es überzeugend klingen zu lassen, war beinahe umsonst.
Die Frau nickte ungläubig, ging dann aber.
Ich saß noch eine Weile auf meinem Bett und überlegte.
Vielleicht sollte ich zu Ambrosius gehen und ihm deswegen Bescheid sagen, denn so etwas war definitiv nicht normal. Allerdings wusste ich nicht, wie ich es hätte beschreiben sollen. Und vor allem würde er sich sowieso keinen Reim darauf machen.
Meine Gedanken kämpften noch etwas gegeneinander, ehe ich merkte, dass ich etwas spät dran war und nun gehen musste. Somit blieb mir keine andere Wahl, als schnell hoch zu gehen und endlich zum Flughafen nach Wien zu fahren.
Die gesamte obere Herrschaft – Clas, Somala und Marx – stand bei Anthonys Porsche und verabschiedete sich von uns. Nicht, weil wir so besondere Menschen waren, sondern weil sie es bei jedem so machten. Ein vielleicht letzter Abschied, bevor wir bei unserem Auftrag vielleicht streben. Bei dem Gedanken wurde mir kalt. Ich wollte vor allem Clas und Marx nicht unbedingt wieder sehen, aber lieber das, als der Tod.
„Nein, das geht nicht!“ Ich versuchte ruhig mit Clas zu reden und ihn nicht anzuschreien, während wir auf dem Weg zu unserem Taxi waren. Doch das erwies sich als schwer, denn er wollte mir ja nicht zuhören.
Der Grund dafür war eigentlich ganz logisch zu erklären: Da ich beim Packen meiner Sachen festgestellt hatte, dass meine Kleidung komplett schwarz war – ja, ich war ein richtiger Schnellmerker –, wollte ich ja genau das ändern. Nicht, dass ich mich weigerte, meine „Arbeitsklamotten“ zu tragen, aber ich wusste, dass wir unmöglich so die Vampire ausspionieren konnten.
Als ob irgendwelche Attentäter in Uniform und sichtbaren Waffen am Körper dem Präsidenten die Hand schütteln kamen. Und als ob Weißkittelträger mit riesigen Spritzen auf Einen zu laufen würden und ihm einreden würden, dass das keine Todesspritze sei.
Im Endeffekt taten wir genau das. Wir kamen in unserer „Arbeitskleidung“ zu den Vampire, um sie unauffällig auszuspionieren. Den Vampiren würde doch klar werden, woher wir kamen und sich entweder frühzeitig aus dem Staub machen oder uns gleich in einen Hinterhalt locken und umbringen, damit nicht wir sie töten konnten.
Um das zu vermeiden, musste ich unbedingt mit Clas vernünftig reden. Was leider nicht mit dem allerhöflichsten Ton funktionierte, denn ihm schien das nicht klar zu werden. Mich wunderte überhaupt, wieso sie das nicht schon vor meiner Zeit getan hatten.
„Wollt ihr, dass die Vampire uns gleich wegen unserer Kleidung erkennen und vorzeitig köpfen? Die sind doch nicht dumm und werden tatenlos rumstehen, während offensichtlich Botschafter von unserem lieben Herrscher sie beobachten! Nein, wir brauchen normale Sachen! Wir können ja auf dem Weg zum Flughafen kurz stoppen und diese besorgen. Oder irgendwann später. Aber ich begebe mich nicht der Gefahr dieser blutrünstigen Vampire nur wegen dieser schwarzen Kleidung, an der sie uns erkennen können“, verteidigte ich meinen Standpunkt.
Clas beobachtete mich beinahe schon wütend, aber er hielt sich in Grenzen.
Okay, ich musste jetzt etwas nachgeben, bevor das ganze eskalierte.
„Ich gebe ja zu, schwarz ist unauffällig. Aber auch nur, wenn keiner von uns weiß. Wie wäre es mit einer dunklen Jeans plus einem dunklen Oberteil? Das allerunauffälligtste, was es gibt!“
Marx kratzte sich nachdenklich am Kinn und beobachtete mich scharf mit seinem Blick. Somala stand da und überlegte ebenfalls, wie Clas, der auch rumstand und sich nicht rührte.
„Ich glaube, du verstehst nicht“, sprach er nun, „wozu wir diese Kleidung überhaupt tragen. Sie sind repräsentativ für uns und wie tragen sie daher nicht nur weil sie unauffällig ist. Außerdem sollen die Dreckskerle, die gegen unsere Regeln verstoßen, wissen, dass nicht ganz normale Vampire gekommen sind, um sie umzubringen, sondern wir. Dass wir bei Regelbruch konsequent sind. Es gibt ja immer ein paar, die entkommen und das sollten sie sich eben merken!“
Es war kurz still, denn ich wusste erst nicht mehr, was ich sagen sollte.
„Trotzdem werden Anthony und ich vorerst nur auskundschaften und sie nicht gleich umbringen. Aber sie werden uns nicht auskundschaften lassen, wenn sie wissen, wer wir sind.“ Ich schaffte es nun wirklich, mit einem ruhigen Ton zu reden.
Somala ergriff das Wort, bevor es jemand Anderes tun konnte. „Ich glaube, sie hat da Recht. Und es geht hier immerhin um ihr Leben.“
Na endlich eine, die meine Meinung respektiert! Am liebsten hätte ich mich deswegen vor ihr auf die Knie geworfen und ihr die Füße geküsst.
Neben mir verkniff sich Daniel, der meine Gedanken gehört hatte, ein Grinsen. Er war auch hier und zwar nicht um sich zu verabschieden, sondern weil er uns fahren würde. Da es eindeutig schneller war, fuhren wir mit Anthonys neuem Auto, den Daniel am Ende zurückfahren musste. Außerdem war es wichtig, dass er mitfuhr, da er mir wieder wichtige Sachen über Vampire auf der Fahrt zum Flughafen erzählen. Nicht dass Anthony das nicht auch konnte, aber Daniel hatte nun mal mehr Erfahrung.
„Okay, ich gebe mich einverstanden“, sagte endlich Clas.
Am liebsten wäre ich aufgesprungen und hätte ihn geknuddelt. Ich hätte niemals erwartet, dass Clas mir zustimmen würde. Ich hatte es gehofft, ja, aber nicht erwartet.
„Aber bei dem Kampf trägt sie die normale Kleidung“, sagte Marx, was eindeutig nach einer Zustimmung klang. Ich grinste.
„Natürlich!“, erwidert Clas. „Schließlich bleibt es weiterhin wichtig, dass sie wissen, wer es gewesen ist. Dass sie ja nicht noch ein Mal gegen unsere Regeln verstoßen.“
Nach der darauffolgenden förmlichen Verabschiedung stiegen wir in Anthonys schwarzen Porsche. Daniel setzte sich ans Steuer, ich neben ihn auf den Beifahrersitz, Anthony hinten. Und dann fuhren wir los.
„Wo halten wir an, damit wir neue Sachen kaufen?“, fragte ich gespannt. Wir hatten gerade mal drei Kilometer hinter uns.
Beide Jungs lachten laut auf.
„Oh nein!“, rief Daniel.
Ich runzelte meine Stirn. „Was?“
„Jetzt fängt das Theater um Shopping mit dem Mädchen an!“, stöhnte Anthony und warf seine Hände theatralisch in die Luft.
Ich fing heftig an zu lachen. „Nein. So schlimm bin ich nicht!“
„Das meinst du!“, erwiderte Daniel.
Ich musste nur noch heftiger lachen.
„Wir fahren erst mal nach Wien, da kannst du dann nach Herzenslust shoppen. Fang aber ja nicht an zu kreischen, wenn wir dir eine Rolex oder Accessoires oder anderes von Gucci und so kaufen.“
Ich drehte mich um und blickte Anthony streng an. Und merkte erst in dem Moment, wovon er gesprochen hatte.
„Gucci?“ fragte ich.
Ich würde wirklich so teure Sachen bekommen wie die von Gucci?
Vorfreude bahnte sich an.
„Und jetzt fängt's an“, murmelte Daniel, nahm die Hände vom Steuer und hielt sich die Ohren zu.
Ich bekam in dem Moment fast einen Schock. „Was machst du da?“, schrie ich hysterisch und ergriff schnell das Lenkrad, bevor er einen Unfall baute.
„Also eigentlich habe ich gedacht, du würdest wegen den teuren Accessoires von Gucci durchdrehen. Am Ende war's dann aber doch ein Mann. Hätte ich's mir denken können“, sagte Daniel und lachte.
Ich blickte ihn verständnislos an. „Wir hätten draufgehen können!“, erwiderte ich.
„Da muss ich dich korrigieren. Wir hätten nicht draufgehen können, nur das Auto“, verbesserte mich Daniel.
Ich verdrehte nur meine Augen.
Und vielleicht ein paar andere Autofahrer, die das Pech haben, neben uns zu fahren.
Obwohl ich es hasste, wenn er meine Gedanken las, hätte er diese ruhig hören können. Aber Daniel meinte, er tat das so gut wie nie.
„Mila. Glaubst du wirklich, er würde mein Baby dafür opfern, nur um sich seine Ohren zuzuhalten?“, fragte mich Anthony und schaute mir durch den Rückspiegel in die Augen. „Er weiß doch, dass ich ihn dafür qualvoll umbringen würde.“
Ich kicherte. „Jungs und ihre Autos!“
„Aber die Mädchen mit ihrem Dolce & Gabbana, Prada und der sonstigen Scheiße, die sich kein Mann merken kann!“
„So bin ich nicht, Daniel. Ohrringe müssen nicht von Gucci sein, damit ich sie trage. Nur Gold oder Silber geht auch!“, sagte ich ernst.
„Wow, da hast du Recht. Es zählt nicht die Herkunft, nur der Ursprung!“, meinte Anthony sarkastisch und lachte. Auch Daniel konnte sich das Lachen nicht verkneifen und stimmte lauthals darauf ein.
„Nein, nicht deswegen! Gold zum Beispiel hält viel länger als herkömmliches Metall. Das ist der einzige Grund. Nicht weil ich irgendetwas will, das viel kostet.“
„Klar, klar. Ihr Mädchen seid auch nicht alle verrückt nach Geld“, sagte Anthony sarkastisch.
Ich drehte mich zu ihm um und sah ihn mit meinem Todesblick an. Aber gegen seine Augen kam ich nicht an. Sie waren viel zu schön. Ich konnte mich nicht von ihnen wenden.
„So, genug geglotzt!“, unterbrach Daniel unseren Blickkontakt, wofür ich ihn hätte köpfen wollen.
„Hey, Anthony, tauschen wir jetzt? Dann können Mila und ich nochmal über das Wichtigste reden.“
Es dauerte eine Weile bis ich blickte, dass sie bei voller Fahrt die Plätze tauschen wollten.
„Nein!“, sagte ich und lies es wie eine Drohung wirken. „Wehe!“
„Du bist mit deinen Gedanken aber schnell nachgekommen!“ Daniel lächelte. „Und jetzt setz' dich nach hinten, damit wir wechseln können.“
Bevor ich dagegen sprechen konnte, ergänzte Anthony noch: „Wir machen es, egal ob du dich jetzt nach hinten setzt oder später oder sogar gar nicht. Aber es wäre ungefährlicher, wenn du es jetzt tust.“
Somit blieben mir alle Widerworte im Hals stecken und mir blieb keine andere Möglichkeit, als aufzugeben. Wütend starrte ich beide an, die lachten aber nur.
Als ich hinten saß und Anthony vorne, wechselten die beiden in nicht mal einer Sekunde die Plätze. Und, schwuppdiwupp, saß Daniel hinten mit mir und ging mit mir alles Wichtige nochmal durch. Es hing mir schon zum Hals raus, aber was sollte ich tun?
„Sei nicht sauer deswegen, Süße. Aber ich kann dir nicht so viel beibringen wie Daniel und es wäre besser, wenn du es dir das ganze nochmal einprägst. Ich habe keine Lust, für dich im Falle eines Angriffs den Krankenpfleger zu spielen.“
Ich grinste. „Oh, und vielleicht will ich, dass du mein Krankenpfleger spielst.“
„Okay, ich unterbreche diese Unterhaltung bevor sie weitergeht“, sagte Daniel schnell dazwischen und Anthony und ich lachten los.
Daniel fing an, wieder sein Zeug runterzureden und ich klinkte mich aus.
Süße. So nannte Anthony mich seit einiger Zeit immer. Es war sein neuer Spitzname für mich. Und eine Droge für mich. Denn allein wegen diesem Wort lies ich alles zu. Dieser verdammte Idiot wusste eben, wie. Ich sollte die Techniken, wie man einen Vampir köpfte, wohl als erstes an ihm ausprobieren.
Plötzlich zog mich Daniel wieder an den Boden der Tatsachen zurück und ich hörte ihm diesmal zu.
Nach endlosen Diskussionen über rollende Köpfe, wechselte Anthony das Thema.
„Findet ihr nicht, dass Marx sich seltsam benimmt? Du, Mila, kannst es nicht wirklich bemerken, weil du ihn noch nicht so lange kennst, aber Marx hat sich wirklich irgendwie verändert. Oder, Daniel?“
Ich saß bereits vorne bei Anthony, auf dem Beifahrersitz. „Inwiefern verändert?“
Daniel antwortete: „Er meint sicher, dass er, seit du da bist, zu dir irgendwie nett ist.“ Beim dem nett zeichnete er Gänsefüßchen in die Luft.
„Nett? Er ist nett zu mir?“ Waren die denn vollkommen durchgedreht? Er hasst mich!
„Er hasst alle“, antwortete Daniel. „Hätte er Kake um sich, würde er alle damit abwerfen und auslachen, sobald sie ausrutschen würden.“
Ich schmunzelte. „Du meinst wohl eher seine Lippe würde kurz zucken, wenn sie tatsächlich ausrutschen würden.“
Wir lachten alle laut auf.
Anthony sprach danach lachend weiter, aber man merkte den Ernst seiner Worte. „Er hat niemanden jemals eines Blickes gewürdigt. Und wenn, dann nur aus Hass. Was bei euch da passiert ist, als ihr euch in die Augen geschaut und euch sozusagen duelliert habt... Das habe ich noch nie zuvor gesehen! Er hat dich herausgefordert! So als wollte er dir seine Macht demonstrieren, weil er sich von dir bedroht gefühlt hat.“
Ich schaute ihn böse an. Man konnte sich sehr wohl von mir bedroht fühlen, ohne dass es komisch war.
„Und das ist nicht das Einzige, was ich seltsam finde. Das eine: Er hat deinem Vorschlag, andere Kleidung zu tragen, zugestimmt. Was am Rande der Unmöglichkeit steht.
Und: Er hatte niemals Gnade gekannt und plötzlich überredete er Clas an meinem Geburtstag, dich nicht umbringen zu lassen. Als ich das gehört habe, sind mir fast die Ohren vor Schreck abgefallen!“
Ich bekam ein Kopfkino davon, wie Anthony die Ohren abfallen und musste kichern.
„Das ist echt einmalig. Da steckt irgendwas dahinter. Er braucht dich für irgendwas. Wenn ich nur wüsste was.“ Anthony kratzte sich am Kinn.
„Vielleicht liegt es auch an was anderem“, sagte Daniel und grinste bübisch. „Vielleicht mag er dich.“
Ich steckte mir einen Finger in den Mund und machte ein Würgegeräusch. Anthony und Daniel fingen laut an zu lachen.
„Das Dumme ist, dass ich an Marx' Gedanken nicht rankomme“, meinte Daniel. „Jedenfalls nicht richtig. Aber vielleicht liegt es auch daran, dass er einfach nicht viel denkt und so dumm ist, wie es scheint.“
Ich würde Daniel gerne fragen, worüber Marx denn so nachdachte, auch wenn es nicht gerade viel war. Aber dann überlegte ich eine Weile und wollte es doch nicht wissen.
Während ich darüber nachdachte, lächelte Daniel.
Schnüffle nicht in meinen Gedanken, Daniel!
Als ich mit den Augen dem Straßenverlauf folgte, sah ich auf einem Schild, dass Wien nur noch wenige Kilometer entfernt war. Und tatsächlich, nach einigen Minuten kamen wir in Wien an. Und wurden mit Stau und schlechtem Wetter begrüßt.
„Wie wäre es, wenn ihr schon mal vorlauft und shoppen geht?“, schlug Anthony vor. „Ich versuche zum Flughafen durchzukommen und ihr kommt dann nach?“
„Nein!“, widersprach Daniel. „Wenn sich hier jemand vor dem Shoppen mit einem Mädchen drückt, dann bin ich das!“
Anthony seufzte. „Gut, dann gehen ich eben mit Mila und warte auf dem Flughafen auf dich, sobald wir fertig sind.“
Dann wandte er sich zu mir. „Solange ich dir in der Umkleide zugucken kann, folge ich dir überall hin“, murmelte er verschwörerisch und zwinkerte mir zu.
Ich verdrehte meine Augen und schloss die Wagentür auf. Anthony folgte mir und wir schlängelten uns durch einige Autos, ehe wir in Vampirgeschwindigkeit in die Innenstadt liefen.
„Ich werde dich vermissen!“, sagte ich und umarmte Daniel.
Wir standen vor dem Flughafeneingang und verabschiedeten uns vor voneinander, bevor es hieß: Hello, New York!
Geshoppt hatten Anthony und ich nicht besonders viel – trotzdem mehr als ich gewollt hatte. Ziemlich oft hatte er mir sogar Sachen aufgezwungen, weil er meinte sie würden mir gut stehen. Wir könnten mit dem Geld auf der Kreditkarte sowieso den gesamten Laden leerräumen, meinte Anthony. Ich fand es einfach nur umsonst. Aber ich konnte ihm natürlich nur nachgeben.
Die Farben waren schlicht. Grau-, Brauntöne, aber auch etwas Weiß. Nicht zu dunkel, und vor allem nicht zu grell und aufdringlich, so nach dem Motto „HEY, ich bin hier! Seht mich an!“.
Mein Gedanken schweiften mal wieder zu unseren Küssen. Es waren nur kurze, kleine gewesen, aber sie hatten mich benebelt und ich konnte selbst jetzt noch seine Nähe an meinen Lippen spüren.
Daniel holte mich mit seiner lauten Stimme aus meinen Träumereien, während ich ihn immer noch zum Abschied umarmte. „Siehst du, Anthony. So wie es aussieht, mag sie mich so sehr, dass sie aus ihrer Schwärmerei gar nicht mehr rauskommt.“ Er wackelte mit den Augenbrauen.
Ich schlug ihm auf den Arm.
Idiot! Und hör auf meine Gedanken zu lesen!
Ich lächelte etwas verlegen. Ich wüsste zu gern, was Anthony deswegen gerade durch den Kopf ging, denn an seinem Gesichtsausdruck konnte ich nicht viel raus lesen.
Was wäre es wohl für ein Talent, wirklich Gedanken lesen zu können?
Als wir Daniel nun wirklich ging, winkte ich ihm zum Abschied nochmal zu. Durch die Sicherheitskontrolle kamen wir schneller als ich es erwartet hätte und auch dank unserer gefälschten Ausweise, in dem ich neunzehn und Anthony vierundzwanzig war (ich hieß darin außerdem Milana Rey!), waren wir früher als gedacht mit allem fertig und sogar vom Terminal im wartenden Flugzeug gelandet. Vor allem wunderte es mich aber, wann ein Passfoto von mir gemacht wurde, denn auf dem Reisepass sah ich genauso aus wie ich als Vampir eben aussah. Also vor nicht zu langer Zeit. Und ohne meiner Einverständnis.
Man hatte uns einen Non-Stop-Flug der Austrian von Wien nach New York gebucht. Geplant für den Flug waren ungefähr zehn Stunden. Ich seufzte innerlich auf. So lange nur auf einem Sitz zu liegen und das neben so gut riechenden Menschen...
„Wo sitzen wir?“, fragte ich und schlängelte mich hinter Anthony durch die Sitze im First-Class-Bereich. Natürlich, wo denn sonst? Dass wir nicht viel Geld ausgeben konnten, das gab's nicht. Und ich konnte mich daran immer noch nicht gewöhnen.
„Hier, am Fenster. Guck!“, forderte mich Anthony auf und lehnte sich soweit auf seinem Sitz zurück, als er saß, dass er sogar beinahe lag.
„So können wir gut schlafen, ohne Nackenverspannungen!“
Ich schenkte ihm ein gehässiges Grinsen. Er mit seiner Vampirironie.
Sobald ich mich hingesetzt hatte, wünschte ich mir aber wirklich, ich könnte schlafen. Die Sitze waren einfach viel zu gemütlich, als dass man einfach nur darauf sitzen musste. Und das ganze zehn Stunden.
Ich lehnte mich gemütlich zurück und schloss die Augen. Ja, ein Nickerchen wäre zu schön gewesen! Ich drehte meinen Kopf nach links zu Anthony. In dem Moment, indem ich mich zu ihm drehte, öffnete er die Augen. Ich verlor mich wieder in seinem leuchtendem Grün und bewunderte sie. Ich konnte mich nicht von ihnen losreißen. Wie schon so immer.
Grüne Augen sind gefährlich.
Ja, das waren sie, aber ich konnte nicht anders, als ihn anzustarren.
Bald merkte ich, dass sich die Passagiere gesammelt hatten und wir eindeutig mehr waren. Und das Brummen des Flugzeugmotors wurde lauter. Zum ersten Mal war ich es, die den Augenkontakt unterbrach und ich sah mich um.
„Liebe Flugpassagiere. Willkommen bei unserer Fluggesellschaft. Bevor wir fliegen...“, ertönte eine nette Frauenstimme aus den Lautsprechern und klärte uns über Flugregeln auf.
„Na, nervös?“, fragte mich Anthony.
„Wovor denn? Ist ja nicht das erste Mal“, antwortete ich und lachte. „Und wie heißt es noch so schön? Uns kann nichts passieren! Höchstens dem Flugzeug.“
Das Flugzeug startete. Sobald wir auf Flughöhe waren, fühlte es sich eigentlich an wie Zugfahren. Nur ging es schneller und die Aussicht war spektakulär. Wie schon so oft, fühlte ich mich hier oben wie der König der Welt, sobald ich auf die kleine Welt unter mir blickte. Ich atmete glücklich und mich mächtig fühlend tief ein und aus.
„Es ist doch immer erstaunlich, wie groß und unglaublich man sich fühlt, sobald man fliegt, nicht?“, fragte Anthony mit Blick aus dem Fenster.
Ich nickte. Ich liebte es einfach zu fliegen!
Plötzlich verflog Anthonys gute Laune und er seufzte. Sein Kopf drehte sich wieder in meine Richtung.
Mir wurde mulmig zumute.
„Am liebsten würde ich dich gar nicht mitkommen lassen“, sagte er und schaute mir in die Augen.
Es war kurz still und ich runzelte die Stirn. „Wieso denn das?“
Anthony seufzte erneut. „Ich würde dich am liebsten irgendwohin fesseln, nur damit dir nichts Schlimmes passieren kann. Um dich keiner Gefahr auszusetzen.“ Jetzt murmelte er nur noch. „Ich könnte es nicht ertragen, wenn dir etwas passieren würde.“
„Du weißt schon, dass es dir nichts bringen würde, mich zu fesseln“, meinte ich und versuchte so seine Stimmung etwas zu heben. „Ich entkomme den Fesseln. Und irgendeine Gefahr kommt doch immer. Und irgendwann muss ich mich ihnen doch stellen.“ Ich murmelte zum Schluss nur noch, als Anthonys Gesichtsausdruck finster wurde.
„Ich weiß. Ich weiß.“ Anthonys Miene wurde noch härter.
Ich drehte mich zurück auf meinen Sitz und dachte über seine Worte nach.
Es war, als ob er das wirklich ernst meinte. Es wirkte nicht gespielt, es wirkte richtig echt. Ich holte tief Luft.
Was, wenn er das alles wirklich nicht spielte, sondern es sein Ernst gewesen war? Und er es auch mit mir ernst meinte? Wenn es gar keinen Plan gab, indem mir etwas vorgespielt wurde?
Aber ich war mir so gut wie sicher, dass es diesen Plan gab. Ich hatte Clas mit ihm darüber reden hören und es wurde eindeutig darüber geredet, dass Anthony mein Vertrauen zurückgewinnen musste. Also durfte ich ihm nicht vertrauen. Jedoch zweifelte ich zum ersten Mal daran, ob ich es nicht falsch verstanden hatte.
Und selbst wenn, es am Ende sogar ganz anders war: Wieso hatte Anthony es mir gesagt? Hatte es irgendeinen Sinn?
Und nun war ich verwirrt und gleichzeitig nur noch mehr in ihn verknallt – wenn das überhaupt noch möglich war.
Ich verspürte einen scharfen Stich in der Brust und hätte am liebsten vor Verzweiflung losgeflennt.
Wir flogen noch ganze neun Stunden, fünfundvierzig Minuten und dreizehn Sekunden ehe wir auf dem John F. Kennedy International Airport in New York landeten. Am Anfang saßen wir beide etwas steif da – denn ich war immer noch verwirrt über seine Worte und meine Gefühle gewesen –, doch wir tauten nach einer Weile etwas auf und gingen dann normal miteinander um. Was mir schwerer fiel als gedacht.
Obwohl ich mich durch die Unterhaltung mit Anthony entspannt hatte, war dieser Flug der schlimmste meines Lebens gewesen. Gegen Stewardessen an sich hatte ich nichts, ganz im Gegenteil, ich mochte sie sogar. Aber heute war das eine Katastrophe. Die eine Stewardess hat Anthony die ganze Zeit gefragt, ob er irgendetwas zu trinken wollte oder essen oder sonst irgendwas, und hat dabei immer wieder ihre füllige Brust rausgestreckt.
Gut, sie hatte mich vielleicht genauso oft gefragt, ob ich etwas wollte; aber wenn sie es bei Anthony tat, regte es mich immer so auf. Vielleicht lag das auch an ihrer gewaltigen Oberweite. Da konnte ich garantiert nicht mithalten. Aber es wäre sicher nicht so schlimm gewesen, wenn sie sich nicht so nuttig in die Stewardessenkleidung gezwängt hätte.
Natürlich war ich eifersüchtig, wer wäre es nicht? Vor allem, wenn sie so eine riesige Oberweite hatte. Grr!
Von ihr konnte ich mich nur dann ablenken, wenn ich an die nächsten drei Tage dachte. Ich würde nämlich mit Anthony alleine in New York sein, zusammen in einem Hotel. Das war zusätzlicher Stoff zur Aufregung, nur diesmal etwas zum Freuen.
Werden wir ein Zimmer zusammen kriegen, wie ein Paar? Wie viele Betten wird es geben? Zwei? Eins? Ein Doppelbett? Werden wir zusammen darauf liegen, wenn wir mal Zeit kriegen? Werden wir uns wieder küssen? Natürlich werden wir das! Aber wie weit werden wir gehen?
Mein Kopf schien vor lauter Gedanken zu explodieren.
Mit unseren First-Class-Tickets kamen wir schneller aus dem Flugzeug als die anderen, was uns eine Menge Zeit ersparte. Einer der vielen Vorteile der First-Class. Wäre meine Familie etwa reicher, hätten wir auch so fliegen können. Aber ich konnte mir schon vorstellen, wie es dann zu dem Gespräch kommen würde „Wozu Geld umsonst ausgeben?“.
Es war einfach schrecklich, wie sehr ich sie mal wieder vermisste.
Anthony hatte einen Mietwagen bestellt, bevor wir losgeflogen sind. So mussten wir nicht Bahn fahren oder ein dreckiges Taxi nehmen, sondern hatten ein eigenes (und vor allem schnelles) Auto. Nur... Wie kam man selbst mit einem Jaguar durch die Straßen von New York? Richtig, gar nicht. Dafür war die Metropole viel zu überfüllt mit anderen Autos.
Wir saßen nun in diesem Jaguar mitten in New York und hofften, endlich zu unserem Hotel zu kommen.
„So gesehen war die Idee mit dem Auto hier in New York keine so gute“, meinte Anthony. „Wir hätten auch genauso gut zu Fuß laufen können. Wäre aber mit unserem Handgepäck ungemütlich gewesen...“
Unser Hotel lag irgendwo in Brooklyn, aber in einem etwas abgelegenen Teil davon. Also im Endeffekt eigentlich am perfekten Drehort von gewalttätigen und blutigen Filmen, die Vampire produzierten. Doch trotz der Tatsache, dass der Flughafen sich ebenfalls in Brooklyn befand, würde es wohl eine Ewigkeit dauern bis wir es durch den Verkehr zu unserem Hotel geschafft hätten. Doch man musste es immer positiv sehen: In Manhattan war der Verkehr noch schlimmer.
„Ich kann's nicht glauben!“, sagte ich und warf mich auf das Bett.
„Ja, endlich!“, stimmte mir Anthony zu und legte sich neben mich. „Wer hätte gedacht, dass wir jemals ankommen?“
Unser Hotelzimmer war eigentlich ganz schlicht eingerichtet, klein, aber fein. Herkömmliche Holzmöbel, ein Doppelbett und ein normales. Anthony hatte darauf bestanden, dass ich das große bekam. Und das, obwohl wir keine Betten brauchten. Typisch für ihn. Er wollte vielleicht ein Gentleman sein, war aber in Wirklichkeit ein Schleimer, der mein Vertrauen gewinnen musste.
Es hatte zum Glück nicht ganz so lange gedauert, bis wir aus dem Stau in der Nähe des Flughafens kamen, denn danach waren die Straßen viel leerer. Aber es hatte gefühlt doppelt so lange gedauert bis wir den Schlüssel für unser Zimmer bekommen hatten. Im Hotel war vor der Rezeption eine lange Reihe gestanden, die nicht so schnell kürzer werden wollte. Umso größer war die Freude als wir endlich dran kamen, gleich nach dem spanischen Ehepaar, das kein bisschen Englisch sprechen konnte und das jetzt immer noch in der Lobby auf einen Dolmetscher wartete, weil sie ihr Problem, das keinen interessierte, nicht schildern konnten. Anthony hatte es halbwegs verstanden, da er Italienisch und Portugiesisch konnte, was dem Spanischen ziemlich ähnelte. Irgendein katastrophales Problem mit der Fernbedienung, das uns einfach so fast eine weitere halbe Stunde genommen hat.
Ich seufzte laut und musste dann lachen. „Ich bin in New York!“ Ich streckte mich glücklich auf dem Bett.
„Und was ist so lustig daran?“, fragte Anthony und drehte seinen Kopf zu mir. Durch mein seltsames, unergründetes Lachen musste auch er lachen.
„Weil ich hier bin!“
New York war schon immer eine der Städte gewesen, die ich unbedingt besuchen wollte. Allein die Größe der Stadt beeindruckte mich mit ihren vielen Wolkenkratzern. Ich plante schon seit Jahren einen Trip hier hin. Und plötzlich war ich hier! Aber diese Stadt war mittlerweile mit ihren verdammt vielen Autos und Abgasen ein paar Plätze nach hinten gerückt, nachdem ich endlich hier war. Wahrscheinlich würde es sich aber noch ändern, denn ich hatte ja nur die schlechten Seiten der Stadt kennengelernt und die Stadt war eindeutig zu schön für Platz 5 auf meiner Lieblingsstädteliste.
„Wenn du dich schon so darüber freust, hier zu sein: Wie wäre es wenn wir rausgehen und uns die Stadt ansehen?“, fragte Anthony.
Mein Lächeln wurde breiter. Bis ich merkte, dass wir nicht hier waren, um uns die Stadt anzusehen, sondern dass wir die blutrünstigen Vampiren suchen mussten. Ich seufzte.
„Ja, gehen wir“, sagte ich weniger motiviert und erhob mich erschlagen vom Bett.
„Dafür, dass du gerade so begeistert warst, verhältst du dich jetzt nicht wirklich enthusiastisch und dass, obwohl ich vorhatte, mit dir zum Empire State Building zu gehen.“ Anthony schaute mich lächelnd an.
Ich sprang auf. „Wirklich?“ Ich war kurz davor zu explodieren vor Freude, denn von oben würde ich dann eine unglaubliche Aussicht über New York haben.
Anthony nickte und lachte.
Von einer Sekunde auf die andere war ich schon auf ihm und umarmte ihn. Ich hatte es gar nicht wirklich absichtlich getan, aber die Freude überrollte mich. Schon bald fanden sich unsere Lippen und wir küssten uns lang und innig. Mein Bauch war voller Schmetterlinge und mein Kopf brummte; und ich vergaß mal wieder, dass ich mich von ihm fernhalten wollte. Dieser Moment sollte nie enden.
Aber Anthony löste sich mal wieder viel zu schnell von mir. Ich wurde traurig und stellte mich gespielt beleidigt, wie immer, wenn er es vorzeitig beendete.
„Ich wünsche mir auch, wir könnten weitermachen, aber wenn wir jetzt nicht aufhören, kommen wir heute nicht weg.“ Er lachte und küsste mich nochmal kurz auf die Lippen. In meinem Bauch anfing zu flattern und kicherte los. „Ich würde sagen, wir machen damit auf einer Höhe von 380 Metern weiter, oder nicht?“, meinte Anthony und guckte mich schelmisch an.
Ich grinste wie ein Honigkuchenpferd. Wenn wir das wirklich machen würden, wäre das der schönste Moment in meinem Leben. Auf dem Empire State Building in New York mit Anthony.
Gedanken daran, dass es nicht echt sein konnte, verschwendete ich nicht.
Schnell packte ich meinen Koffer aus und kramte meine neuen Sachen hervor. Da es in New York heute etwas regnerisch war, trotz des Sommermonats, zog ich mir einen braunen Pulli und eine dunkle Jeans an. Zwar wäre mir nicht kalt geworden, aber ich musste mich anpassen. Theoretisch könnte ich im kältesten Winter im Bikini rumlaufen.
Um die High Heels kam ich nicht drum rum. (Wie konnte man bloß vergessen, sich Schuhe zu kaufen?) Aber ich mochte die High Heels mittlerweile. So konnte ich meine nicht vorhandene Größe wieder wettmachen.
Erst wollte ich ins Badezimmer und mich dort umkleiden, entschied mich dann aber anders. Vor Anthony zog ich mich schnell um, wobei ich mich etwas weniger elegant in die enge Hose zwängte.
Anthony beobachtete mich grinsend. „Wir haben vergessen dir Unterwäsche zu kaufen.“
„Wieso? Wolltest du mir Unterwäsche kaufen?“ Ich grinste breit. „Steht mir schwarz nicht?“ Ich zeigte auf meine schwarze, jetzt von Kleidung überdeckte Unterwäsche.
„Süße, wenn du wüsstest, wie gut es dir steht...“, sagte Anthony und fing mit seinen Augen meinen Blick auf. Ich wurde von ihnen gefesselt. Diese Intensität, die in ihnen lag, war atemberaubend. Dieses Grün... Dieses Verlangen, das in ihnen lag...
„Vielleicht sollten wir... äh...“, stammelte ich. Ich konnte meine Gedanken einfach nicht ordnen. Alle festen Strukturen darin zerfielen und wurden zu Brei.
Anthony grinste mich breit an. Er schien mich auszulachen. Ich schüttelte meinen Kopf, um meine Gedanken zu sortieren und um mich über ihn aufzuregen. Er wusste genau, welche Wirkung er auf mich hatte. Vor allem, wenn er Süße zu mir sagte. Meine persönliche Droge.
Es war verdammt verhext. Und vielleicht spielte da wirklich Magie mit, denn es konnte einfach nicht sein, dass ich so vernarrt in ihn war – selbst nach all den schlimmen Sachen, die er getan hatte und die ich über ihn wusste.
Ich wusste nicht, was es war, was mich so verrückt nach ihm machte. Vielleicht sein Aussehen? Haselnussbraune Haare, perfekt hingerichtet, egal ob er seine Hand durchfuhr oder nicht. Leuchtende – auch nicht wörtlich genommen – smaragdgrüne Augen. Unglaublich sinnliche Lippen, zum Verführen erschaffen.
Oder vielleicht war es auch sein Charme, den er in jede Richtung hin versprühte und zwar immer. Selbst wenn ich wütend auf ihn war, konnte ich ihm irgendwie nie richtig böse sein. Nach der Ohrfeige hatte ich ihm immerhin verziehen, sogar als ich wusste, dass er mich verführen wollte. Klar, erst hatte ich es ihm vorgespielt, aber mittlerweile verzieh ich ihm wirklich.
Ich wollte auf ihn wütend sein und ihm auf keinen Fall vertrauen. Aber er machte es mir auch noch so schwer.
Während er mich immer noch angrinste, versuchte ich an etwas zu denken, dass mich ihn hassen lies.
Sein Selbstbewusstsein war das, was ich am meisten an ihm hasste – oder vielleicht auch beneidete. Immer meinte er, alles zu kriegen zu können. Und, na ja, eigentlich bekam er es ja auch immer. Und wenn er einfach nur so irgendwo lief, dann lief Anthony immer so selbstbewusst. Seine Körperhaltung, der verführerische und humorvolle Ausdruck in seinem Gesicht... erinnerten im Endeffekt an einen Playboy. Und das war er ja. Er spielte die ganze Zeit nur mit mir. Und das sollte ich mir ins Gedächtnis rufen.
Aber es war unglaublich heiß.
Und er war mein!
Dieser Gedanke beflügelte mich und ich musste grinsen wie eine Verrückte. Wenigstens für den Moment, für eine ungewisse Zeit, war er meiner. Ich musste diese Zeit mit ihm alleine in New York genießen, bevor sie zu früh endete.
Anthony lief zu seiner Reisetasche und holte sich die Klamotten, die er sich mit mir gekauft hatte. Ich hatte nur die Stirn gerunzelt, als er mir gesagt hatte, er würde sich auch etwas Neues kaufen und mich in den nächsten teuren Herrenladen zog. Dazu sagte er nur, dass es doch toll wäre, wenn wir sozusagen im Partnerlook gehen würde.
Partnerlook. Was für ein witziger Gedanke.
Ich beobachtete, wie er zu seinem Koffer lief und ihn öffnete. Er holte sich ein graues T-Shirt von Hugo Boss und eine Jeans. Und fing an – so wie ich mich vor ihm – sich vor mir umzuziehen. Langsam zog er sein schwarzes T-Shirt aus und legte es auf einen nahegelegenen Stuhl. Ich schaute mir seine Bauchmuskeln an. Es war ein unglaublicher Waschbrettbauch. Perfekt definiert und steinhart – wie hätte es auch anders als steinhart bei einem Vampiren sein sollen?
Bei jeder Bewegung spielten seine Muskeln unter der Haut. Ich hielt die Luft an und presste meine Lippen zusammen.
Anthony zog sich seine Hose aus. Nun stand er vor mir, nur in einer Unterhose bekleidet. Klein am Rand der schwarzen Unterhose stand Calvin Klein.
Ohne einer Pause zog sich Anthony die Jeans an. Und bemerkte erst meinen Blick, als er die Hose bereits anhatte.
„Na? Gefällt dir, was du siehst?“, fragte mich Anthony und blickte mich aus grinsenden Augen an.
Und dann begann er seine Hüften zu kreisen.
War das etwa ein Striptease? Ich schlug meine Hände vor die Augen und fing an zu lachen.
„Also, das ist nicht die Reaktion, die so jemand wie ich zu erwarten hat“, sagte er und schmollte. „Solche Reaktion gibt es eigentlich nur, wenn fette Typen so anfangen zu tanzen. Bei mir sollte eigentlich dein Mund aufgehen und Sabber rauskommen.“
Ich musste nur noch mehr lachen und bekam einen richtigen Lachflash. Auch Anthony konnte sich gar nicht mehr halten und lachte.
„Gott! Wehe, du machst das nochmal!“, sagte ich lachend und blickte blinzelnd durch meine Lachtränen.
„Wieso denn? Gefällt es dir denn nicht?“, fragte er.
„Süßer, wenn du nur wüsstest, wie gut es aussieht, wenn du strippst“, sagte ich, beinahe im selben anzüglichen Ton, wie er vorhin zu mir. Dann lachte ich. „Außerdem weist du, worin es endet, wenn du damit jetzt weitermachst.“ Schief grinsend beobachtete ich ihn.
Ich sah ihm an, dass er fragen wollte „Worin endet es denn?“, aber wenn er das fragen würde, würde es eben genau darin enden. Er biss sich auf die Zunge und ich mich mir auf die Lippe, um nichts mehr zu sagen.
Anthony stand schnell auf und lief zu seiner Kleidung, bevor er wirklich noch fragen konnte. Ich beobachtete ihn, während er schnell noch sein T-Shirt überzog. Gott, ich hatte mich gleich nochmal in sein Aussehen verliebt. Er sah einfach nur göttlich aus. Man konnte sich nicht satt sehen.
Wir verließen grinsend unser Zimmer, liefen die Treppen runter und sprangen nach draußen. Leider liefen wir im Schneckentempo und waren dadurch nicht schneller als alle anderen Menschen.
Eigentlich war es ganz einfach, zum Empire State Building zu kommen. Dank GPS und Smartphones war alles möglich. Nur dass ich im Moment kein Handy besaß und Anthony das sowieso nicht brauchte.
Er deutete mir, ihm hinterher zu laufen und ich folgte ihm in etwas erhöhter Geschwindigkeit. Als wir durch einen Hintereingang in einem Gebäude landeten, fragte ich mich erst, was wir hier suchten, bis Anthony eine Tür öffnete, die ich so nicht bemerkt hatte. Treppen führten runter.
Anthony grinste mich an und dann gingen wir dieses Mal in Vampirgeschwindigkeit runter. Auf einmal landeten wir in einem Tunnel und mein Kinnlade klappte runter.
Das waren dann wohl die unbekannten Gänge New Yorks, im Untergrund der übergroßen Stadt. Ich war beeindruckt.
Hier konnten wir wirklich unbemerkt rennen, ohne dass sich einer über einen starken, kurzen Luftzug wunderte.
Wir durchquerten die Tunnel schnell, bogen rechts und links ab und meiner Meinung nach wären wir schon längst aus New York raus. Plötzlich bog Anthony irgendwo ab und klettert durch einen Schacht nach draußen. Ich folgte ihm. Oben angekommen waren wir dann plötzlich in einem Putzraum.
„Wir sind fast da“, meinte er und schloss eine Tür auf.
Als ich mir ihm durch die Tür trat, befand ich mich plötzlich in einer New Yorker U-Bahn Station. Die Leute um uns guckten uns komisch an, als sie uns beide da raus kommen sahen und als ich verstand, was für ein Bild wir abgeben mussten, zog verschämt und kichernd meinen Kopf ein.
Während wir aus den Ausgang suchten, überlegte ich mir, wie man sich wohl als Mensch solche Wege einprägen konnte. Ich, als Vampir, hatte da schon meine Probleme, aber wie wollte es ein Mensch hinkriegen? Es war ja nicht wie hier in dieser U-Bahn, wo alles beschildert war.
Wir drängelten uns unter die normalen Menschen und kamen in mitten von Manhattan ins Sonnenlicht. Von hier aus war es gar nicht mehr weit zum Empire State Building.
„Wer wohl diese ganzen unterirdischen Gänge gemacht hat?“, fragte ich eher mich als ihn.
„Irgendeiner, der sie wohl unbedingt brauchte, vor langer Zeit“, murmelte Anthony und lachte, als er die Tür zum Gebäude öffnete.
Drinnen klappte mir erst mal die Kinnlade runter.
„Das ist aber mal eine lange Schlange“, sprach ich meine Gedanken aus.
Die Reihe vor dem Aufzug war wirklich unglaublich lang. Es würde lange dauern bis wir zur Spitze gelangen konnten. Und da sollten wir anstehen?
„Ja, die Schlange ist schon lang“, bestätigte Anthony meine Aussage, „aber ganz zufälligerweise sind wir VIP's und sind im Handumdrehen nicht nur auf der Besucherebene, sondern noch weiter oben. Wo uns außerdem auch gar nicht stören kann.“ Er zwinkerte mir verführerisch zu.
VIP? Inwiefern konnten wir – beziehungsweise konnte Anthony – VIP sein?
Auf seine Anspielung achtete ich gar nicht, dafür musste ich zu sehr über Anthonys Qualitäten als Sänger oder Schauspieler denken. Dabei habe ich ihn noch gar nie singen gehört, ohne schauspielern gesehen – abgesehen davon, das er die ganze Zeit mir irgendetwas vorspielte. Vielleicht war er ein berühmtes Unterwäschemodel, von dem ich noch nichts wusste. Oder was meinte er mit VIP?
Anthony lief zu einer Kasse, die eigentlich geschlossen hatte, wo aber trotzdem ein Mann stand und seinen Kopf in den Computer steckte. Als ihm eine Karte entgegen gehalten wurde, schaute er zu uns hoch. Die Visitenkarte, mit der Anthony auch vor elf Stunden die neuen Klamotten gekauft hatte, wurde von dem Typ an der Kasse durch den vorhergesehenen Schlitz geführt.
Er erstarrte, als er auf den Flatscreens schaute. Schnell winkte er einen Personalleiter herbei und deutete mit seinen Blick auf den Bildschirm des Computers. Der gelangweilte und genervte Blick des Personalleiters veränderte sich mit einem Schlag und er lächelte uns an, als wären wir der Präsident und die First Lady persönlich.
Ich runzelte die Stirn und verstand gar nichts, während Anthony seine Lippen aufeinander presste, weil er sich das Lachen kaum verkneifen konnte. Ob wegen mir oder den Angestellten des Empire State Buildings, das wusste ich nicht.
Mit einer freundlichen Geste führte uns der Personalleiter, auf dessen Brust ein Schildchen prangte mit dem Namen L. Smith, an der wartenden Schlange vorbei. Die anstehenden Leute dort schauten uns neidisch hinterher und zerbrachen sich den Kopf darüber, in welchem Film wir wohl mitgespielt hätten.
Ich kicherte mir heimlich ins Fäustchen, obwohl ich noch immer nicht verstand, wie es zu dieser Situation erst kommen konnte.
„We have a really good view from the top of our building. You can see for miles if it's not cloudy“, fing Mr. Smith uns über das Gebäude zu informieren, während er uns durch Gänge führte. Dass das Wetter jetzt perfekt wäre, da es nicht nebelig war. Dann auch dass wir weit aus höher als zur Besucherebene fahren und vor allem ungestört sein würden. Und dann noch irgendwelche unglaubliche Fakten, denen ich nur halbherzig zuhörte. Ich war zu sehr darin versunken, wie schön es sein würde, alleine mit Anthony in bester Zweisamkeit am zweithöchsten Punkt von New York zu stehen. Alleine der Gedanke führte dazu, dass es mir im Bauch kribbelte.
Wir kamen mit Mr. Smith zu einem ultramodernen Aufzug und stiegen dort ein. Dass er reden konnte wie ein Wasserfall, sah man ihm auf den ersten Blick nicht an, da er mir anfangs ziemlich genervt aussah. Aber jetzt konnte er sich nicht mehr halten und erzählte uns von der Geschwindigkeit des Aufzuges. Über 60 Kilometer pro Stunde meinte er, aber ich konnte dank meiner unmenschlichen Kräfte wissen, dass wir gerademal mit einer Geschwindigkeit von nur 59,7 Kilometern pro Stunde in die Höhe schossen. Fast hätte ich es ihm gesagt, nur um seinen unbezahlbaren Gesichtsausdruck zu sehen.
Als der Aufzug langsamer wurde, und schließlich anhielt, sprach Anthony während sich die Aufzugtüren öffneten in fließendem Englisch: „Thank you for all, Mr. Smith, but at this moment we want to stay alone.“
Er zog mich aus dem Aufzug und lies den verdutzten Mann im Aufzug stehen, bis er es dann endlich schaffte uns zum Abschied zu winken und davon zu fahren.
„Der Arme, der tut mir jetzt echt leid“, sagte ich. „Er wollte uns doch noch etwas über die Stadt erzählen und du schickst ihn weg.“
Ich lachte im selben Moment auf, als auch Anthony lachen musste.
Lächelnd lief ich auf den Rand der Aussichtsplattform zu. Es sah hier eigentlich beinahe genauso aus wie auf der öffentlichen Besucherplattform, wenn man dem Fernsehen in diesem Fall trauen konnte. Gleiches Gitter am Rand, damit wir den Abgrund nicht herunterfallen konnten und gleiche Ferngläser. Der gesamte Platz war hier nur viel kleiner.
Der Wind fegte mir stürmisch durch die Haare und brachte sie mir durcheinander. Ich die haare etwas in Ordnung zu bringen, aber der Wind pustete sie mir sogleich wieder ins Gesicht. Schlussendlich stellte ich mich gegen den Wind, damit er mir sie wieder aus dem Gesicht blasen konnte.
Ich hörte Anthony lachen und auf mich zu kommen.
„Hättest du das gleiche Problem wie ich, würdest du auch nicht lachen“, sagte ich etwas beleidigt, konnte es dann aber auch nicht über mich bringen, nicht zu lachen.
Zwei starke Arme schlangen sich von hinten um mich. „Hey, eigentlich habe ich dasselbe Problem mit meinen Haaren. Der Wind bringt sie ganz durcheinander.“ Er musste lächeln und seine Brust vibrierte.
„Deine sind doch schon immer durcheinander gewesen“, erwiderte ich und lachte los.
Seine Hand entfernte sich von meinem Bauch, nur um meine Haare zur Seite zu legen. Dann legte er sein Kinn auf meine Schulter.
„Die Aussicht ist unglaublich, nicht?“ Seine Hand hatte bereits seinen Platz zu meinem Bauch wiedergefunden.
Ich nickte. Mein gesamter Körper prickelte und mir war leicht schwindelig. Aber das lag nicht an der Höhe oder der Aussicht.
Es lag einzig und allein an Anthony.
Garantiert hatte New York da auch etwas beigetragen, aber ohne Anthony hätte das alles ganz anders für mich ausgesehen. Wer hätte gedacht, dass Liebe solche Hochgefühle auslöste? Nichts und Niemand hätte das jemals so hingekriegt wie dieser mich umarmende Idiot.
„Was hat das eigentlich mit der Visitenkarte auf sich?“, fragte ich einer Stunde purer Reglosigkeit. Die Abendsonne konnte man wegen der zahlreichen Wolkenkratzern fast gar nicht mehr sehen.
„Wie schon gesagt. VIP“, murmelte Anthony, immer noch an meine Schulter gelehnt. „Dafür hat Clas gesorgt. Oder eher gesagt wir. Etwas selber machen tut er selten, höchstens nachdenken. Aber handeln, das tun wir.“
Ich lächelte und drehte mich zu ihm um.
Oh Gott, da waren schon wieder seine Augen. Seine unglaublich schönen Augen. Wie konnte man sich nur nicht von ihnen wenden? Von diesem intensivem Smaragdgrün?
„Du hast so unglaublich schöne Augen, weist du das?“, murmelte Anthony.
Ich runzelte die Stirn. „Das sagst gerade du.“ Ich lachte.
Er musste auch lächeln und kam mir langsam näher. Ich hielt den Atem an. Kaum berührten seine Lippen meine, entfachte das ein Brennen an allen Stellen, an denen er mich berührte. Ich konnte es wie immer nicht länger aushalten und zog ihn mit meiner Hand in seinem Nacken zu mir runter, damit wir den Kuss vertiefen konnten.
Irgendwann lösten wir uns voneinander. Oder eher gesagt, er löste sich von mir, wie sonst immer. Langsam machte sich in mir das Gefühl breit, dass es deswegen mehr auf sich hatte, aber ich traute mich nicht, zu fragen.
Die Sonne war schon untergegangen, doch ich wollte immer noch mehr. Noch mehr von Anthony und seinen Küssen.
„Es ist leider schon so spät“, sagte ich.
„Ja, die da unten fragen sich schon sicher, wo wir sind“, antwortete Anthony und lachte.
„Aber ich will noch etwas hier bleiben!“
Ich konnte mir nicht vorstellen, jetzt schon zu gehen. Denn dann würde der Ernst des Lebens beginnen. Wir müssten die Vampire suchen. Und die wunderschöne Zeit hier auf dem Empire State Building wäre vorbei.
„Wir bleiben noch ein bisschen“, versicherte mir Anthony.
Dass aber ein bisschen wirklich nur ein bisschen war, sagte er mir nicht, denn nach nur fünf Minuten betätigte er den Aufzugknopf.
„Ich würde viel lieber hinunterspringen, dann wären wir viel schneller unten. Ich kann mir aber nicht vorstellen, wie die reagieren würden, wenn wir plötzlich nicht mehr oben sind und den Aufzug nicht benutzt haben.“ Anthony lachte.
„Aber wäre das bei dieser Höhe nicht auch für uns gefährlich?“, fragte ich und stellte mir vor, dass ich auf dem Boden zerschellen würde wie Porzellan.
„Schon, aber wir könnten uns ja an der Fenstern hinunter hangeln“, meinte er und grinste, während wir in den Aufzug stiegen und die Türen sich schlossen.
„Klar, so etwas fällt auch gar nicht auf.“ Ich lachte laut auf. „Wir werden dann auch nicht für verrückte Selbstmörder gehalten.“
Als der Aufzug, der runter etwas schneller runterging als hoch, unten angekommen war, wartete schon Mr. Smith auf uns, froh uns endlich zu sehen. Gleich zur Begrüßung quatschte er uns voll und erzählte, dass er zwar nach uns sehen, gleichzeitig uns aber auch nicht stören wollte. Und als wir dann endlich rauskamen, gingen wir über die East 34th Street zurück nach Brooklyn und wurden dabei von den Menschenmassen hin und her gedrängt. Selbst bei so vielen Menschen war New York bei Nacht aber auch zu schön, als dass man es nur durch unterirdische Gänge durchquerte.
„Hier nimm!“ Anthony warf mir einen Blutbeutel zu, den er aus seinem Koffer hatte.
„Wie hast du die durch die Sicherheitskontrolle am Flughafen durchbekommen?“
„Gar nicht. Ich hab sie von hier. Mit dem Jaguar dazu bestellt.“ Er zwinkerte mir zu.
Ich schüttelte den Kopf. Ja, er mit seinen Beziehungen auf der ganzen Welt. Aber er hatte immerhin 300 Jahre gehabt, um sie herzustellen.
Ich fing den Blutbeutel im Flug auf und steckte sogleich meine ausgefahrenen Eckzähne rein. Es schmeckte herrlich und floss kühl meine Kehle runter. Leider nicht warm, aber so verzweifelt, es in die Mikrowelle zu stecken war ich auch nicht. Der Geschmack wäre dann auch nicht mehr der selbe. Nicht mehr so frisch, fast wie wiederaufgewärmtes Hühnchen.
Ich seufzte, als ich merkte, dass ich über Menschen wie über Hühnchen redete.
Schrecklich.
„Aber es gab auch nur zwei, das heißt, wir müssen uns später noch was besorgen.“
Ich nickte.
Anthony gab mir eine große leere Frauenhandtasche, die ich verdutzt annahm.
„Für das Blut?“, fragte ich.
„Für das Blut“, bestätigte er.
Na ja, besser eine Handtasche als ein Minikühlschrank mit dem wir „unauffällig“ durch New York schlendern würden. Auch wenn mich der Gedanke beunruhigte, dass ich später so viel Blut in meinem Armen haben würde.
Anthony nahm uns noch zwei Jacken mit, dann waren wir schon wieder aus dem Hotel. Als er seine neue Lederjacke sich überzog, unterdrückte ich einen Seufzer. Er sah darin einfach zum Anbeißen aus.
Gott, was würde er nur von mir denken, wenn er meine Gedanken lesen würde? So wie ich am liebsten an ihm kleben würde und nie wieder loslassen. Am allerliebsten würde ich ihn an kreischen wie verrückte Justin Bieber Fans und danach in Ohnmacht fallen.
Mittlerweile war ich süchtig nach ihm. Garantiert würde Anthony kreischend davonlaufen, sobald er wissen würde, welche Wirkung er auf mich hatte.
Diesmal gingen wir erst gar nicht durch die Lobby, sondern sprangen gleich aus dem Fenster und landeten nach vier Stockwerken auf dem Boden einer kleinen unauffälligen Gasse.
„Wohin gegen wir jetzt?“, fragte ich.
„Keine Ahnung.“ Er zuckte mit den Schulten. „Der Tipp, den wir bekommen hatten, war nicht genauer. Und in einer Millionenstadt wie New York nach Vampiren zu suchen, deren Gesichter wir nicht mal kennen, ist auch nicht gerade leicht.“
Also liefen wir erst mal Brooklyn ab, dann würden wir uns weiter die anderen Gebiete von New York vorarbeiten.
Eigentlich wäre Brooklyn der perfekte Ort, an dem die Vampire den Film hätten drehen können. Zwar war es auch hier voll von Menschen, aber es gab eben auch diese Ecken und Gassen, in die nachts keiner ging.
Unser Plan war es, nach den Gerüchen von anderen Vampiren Ausschau zu halten, aber auch nach dem Geruch von Blut, den die Vampire hier angeblich reichlich auf ihrem Filmset verteilten. Und das ging eigentlich richtig schnell, da es dunkel war und sich keiner für Luftzüge interessierte. Wir konnten also richtig schnell Gebiete überprüfen und an den Stellen, an denen wir Vampire mal vorbeigelaufen waren oder sich sogar gerade befanden, konnten wir später ja sogar genauer untersuchen.
Als erstes besorgten wir natürlich Blut, dass Anthony irgendwo bei einem Freund besorgt hatte und das ich dann wieder zurück in unser Hotel bringen und in unserem Minikühlschrank verstauen konnte. Als ich wieder zurückkam, konnten wir mit der Suche beginnen.
Ich war richtig aufgeregt, denn es konnte heute schon passieren, dass wir die Vampire fanden. Außerdem war das mein erster Auftrag und da wollte ich wenigstens gute Vorarbeit leisten, damit es später leichter war, sie zu töten.
Als wir Brooklyn durch hatten, war kaum eine Stunde vergangen und sogar drei potentielle Orte, an dem der Vampir-Horrorstreifen gedreht werden könnte. Wir gingen weiter nach Queens und durchsuchten dort den halben Bezirk. Es war wirklich schön da und fast genauso belebt wie Manhattan.
„Komm, gehen wir woanders hin!“, sagt Anthony auf einmal.
Ich runzelte die Stirn. „Was meinst du damit? Willst du vielleicht nach Manhattan?“
„Ja, aber nicht um die Vampire dort zu suchen. Da wir ja noch zwei Tage Zeit haben, um hier auskundschaften zu können und zwischendurch nicht nicht schlafen müssen, können wir jetzt etwas Anderes machen. Was meinst du?“, fragte mich er und lächelte.
Nun musste ich auch lächeln. „Okay. Und was machen wir dann?“, fragte ich.
„Komm!“ Er nahm meine Hand und zog mich mit sich
Ich konnte ihm nur folgen und dabei dümmlich grinsen.
Wo wollte er hin? Ich war so was von gespannt darauf, wohin er mich führen wollte, dass ich beinahe vor Freude explofierte.
Es wurde immer lauter und ich merkte, dass wir in Manhattan waren. Es waren nicht nur sehr viele, teils betrunkene, Menschen hier, die ziemlich laut miteinander redeten, sondern man hörte den Bass aus den Diskos dröhnen. Beinahe hätte ich alleine davon Ohrenschmerzen gekriegt.
Anthony zog mich mit zur einer mit einer langen Schlange vor einer Diskothek. Doch anstatt sich hinten anzustellen, drängelte er sich mit mir bis ganz nach vorne zum Türsteher. Hinter uns begannen sich die Leute aufzuregen, zu schimpfen, wieso wir uns vorgedrängt hatten; während wir vorbei liefen, spürte ich sogar eine Hand, die meinen Hintern kniff. Hätte Anthony mich nicht am der Hand hinter sich hergezogen, hätte ich mich umgedreht und dem Typ eine runter gehauen.
Als wir vorne ankamen, schaute der Türsteher uns erst kritisch an, dann aber lächelte er und nahm Anthony in eine Männerumarmung.
„Wie geht's, Kumpel?“, fragte er laut und überschwänglich.
Ich hob meine Augenbrauen. Dieser Mann war ein Mensch, kein Vampir, vielleicht fünfunddreißig.
Woher kannten sich die zwei?
„Gut! Dir?“ Anthony lachte auf.
„Prima! Boah, lange nicht mehr gesehen! Und wer ist deine Freundin hier?“
Ich versuchte zu lächeln, jedoch zerbrach ich mir in dem Moment zu sehr den Kopf darüber, woher die zwei sich kannten. Solche Freundschaften zwischen alten Vampiren und Menschen waren recht selten.
„Josh, das ist Mila!“, stellte Anthony mich ihm vor.
Ich reichte ihm die Hand. Er hatte einen starken Händedruck.
„Na, komm!“ Plötzlich nahm er mich in seine Arme.
Ich war erstarrt und bewegte mich nicht, denn ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte.
Anthony lachte hinter mir und dann lies mich Josh auch endlich los.
„Los, geht schon rein!“
Er schob mich hinter die Tür und ich hätte mich laut schreiend dagegen gewährt, wäre Anthony nicht direkt hinter mir gewesen. Dann klatschte Josh mir auch noch auf den Hintern, bevor er sich der empörten, wartenden Menge zuwandte.
Mit einem entgeisterten Gesicht schaute ich Anthony an. „Was war das denn?“, fragte ich.
Er lachte. „Nimm's ihm nicht übel, der ist halt von Natur aus so ein Typ. Eigentlich echt cool.“
Ich beschloss nicht weiter nachzufragen und lies es sein. Und das, obwohl ich immer noch nichts verstehen konnte.
Plötzlich brach Anthony in lautem Gelächter aus. „Wie du reagiert hast, als er dich umarmen wollte!“
Während wir die Treppen runter liefen in den Partyraum, konnte sich Anthony kaum auf den Beinen halten vor Lachen.
„Woran liegt es eigentlich, dass du, immer wenn du lachst, mich auslachst?“, fragte ich und musste dabei sogar etwas schmunzeln, obwohl ich ihm einen Vorwurf machen wollte.
„Weil du immer irgendetwas Seltsames tust oder anstellst.“ Er konnte sich immer noch kaum halten vor Lachen. „Und weißt du noch, als du die Schokolade unbedingt ausprobieren wolltest?“
Ich schubste ihn spaßeshalber, sodass er gegen das Treppengeländer fiel. Trotzdem lachte er weiter.
„Hey!“ Er wischte sich die Lachtränen aus den Augenwinkeln.
Ich streckte ihm die Zunge aus.
Die Musik war laut. Sehr laut. Und da ich bisher noch nie in einer Disko gewesen bin, störte es mich anfangs, denn der Bass dröhnte nur so in meinen Ohren. Überall tanzten schweißnasse Körper, meist total taktlos.
Ich schlängelte mich durch die windenden Körper hindurch, um zur Bar zu kommen, denn dort war es wenigstens im Moment ruhiger. Zwar bestellten sich viele ihre Getränke dort, aber ich erhaschte mit meinem Blick zwei freie Plätze.
Anthony war währenddessen dicht hinter mir. Ich konnte selbst in dieser Hitze seinen Atem an meinem Nacken spüren.
Ich setzte mich auf den freien Platz, er direkt neben mir, und betrachtete die tanzende Menge. Zwar sah ihr Gehopse chaotisch aus, aber sie hatte sichtlich viel Spaß.
„Ich hätte mich falscher nicht anziehen können“, sagte ich und schaute auf meinen Pullover und die lange Hose. Die Lederjacke drüber war auch nicht gerade besser.
Alle tanzenden Frauen hatten entweder kurze Röcke oder Kleider, oder eine Hotpants, kombiniert mit einem tiefen Ausschnitt.
Wie die wohl in dem Sauwetter nach Hause kommen wollten?
Anthony hingegen war genau richtig angezogen. Lässige, tiefsitzende Hose und ein cooles T-Shirt; die Lederjacke hatte er sich um den Arm gehängt.
„Du meinst, du wärst falsch angezogen?“, fragte er mich.
„Ich meine es nicht, ich weiß es“, antwortete ich und zog mir die Jacke aus.
„Und wieso wirst du dann aus allen Richtungen angestarrt, als ob du dich nicht besser hättest kleiden können?“
Ich schaute mich um. Es starrten mich wirklich viele an, welche an der Bar und welche auf der Tanzfläche. Wäre nicht Anthony neben mir, wären garantiert ein paar von ihnen auf mich zugelaufen und hätten mit mir ein Gespräch anfangen wollen.
Ich schaute zurück zu Anthony, der mit seinem Blick nur auf die Empore über der Tanzfläche deutete. Ich sah hoch und genau in dem Moment als ich hoch sah, drehten sich ein paar Köpfe wieder zurück und taten, als ob sie mich nicht beobachtet hätte. Ich drehte meinen Kopf zu Anthony und holte tief Luft.
„Ich werde angestarrt, weil ich einen Pulli anhabe, was ziemlich unpassend für eine Disko ist. Gleichzeitig bin ich auch noch eine Minderjährige, die genauso und noch jünger aussieht und die solche Tanzveranstaltungen noch nicht mal besuchen darf. Dazu bin ich auch noch blasser wie eine Leiche und falle selbst unter Menschen mit sehr heller Haut auf.
Und wenn sie mich wirklich nur deswegen anstarren, weil ich mich nicht besser hätte kleiden können, dann liegt es auch nur daran, dass sie auf keinen Fall mehr von meiner leichenblassen Haut und bloß nicht meine dürren Knochen mit nichts, ohne jegliche Kurven, sehen wollen.“
Alles in einem Atemzug zu sagen wäre schwer gewesen, wenn ich die Luft wirklich zum Überleben brauchen würde. Es aber auch noch durch die laute Musik zu rufen, machte es selbst für mich etwas schwer.
Anthony lachte auf, als ich zu Ende gesprochen hatte.
„Wie schlecht denkst du eigentlich von dir?“, fragte er und schien sich dann, mal wieder, über mich lustig zu machen.
„Du wirst nicht deswegen angestarrt, weil etwas Unpassendes anhast", fing er an. „Du wirst angestarrt, weil du eine Schönheit bist. Deine blasse Haut macht dich nicht zu einer Ausstößigen, sie macht dich wunderschön und passt nur zur dir so gut und würde keinem Anderen so gut stehen.“
Ich starrte ihn an.
„Dass du minderjährig bist, kann man dir nicht einmal ansehen, da alle geblendet sind von deinen leuchtenden blonden Haare und der perfekt dazu passenden Haut. Was alle nur wollen, ist, dich wirklich nur ohne diesen verdammten Pullover zu sehen, weil sie verdammt nochmal mehr von dir und deiner makellosen Haut sehen wollen. Alle, die dich angestarrt haben, mich eingeschlossen, würden dich am liebsten ohne jegliche Kleidung sehen, da dein Körper verdammt geil aussieht.“
Wenn mein Gesicht rot werden könnte, dann wäre es es jetzt geworden. Meinte er das tatsächlich ernst? Ich biss mir auf die Lippe.
„Und die angeblichen Knochen und fehlenden Kurven, wie du sie bei dir bezeichnest, sind auf keinen Fall so, wie du sie beschreibst. Denn ich hab dich in Unterwäsche gesehen und weiß, wovon ich rede. Und viele würden mich deswegen glücklich schätzen!
Und glaubst du ernsthaft, Josh hätte dir umsonst auf den Hintern gehauen? Das tut er nur bei Frauen mit großen Hintern!“
Mir blieb der Mund offen. Ich wusste einfach nicht, was ich dazu hätte sagen können. Also blieb mein Mund geöffnet und er schloss sich auch nicht so schnell wieder.
Das war eine ganz andere Sichtweise. Ich hatte mich immer als normal eingestuft, wegen meiner viel zu hellen Haut manchmal sogar als hässlich. Natürlich gab es Momente, in denen es mir egal war und ich hielt mich manchmal sogar für sehr hübsch. Aber sonst hielt ich mich immer für das, was ich war – normal, manchmal zu impulsiv – und akzeptierte es einfach so. Was Anthony von mir gehört hatte, war meine ehrliche Meinung gewesen.
Seine Antwort dazu schockierte mich einfach nur. Denn er drehte all meine Sichtweisen auf den Kopf.
Bevor ich darüber weiter hätte überlegen können, brachte mich Anthony aus den Gedanken. „Wenn dir dein Outfit nicht passt, können wir es ja umändern“, meinte er.
Ich nickte einfach nur und realisierte erst später, dass ich es getan hatte. Ich zog mir meinen Pulli aus und Anthony nahm ihn und die Jacke mir aus der Hand, um sie mit seiner Jacke dem Barkeeper zu geben. Gleichzeitig überreichte er ihm einen Geldschein und der Barkeeper versteckte unsere Sachen irgendwo hinter sich. Zum Glück hatte ich unter dem Pullover noch ein dunkles Unterhemd an.
Anthony kam auf mich zu und nahm das Ende des Unterhemdes. Bevor ich fragen konnte, was er vorhatte, riss er mir den unteren Teil davon ab.
„Was soll das?“, fragte ich ihn schockiert. Ein warmer Luftzug strich über meinen nackten Bauch.
Sein Mund glitt zu meinem Ohr und er schrie durch die laute Musik: „Du wolltest doch etwas zum Anlass haben.“
Ich öffnete den Mund erst, um etwas zu erwidern, schloss ihn jedoch gleich wieder. Es war eigentlich keine so schlechte Idee und sie gefiel mir immer besser, je länger ich darüber nachdachte.
„Denkst du wirklich, jemand will meinen Bauchnabel sehen?“, fragte ich noch etwas unsicher.
„Nein, dass will keiner. Die Frauen nicht, weil sie sonst extrem eifersüchtig auf deinen Körper werden und die Männer wollen ihn garantiert nicht sehen, da sie sonst durchdrehen und sich auf nichts anderes mehr konzentrieren können.“
„Dann ist es ja perfekt!“ Ich lächelte. Meine Zweifel waren beinahe weg.
„Genau meine Meinung.“
Er zog mich etwas tiefer in die Menge.
„Und jetzt tanz!“
Ich starrte ihn eine Weile entgeistert an, dachte dann aber „Was soll's?“.
Während ich mich zu dem lauten, dröhnenden Bass bewegte und Spaß hatte, schaute ich mir Anthonys Gesicht an. Die Lichter der Disko flackerten über sein Gesicht und ließen es in verschieden Schattierungen aufleuchten. Sein eigentlich haselnussbraunes Haar leuchtete nun in den verschiedensten Farben, mal rot, mal grün, mal blau, selten leuchtete es in seiner natürlichen Farbe.
Anthonys Augen waren in dem dunklen Licht schwarz, ich konnte seine Pupillen nicht von seiner Iris unterscheiden.
Ich musste mich daran erinnern, wie er auf dem Empire State Building gesagt hatte, ich hätte wunderschöne Augen. Und gerade eben hatte er auch gesagt, dass ich wunderschön war. Mir wurde warm, richtig warm. Ich fing an, beim Tanzen wie verrückt zu grinsen.
Anthonys Hände glitten um meine Hüfte. Die Stellen, an denen er meine nackte Haut berührte, kribbelten wie verrückt und wurden heiß.
Ich sah zu seinem Gesicht auf und legte meine Arme um seinen Nacken.
Der dröhnende Bass um uns wurde in meinen Ohren leiser. Auch die Umwelt verschwamm um Anthonys Körper und ich sah nur noch ihn.
Ich bewegte mich mit ihm gleichzeitig im Takt der Musik, ohne es auch wirklich zu realisieren.
Ich sah nur noch ihn.
Langsam kamen unsere Gesichter näher.
Mit dem Bass, der fiel, berührten sich auch unsere Lippen. Eine Explosion der Gefühle. Ich konnte nicht anders, als mich näher an Anthony zu pressen.
Es war einfach unglaublich, wie er mit diesem Kuss meine ganze Welt aus dem Anker riss. Nichts zählte mehr außer dieser Moment und ich wollte nicht, dass er jemals endete.
Ich wusste nicht, wann wir damit aufhörten und nur noch so nebeneinander standen.
„Wieso tanzt du nicht mehr?“
„Weil ich Pudding bin“, antwortete ich und lächelte.
Das war ich wirklich. Meine Füße waren so wackelig und ich hatte keine Ahnung, wie ich mich noch hielt. Außerdem schien mein Körper gar nicht mir zu gehören, da ich ich mich nicht mehr bewegen konnte.
„Ich hab dich in Pudding verwandelt?“, fragte Anthony grinsend und ich nickte lächelnd, brach dann schlussendlich in Lachen aus.
Er küsste mich nochmal kurz auf die Lippen. Und dann nochmal.
Und ich schwebte im siebten Himmel.
Seine Hände packten mich fester und sein Mund glitt hinab bis zu meinem Ohr. Als unerwarteter Weise reinbiss, schrie ich auf, lachte dann aber wieder los.
Anthony fing an, Küsse auf meinem Hals zu verteilen und ich schmolz auf seinen Armen dahin, glitt beinahe an seinen Armen hinab.
Seine Lippen kamen wieder meinem Ohr näher. "Willst du überhaupt noch tanzen?", fragte er und lachte los. „Da du es gar nicht mehr tust.“
„Ich hab dich gesagt, ich kann nicht.“ Ich brach in Gelächter aus. „Pudding bleibt Pudding.“
„Na toll. Jetzt habe ich wegen dir Hunger nach Pudding. Dabei esse ich überhaupt keinen Pudding!“
Ich kicherte.
„Na ja.“ Er zuckte mit den Schultern, hob seinen Kopf jedoch nicht, sondern lies ihn an meinem Hals. Ich erschauderte jedes Mal, sobald sein Atem meine Haut berührte. „Immerhin habe ich ja hier einen Pudding, den ich vernaschen kann.“ Er biss mir erneut ins Ohr.
Ich kreischte wieder vor Schreck los, fiel danach in ein unaufhaltsames Gekicher.
Anthonys Gesicht kam langsam wieder zu meinem hoch. Ich zog ihn mit beiden Händen wieder zu meinen Lippen runter, um ihn zu küssen. Doch er küsste mich nicht, sondern fragte stattdessen: „Sollen wir vielleicht gehen?“ Seine Stimme hatte einen verschwörerisch Unterton. Ich nickte monoton.
Er holte erst unsre Sachen wieder vom Barkeeper, dann nahm er mich an der Hand und zog mich an den Tanzenden außenrum vorbei. Wir stiegen die Treppen wieder hoch und kamen an Josh vorbei, der uns fröhlich zuwinkte und sich dann wieder gespielt grimmig an die wartende Schlange wandte.
Ich lachte, als ich mit Anthony durch Manhattan rannte. Dieses Mal verschwendete ich keine Zeit für die Schönheit New Yorks bei Nacht. Mein Blick lag nur noch auf Anthony.
Als wir an unserem Hotel angekommen waren, sprinteten wir lachend die Treppen rauf, jedoch in einem menschlichen Tempo. Beinahe am Ende der Stufen hob er mich plötzlich hoch und trug mich, wie eine Braut über die Schwelle getragen wurde, zu unserem Zimmer. Beinahe hätte ich vor Überraschung deswegen geschrien, aber Anthony kam mir zuvor und sagte: „Psst! Es ist mitten in der Nacht, die anderen schlafen alle schon.“ So konnte ich nur noch leise kichern.
Während er mich noch zum Zimmer trug, zog ich mit meinen Händen seinen Kopf zu mir runter und küsste ihn. Er erwiderte den Kuss und lief von nun an blind zu unserer Tür. Dort angekommen, suchte er in seiner Hosentasche nach dem Schlüssel und öffnete dann die Tür, während sich unsere Lippen kein einziges Mal voneinander trennten.
Er lies mich vorsichtig auf den Boden und ich stellte mich etwas wackelig auf den Beinen hin. Erst war ich furchtbar traurig darüber, dass es jetzt schon endete, aber Anthony warf nur kurz unsere Sachen in eine Ecke, ehe er wieder über mich herfiel. Er drückte mich an die Wand und umfasste mein Gesicht mit beiden Händen.
Ich presste mich nur noch fester an ihn. Seine Hände glitten langsam an meinen Seiten hinab, an meinen Schultern, meiner Taille, meiner Hüfte, meinem Hintern. Und schlussendlich gelangten seine Hände an meine Beine, packten sie fester und hoben mich hoch. Ich keuchte. Meine Beine schlossen sich um seine Mitte.
Unsere Lippen schienen sich nicht mehr voneinander trennen zu wollen. Anthony presste mich nur noch härter an die Wand und ich zog ihn nur noch näher zu mir ran.
Als er seine Lippen von meinen nahm, tat er das nur, um damit an meiner Halsbeuge fortzufahren. Er schob mich an der Wand höher und seine Lippen fuhren immer tiefer. Ich wusste nicht, was ich in dem Moment tun sollte, aber ich stöhnte und krallte mich in seinen Haaren fest.
Endorphine strömten durch meinen ganzen Körper und ich fühlte mich richtig glücklich. Ich grinste, während Anthony seine Spur von heißen Küssen weiter fortführte. Kaum hatte ich mich versehen, hatte er schon mein Top zerrissen und ich war nur noch in BH direkt vor ihm. Es hätte mir unangenehm sein sollen, aber das war es nicht. Stattdessen empfand ich nur Wonne.
Anthony packte meine Beine wieder fester und trug mich zum Bett, wo er mich vorsichtig hinlegte. Als ich ihm ins Gesicht sah, merkte ich, wie er schelmisch grinste. Ich schüttelte lächelnd den Kopf, denn ich wusste, was dieses Grinsen zu bedeuten hatte. Er wusste, dass er das bekam, was er wollte. Seltsamerweise hatte ich im Moment nicht die geringste Lust, ihn deswegen zu hauen.
Er beugte sich wieder zu mir runter und küsste mich am Hals. Ich kicherte wieder los.
Als er wieder zu mir hoch sah, bemerkte ich dieses Glitzern in seinen Augen und ich wollte ihm dieses Mal so nah sein, wie ich es ihm noch nie gewesen war.
Bei meinem Blick grinste Anthony wieder und setzte seine Küsse diesmal weiter unter fort.
Ich hatte gedacht, den Moment mit Anthony auf dem Empire State Building würde nichts toppen. Niemals, nicht jetzt und auch nicht in nächster Zukunft. Aber die letzten Stunden mit ihm hatten mir gezeigt, das ich mich eindeutig geirrt hatte.
Das Bett fühlte sich richtig kuschelig an und ich wünschte mir nicht zum ersten Mal, dass ich schlafen könnte. Mich verkriechen in die Decken, die immer noch nach den letzten Stunden rochen und etwas Schönes träumen.
Auf dem Boden lagen meine Sachen verstreut in jeder möglichen Ecke. Ich musste grinsen. Es war ein Wunder gewesen, dass meine Hose noch ganz war, nachdem Anthony und ich so sehr an ihr gezerrt hatte, um sie mir auszuziehen. Mit meiner Unterwäsche allerdings hatte er kurzen Prozess gemacht. Aber ich hatte es ja auch nicht anders mit seiner gemacht.
Mein Grinsen wurde noch breiter und ich versank in Glückshormonen, während ich den Sex mit Anthony noch mal durchlebte. Es war wirklich passiert. Und es war der schönste Tag in meinem Leben gewesen.
Anthony war vor zehn Minuten gegangen. Er hatte gemeint, er müsste noch irgendwas besorgen. Ich war so benebelt gewesen, dass ich gar nicht fragen konnte, was er denn brauchte. Aber es interessierte mich selbst jetzt nicht. Ich hatte gar nicht gewusst, das Sex einem so sehr das Gehirn vernebelte, selbst so lange danach.
Mit einem Lächeln im Gesicht stand ich endlich auf und holte mir neue Sachen aus meiner Tasche. In wenigen Sekunden war ich beinahe komplett angezogen.
Plötzlich öffnete sich die Tür und Anthony kam wieder rein. „Na. Schon aufgestanden?“, fragte er und küsste mich in den Nacken.
Ich grinste. „Ja.“ Und obwohl ich aufgestanden bin, konnte ich trotzdem kaum stehen. Meine Beine knickten mir beinahe ein und ich wusste nicht, ob das gut war oder schlecht. Aber wenn ich es auf die vergangenen Stunden bezog, dann eindeutig gut. Glücklich lehnte ich mich nach hinten an seine Brust. Anthonys Hände fuhren meine Seiten entlang und rutschten dann unter den Stoff meines Tops, strichen über meinen nackten Bauch.
„Bist du auch bereit, dich wieder auf Vampirjagd zu machen?“ Seine Lippen strichen mein Ohr entlang, runter bis zu meiner Schulter. „Oder bist du du immer noch ein Pudding?“ Er biss mir in die Schulter und ich quiekte überrascht auf.
Gespielt böse schaute ich ihn an. „Nein, ich bin kein Pudding! Und beiß' mich nicht, uns Vampiren schmeckt doch sowieso kein Pudding.“
„Zum Glück schmeckst du ja viel besser als Pudding!“ Erst kniff er mich in die Seite, dann gab er mir einen langen Kuss. Seine Hand drückte mich gegen ihn. Mein breites Grinsen störte unseren Kuss und Anthony löste sich kopfschüttelnd von mir. Ich fing an zu lachen.
„Bereit?“, fragte er nochmal.
Ich nickte. „Wann immer du es bist.“ Auch wenn ich es in Wirklichkeit nicht war und weiter mit Anthony rummachen wollte.
Er seufzte erst wehmütig, dann lächelte er und sagte: „Komm! Wir haben noch eine Menge zu tun!“
Und wir hatten wirklich viel zu tun. Nachdem wir es geschafft hatten, ganz New York mit ihren fünf Stadtbezirken plus weiterer Umgebung abzulaufen, war es schon wieder Abend. Wahrscheinlich lag es auch noch daran, dass wir größtenteils nicht in voller Geschwindigkeit rennen konnten, da uns sonst die Menschen dabei sehen würden. Zwar bewegten wir uns zu schnell fürs menschliche Auge und schafften es dadurch ziemlich gut durch die Stadt – aber manchmal war das Rennen aufgrund weniger Plätze zum Stehenbleiben nicht gut. Was würden sich alle denken, wenn ich plötzlich aus dem Nichts erscheinen und dann wieder ins Nichts verschwinden würde? Selbst das klappte manchmal und einige rieben sich über die Augen, weil sie anscheinend etwas Eingebildetes gesehen hatte – aber so konnte ich es auch nicht immer machen.
New York war groß. Es befanden sich tausende Vampirnester, die wir aber gleich vor Ort ausschließen konnten, da diese nicht verdächtig waren. Trotzdem blieben noch hundert weitere übrig, in denen die Killer ihren Horrorstreifen theoretisch drehen könnten. Das Dumme war nur, dass es nirgendwo nach einem – oder mehreren – Massakern roch. Das hieß also die Vampire räumten alles schön säuberlich auf, sobald sie diese Menschen umgebracht hatten oder es gab überhaupt gar keine mordlustigen Vampire in New York. Wobei ich wirklich das Letztere hoffte, denn nichts war schlimmer, als grundlos Menschen zu töten.
Ich fragte mich immer noch, wie Clas meinen konnte, wir könnten das in drei Tagen schaffen. New York war riesig. Wie würden wir es bis morgen überhaupt schaffen, wenn wir kaum einen Ansatz hatten, an dem wir suchen konnten?
Ich stöhnte. „Was sollen wir jetzt machen?“, fragte ich Anthony. Um sieben Uhr hatten wir unseren Treffpunkt – im Central Park – festgelegt, waren aber beide etwas später gekommen, um uns beiden zu erzählen, dass nichts verdächtig schien.
Seine Antwort kam anders als erwartet – nicht verzweifelt, so wie ich es war. „Ich würde sagen, wir gehen jetzt einfach mal zu meinem Freund, der hier in der Nähe wohnt. Der kann uns vielleicht etwas sagen“, meinte er und grinste mich an, als ob und morgen nicht ein Ultimatum gestellt worden war.
„Josh?“, fragte ich.
„Nein, kein Mensch. Ein Vampir. Stuart. Ich habe mich bereits bei ihm angekündigt, also erwartet er uns bereits.“
Ich hob meine Augenbrauen. „Wie viele Leute kennst du hier?“
„So viele sind es jetzt auch wieder nicht. Aber ich habe ja lang genug gelebt, um viele kennenzulernen.“ Er grinste mich an. „Wieso? Du stehst doch sicherlich auf ältere Männer, nicht wahr?“ Verführerisch wackelte Anthony mit den Augenbrauen und zog mich an sich.
Ich lachte los, doch er dämpfte meine Gekicher mit einem Kuss. Schnell wurde er drängend und presste meinen Körper gegen einen Baum. Meine Arme schlangen sich um seinen Rücken. Erst später, als ich mir irgendwie ins Bewusstsein rief, dass wir uns hier an einem öffentlichen Platz befanden, und Anthonys Finger unter den Stoff meiner Kleidung glitten, riss ich mich von ihm los. Gleichzeitig gehörte das wohl auch zu den schwierigsten Dingen, die ich je getan hatte.
Mein Atem ging schwer und ich lehnte meine Stirn an seine. „Hätten wir nicht … irgendwohin gehen sollen? Zu deinem einen Freund?“
Er grinste breit. „Ja, schon.“ Seine Lippen glitten zu meinem Ohr und ich hielt den Atem an. „Aber ich würde etwa Anderes gerade viel lieber tun“, säuselte er.
Mir wurde warm. Heiß. An Orten, die bisher nie heiß geworden waren. Ich hob meinen Blick und sah Anthony in die Augen. Mein Blick spiegelte sich in meinem wieder.
„Obwohl … Vielleicht hast du auch recht. Vielleicht sollten wir doch lieber gehen.“ Provokant rückte er plötzlich von mir ab und entfernte sich immer weiter von mir.
„Was?“, rief ich perplex.
Anthony freute wohl mein Schock und er zwinkerte mir zu. „Du hast doch gesagt, wir sollten zu meinem Freund. Oder hast du es dir anders überlegt?“
Ich überlegte im Moment gar nicht, da mein Gehirn nur Gedankenbrei für mich parat hatte. Wir auch schon immer brachte mich dieser Mann einfach aus der Fassung – aus den verschiedensten Gründen.
„Nein, doch“, antwortete ich schließlich. „Wir sollten immerhin… verantwortungsbewusst sein und... und weiter unserer Arbeit nachgehen.“ Mein Hirn spuckte immer noch die seltsamsten Worte aus und das auch noch so unpassend in diesem Kontext und in dieser Situation. Wieso habe ich das gesagt?
Anthony zuckte mit den Schultern. „Wenn du meinst.“ Damit wandte er sich um. Trotzdem hatte ich noch etwas in seinen Augen aufflackern sehen. Etwas, dass zwischen Erheiterung und Verlangen schwankte.
Ich atmete tief ein und aus und schellte mein Gehirn für die Worte, ehe ich ihm nachlief.
„Und wo wohnt dein Freund?“, fragte ich, um die Stille zwischen uns zu beenden.
„Gleich hier.“ Anthony blieb plötzlich stehen, als wir aus dem Park rauskamen und deutete mit einer Kopfbewegung auf das Gebäude vor uns. Vor uns erstreckte sich ein weiteres Hochhaus, das aber neben seinen großen Geschwistern ziemlich kümmerlich aussah. Abgesehen davon, dass es kaum zwanzig Stockwerke hoch war, stand es in einem langweiligen Braunton da und hatte die typische Bauform eines 1920 erbauten Gebäudes. Somit konnte es erst recht nicht mit den riesigen, verglasten Wolkenkratzern mithalten. „Deswegen hatte ich ja auch gesagt, dass wir uns hier treffen sollten. Damit wir zu ihm gar nicht erst laufen müssen.“
Ich folgte ihm über die Straße zum Hochhaus. Als gerade eine Frau aus dem Gebäude kam, schlüpften wir durch die offene Tür hinein. Gleich darauf klopfte Anthony schon an eine Tür links von uns. Dieser Freund lebte dann wohl auf dem ersten Stockwerk des Gebäudes. Neben der Klingel hing ein kleines Schild mit der Aufschrift „S. Smith“. Ich erinnerte mich gleich darauf an den Mann vom Empire State Building zurück, der uns da so viel über dieses Gebäude erzählt hatte. Hieß dieser Stuart also auch mit Nachnamen Smith? Oder hatte er nur einen häufigen unscheinbaren Namen gewählt, um eben unscheinbar zu wirken?
Die Tür ging auf und ein lächelnder Mann strahlte uns entgegen.
Stuart sah eigentlich nach einem ziemlich unscheinbaren Mann aus. Seine Haare waren in einem Haselnussbraun, allerdings etwas dunkler und glänzender als Anthonys, und seine Augen waren auch so ziemlich in der selben Farbe. Seine Gesichtszüge waren leicht überlängt, allerdings sah er mit seiner geraden Nase und dem großen, lächelnden Mund, der dabei eine Reihe strahlender Zähne offenbarte, trotzdem noch attraktiv aus. Auch seine Kleidung war schlicht, in so etwa wie unsere. Ob er sie bewusst schlicht hielt wie wir, obwohl wir eigentlich sonst schwarze Kleidung tragen mussten?
„Na, Kumpel!“, rief dieser Mann aus und nahm Anthony lachend in eine Männerumarmung. „Da bist du ja! War aber auch langsam mal Zeit.“
Auch Anthony grinste dabei. „Ja, wir haben uns wirklich lange nicht mehr gesehen.“
Ich beobachtete diese Situation mit leicht abschätzendem Blick. Das war viel zu viel Freude in einer Person und das machte mir Angst. Was, wenn er mich auch umarmen wollte?
Die zwei Männer lösten sich voneinander, beide mit einem breiten Lächeln im Gesicht. Und dann schien Stuart mich erst jetzt zu bemerken und sein Lächeln wurde breiter.
„Hallo, Milana!“, begrüßte er mich und kam mit energischen Schritten auf mich zu.
Ich zwang mich zu einem freundlichen Lächeln und schaffte es gerade noch, meine Beine davon zurückzuhalten, einen Schritt nach hinten zu tun.
Bitte, bitte, bitte, umarme mich nicht!
Doch er streckte glücklicherweise nur seinen Arm nach mir aus. Ich tat es ihm erleichtert gleich.
Puh! Gott sei Dank.
„Anthony hat mir bereits viel von dir erzählt“, berichtete mir Stuart, löste sich dann von mir ab und ging tiefer in seine Wohnung hinein. „Kommt mit mir mit, ins Wohnzimmer!“
Ich warf Anthony, der meine Hilflosigkeit Stuart gegenüber grinsend beobachtet hatte, ein gequältes Lächeln zu und er prustete los. Dann folgte er, immer noch vor sich hin lachend, Stuart in seine Wohnung und ich folgte ihm mit vorsichtigen Schritten.
Das innere der Wohnung glich ziemlich dem Äußeren des Gebäudes. Schlicht und grau, keinerlei Ausschmückungen. Nur das Nötigste war vorhanden: Ein braunes Sofa in einer Ecke, davon gegenüber ein Flachbildfernseher auf einem kleinen Möbelstück. Direkt neben dem zu klein geratenem Fenster stand ein Regal, das jedoch außer weniger Bücher und CDs nichts mehr in sich hatte.
„Setzt euch!“ Stuart deutete auf das kleine Sofa und Anthony und ich setzten uns hin, während Stuart stehen blieb.
„Und was gibt’s Neues?“, fragte er Anthony. „Habe ja einige Zeit nichts mehr gehört.“
Anthony grinste. „Na ja, abgesehen davon, dass Milana zu uns gekommen ist, ...“
Ich klinkte mich ab und schaute aus dem Fenster. Es war trotz des Sommertages gar nicht sonnig in New York, stattdessen zogen Wolken langsam über dem Himmel auf und verliehen ihm etwas Düsteres. Dieser Himmel ähnelte so sehr dem der Kleinstadt, in der ich aufgewachsen war, obwohl tausende Kilometer zwischen ihnen lagen. Und doch waren sie beide unter dem selben Himmel und litten an denselben schlechten Wetterbedingungen. Beinahe hätte ich auf geseufzt, doch erinnerte mich schnell daran, dass ich hier nicht alleine war.
Allerdings gab da einen großen Unterschied zwischen New York und meiner – ehemaligen – Heimatstadt. Während diese im Regen und in der Dunkelheit immer untergegangen war, leuchtete New York und war trotz Schmuddelwetter immer am Leben, wurde nie müde und schlief nie.
Genauso wie Vampire, kam mir in den Sinn. Und langsam sickerte auch zu mir hindurch, wieso unbedingt New York die perfekte Stadt für Vampire war. Durch das ganze Treiben fiel man nie auf und konnte dadurch töten, töten und noch mehr töten, ohne dass es jemandem auffallen konnte. Hier interessierte man sich nicht für den Nächsten, sondern sorgte sich nur um sich selbst und ging fremden Angelegenheiten aus dem Weg.
Plötzlich hatte ich den Reiz an New York verloren. In so einer großen Stadt ging die Menschlichkeit verloren. Hier herrschten dieselben egoistischen Gedanken wie in den Köpfen von uns Vampiren, hier waren wir doch schlussendlich alle Vampire. Wir nahmen Menschen ihr Blut, um selbst zu überleben – die Menschen in New York gingen um sich selbst Willen anderen aus dem Weg, um selber keine Probleme zu kriegen. Somit waren uns die anderen egal und wir kümmerten uns nur um uns selbst.
„Milana!“
Plötzlich wurde ich aus meinen Gedanken gerissen. „Was?“
Anthony lachte los. „Wir haben schon mehrmals deinen Namen gerufen.“
Ich runzelte ungläubig die Stirn. „Wirklich?“
Anthony bekam vor lauter Lachen nichts mehr aus sich heraus, deswegen antwortete Stuart, der sich ein Lächeln nicht verkneifen konnte. „Ja, wirklich.“
„Oh.“ Verlegen senkte ich meinen Blick. „Ja, sorry. Ich war in Gedanken versunken.“
Anthony schien sich mittlerweile von seinem Lachflash erholt zu haben. „Das sah man.“
Ich schaute zu ihm hoch und verdrehte meine Augen.
Das war mir schon einige Male passiert. Auf den Namen Milana reagierte ich nicht immer, außer ich merkte, dass dabei ich angesprochen wurde. Denn ich hieß nicht mehr Catalina. Ich war ein anderer Mensch geworden, genauer gesehen, ein Vampir. Klar hatte ich mich mittlerweile an den Namen gewöhnt und wusste so gut wie in allen Fällen, wann ich angesprochen wurde – jedoch reagierte ich nicht immer auf „Milana“, wenn ich geistesabwesend war.
„Was ist los?“, fragte ich.
Anthony grinste sein schiefes Grinsen. „Nichts. Nur sahst du etwas weggetreten aus.“
Ich senkte wieder meinen Kopf und wäre rot geworden, wenn ich ein Mensch gewesen wäre.
Stuart und Anthony begannen wieder mit ihrem Gespräch und ich fragte mich währenddessen die ganze Zeit, ob wir nun hier waren, um Anthonys alten Freund zu besuchen, oder ob wir von ihm versuchen würden, ein paar Informationen über die mordenden Vampire herauszubekommen.
Nach einer geschlagenen Ewigkeit – es hatte draußen bereits angefangen zu regnen – schlug Anthony das Thema endlich an. „Also, Stuart, weswegen wir hier eigentlich in New York sind, habe ich ja bereits gefragt.“
Er nickte, sein Lächeln fiel dabei zum ersten Mal aus seinem Gesicht. „Ja. Und ich muss sagen, ich habe immer noch nicht viel herausgefunden, wahrscheinlich wisst ihr nach diesem Tag sogar mehr wie ich. Klar, ich habe für euch vielleicht einen neuen Anhaltspunkt gefunden, aber herausgefunden habe ich bisher nichts Nennenswertes“, meinte er.
Etwas betreten hämmerte Anthony seine Finger gegen das Sofa. „Mhm.“ Man sah ihm mittlerweile an, dass ihn dieses ganze Katze-Maus-Spiel mit den Vampiren gehörig auf die Nerven ging. Aber wie konnte es auch nur so schwer sein, sie zu finden?
Ich brach die Stille. „Aber was hast du nun herausgefunden?“, fragte ich und sah ihn erwartungsvoll an. Selbst mit einem Anhaltspunkt konnte man weiterarbeiten.
„Na ja, ich bin mir nicht sicher, ob euch das viel bringen wird, aber es soll hier jemanden geben, der darüber Bescheid wissen soll. Er heißt George und eigentlich ist er so etwas wie ein Junkie, denn wenn, dann trinkt er nur von bekifften Menschen. Allerdings weiß er so gut wie über alles Bescheid, da er seine Nase überall hineinsteckt. Ich kenne ihn zwar persönlich, aber nur weil wir vor Jahren mal kurz ins Gespräch gekommen sind. Eher ist ein guter Kerl mit einer harten Vergangenheit. Aber, wie gesagt, er muss immer überall seine Nase reinstecken, weiß von daher so gut wie alles.“
Anthony nickte. „Das klingt schon mal echt gut.“
Ich lächelte. Seine schlechte Laune schien in den Hintergrund gerückt zu sein, denn nun grinste er wieder.
„Na dann!“ Er sprang auf. „Wir sollten gehen.“
Breit grinsend nickte ich.
Wir verabschiedeten uns von Stuart, wobei ich dieses Mal nicht drum herum kam und er mich zum Abschied doch noch umarmte. Dann machten wir uns auf den Weg zu der beschriebenen Adresse.
Wir kamen schlussendlich im New Yorker Stadtteil Bronx an. Wirklich schön wie Manhattan sah es hier nicht aus, eher wie in einem Ghetto. Zwar gab es hier ebenfalls einige Hochhäuser, dennoch fielen diese ziemlich klein und weniger prächtig aus. Ihr Teil bestand wohl darin, Menschen Unterkunft zu bieten, anstatt Größe und Macht zu demonstrieren.
„Gott, das sieht ja fast noch schlimmer aus als das Haus von Stuart“, meinte ich.
Anthony lachte.
„Ach komm, das alles sieht nur so schrecklich aus, weil man solche Häuser in New York einfach nicht erwartet. In Wirklichkeit unterscheiden diese sich kaum von denen in anderen, kleineren Städten.“
Da musste ich ihm recht geben.
Sanft legte Anthony eine Hand auf meinen Rücken und dirigierte mich nach rechts in eine schmalere Gasse.
„Hier müsste dieser George leben“, meinte er und ging zu einem der Häuser, um die Namen an den kleinen Schildern abzulesen.
Ich trat gleich hinter ihn. Und erst in diesem Moment merkte ich, wie leer es hier war. Keiner war draußen, stattdessen war es immer noch ziemlich dunkel, trotz der Tatsache, dass es nicht mehr regnete. Die Wolken hatten sich noch immer nicht verzogen, stattdessen bildeten sie eine dunkle Grenze zwischen dem Boden und dem Himmel.
„Anthony?“
Ich tastete nach seiner Hand. Gute Erfahrungen mit leeren, unheimlichen Gassen hatte ich nicht gemacht. Außerdem schien mir nicht nur diese Gasse unheimlich. Meine scharfen Sinne spürten etwas, das sie zwar nicht identifizieren konnten, aber dadurch nur noch mehr erschreckten.
„Hm,“ machte Anthony. „Das ist komisch. Ich finde George hier nicht.“
Ich drückte seine Hand kurz. „Anthony.“
Kaum schaute er zu mir auf, da sah ich sie bereits direkt vor mir, direkt am Anfang der dunklen, engen Gasse. Vampire. Es waren vier, drei von ihnen hielten sich etwas im Hintergrund, während einer von ihnen mit einem teuflischen Grinsen auf uns zu kam und einige Meter vor uns stehen blieb. Sein Schritt war fest und entschlossen, beinahe schon aggressiv. Seine dunklen Augen funkelten, jedoch nicht aus Heiterkeit, was einen Kontrast zur seiner unteren Gesichtshälfte darstellte.
„Was sucht ihr hier?“ Seine Stimme durchschnitt die entstandene Stille wie ein Messer. Sie klang zwar nicht unhöflich, aber auch nicht nett.
Anthony wirkte nicht im geringsten so verängstigt wie ich mich fühlte.
„Wir suchen George“, sagte er in dem höflichen Ton der Reys, denen ich zwar auch angehörte, aber niemals hätte so reden können, wie Anthony es im Moment tat.
Der Mann beobachtete uns erst eine Weile und schien die Stille mit Absicht in die Länge zu ziehen, ehe er dazu antwortete.
„Ich bin George.“
Beinahe hätte ich mich verschluckt. Dieser Mann sah gar nicht so aus wie der Junkie, von dem Stuart uns erzählt hatte. Eher wirkte er mit den dunklen, lockigen Haaren und den tiefsitzenden, beinahe schwarzen Augen, die wachsam die Umgebung erkundeten, wie ein aus dem Film entsprungener mexikanischer Drogenboss. Keine Spur von einem weggetretenen Blick, den ein Drogenrausch hervorrief.
Plötzlich lachte er verachtend auf.
„Ha! Und ihr seid genauso wie ich sie mir vorgestellt habe.“
Ich runzelte die Stirn und auch Anthony verlagerte nachdenklich sein Gewicht von einem Bein aufs andere.
„Ihr verdammten Schweine, die ihr euch sogar König genannt habt, die ach so tollen Reys! Ihr mit eurem ganzen Prunk und Reichtum, dass ihr gar nicht mehr wisst, wohin damit! Ihr kleidet euch stilvoll, während wir hier in Armut verrecken müssen! Ihr stinkt sogar nach denen, selbst nachdem ihr Tage außerhalb verbracht habt!“ Er spukte angewidert auf den Boden, sein Blick verzog sich zu einer wütenden Grimasse. Die drei anderen lauerten weiterhin gefährlich hinter ihm, schienen sich uns sogar genähert zu sein.
Ich trat einen Schritt zurück. Mein Griff um Anthonys Arm wurde fester, doch er rührte sich nicht, sondern schaute auf George, als würde er wie ein Gott von oben auf das Geschehen blicken und warten, was als nächstes kommen würde.
Ich spürte, da bahnte sich nichts Gutes an. Mein Körper schrie danach, so schnell wie möglich von hier zu verschwinden, mein Bauch drohte sich zu verkrampfen, wenn ich seinen Drängen zu verduften nicht nachkommen würde.
Kaum merklich kniff ich Anthony etwas fester in den Arm und zog ihn kurz daran, damit er merkte, dass es Zeit war, davonzulaufen. Selbst wenn wir die Reys oder wie George auch sagte, die Könige, waren, so hieß das nicht, dass wir nicht bei Gefahrensituationen das Weite suchen konnten. Das hoffte ich immerhin. Denn wir waren zu zweit und die zu viert und dazu noch erfüllt von Hass auf uns, was alles nur noch schlimmer machte. Außerdem meinte ich zu wissen, dass es nicht nur diese vier waren, sondern es in der Nähe mindestens noch einen Fünften gab.
„Und dann tut ihr auch noch so bescheiden“, sprach George weiter. „Beschützt die Menschen! Sie dürfen keinesfalls von unserer Existenz erfahren! Bäh!“ Er spuckte erneut auf den Boden. „Ihr regiert doch gegen eure Natur! Und dann zwingt ihr auch noch andere, euren seltsamen und unerklärlichen Prinzipien zu folgen.“
Ich holte tief Luft, als ich merkte, dass ich ihm beinahe zustimmen wollte. Einerseits stimmte das, was er sagte natürlich, aber andererseits war es einfach… falsch. Doch töteten wir in der Burg nicht auch Menschen? Mussten nicht auch jeden Monat Touristen wegen unserem Blutdurst sterben? Wieso meinte George dann, dass wir doch anders wären?
Doch wahrscheinlich schlachteten diese Vampire gerne reihenweise Menschen ab, während wir versuchten, uns zu kontrollieren und den Menschen uns nicht zu offenbaren. Vielleicht lag darin der gravierende Unterschied, der diese Vampire einfach aufregte. Doch wer waren diese Vampire? Sie waren dann ja genau solche Monster wie die, die hier den Horrorfilm drehten...
„Wir sind Raubtiere. Wir jagen die Menschen, weil es uns so bestimmt worden ist! Die Menschen stehen unter uns in der Nahrungskette und Clas und ihre alle habt dieses Gesetz komplett auf den Kopf gestellt. Nicht wir sollen uns nach ihnen beugen, sondern umgekehrt!“
Ich zog Anthony nun am Arm, dass auch sie es sehen konnten. Es war mir im Moment egal, wir sollten sowieso nur noch weg von hier. Doch er rührte sich auch weiterhin nicht und tat dasselbe wie zuvor – die Situation beobachten.
„Und sobald wir unserem Naturgesetz folgen, kommt ihr, um uns dafür zu bestrafen?“, brüllte der Vampir uns nun entgegen. „Ihr seid doch die, die dafür bestraft werden sollten, dass ihr nicht das tun, was für euch vorgesehen ist, und dazu auch noch andere zwingt! IHR!“
Langsam wurde mir, sowohl auch Anthony klar, wer hier vor uns stand. Ich sah es an seinem Blick, der mit seiner anscheinenden Gleichgültigkeit nun auch Zufriedenstellung zeigte. Denn wir hatten die New Yorker Killer gefunden. Sie waren es. Es hätte uns gleich an ihrem Geruch auffallen müssen, der von dem Wind schwach zu uns rübergetragen wurde. Es war nicht nur der Geruch von altem, vom Hemd beinahe raus gewaschenem Blut, sondern der eines regelrechten Massenmordes mit viel Blut.
Eigentlich wäre es nun Zeit, zu gehen. Wir hatten die Mörder gefunden, jetzt lag es nicht nur an uns, sie umzubringen, sondern auch an den anderen Vampiren, die Clas uns dann schicken würde. Wir könnten sie gemeinsam erledigen und dann alles vergessen und mit einem neuen Auftrag beginnen.
Doch Anthony sah gar nicht danach aus, als ob er nun gehen wollte. Eher sah ich die Entschlossenheit in seinem Gesicht, die mich daran erinnerte, dass ich genauso aussah, wenn ich wütend war und etwas wollte.
„Oh nein, Anthony“, flüsterte ich, meine Lippen bewegten sich kaum, ich war so leise, dass der Wind meine Worte nicht zu den Vampiren tragen konnte. „Wir werden gehen. Und zwar ohne Widerworte!“
„Nein“, erwiderte er und versuchte gar nicht erst, die Lautstärke seiner Stimme leiser zu drehen. „Werden wir jetzt gehen, werden sie es auch tun und wir finden sie nicht mehr wieder. Außerdem bezweifle ich, dass sie uns gehen lassen wollen.“
George und seine Freunde grinsten.
„Richtig erfasst!“, meinte er und kam uns bedrohlich näher.
Und plötzlich schoss er vor, vom menschlichen Auge kaum zu erfassen, und stürzte sich auf Anthony. Der konnte kaum noch ausweichen und sie stürzten beide laut krachend zu Boden. Die nächsten Vampire, ein Mann und eine Frau, rannten bereits auf den Kampf direkt neben mir zu, während ich erstarrt daneben stand und nicht wusste, was ich tun sollte. Es erinnerte mich an den Tag, an dem ich mit Daniel zum ersten Mal trainiert hatte.
Jetzt hätte ich dir deinen Kopf abreißen können.
Ich konnte weder kämpfen, noch darauf reagieren, sobald er mich angegriffen hatte. Jetzt fühlte ich mich auf demselben Stand, untrainiert und starr.
Der vierte Vampir kam langsam, jedoch mit schweren Schritten auf mich zu. Er war breit gebaut und schien wie ein Bulldozer alles auf seinem Weg räumen zu können. Seine Augen blinzelten mich spitzbübisch an, sein Grinsen wurde immer breiter.
Ich trat entsetzt einen Schritt zurück, endlich fähig, mich aus meiner Starre zu lösen.
„Keine Sorge“, sagte der Bulldozer. „Ich werde es ganz schnell machen. Es wird gar nicht weh tun.“
Hinter mir erklangen die Kampfgeräusche und mir fiel auf, dass ich es hier im Vergleich zu Anthony ziemlich leicht hatte. Er musste gegen drei Vampire kämpfen, während ich mich nur gegen einen zu beweisen hatte.
Plötzlich schoss der Vampir vor. Erschrocken schrie ich auf, konnte gerade noch ausweichen und zum Anfang der Gasse rennen, stolperte dabei über meine eigenen Beine. Bulldozer lachte auf.
So einer Situation war ich bisher noch nie ausgesetzt worden. Ich war darauf trainiert worden, klar – doch ihr gegenüber zu stehen und es wirklich zu erleben, war etwas komplett anderes. Es war nun auch etwas anderes als die Prügelei mit Lissy an Anthonys Geburtstag, obwohl auch die für mich beinahe tödlich geendet hatte.
„Komm schon, Barbie“, hörte ich den Bulldozer sprechen und als ich aufschaute und mich schnell aufrichtete, zwinkerte er mir zu. „Es wird langweilig, wenn du dich einfach deinem Schicksal ergibst.“
Ich atmete tief durch. Ich war für ihn ein leichtes Ziel. Ich sah schwach und klein aus und war augenscheinlich zu mädchenhaft, um überhaupt kämpfen zu können – genau das hatte ich ihm ja eben beweisen durfen. Doch ich hatte ein strenges Training hinter mir und so elegant wie ich beim Kämpfen aussehen wollte, sah ich gar nicht aus.
Ich werde es schaffen.
Die Luft kam nicht in einem Zug, sondern stoßweise aus mir raus. Mein Körper erzitterte.
Nicht zu viel nachdenken. Einfach machen.
Ich hatte auch keine Zeit mehr nachzudenken, denn Bulldozer deutete mein Ausatmen wohl als Startschuss und sprang mich wie vorhin an an. Ausweichen konnte ich nicht mehr, deswegen stellte ich mich in Angriffsstellung. Sein Schlag fuhr in die Richtung meines Kopfes, doch da ich meine Arme davor hielt, traf er mich nur dahin. Jedoch wurde ich durch den Impuls, der hinter seinen enormen Kraft lag, davongeschleudert und schlitterte über den Boden aus der kleinen Gasse hinaus. Höllischer Schmerz schoss durch meinen Arm und ich merkte, wie kleine Stückchen meines Arms abbröckelten an der Stelle, wo sich auf einmal eine Delle befand.
Ich war aus der Gasse raus. Jetzt hatte ich die Chance, zu verschwinden. Niemand würde mich mehr töten wollen. Und mein Bauch würde mir endlich Ruhe geben, weil ich endlich seinem Rat, zu verschwinden, gefolgt wäre.
Laut drang Anthonys Schrei zu mir durch. Ich sah, wie er von George getroffen wurde und dann, wie er in Zeitlupe gegen eine Wand krachte.
Das war der Moment, in dem es bei mir im Kopf einen Klick machte und ich mit einem Knurren auf den Lippen auf den Bulldozer zu stampfte und ihn dann angriff.
Sein selbstgefälliges Grinsen verschob sich in dem Moment, als er meine wilde Seite entdeckte. Nun sah ich nicht mehr aus wie Barbie, sondern mehr wie... Spartacus. Das hielt ihn jedoch nicht davon ab, meinen Angriff abzuwehren und dann auf mich einen erneuten zu starten.
Jetzt begann der richtige Kampf. Er kämpfte aggressiv und war eindeutig der offensive Typ, der sich nicht zurückzog. So lernte man es höchstwahrscheinlich auch auf der Straße, wenn man überleben wollte.
Doch ich merkte, dass genau dass seine Schwachstelle war. Er kämpfte ohne Vorüberlegung, nur durch seinen purem Kraftaufwand. Keine Frage, der Kampf war schwer, schwerer als er für mich je gewesen ist. Er war einfach zu stark.
Ich schaffte es nicht rechtzeitig ihm auszuweichen, als ein harter Schlag in meine Bauchgegend fiel. Er schleuderte mich gegen eine Wand und erst blieb ich kurz regungslos liegen, ehe ich mich wieder regen konnte, es sogar musste, denn ansonsten hätte es meinen Tod bedeutet.
Hier ging es nicht so schnell mit dem Kampf zu Ende wie bei mir und Daniel beim Training, wo er präzise Schläge landete, die schnell und effektiv waren. Die Fausthiebe des Bulldozers waren zwar kräftig, aber unkontrolliert. Ich konnte zwar nirgendwohin ausweichen, es war schlichtweg zu wenig Platz in der Gasse, eingeengt zwischen den zwei Gebäuden, und genauso konnte ich ihn aufgrund seiner enormen Kraft kaum besiegen, wenn ich es überhaupt konnte. Aber seine fehlende Kontrolle über seine Schläge gab mir wenigstens eine Chance.
Ich riss ihm den Boden unter Füßen weg. Dies gab mir die Möglichkeit, mich auf ihn zu werfen und auf seinen Hinterkopf einzuschlagen. Mein viel zu schwacher Fausthieb hinterließ eine viel zu kleine Delle in seinem Nacken. Und bevor ich überhaupt meine Hände um seinen Hals schwingen konnte, warf er mich bereits von sich. Stattdessen lag ich nun plötzlich unter ihm und er grinste mich dreckig an.
„Na, Barbie?“
Ich versuchte, aus seinem Griff freizukommen, doch er war zu stark.
„Du glaubst doch nicht ernsthaft, mich besiegen zu können.“
Wütend sanken meine Augenbrauen, bis meine Augen nur noch kleine Schlitze waren. „Wenn du schon so unglaublich stark bist, wieso hat es dann so lange gedauert, mich zu besiegen?“
Bulldozers Grinsen verrutschte kurz, ehe es sich wieder hob und er antwortete: „Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass dieser Kampf echt war. Ich habe mir daraus nur eine Weile lang einen Spaß erlaubt.“
Na klar, natürlich hast du das!
Ich schmunzelte ihn an. „Und du glaubst doch nicht ernsthaft, dass du mich jetzt wirklich besiegt hast.“
Damit wandte ich meinen Spezialtrick an, um ihn von mir runter zu kriegen. Ich kniff ihm mit meiner freiliegenden Hand in den Hintern.
Er zuckte leicht schockiert zusammen und das war meine Chance. Schnell warf ich ihn von mir, was sich als gar nicht so leicht erwies, und ehe Bulldozer noch realisieren konnte, dass es eine Barbie geschafft hatte, ihn von sich zu werfen, da zwang ich ihn auf den Boden und drückte ihm mein Knie in den Rücken. Mit einer Hand hielt ich seine Arme schmerzhaft nach oben, dass ich sogar hörte wie es knackste, mit der anderen fasste ich um seinen Hals, um ihm den Kopf abreißen zu können.
Plötzlich brüllte er laut los und hatte genug seiner Fassung erlangen, um sich zu wehren. Meine Hand rutschte von seinem Hals ab und ich suchte verzweifelt eine andere Stelle, an der ich ihn hätte greifen können. Bulldozer brüllte nur noch lauter und versuchte auch weiterhin, mich abzuschütteln. Ich hielt ihn jedoch weiter in dieser Position, was ihm trotz seiner Kraft schwerer machte, sich zu befreien.
Mein Hand schaffte es, ihn an seinem Oberkiefer zu packen und ihn nach hinten zu ziehen. Seine Zähne drückten sich hart in meine steinerne Haut, doch durfte ich nicht locker lassen. Stattdessen zog ich seinen Kopf immer weiter in meine Richtung. Er brüllte, wehrte sich immer stärker dagegen. Es fiel mir immer schwerer, gegen seine Kraft anzukommen.
Auf einmal riss seine Haut um die Mundwinkel. Sein Schrei wurde diesmal schmerzverzerrt, während das Adrenalin durch meinen Körper schoss und ich immer stärker an seinem Oberkiefer zog. Das Reißen seiner Haut klang immer unerträglicher in meinen empfindlichen Ohren.
Mit einem Ruck löste sich der halbe Kopf des Bulldozers und sein Gebrüll erlosch augenblicklich, genauso wie der gequälte, wutverzerrte Blick in seinen Augen. Dumpf fiel er zu Boden. An den Stellen, die bei Menschen eigentlich hätten bluten sollen, war nur eine rosa gefärbte, steinerne Fläche, aus der eine seltsam durchsichtige Flüssigkeit floss, die mich vom Geruch her stark an mein Gift erinnerte.
Erst als die Kampfgeräusche von Anthony, George und den anderen zwei Vampiren anfangs gedämpft, dann lauter zu mir drangen, konnte ich den Blick von dem toten Vampir wenden. Doch gleich darauf erfüllte mich Wut. Mit einer Hand griff ich nach Bulldozers Leiche und schleuderte sie gegen die Kämpfenden, dabei bedacht, nicht auf Anthony zu treffen, der sich mittlerweile kaum noch gegen seine drei Gegner wehren konnte, da sie seine Schwachstellen kannten.
Die Leiche traf mit voller Wucht die Vampirin, die zu Boden ging. Blitzschnell war ich bei ihr und begann auf ihr Gesicht einzuschlagen, um sie außer Gefecht zu setzen. Ihr Gesicht lag bereits halb in Trümmern und die Flüssigkeit drang aus jeder ihrer kaputten Stellen, trotzdem sprang sie auf und schlug mich von ihr weg. Doch statt mich wieder anzugreifen, rannte sie davon.
Irritiert von der Frau rannte ich schließlich auf Anthony zu, der es trotz zwei Gegner geschafft hatte, die Führung zu übernehmen. Da George am nächsten zu mir war, setzte ich einen Fausthieb an, doch plötzlich schoss sein Bein nach hinten und schleuderte mich davon. Bevor ich unsanft landen konnte, stand ich schon auf meinen Füßen und sprintete wieder nach vorne. Dieses mal startete ich einen Angriff von der Seite, allerdings bei dem anderen Vampir.
Er fiel hart gegen George, weswegen beide zu Boden fielen. Beinahe wie abgesprochen griffen Anthony und ich gleichzeitig an, doch während eines Fausthiebes drehte er sich plötzlich um. Ich musste nicht hoch sehen, um zu wissen, wieso. Ein anderer Vampir hatte sich von hinten an ihn ran schleichen wollen – im Vampirtempo – und es war genau der, den ich schon zuvor gespürt, aber nicht gesehen hatte.
Diese kleine Ablenkung durch ihn hatte gereicht, um mich angreifbar zu machen. George und der andere Vampir hatten sich aufgerichtet und ich konnte ihren Angriff gerade noch abwehren, bevor es zu spät gewesen wäre. Doch sie waren zu zweit und ich lag durch diesen überraschenden Angriff auf dem Boden. Wie hungrige Raubtiere auf der Jagd stürzten sich beide auf mich und ich hatte so gut wie keine Chance, auszuweichen.
Ich zog mein Bein an, um den Vampir mit voller Wucht wegzustoßen. Doch George ergriff mein anderes Bein, bevor ich noch irgendetwas damit tun konnte, und schlug darauf ein. Das laute Knacksen und Verbiegen meines Beins, sowie mein Schrei machten Anthony auf mich aufmerksam, der gerade dabei war gegen seinen Gegner zu kämpfen. Ich zog mein Bein von George weg und verpasste ihm einen Schlag, den er aber abwehrte und stattdessen wieder auf mich einschlagen wollte. Mein Körper ruckte durch einen Reflex nach hinten, bevor er mich treffen konnte.
Und in dem Moment sah ich, gegen wen Anthony kämpfen musste. Es war Stuart. Jedoch sah dieser Stuart nicht im Geringsten aus wie der, den ich heute kennenlernen durfte. Dieser war nicht offen und freundlich, sondern schaute er einfach nur böse aus. Selbst als er meinen schockierten Blick entdeckte, grinste er böse.
George holte wieder zu einem Schlag aus, doch sobald ich auswich, griff er sofort wieder nach meinem Bein, um mich dann um den Hals zu fassen. Plötzlich schloss sich eine Hand um meinen Kopf und ich wusste, ich konnte seinem Griff nicht mehr entkommen. Erstarrt hockte ich da und hielt die Luft an. Ich konnte meine Hände aufgrund dieser Starre nicht mehr heben, sondern wartete schockiert über diesen mir letzten verbleibenden Moment.
Ich spürte eine knappe Bewegung von George und dann einen scharfen Schmerz. Doch dann war er plötzlich weg – nicht nur der Schmerz, sondern auch George. Ich drehte mich um.
Anthony hatte es rechtzeitig geschafft, Georges Arme von mir weg zu ziehen, und dass, bevor er mir den Kopf komplett abreißen konnte. Kurz rang er mit ihm, ehe Anthony es schaffte, ihn von sich zu stoßen, wo George gegen eine Wand flog.
Im Sekundenbruchteil sah ich wie Anthony sich aufrichtete und zu mir rüber sah. Als er sah, dass es mir gut ging, zuckten seine Mundwinkel nach oben und er lächelte mich an. Ich lächelte zurück. Doch dann sah ich, wie von hinten ein Schatten auf ihn zustürzte und ihn auf einmal packte. Sein Lächeln wich ihm vom Gesicht und es verwandelte sich in ein erschrockenen Ausdruck, der sie mir ins Gehirn prägte. Dann plötzlich zerrte der Schatten an seinem Oberkörper und ehe Anthony reagieren konnte, hörte ich es schon reißen.
Es war immer noch kaum eine halbe Sekunde vergangen, seit er mich erleichtert angelächelt hatte. Jetzt hörte ich seinen schmerzverzerrten Schrei und wie sein Körper am Bauch in zwei Teile gerissen wurde. Dann landeten diese beiden Teile an den zwei gegenüberliegenden Wänden.
„NEIN!“
Der Schrei verließ mich, ehe ich überhaupt realisieren konnte, was gerade geschah.
Licht fiel auf den Schatten und ich sah Stuart böse lächelnd erst auf den Oberkörper von Anthony, dann auf mich schauen.
Da sah ich Anthony in zwei Hälften geteilt auf dem Boden liegen. Und erinnerte mich als allererstes an seine Worte im Flugzeug, kaum zwei Tage her.
Ich könnte es nicht ertragen, wenn dir etwas passieren würde.
Er hatte sich wirklich für mich geopfert. Heiße Tränen liefen mir die Wangen runter.
Ein harter Schlag fiel gegen meinen Hinterkopf und hörte etwas knacksen und reißen. Mein Kopf wurde nach vorne geschleudert. Von hinten spürte ich George auf mich zu stürzen, doch darauf konnte ich mich gar nicht wirklich konzentrieren. Ich sah nur noch Stuart, der immer noch böse grinste und mich nun siegessicher anstarrte, weiter daneben den anderen Vampir.
Ich ignorierte die Tatsache, dass Anthony sich nicht mehr bewegen konnte und wehrlos jeweils an beiden Wänden da lag, dass nur noch ich da war, die gegen diese drei übrig gebliebenen, verräterischen Vampire kämpfen konnte. Es legte sich nur noch ein roter Schleier vor meine Augen.
Ich setzte einen unkontrollierten Schlag nach hinten, der es sogar wirklich schaffte, George zu treffen und ihn von mir zu stoßen, dann stürzte ich mich nach vorne zu Stuart. Er wollte meinen Angriff abwehren, doch stattdessen sprang ich gegen die Wand, und setzte einen Sprung an, der andeutete, dass ich davonlaufen wollte. Dann aber stieß ich mich ab und sprang gegen Stuart. Er sah es trotzdem kommen. Ich konnte noch nicht einmal einen richtigen Treffer landen, da duckte er sich und packte mich genau an dem Bein, dass wegen George in einem ungewöhnlichen Winkel stand. Er schleuderte mich bis ans Ende der Gasse, wo ich hart gegen die Wand stieß und dann kurz paralysiert am Boden liegen blieb.
Langsam mit bedrohlichem Schritt lief Stuart auf mich zu, denn es gab für mich sowieso kein Entkommen mehr, alle Wege waren mir versperrt worden. Recht, links und hinter mir waren Wände – vor mir Stuart und die anderen zwei Vampire. Doch genauso böse lächelnd, wie er auf mich zu kam, so schaute ich ihn wütend an. Mein Blick fokussierte sich genau auf seinen Hals und ich stellte mich vor, wie ein Riss da hindurch ging.
„Au!“, schrie er plötzlich auf und fasste sich an den Hals, um zu schauen, ob da etwas war. Dann fing er an, zu husten.
Ich wurde immer wütender. Und erst, als an Stuarts Hals ein sichtbarer, immer größer werdender Riss entstand, fiel mir plötzlich meine Gabe ein und ich setzte sie gezielt ein. Nun zog sich mit einem Ruck der Riss durch seinen Hals und das Röcheln, das von ihm kam, erstarb. Dann fiel sein Körper schlaff zu Boden und sein Kopf rollte einen Meter weiter, bis er gegen eine Wand stieß und mit dem Gesicht zur Wand liegen blieb.
Die zwei übrig gebliebenen Vampire direkt vor mir starrten mich wahrscheinlich genauso schockiert an, wie ich Stuarts Hinterkopf anstarrte. Doch sobald George sich aus dieser Starre löste, löste auch ich mich daraus. Mit einem Brüllen stürzte er sich auf mich. Meine Hand schoss vor und während er zum Sprung ansetzte, sich abstieß und auf mich zuflog, explodierte seine Brust. Kleine rosa Steine regneten auf mich herab, die Leiche mit dem fehlendem Brustkorb schlug ich von mir weg, ehe sie gegen mich landen konnte.
Gleich hinter George hatte sich auch der andere Vampir auf mich stürzen wollen und er rannte immer noch auf mich zu, während Georges Leichnam gegen ihn fiel. Ich richtete mich vorsichtig auf, während mein Bein plötzlich zusammen knickte und ich mich mit einer Hand abstützen musste, um aufstehen zu können. Dann schoss meine Hand wieder vor. Der Vampir blieb mitten im Weg, wenige Meter vor mir stehen, als mit einer ruckartigen Bewegung meiner Hand sein Kopf von seinem Körper gerissen und gegen die Wand geschleudert wurde.
Die Luft, die ich angehalten hatte, stieß ich laut aus.
Es war nun vorbei. Keiner wollte sich mehr auf mich stürzen. Sie waren tot.
Plötzlich hörte ich wie es donnerte und ich zuckte zusammen. Und erst dann spürte ich die Regentropfen, die wahrscheinlich schon seit einer Ewigkeit auf die Erde niederprasselten. Die Straße der Gasse waren nass, meine Kleidung und meine Haare, die mir verknotet ins Gesicht fielen, ebenfalls.
Ich wollte auf Anthony zurennen. Doch mein Bein gab nach und ich stürzte hin. Das Adrenalin war verschwunden und ich spürte mein gebrochenes Bein, dessen Knie in die völlig falsche Richtung gebogen war. So schnell ich konnte, robbte ich zu Anthonys Oberkörper.
„Anthony!“, schrie ich.
Seine Augen flatterten.
Er lebt. Er lebt noch.
Hektisch schaute ich zu seinen Beinen und zog sie zu uns rüber.
Natürlich lebt er noch. Er ist ein Vampir. Sein Körper wird wieder zusammenwachsen.
Verzweifelt presste ich die Taille an seinen Bauch.
„Wachs doch zusammen“, murmelte ich. „Komm schon. Mach schon.“
Meine Hände zitterten. Meine Tränen verschleierten die Sicht, der Regen machte die Sache nicht einfacher.
„Komm schon!“, schrie ich genau in dem Moment, als es wieder donnerte.
Meine Hände glitten über Anthonys Gesicht. Seine Augen flatterten wieder.
„Anthony“, flüsterte ich.
Erneut strich ich mit meinen zitternden Finger über seine Wangen.
Er stöhnte.
„Gott, wieso bist du überhaupt noch bei Bewusstsein?“, rief ich.
Ein Blitz zuckte über den Himmel und erhellte kurz sein Gesicht, kurz darauf donnerte es.
„Es muss doch furchtbar weh tun!“, murmelte ich, meine Finger glitten wieder über sein Gesicht, seine Augen. „Schlaf doch! Schlaf, bitte!“
Ich wollte nicht, dass er schlief. Ich wollte, dass dieser Albtraum vorbei war. Ich war nicht stark genug, ich konnte das nicht alleine. Doch er musste einfach schlafen, diese Schmerzen waren sicher unerträglich. Aber gleichzeitig wollte ich einfach nicht, dass er einschlief, denn sonst war ich verloren.
Er stöhnte, krächzte auf einmal. Er wollte mir etwas sagen.
„Ja?“ Wieder streichelte ich sein Gesicht. „Was? Was?“, schrie ich.
Kurz haftete sich sein Blick auf mein Gesicht. Seine einst strahlend grünen Augen blickten mir in kleinen Schlitzen entgegen. Sein Mund bewegte sich. Dann fielen seine Augen zu und er bewegte sich nicht mehr.
Ich schüttelte ihn.
„Anthony!“, rief ich. „Anthony!“
Er bewegte sich nicht mehr.
Danke fürs Lesen!
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Tag der Veröffentlichung: 09.02.2016
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