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1. Kapitel

 

Etwas Kaltes wurde mir übers Gesicht geschüttet. Meine ohnehin schon geschlossenen Augen kniff ich etwas fester zusammen und ich wandte meinen Kopf zur Seite.

Langsam kam ich wieder etwas zu Bewusstsein. Ich schüttelte meinen Kopf, um das kalte Wasser aus meinem Gesicht zu kriegen und erschauderte, als es in meinen Ausschnitt floss.

Schmerzen hämmerten gegen meine Schädeldecke. Konnte förmlich spüren, wie sie kurz davor waren, sie durchzubrechen.

Ich schlug orientierungslos meine Augen auf, nur um sie gleich darauf wieder zu schließen, als mir ein Wassertropfen in mein Auge fiel. Er brannte ungewöhnlich stark auf meinem Sehorgan.

Ich lag auf etwas Hartem. Vielleicht der Boden. Vielleicht auch nicht. Es wunderte mich nur, dass ich auf dem Rücken lag. Das tat ich sonst nicht. Glaube ich.

Bei dem Versuch, mich auf die Seite zu legen, merkte ich, dass meine Hände an den Boden gefesselt waren. Genauso wie meine Füße.

Panisch riss ich die Augen auf und schaute auf mich herunter. Mit Metallfesseln war mein Körper an einen Holztisch befestigt, der mitten in einem kleinen runden Raum stand. Die Backsteinwände hatten sichtlich viele Jahre hinter sich gebracht, sie hielten sich kaum noch an Ort und Stelle. Und die Decke war niedrig und schien, als wollte sie direkt über mir zerbröckeln und herunterfallen.

Doch die Umgebung verursachte mir allein keine Gänsehaut. Direkt neben mir stand ein Mann. Ein großer, unheimlicher Mann. Sein durchtrainierter Körper steckte in einem schwarzen, makellosen Anzug und er grinste mich mit schmalem Mund und gebleichten Zähnen böse an. Seine beinahe schwarzen, durchdringenden Augen und seine rabenschwarzen Haare ließen mir einen kalten Schauer über den Rücken jagen.

„Na, sieh mal an, wer endlich aufgewacht ist!“, sagte er mit einer ungewöhnlich tiefen Stimme, die mich zusammenzucken lies. In seiner Hand hielt er ein leeres Glas mit einzelnen, verbliebenen Wassertropfen, das er nun achtlos auf den Boden warf.

Seine Augen wanderten über mich, während er ein Messer unter seinem Jackett hervorholte. Darunter konnte ich noch einige mehr erkennen.

Ich zerrte an den Griffen bei dem verzweifelten Versuch, ihm zu entkommen und versuchte mich zu erinnern, wie ich hergekommen war, doch in meinem Kopf war nur Leere. Und nicht nur bei der Erinnerung, wie es zu diesem Moment überhaupt kommen konnte. Es fehlten mir alle Erinnerungen. Ich konnte mich an gar nichts mehr erinnern. Es herrschte in meinem Hirn, abgesehen von der immer größer werdenden, hysterischen Angst, gähnende Stille.

„Du bist echt schön, weißt du das?“, fragte er mich. Abgesehen davon, dass ich schlichtweg nicht antworten wollte, konnte ich es auch nicht. Wie sah ich überhaupt aus?

Der Mann verzog sein Gesicht zu einer immer hässlich werdenden Fratze. „Schade, dass es bald nicht mehr so sein wird.“ Und damit rammte er die scharfe, kurze Klinge des Messers in mein Bein.

Durch den Schock kam nur die Hälfte meines Schreis durch meine Kehle. Ich hob den Kopf erschrocken hoch, als der scharfe Schmerz durch mein Bein zuckte.

Um Atem ringend blickte ich auf das Messer in meinem Schenkel hinunter, als er es einfach in meinem Bein stecken lies und grinsend anfing, um mich herum zu laufen. Er schien ihm Spaß zu machen. Dass es mir so ging, konnte ich nicht behaupten.

„Ach!“, sagte der große Mann immer noch grinsend. „Wie ich es doch vermisst habe, so etwas mal wieder zu tun!“ Er lachte.

Durch diesen Laut erschreckte ich mich nochmals und zuckte zusammen. Doch durch das Zusammenzucken wurde der stechende Schmerz in meinem Bein noch heftiger. Ich stöhnte laut auf, als der Schmerz selbst in meinen Fingerspitzen widerhallte. Und der Gedanke, dass ein Messer in meinem Schenkel steckte, lies mich am ganzen Körper erzittern. Was den Schmerz noch schlimmer machte.

„Was ist los? Tut dir das etwa weh?“, fragte er scheinheilig. Plötzlich, ohne das ich es erwartet hätte, zog er das Messer schnell raus.

Ich schrie auf. Der Schmerz wurde schlimmer und besser zugleich. Schlimmer, da ich spüren und sehen konnte, wie das ganze Blut schmerzhaft aus meinem Bein quill, im Versuch es zu heilen und besser, weil ich das unerträgliche Gefühl des Messer, das bei jeder kleinen Bewegung mich immer tiefer kratzte, nicht mehr spüren musste. Gleichzeitig fuhr durch mich eine Woge der Erleichterung.

Das Monster vor mir grinste, als es das Messer vor sein Gesicht hielt und das tropfende Blut beobachte, das langsam von der Klinge auf seine Hand und seinen Arm floss, bis es vom Ellenbogen tröpfchenweise auf den Boden fiel. Bei diesem Anblick musste ich würgen.

„Denk ja nicht, wir sind fertig!“ Er lachte böse. Und ich erzitterte zum erneuten Mal.

Er holte aus der Innentasche seiner Jacketts ein weiteres Messer. Ich versuchte meine Atmung etwas unter Kontrolle zu bringen, denn er ging zu schnell und unregelmäßig. Außerdem hob und senkte sich mein Brustkorb zu extrem, wodurch mein ganzer Körper bebte.

Die Klinge war lang und scharf. Als er den Arm langsam senkte, spannte ich mich an und schloss die Augen. Ich konnte ihn grinsen hören.

„Öffne die Augen!“, sagte er schroff.

Ich dachte gar nicht daran. Ich wollte weder sein erschreckendes Gesicht, noch die messerscharfe Klinge, noch die Wunde sehen, die er mir gleich zufügen würde.

„Ich hab gesagt, ÖFFNE DEINE AUGEN!“, schrie er und ein scharfer Schmerz fuhr mir durch den Arm. Erschrocken öffnete ich die Augen und schrie. Sein Messer bohrte sich durch meine Hand und sein wütender Blick schien mich zu erdolchen.

Brennende Tränen stahlen sich aus meinen Augenwinkel und ich war bei dem Anblick meiner durchbohrten Hand kurz davor, mich zu übergeben.

„Gut. Und jetzt halte deine Augen auch offen!“ Sein wütender Gesichtsausdruck wich einem Grinsen. „Ich würde dir empfehlen, immer auf mich zu hören. Sonst wird es schlimmer. Hättest du zum Beispiel deine Augen selbst jetzt nicht geöffnet, hätte ich wohl oder übel die Klinge in deiner Hand drehen müssen.“

Bei dem Gedanken daran, überkam mich ein erneuter Würgereiz. Hätte ich etwas im Magen gehabt, wäre es jetzt garantiert nicht mehr drinnen.

Er fing an mit der Spitze des Messers über meine Arme zu fahren. Im Vergleich zu den Schmerzen davor war es beinahe Nichts, trotzdem konnte ich mir das nicht länger ansehen und starrte zur Decke.

Ich hörte Blut vom Tisch auf den Boden tropfen. Anfangs tröpfelte es nur leicht, doch dann hörte ich immer mehr Tropfen auf dem Boden. Bald musste ich wohl verbluten. Meine Erlösung aus der Hölle.

Langsam fing das Bild vor meinen Augen an zu verschwimmen. Es waren jedoch keine Tränen, die mir die Sicht nahmen. Das hieß wohl, dass ich bald von meinen Schmerzen befreit war.

Ich schaute noch mal hoch um dem Monster ins Gesicht zu sehen. Er fuhr mir immer noch grinsend mit dem Messer durch meine Haut. Jetzt, da der Schmerz in meiner Hand und in meinem blutenden Bein größtenteils verhallt war, spürte ich die kühle Klinge in mir nur noch mehr.

Das Messer kam meinem Gesicht immer näher. Und dann zog er es durch meine linke Wange. Ich schmeckte etwas Metallisches, als die Klinge meine Haut durchbohrte. Etwas von dem Blut gelangte in meine Luftröhre und ich fing laut an zu husten.

Weiter fuhr die Schneide des Messers durch mein Gesicht, jedoch nur so leicht, dass es Kratzer waren, die weniger bluteten.

Als der Mann mir in die Augen schaute, bemerkte er meine Erschöpfung.

„Warte, noch nicht einschlafen! Ich habe noch was für dich!“ Sein breites Grinsen hätte ich ihm am liebsten aus dem Gesicht geschlagen.

Mit langsamen, beinahe lässigen Schritten ging er auf die einzige Tür zu, die es in diesem runden Raum gab. Anders als mir ging es ihm großartig.

Ich schloss für einen kurzen Moment die Augen. Jetzt einfach nur zu sterben wäre das Beste, was mir passieren konnte.

Meine Augen öffneten sich reflexartig, als ich hörte wie etwas in den Raum gerollt wurde. Jedoch waren sie nichts weiter als dünne Schlitze in meinem blutverschmierten Gesicht.

Es war eine Wand auf Rollen mit einem gefesselten Mann darauf, die das folternde Monster in den Raum schob. Seine Arme waren über seinem Kopf und die Beine am Rand dieser Wand mit Seilen festgemacht, die er verzweifelt versuchte loszuwerden indem er sich hin und her wand. Obenrum hatte er nichts an und man konnte seinen muskulösen, vor Anstrengung schwitzenden Oberkörper sehen. Sein Gesicht war ebenfalls schweißnass, teils wütende, teils verzweifelte Augen blickten durch das Zimmer. Und blieben dann an mir hängen. Sein Blick wurde plötzlich voller Trauer und purer Verzweiflung.

Ich atmete tief ein und aus. Diese Situation war zu viel für einen normalen Menschen. Denn das Erschreckendste an ihm und der konfusen Umstände war, dass er mir bekannt vorkam. Ich hatte keine Ahnung, wer dieser Mann war, ich hatte keine Ahnung, ob ich ihn jemals gesehen hatte, doch das Gesicht kam mir vertraut vor. Als ob ich ihn gut kennen würde.

„Na? Wiedererkannt?“, fragte der Mann in dem Anzug. Ich schaute den Gefesselten an und er mich. Doch in meinen Kopf fand ich weiterhin nichts.

„Ja, wie auch? Du hast ja keine Erinnerungen!“ Der Widerling fing laut an zu lachen.

Ich knurrte und fing an, mich wütend hin und her zu winden bis mir die Schmerzen und meine Schwäche zu schaffen machten. Auch dem Mann in den Fesseln ging es nicht besser. Seine Augen riss er erst ungläubig auf, dann knurrte er unmenschlich und riss an den Seilen. Seltsamerweise hielten die ihn an Ort und Stelle, obwohl er so stark an ihnen zog, dass sie eigentlich hätten reißen müssen.

„Lass sie sofort gehen!“, brüllte er plötzlich. Ich zuckte zusammen. „Sie hat nichts damit zu tun!“

Seine Stimme hörte sich in dem runden Raum extrem laut an und sie holte mich aus meiner Beinahe-Ohnmacht. Ich war augenblicklich hellwach und wurde meiner Schmerzen wieder bewusst.

„Natürlich hat sie das! Aber darüber wird jetzt nicht geredet.“ Doktor Folter holte sich ein weiteres Messer aus seinem Jackett. Erwartet hatte ich, dass der Gefesselte ihn anbrüllen würde oder irgendetwas dieser Art, doch stattdessen blieb sein Mund geschlossen. Seine Lippen waren zusammengepresst, doch man sah wie gerne er dem Monster etwas vorwerfen wollte.

Ich befürchtete wieder das Schlimmste und richtete meine Augen zur Decke. Doch Mister Skrupellos kam nicht auf mich zu, sondern lief mit dem Messer auf seine andere Geisel zu. Ich schaffte es mit Qualen meinen Kopf in seine Richtung zu wenden.

Das Messer war kurz und stumpf. Das konnte ich selbst mit meiner leidenden Wahrnehmung erkennen. Und dieses Messer zog er nun seinem Opfer durch die Brust. Er hatte das Glas vom Boden aufgehoben und benutzte es nun, um das Blut aufzufangen, das von der Brust tropfte. Mir wurde mal wieder übel.

Das Gesicht des halbnackten, gefesselten Mannes wurde wütend und wild. Doch er öffnete seinen Mund nicht einen Spalt. Er durchbohrte nur die Bestie mit seinen zornigen Blicken. Und rüttelte weiter an den Fesseln.

Das Blut floss schnell und gut, vor allem da immer wieder gut nachgeritzt wurde. Als er genug davon im Glas hatte, kam der Soziopath wieder auf mich zu. Sein Opfer lies er ohne weitere Aufmerksamkeit weiter verbluten. Doch wenn ich genauer hinschaute, floss das Blut immer weniger. Und als das Biest direkt vor mir stand, waren die Wunden des Mannes verheilt.

Ich blinzelte mehrmals und schaute wieder zur Decke. Halluzinationen sollten in diesem Zustand wohl normal sein.

Das Monstrum schaute mich grinsend an und seine gebleichten Zähne machten es meinen Augen noch schwerer in seine Richtung zu sehen.

Und dann träufelte er das Blut im Glas in meine Wunde im Bein.

Ich schrie los. Es war schlimmer als das Sprichwort „Salz in die Wunde streuen“. Mein gesamtes Bein fühlte sich an, als ob es brannte. Ein eigenartiger Geruch breitete sich im Raum aus.

„Keine Angst. Es wird nur noch besser.“

Nun schüttete er die Hälfte des Blutes über meine Arme. Ich schrie nur noch lauter. Er lachte böse und der Mann in den Fesseln knurrte wütend.

Ich fragte mich, wann das ein Ende haben würde. Ich konnte einfach nicht mehr.

Und als dieses widerliche Monster den letzten Rest des Blutes mir übers Gesicht schüttete und ich beim Schreien mich daran verschluckte, wurde es endlich schwarz vor meinen Augen und ich sank in die Tiefe.

2. Kapitel

 

Mein Schädel brummte. Ich drehte mich zur Seite.

Mit einem Schlag war ich hellwach. Ich konnte mich zur Seite drehen. Ich war nicht mehr gefesselt. Ich war frei.

Ich riss meine Augen auf. Und sah einem Gitter entgegen. Ich war doch nicht frei, sondern immer noch gefangen. In der Hölle.

Der Raum, in dem ich mich befand, war eine Zelle. Die selben roten Backsteinwände wie in dem runden Raum, die den Anschein erweckten, als ob sie allein durch einen Windstoß umkippen würden. Auch die Decke ähnelte dem des runden Folterraumes, da sie niedrig war. Das einzige, was hier allerdings anders war: Die Zelle war rechteckig und eine Wand bestand aus Gitterstäben. Es roch außerdem unangenehm.

Ich setzte mich auf. Ich bin auf einer Liege aus Holz gelegen. Dieses morsche Holz weckte bei mir schreckliche Erinnerungen. Ich schüttelte mich.

Wenigstens war es nicht der Holztisch, auf dem ich beinahe verblutet wäre. Das letzte, das ich in dieser kleinen Zelle wollte, war, mein eigenes Blut auf einem Tisch zu sehen. Wenigstens gab es hier eine normale Liege. So normal, wie Holzliegen zum Schlafen auch waren.

Irgendwas war unheimlich. Ich bin fast verblutet. Und habe mich dann am Blut dieses einen Mannes verschluckt. Wieso war ich noch am Leben?

Ich sah an mir herunter. Meine Kleidung, die aus T-Shirt und kurzer Hose bestand und vermutlich mal grau gewesen war, war dunkel und blutverkrustet. Und dann fiel mir etwas auf.

Ich atmete tief ein und aus und versuchte dabei meinen Atem zu normalisieren.

Wo waren meine Wunden? Eigentlich sollten mir klaffende Wunden entgegen springen, um mich an die schreckliche Folter von dieser verrückten Bestie zu erinnern. Solche Körperverletzungen konnten nicht einfach verschwinden.

Ich sollte mich so schnell wie möglich beruhigen. So viel Stress tat einem Menschen nicht gut.

Und solche Wunden taten einem auch nicht gut, nur war das Problem, dass sie gar nicht mehr da waren.

Ein so wirklich großes Problem war es eigentlich nicht. Denn meine Wunden waren verheilt. Ich sollte mich darüber freuen. Aber wie konnte es sein, dass sie einfach verschwanden und nicht mal eine Narbe hinterließen?

Ich schaute mir meinen Körper noch mal genauer an und fuhr mir dabei über meine Arme und Beine. Es war wirklich nichts mehr da.

Vielleicht war es auch nur ein Traum? Oder ich hatte mir irgendetwas eingebildet?

Nein, das konnte einfach nicht sein. Meine Kleidung war der Beweis für das Gegenteil und ich konnte die Schmerzen noch spüren, als ob er sie mir gerade jetzt zufügte. Sie hatten sich in mein Gedächtnis gebrannt und sie waren in dem Moment meine einzige Erinnerung. Nach wie vor wusste ich nicht, was vor meiner Folter passiert war.

Ich stolperte zu den Gitterstäben und fing an, an ihnen zu rütteln. Sie saßen fest. Ich lehnte mich verzweifelt an sie. Ich könnte schreien, aber in dem Gang, in dem ich mich befand, war keiner. Damit würde ich nur Halsschmerzen bei mir erreichen. Alles was ich tun konnte, war, gegen die Wand einen Meter vor mir zu starren.

Daraus konnte doch nicht mein ganzes Leben bestehen. Aus Gefangenschaft und Folter. Ich sank kraftlos an dem Gitter runter.

Plötzlich entdeckte ich an den Wänden rechts und links von mir weitere Gitterstäbe. Sie waren nur am Boden angebracht und man konnte durch sie in eine weitere Zelle sehen. Hoffnungsvoll krabbelte ich auf eines zu.

Niemand war drin. Meine Hoffnung schwand. Hoffnung auf Gesellschaft und auch auf Freiheit und das Vergessen an all die schrecklichen Dinge.

Unmotiviert krabbelte ich auf die anderen Gitterstäbe rechts von mir zu. Ich sah durch. Und da saß er. Der Mann aus dem Folterraum, der von dem Monster auf der Wand gefesselt rein gerollt wurde. Der, dessen Blut über mich geschüttet wurde. Seine Arme saßen auf seinen angewinkelten Beinen und er hatte die Hände in seinen Haaren vergraben. Er hatte nicht mehr an wie zuvor und auch er hatte sein altes Blut an sich kleben. Schnell wich ich zurück und presste meinen Rücken an die Wand.

Er wusste sicherlich, dass ich ihn gesehen hatte. Mein Atem ging flach.

Sollte ich froh darüber sein, dass ich nicht alleine war? Ich wusste es nicht.

Früher hatten wir garantiert eine Beziehung zueinander. Ich wusste nur nicht welche Beziehung. Nicht umsonst hatte er mich so verzweifelt und traurig angeschaut, als er mich blutend auf dem Tisch hat liegen sehen. Nicht umsonst hatte er das Biest angebrüllt, er solle mich freilassen. Und nicht umsonst hatte mich Doktor Skrupellos gefragt, ob ich den Mann wiedererkannt hätte.

Ich hatte keine Ahnung, wo ich war. Ich hatte keine Ahnung, wer ich war. Und ich hatte keine Ahnung, wer alle anderen waren und was sie von mir wollten.

Ich atmete tief durch und sah wieder durch die Gitterstäbe auf den Mann. Er hob den Blick, als ich durch die Stäbe wieder auftauchte. Unsere Blicke trafen sich.

Sein Blick war beinahe emotionslos. Nur etwas Trauer lag darin. Er starrte mich eine Weile an, dann sah er weg.

Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Also sah ich ihn weiterhin an. Immer noch fiel mir nicht ein, woher ich ihn kannte. Aber ich wollte es wissen.

Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen. „Hallo.“

Nun hatte ich es gesagt. Auch wenn ich mich irrte und er weder mich, noch ich ihn kannte, so konnte ich mich mit einer einzigen Begrüßung nicht blamieren.

Sein Kopf drehte sich wieder zu mir. Doch statt etwas zu erwidern, sah er mich dieses Mal wirklich nur emotionslos an. Entweder er hatte sich sein Pokerface aufgesetzt oder ich war ihm egal.

Eine Minute des Schweigens verging. Weder hatte er sich bewegt, noch seinen Blick verändert. Auch ich blieb unveränderlich auf dem Boden sitzend und starrte ihn an.

Ich schluckte. „Also, wenn wir uns kennenlernen wollen, dann musst du schon etwas sagen.“

In seinem Gesicht bildete ein leichtes Grinsen. Er fing an, etwas zu murmeln.

„Was?“, fragte ich.

„Ich habe gesagt: Du hast dich nicht verändert.“ Seine Stimme klang ganz anders wie ich sie in Erinnerung gehabt hatte. In dem runden Raum hatte er wütend gebrüllt, jetzt aber war er ruhig und gefasst.

Also kannte er mich doch. Und ich augenscheinlich hatte ihn gekannt. Ein kleiner Hoffnungsschimmer bildete sich in mir.

Ich wollte anfangen, ihn etwas über mich zu fragen, aber ich hielt mich in Grenzen. Ich wollte ihn nicht damit überfallen.

Ich öffnete den Mund um etwas zu sagen, schloss ihn allerdings gleich wieder. Mein Hirn war leergefegt und ich wusste nicht, was ich hätte sagen können. Ich überlegte eine Weile.

„Wie bist du hier her gekommen?“, fragte ich. Ich würde ihn nicht mit Fragen über mich bombardieren. Allerdings war diese Frage auch nicht grade besser. Vielleicht sollte ich mein Klappe halten.

Er starrte mich wieder so emotionslos an. „Solltest du das etwa nicht wissen?“, fragte er mich vorwurfsvoll.

Ich schrak zurück. Wieso stellte er mir die Frage, wenn er wusste, dass ich keine Erinnerungen mehr hatte? Vielleicht aber war es meine Schuld gewesen, dass wir hier waren und er warf mir das jetzt vor? Ich sank verzweifelt zusammen.

Der Mann zog scharf die Luft ein. „Es... tut mir leid“, sagte er, „ich... ich wollte das nicht.“ Er rutschte etwas näher zu mir. Ich versteckte mein Gesicht in meinen Händen und lehnte mich gegen die Stäbe.

„Nein, es tut mir leid! Es ist ja nicht deine Schuld.“

Ich schaute hoch. Er war nun ziemlich nah an dem Gitter, das uns trennte. Sein Blick hatte sich komplett verändert, er war schuldig, mitleidsvoll und gleichzeitig verzweifelt.

Ich wusste nicht, was ich hätte tun können. Ich hatte das Bedürfnis zu heulen, aber ich konnte das nicht vor ihm.

Ich schüttelte verzweifelt meinen Kopf. Es war egal, was ich vielleicht getan hatte, ich konnte mich sowieso nicht erinnern. Und das einzige, das ich nun tun könnte, wäre, mir etwas aus meinem früheren Leben zurückzuholen und mich zu erinnern.

„Wie heißt du?“, fragte ich.

„Chris“, antwortete er, „Christoph.“

Ich überlegte. Chris, Christoph, Christoph. Nein, in mir wurden keine neuen Erinnerungen geweckt. Meine Hände fuhren durch meine Haare.

„Okay“, murmelte ich, „okay.“ Ich schaute Chris in die Augen. Er schaute mich erwartungsvoll an. Ich schüttelte den Kopf, warf meinen Kopf nach hinten und stöhnte. Chris lehnt sich zurück und seufzte frustriert.

„Aber da muss doch irgendwas in meinem Kopf sein!“, fuhr ich auf. „Das kann doch nicht sein, dass ich mich an gar nichts erinnere!“

„Psst!“ Chris hielt sich den Finger vor den Mund. „Leise! Wenn die dich hören...“ Er streckte einen Arm durch die Stäbe und ergriff meinen Arm.

Ich wurde still und bewegte mich nicht mehr. Mein Blick fiel auf seine Hand auf mir. Ein wohliges Gefühl stieg in mir auf und die Stelle, an der er mich berührte, fing an zu kribbeln. Es schien mir, als spürte ich das nicht das erste Mal.

Ich sah Chris ins Gesicht. Er sah mich und seine Hand auf mir abwechselnd an. Dann zog er seinen Arm weg, als ob er sich an mir verbrannt hätte.

Ich atmete tief ein und tief aus. Ich musste mich wirklich beruhigen. Ich brauchte keinen Nervenzusammenbruch.

„Gut, wenn ich mich an nichts mehr erinnern kann, dann ist es halt so.“ Ich wandte mich wieder zu ihm. „Aber wie heiße ich?“

Seine Mundwinkel hoben sich. „Josie.“

Ich grub weiter in meinem Kopf. Doch das verursachte mir nur Kopfschmerzen und ich lies es sein.

„Hast du eine Ahnung, wie meine Wunden verschwunden sind?“ Die Frage verfolgte mich lange genug und ich musste die Antwort wissen. Ich beobachtete Chris. Sein Oberkörper war auch makellos, obwohl das Monster ihm mehrmals die Brust aufgeschnitten hatte. „Und wie sind deine verschwunden?“

„Überleg' doch mal. Du bist schon mal drauf gekommen“, sagte er und grinste. Dabei entblößte er eine Reihe makelloser Zähne. Zwar waren sie auch weiß, sahen allerdings nicht gebleicht aus wie die des Mistkerls.

Ich hob ungläubig meine Augenbrauen. Das war schon ein Mal geschehen? Mein Kopf schwirrte. Ich lehnte mich erneut an die Gitterstäbe.

„Wann ist das schon ein Mal passiert?“, fragte ich.

„Schon eine Weile her“, murmelte Chris, sagte dann aber mit mehr Elan: „Ich erzähle es dir, wenn du das Rätsel um unsere Körperverletzungen löst.“

Ich schaute ihn schräg an. Dass ich Kopfschmerzen hatte, merkte ich erst, als ich meinen Kopf bewegte. Ich fing an, mir die Schläfen zu massieren.

„Keine Ahnung, wie das geschehen ist“, nuschelte ich, „Bist du ein Vampir?“

Chris hob eine Augenbraue.

„Na, wenn du diese Selbstheilungskräfte hast wie bei 'The Vampire Diaries' und Menschen durch dein Blut heilen kannst, dann blicke ich, wieso das Monster mir dein Blut über meinen Körper geschüttet hat, wenn er mich heilen wollte.“ Ich lies meinen schmerzenden Kopf in Ruhe und senkte die Hände. „Ach, weiß ich doch nicht, wie das funktioniert hat!“

Und dann merkte ich, was ich gesagt hatte. 'The Vampire Diaries' ist ein Fernsehserie über Vampire. Und ich konnte mich daran erinnern. Eine Welle der Freude erfasste mich.

Chris hob diesmal beide Augenbrauen. „Wieso laberst du eigentlich immer den selben Scheiß?“

„Was?“ Mit dem Massieren der Schläfen aufzuhören war ein dummer Fehler gewesen. Bevor Chris noch irgendetwas sagen konnte, stoppte ich ihn.

„Ich habe keine Ahnung, was ich mal gesagt habe und allgemein habe ich über nichts eine Ahnung und das ist der Grund, wieso ich jetzt schlafen gehe!“

Ich wich von den Gitterstäben zurück und legte mich auf die ungemütlich Holzliege. Schlaf war in dem Moment das, was ich dringend nötig hatte. Zu großen Blutverlust und physische Anstrengungen konnte mein Körper nicht auf die leichte Schulter nehmen.

Ich schloss meine Augen und konnte in der Stille Chris leise grinsen hören, bevor ich endlich einschlief.

3. Kapitel

 

Ich lief den vertrauten Weg über die Straße nach Hause. Zum ersten Mal in dieser Woche schien die Sonne und ich genoss es, die warmen Strahlen auf meinem Gesicht zu spüren.

Heute war ein harter Arbeitstag gewesen und ich war froh, endlich in meine kleine Wohnung zu kommen. Sie war nicht groß, aber für mich perfekt. Das einzige, das nicht perfekt war, war die Lage. Aber man findet selten eine günstige Wohnung in einer so großen Stadt und Geld im Überschuss hatte ich eindeutig nicht.

Von meinem Fenster konnte ich täglich die Drogendealer und dutzende Prostituierte sehen. Ein typisches Ghetto-Viertel eben, aber ich war mehr als zufrieden damit, hier zu leben. Ich hatte mir viel aufgebaut.

Gestern hatte ich erfahren, dass ich neue Nachbarn bekommen würde. Studienanfänger, wie ich vor ein paar Jahren. Das würde wahrscheinlich ziemlich laut werden. Ich grinste.

Ich lief über die Straße und wurde dabei fast von einem Auto angefahren. Verdammte Raser!

Zwei Blöcke vor meinem Wohnblock sah ich zwei vollgeladene Autos stehen. Das waren wohl meine neuen Nachbarn, die gekommen waren!

Neben einem der Autos stand ein Mann. Gott, war der attraktiv! Also, wenn das mein neuer Nachbar werden würde, dann würde ich täglich einen guten Ausblick haben. Ich fing an, beim Laufen mehr auf meinen Hüftschwung zu achten.

Er sah mich und grinste mich an. Selbstbewusst lief ich an ihm vorbei und lächelte charmant. Dann lief ich die Treppen hoch.

 

Ich schreckte hoch.

Ich war in der Zelle. Und nicht zu Hause.

Langsam fing ich an, das Geträumte zu verarbeiten. Ich hatte von meinem Zuhause geträumt. Eine Erinnerung.

Fieberhaft versuchte ich mich nochmal  daran zu erinnern, was ich gesehen hatte. Große Betonblöcke. Parkende Autos am Straßenrand. Meine Wohnung im dritten Stock.

Und ihn. Chris. Ich hatte von ihm geträumt. Oder mich wieder an ihn erinnert. Er war der attraktive Mann neben dem Auto gewesen. Nur hatte ich im Traum noch nicht gewusst, wer er war. Das hieß, ich hatte von unserer ersten Begegnung geträumt.

Ich atmete tief ein und aus. Und grinste dann kurz. Ich konnte mich wieder an etwas erinnern.

Und ausgerechnet an meine erste Begegnung mit Chris. Das konnte nichts Gutes heißen. Meiner Definition nach. Denn wir mussten früher eine freundschaftliche Beziehung zueinander gehabt haben, wenn er mir so viel bedeutete, dass ich zuerst von ihm träumte – wenn es nicht mehr als eine freundschaftliche Beziehung war. Und das dumme an dieser Beziehung war, dass ich ihm oder vielleicht sogar er mir etwas bedeutete. Und wir konnten niemals beide hier raus kommen. Wenn einer von uns das überhaupt jemals hinkriegen würde.

Ich atmete nochmal tief durch. Dann stand ich auf. Leise schlich ich mich zu dem Gitter, das mich von Chris trennte, bückte mich und sah durch. Er saß immer noch in der selben Position wie zuvor und starrte mich an, als ich durch das Gitter schaute.

„Du schläfst wohl nie“, sagte ich und versuchte dabei einen Witz zu machen. Aber mir war klar gewesen, dass das nicht lustig war und das wir darüber nicht lachen konnten. Hier konnte man einfach über nichts lachen, nicht in der Hölle.

Gegen meine Erwartung lächelte Chris doch. Ganz leicht, aber er tat es trotzdem.

„Doch, ich schlafe schon“, antwortete er. „Ich bin keiner dieser ewig wach bleibenden Vampire.“

Meine Wangen wurden heiß. Es war einfach eine dumme Idee gewesen, ihn zu fragen, ob er ein Vampir war. Ich hatte es natürlich nicht ernst gemeint, aber ich hätte ihn trotzdem nicht fragen dürfen.

Als Chris meine geröteten Wangen bemerkte, lächelte er wieder.

Allerdings wurde seine Miene schnell wieder ernst.

„Ich will nur nicht schlafen. Ich habe Angst, dass dieses verfickte Arschloch wieder kommt mit seinen tausend Messern.“

Ich zuckte zusammen. Wieder an dieses Monster zu denken, lies mir einen Schauer über den Rücken jagen. Und kaum dachte ich über seine Messer und die Sachen, die damit anstellte, nach, spürte ich plötzlich wieder, wie er damit in mein Fleisch fuhr. Ich fing an zu zucken.

Langsam musste ich es vergessen. Daran denken half mir auch nicht weiter, also durfte ich einfach nicht mehr daran denken. Ich legte mir die Arme über den Kopf und versuchte an etwas anderes zu denken. Allerdings besaß mein Hirn nicht gerade mehr, worüber er denken mochte.

Plötzlich spürte ich einen Arm auf mir und schrie auf, zuckte von der Berührung weg. Ich wimmerte und sah erschrocken auf.

Chris war geräuschlos zu mir rübergerutscht und hatte durch die Gitterstäbe sein Arm auf mich gelegt. Nun hing sein Arm locker an seiner Seite.

Ich schluchzte.

Meine Situation war aussichtslos. Ich wusste nicht, was passieren würde und konnte mich nicht einmal daran erinnern, was davor alles passiert war.

„Bitte wein nicht!“, sagte Chris. „Bitte! Ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll.“

Ich schaute in seine Augen. Sie waren dunkel, jedoch an der Pupille von einem hellen Ring umgeben.

Ich fuhr mir übers Gesicht und wischte meine Tränen weg.

„Welche Augenfarbe habe ich?“, fragte ich. Und wie sehe ich überhaupt aus?

Er schaute mich an.

„Eine schöne“, antwortete er, „aber sie wäre schöner, wenn du nicht so verheult aussehen würdest.“

Ich lachte auf und fuhr mich nochmal über die Augen.

„Wie flüssiges Karamell.“

„Karamell?“, fragte ich.

Er nickte. Ohne mir ins Gesicht zu schauen, sprach er weiter. „So ein ganz seltsames braun.“

„Seltsam?“

Er lachte kurz auf. „Ja.“

Ich fuhr mir durch die Haare und nahm mir dann eine Strähne zwischen meine Finger. Die dunklen Haare reichten mir kaum bis zur meiner Brust und fühlten sich strohig an . Vielleicht waren sie ja mal glatt und geschmeidig gewesen.

„Ein Spiegel wäre vielleicht nützlich gewesen“, murmelte ich. „Das würde mir vielleicht helfen, mich an noch etwas zu erinnern.“

Noch ein Mal fuhr ich mir durch die Haare und sah mich einfach nur so um.

„Warte“, sagte Chris und richtete sich etwas auf. „'An noch etwas erinnern'?“

Ich biss mir auf die Lippe. „Ja. Ich habe irgendwas geträumt, was vielleicht eine Erinnerung sein könnte.“

Ein Ansatz eines Lächelns bildete sich in Chris' Gesicht. „Du glaubst, es ist eine Erinnerung?“

Ich nickte und zuckte gleichzeitig mit den Schultern. „Ja. Ich weiß es nicht. Aber es war für einen Traum irgendwie zu realistisch. Ich habe mich an dem Ort, von dem ich geträumt habe, irgendwie zu Hause gefühlt.“

„Also hast du von Zuhause geträumt?“, fragte er mich und ich zuckte nochmal mit den Schultern.

„Wie sah es dort aus? Vielleicht kann ich dann bestätigen, ob das wirklich dein Zuhause ist.“

Ich lenkte von diesem Thema ab. „Also kennst du mich von früher?“

Er senkte den Kopf und nickte. „Ja.“

„Und woher? Und in welcher Beziehung standen wie zueinander?“ Ich neigte meinen Kopf, um besser durch die Stäbe zu sehen.

„Das sind zwei verschiedene Fragen“, stellte Chris fest und wich dadurch der Frage aus.

Ich seufzte.

„Wie sah es also dort aus, an dem Ort, von dem du geträumt hast?“, kam Chris wieder auf seine Frage zurück. „Und was hast du überhaupt geträumt?“

Ich merkte, dass ich meine Frage nicht beantwortet bekommen würde, bevor ich ihm nicht von meinem Traum erzählt hatte.

„Ähm, also... Ich bin gelaufen – nach Hause gelaufen, glaube ich – und zwar in irgendeinem Ghetto. Da waren überall Prostituierte und so.“ Ich räusperte mich und fuhr mir mal wieder durch die fettigen Haare. „Jedenfalls, dann... dann habe ich irgendwie... dich gesehen.“

„Mich?“, fragte er.

„Ja.“ Ich fing an, auf meiner Wange zu kauen. „Du standest da an zwei vollbeladenen Autos und... wolltest glaube ich irgendwo neben mir einziehen.“

Nun lächelte Chris. „Du hast also von unserer ersten Begegnung geträumt?“

Erneut zuckte ich mit den Schultern. „Scheint so.“

„Na ja, eigentlich bin gar nicht ich eingezogen, sondern ein Freund“, meinte er und blickte hoch, als ob er sich an etwas erinnern musste. „Ich habe nur beim Umzug geholfen.“

Ich nickte.

„Und mehr hast du nicht geträumt?“ Er schaute mich fragend an, in der Hoffnung, dass ich ihm widersprechen würde.

„Das war's.“ Ich biss mir erneut in die Wange.

Chris nickte mehrmals nachdenklich und lehnt sich dann nach hinten.

„Also, woher wir uns kennen, das weiß ich jetzt.“ Ich holte tief Luft bevor ich den nächsten Satz sagte. „Aber in welcher Beziehung standen wir zueinander?“

Er starrte mich nur an, sagte aber nichts, als wenn ich nichts gesagt hätte.

„Waren wir vielleicht Freunde? Waren wir Fremde, Bekannte oder...“ Ich stoppte.

Anstatt mir so zu antworten wie ich es wollte, sagte er nur: „Ich will darüber nicht reden.“ Und blickte dann weg.

Erst starrte ich ihn eine Minute ratlos an. Wieso wollte mir dieser Mann keine Antwort geben?

Dann aber brachte ich doch ein Wort über die Lippen.

„Wieso?“

Chris bewegte sich nicht.

Langsam würde ich empört. „Jetzt hör' mal: Ich habe Recht dazu, es zu erfahren, also musst du es mir jetzt sagen! Es bringt doch nichts, erst mit mir normal zu reden und zu lächeln und mich dann aber komplett zu ignorieren!“

Erst jetzt schaute er mich wieder an. Mit verbissenen Zähnen antwortete er: „Ich will aber nicht!“

Ich verstand nicht, wieso er es mir nicht verraten wollte.

„Waren wir etwa ein Paar oder so?“

„Oder so“, antwortete Chris.

Da ich noch verwirrter wurde, lehnte ich mich zurück. Also waren wir vor diesem ganzen Schlamassel in einer richtigen Beziehung gewesen. „Oder so“, vervollständigte ich meinen gedachten Satz laut.

„Ja.“

Es war still. Das Einzige, das ich hörte, war Chris' und mein Atem.

„Empfindest du was für mich?“, durchbrach ich die Stille mit der unangenehmsten Frage, die man stellen konnte. „Oder war mit dem 'oder so' nur eine Affäre gemeint oder ähnliches?“

Es war wieder still und ich erwartete schon keine Antwort mehr, als er sich doch dazu äußerte.

„Mhm.“

Das brachte mir aber auch nicht weiter. Verzweifelt stöhnte ich und klatschte mir mit der Hand gegen die Stirn.

„Mann, das hilft mir jetzt gar nichts! Ich habe keine Ahnung, wo ich mich befinde und kann nicht einmal erahnen, wie ich hier her gekommen bin. Und dann will ich dich fragen, weil du ja darüber Bescheid weißt, aber du willst mir ja nichts verraten!“

Chris antwortete dazu nichts.

Die Situation war hoffnungslos. Ich konnte von ihm nichts erwarten. Mal war Chris ziemlich nett und redete einigermaßen normal mit mit – den Umständen entsprechend –, doch dann war er ignorant und tat einfach nichts als Löcher in die Luft zu starren. Wenn ich früher wirklich mal in irgendeiner Beziehung mit ihm gewesen war, dann wusste ich jetzt nicht, was ich an ihm gefunden hatte.

Ich schaute durch die Gitterstäbe wieder zu ihm. Na gut, er sah gut aus. Äußerst gut, vor allem oben ohne. Frustriert seufzte ich, weil ich mich an nichts mehr, was zwischen uns vielleicht mal gewesen war, erinnern konnte.

Ich stand auf und legte mich auf die ungemütliche Holzliege. Der Hunger nagte an mir. Würde ich nicht bald etwas zu essen kriegen, würde ich in ziemliche Krämpfe verfallen. Außerdem war mein Kehle ausgetrocknet und brauchte schleunigst etwas Wasser. Höchstwahrscheinlich hatte ich deswegen auch meine Kopfschmerzen und dieses Schwindelgefühl.

Ich starrte an die Decke und tat nichts, außer die Sekunden zu zählen.

4. Kapitel

 

Ich träumte wieder etwas, das mir wie eine Erinnerung vorkam. Denn es schien mir während des Traumes wirklich so, als ob mir etwas bereits Erlebtes wieder geschehen würde.

Aber diesmal kam nichts von Chris.

Ich schaute runter auf das neue Spielzeug in meinen kleinen Händen und wieder hoch. Zwei glückliche Menschen strahlten mich an. Der Mann hatte dunkle, lockige Haare mit warmen, braunen Augen. Die Frau neben ihm hatte einen goldenen Schein in ihren Augen; sie waren karamellfarben. Ihre langen roten Haare fielen ihr glatt über die Schultern.

Meine Eltern.

Glücklich rannte ich auf sie zu und sprang ihnen in die Arme. Sie umarmten mich fest.

„Danke!“, hörte ich mich mit meiner Kinderstimme sagen.

Beide lächelten. „Bitteschön!“

Ich schaffte es irgendwie, mich aus meinem kleinen Ich abzukapseln und war nun ein sozusagen Geist in meinem alten Zuhause.

Wie befanden uns in einem kleinen Zimmer, unserem Wohnzimmer. Dahinter konnte ich einen schmalen Flur erkennen mit drei weiteren Türen. Mehr war da nicht. Es musste wohl eine ziemlich kleine Wohnung sein.

Ich schaute zurück auf mich. Süße Pausbäckchen und dieselben karamellfarbenen Augen meiner Mutter. Die dunklen Haare musste ich wohl von meinem Vater geerbt haben, allerdings waren die Haare auf dem Kopf des etwa vier Jahre alten Mädchens glatt und glänzend wie die meiner Mutter.

Ich kam meinen Eltern und mir vorsichtig näher, obwohl ich wusste, sie würden mich nicht sehen. Ich war für sie nicht sichtbar. Alles war sowieso nur eine Erinnerung.

Als mein Vater anfing, sie zu kitzeln, lachte das kleine Mädchen laut los und das Bild verschwand plötzlich. Langsam wachte ich wieder auf, die glückliche Stimmung, die ich noch von dem Traum hatte, hielt immer noch an. Ich fühlte mich wieder wie Zuhause. Ich hatte ein Zuhause. Ich wurde geliebt.

Noch im Halbschlaf wollte ich mich umdrehen, spürte aber ein seltsames Drücken an meinen Handgelenken. Meine Augen öffneten sich in Sekundenschnelle. Nein!, dachte ich, denn ich konnte es nicht fassen. Ich war gefesselt worden und lag wieder in dem kleinen runden Raum. Es roch hier noch unangenehmer als ich es in Erinnerung gehabt hatte – was vielleicht daran liegen könnte, dass meine Erinnerung daran schrecklich gewesen war. Meine glückliche Laune verflog mit einem Schlag.

Als ich dem Monster ins Gesicht sah, zuckte ich zusammen. Er grinste mich wieder mit seinem Lächeln an, während er die zwei Messer in seinen Händen aneinander schliff. Sein schwarz-weißer Anzug saß ihm wie angegossen. Beinahe hätte ich aufgestöhnt, weil diese Situation einfach zu idiotisch war. Aber egal wie absurd sie auch war: Ich hatte schrecklich Angst.

„Na, Prinzessin?“ Das schleifende Geräusch der Messer war unheimlicher, als ich es mir hätte eingestehen können. Mich überzog eine Gänsehaut. „Gut geschlafen?“ Beim Grinsen entblößte er mal wieder seine makellosen Zähne. Ich starrte ihn ängstlich an. „Wie jetzt, du antwortest mir nicht?“, fragte er.

Schock umfasste mich und ich antwortete so schnell wie möglich: „Ja.“ Ich holte Luft, damit meine Stimme weniger zitterte. „Ja, ich habe gut geschlafen“, antwortete ich wahrheitsgemäß. Denn der Traum war wirklich schön. Und schnell wieder vorbei gewesen.

Triumphierend sah er mich an. Ich hatte ihm trotz Widerwillen geantwortet und somit hatte das Monster gewonnen. Er konnte eigentlich auch alles mögliche mit mir anstellen und mich zu allem möglichen zwingen, während ich mich aufgrund meiner Angst und meiner Schwäche nicht wehren konnte. Diese Erkenntnis schockierte mich mehr, als sie hätte sollen.

„Da du ja weißt, was jetzt kommt“, sagte er, „hast ja hoffentlich keinen Grund mehr zu schreien, nicht?“ Entgeistert sah ich ihn an. Doch, habe ich. „Ich meine, ich habe nichts gegen Angst- und Schmerzensschreie, aber in diesem Raum klingen sie so laut, dass sie selbst mir in den Ohren nicht gut tun.“

Das Monster setzte seinen ersten Schnitt an meinem Oberarm an und zog ihn ihn quer.

Schmerzhaft biss ich die Zähne zusammen, um nicht zu schreien. Tränen quollen mir aus den Augen. Was er gerade gesagt hatte, war Drohung genug für mich. Ich durfte nicht schreien. Er würde sonst was tun, wenn mir doch ein Schrei aus dem Mund weichen würde – egal, was er tun würde, es würde garantiert schlimmer werden als das, was ich schon jetzt erleiden musste.

Mein Blick hakte sich an Chris fest, der, wie das letzte Mal, gefesselt an der Wand hing und zugucken musste. Noch immer verstand ich nicht, was der Sinn dahinter war.

Chris schaute wütend das Monster an, während dieser mir den nächsten Schnitt verpasste. Wieder biss ich die Zähne fest zusammen, doch ein Schluchzen lies sich nicht unterdrücken.

Chris' Blick dabei jagte mir allerdings beinahe mehr Angst ein, als die Tatsache, dass ich gerade gefoltert wurde. Er war wütend, sein Gesicht verzerrt und sah so aus, als ob er gleich losbrüllen würde. Doch gleichzeitig wirkte er, als ob ihm der Mund zugeklebt worden war und er deswegen so still war. Man sah ihm an, wie er schreien wollte – doch er tat es komischerweise nicht.

Ich auch nicht. Obwohl es meine ganze Selbstbeherrschung dafür brauchte.

Abgesehen von dem Rauschen in meinen Ohren, hörte ich noch, wie Chris ständig an den silbernen Fesseln rüttelte und irgendein Zischen, dass aus seiner Richtung zu kommen schien. In einem Moment, in dem mir das Monster eine kurze Verschnaufpause gönnte (aber auch nur, weil er das Messer wechselte), schaute ich genauer hin, um herauszukriegen, woher dieses Zischen stammen könnte. Aber es stammte garantiert von Chris. Zwar kam es nicht aus seinem Mund, aber dafür aus seiner Richtung. Als ich merkte, wie Rauch von seinen Fesseln aufstieg, schien ich auch zu verstehen, woher das Zischen auch kam. Jedes Mal, wenn Chris so sehr an den silbernen Fesseln zerrte, dass sie etwas verrutschte, sah ich seine Haut drunter, die wie verbrannt aussah. Sie war hochrot und besaß zahlreiche Blasen; außerdem stieg von dort die ganze Zeit leicht Rauch auf und zischte wie verrückt. Es war, als ob die Fesseln Chris' Haut verbrennen würden.

Mir blieb keine Zeit, mich länger darüber zu wundern, als das Monster mir das Messer tief in den Bauch rammte. Ich schrie laut auf. Scharfer Schmerz durchzuckte meinen Körper und raubte mir mit einem Schlag die Luft aus den Lungen. Dem anfänglichen Schmerz wich ein viel schlimmerer, tieferer.

„Ich habe gesehen, dass du deine Aufmerksamkeit nicht ganz mir gewidmet hast“, hauchte das Monster. „Das hat mich leider etwas enttäuscht.“ Sein Kopf zuckte zu Chris, der wütend und geschockt noch härter an seinen Fesseln zog – die aber nicht nachgaben, sondern weiter fest verankert in der Wand blieben. „Na ja, er hat einen beeindruckenden nackten Oberkörper, nicht wahr?“ Das hatte ich noch nicht einmal realisieren können. „Aber, nun ja, ich bin hier!“ Um seine Anwesenheit zu verdeutlichen, nahm er das Messer in meinem Bauch erneut und drehte es um 180 Grad, ehe er es wieder schwungvoll herausnahm.

Mein Schrei war lang und ohrenbetäubend, ehe er im Schmerz erstickte. Schmerzenswellen am Rande der Unmöglichkeit überrollten mich. Kurz bevor ich nach dem markerschüterndem Schrei erschöpft die Augen schloss, sah ich wie er das Messer genussvoll ableckte. Hätte ich nicht solche Schmerzen, hätte ich mich vor Ekel geschüttelt.

„Verdammt, jetzt habe ich wegen meiner Wut vergessen, wie leicht du zu töten bist.“ Seine Schritte entfernten sich. Qualvoll öffnete ich die Augen. Erneut nahm das Monster ein Messer und strich es Chris über die Brust ehe er das in Strömen fließende Blut in einem Behälter auffing.

Meine Atmung ging schwer und schmerzte bei jeder Bewegung. Jedes Mal musste ich japsend nach Luft schnappen, um überhaupt an etwas Sauerstoff zu kommen. Die Vorstellung nun ein Loch im Bauch zu haben, machte die Situation auch nicht besser. Sie lies mich hysterisch werden und verschlimmerte durch meine Paranoia die Schmerzen – wenn es überhaupt noch schlimmer werden konnte. Tränen flossen mir unaufhaltsam an meinen Seiten entlang, als ob sie die ganze Welt vor dem verdursten retten wollte.

Ich merkte nicht, wann das Monster zurückgekommen war, denn ich war viel zu sehr auf die Schmerzen und das gequälte Schreien konzentriert. Mein Bewusstsein schien wohl auch nicht die geringste Ahnung zu haben, wie es verschwinden konnte, um mich von diesen Qualen zu erlösen. Aber plötzlich schüttete das Monster mir Chris' Blut auf meinen Bauch.

Es traf das Sprichwort „Salz in die Wunde streuen“ so ziemlich auf den Punkt. Der scharfe Schmerz des Messers verwandelte sich in ein Feuer – was nicht wirklich besser war. Meine Schreie veränderten sich, aber nur aus Überraschung der plötzlich Veränderung der Schmerzen. Es brannte verrückt in meinem Bauch und die Schmerzen schienen wirklich nicht enden zu wollen.

Und endlich stand ich am Rande der Bewusstlosigkeit. Endlich konnte ich aus dieser Situation entkommen. Endlich.

Doch das bemerkte das Monster wohl und beugte sich zu mir runter, zwang mich plötzlich, ihm in die Augen zu sehen. „Du wirst nicht das Bewusstsein verlieren!“, sagte er eindringlich. Für einen kurzen Augenblick war ich wie hypnotisiert von seinen Augen. Aber der Schmerz brachte mich zurück auf den Boden der Tatsachen. Das Monster wich von mir zurück und ich merkte, dass die Ohnmacht wieder schwand. Die angenehme Schwärze, die alles verschlucken konnte, die meine Schmerzen verschwinden lassen könnte, zog sich zurück und stattdessen schlugen die Schmerzen wieder mit voller Wucht ein.

Das Brennen wurde weniger schlimm. Und je mehr es verebbte, desto mehr entglitt ich der Ohnmacht. Das hieß also, dass er mich weiter foltern würde, weil ich noch wach war. Unter die Tränen es Schmerzens mischten sich Tränen der Verzweiflung.

Irgendwann war das Brennen nur noch ein unangenehmes Kribbeln und meine Schreie wurden immer leise bis ich komplett still. Das einzige, was nun noch brannte, war mein Hals.

Ich sah hoch zu dem Monster, der mich weiterhin grinsend beobachtete. Am liebsten hätte ich ihm diese Grinsen aus dem Gesicht geschlagen.

Mein Kopf fuhr hoch. Die Stelle, an der vor kurzem noch ein Loch geklafft hatte, war verschwunden. Das einzige Anzeichen dafür, dass es diese Wunde überhaupt mal gegeben hatte, war das viele Blut auf meinem Bauch.

Es verwirrte mich immer noch, wie es Chris' Blut schaffte, mich zu heilen. Und wieso mich das Monster überhaupt heilte und stattdessen mich immer weiter folterte. Die letzte Frage hätte ich mich sparen können, denn es war klar, dass er das tat, weil er wahnsinnig war; und weil er Chris und mir wohl irgendetwas heimzahlen wollte.

Mein Kopf zuckte wieder zurück zu Chris. Auch seine Wunden waren mittlerweile verheilt und hinterließen nur noch blasse Spuren. Ich verfluchte Chris und sein Wunderheilblut. Vielleicht wäre ich nie in dieser misslichen Lage gewesen, wenn ich es auch hätte.

Ich wollte eigentlich schlafen. Ich war müde und ich wusste nicht, ob es an meinem schwirrenden Kopf lag oder höchstwahrscheinlich aufgrund des Blutverlustes. Sicher sogar beides. Aber ich wollte nur noch mein Bewusstsein endlich verlieren und meinen wohlverdienten Schlaf halten.

Aber irgendetwas hielt mich davon zurück. Ich wusste nicht, was es war – aber es schien, als ob die Drohung des Monsters, nicht in Ohnmacht zu fallen, immer noch Nachdruck verlieh.

„Na? Wieder gut?“ Er grinste schelmisch.

Müde klappte ich meine Augen zu. Nein, nichts ist gut. Ich will Ruhe!

„Da du noch sein Blut im Organismus hast, wird das leider kein so schönes Blutbad mehr werden, wenn ich dich wieder aufschlitze“, meinte er. Ich hörte ihn sich nachdenklich kratzen. „Aber ich weiß schon noch, wie ich dich anders quälen kann.“

Plötzlich packte er mit beiden Händen mein Gesicht. Ich befürchtete, er würde jetzt meinen Hals umdrehen und machte mich auf meinen unwiderruflichen Tod bereit. Aber stattdessen blickte er mir geradewegs in die Augen und sagte eindringlich: „Du wirst jetzt so lange nicht Luft holen bis ich es dir sage.“

Er wich wieder von mir zurück. Irritiert schaute ich ihn an und verstand nicht, wie er mir allein dadurch, dass er mir es befiel, das Atmen verbieten konnte. Aber als ich merkte, dass ich wirklich nicht mehr Luft holen konnte, wurden meine Augen riesig. Ich versuchte, einzuatmen, aber außer ausatmen konnte ich nichts mehr.

Panik stieg in mir auf und ich schnappte verzweifelt nach Luft, die mir nicht gegönnt wurde. Es war als ob meine Lungen es einfach verlernt hatten, ihr Volumen zu vergrößern, um Luft ansaugen zu können. Tränen flossen wieder aus meinen Augen. Mein Körper zitterte panisch, um den Fesseln an Hand- und Fußgelenken zu entkommen, die aber nicht nachgaben und weder Sauerstoff noch die Hoffnung auf Flucht gaben. Meine Finger kratzen am Tisch, bis sie anfingen zu bluten. Ich wand mich hin und her und mein Blick fiel auf Chris, der mich nun verzweifelt ansah. Am liebsten hätte ich ihn laut angeschrien, damit er mir sagen konnte, was nun geschah, aber ich konnte nicht. Mein Leben entglitt mir mit jeder Sekunde.

„So, du kannst atmen“, sagte das Monster.

Mit einem Atemzug plötzlich gelangte Luft in meine Lungen. Aber anstatt, dass es gut tat, schmerzte es einfach nur. Noch mehr Tränen verließen meine Augenwinkel und flossen in Sturzbächen an meinen Seiten hinunter.

Meine Verzweiflung war jedoch keinesfalls weg. Sie würde nicht verschwinden, solange ich noch bei diesem Monster gefangen blieb.

Die Luft brannte nur noch und ich keuchte, hustete. Ich hatte keine Kraft mehr, wollte und musste nun in den Schlaf gleiten, aber ich konnte nicht. Es war, als ob mich des Monsters Worte noch wach hielten.

„Gute Nacht, Prinzessin“, sagte er plötzlich. Und endlich glitt ich in die lang erwartete Verheißung der Bewusstlosigkeit.

5. Kapitel

 

Ich wachte wieder in meiner Zelle auf. Die Ereignisse stürzten auf mich ein und ich hatte erneut Lust, einfach drauf los zu heulen. Aber ich tat es nicht. Zwar wollte ich es und ich versuchte es auch, aber es war, als ob das Monster mit der Folter all meine Kraft bereits ausgeschöpft hatte.

Ich hustete noch etwas, bevor ich mich aufrichtete. Meine Lungen schmerzten noch immer von ihrem Entzug der Luft. Doch was mich am meisten im Moment aufregte, waren meine Fingernägel. Sie waren einmal so schön gewesen und nun waren sie blutverkrustet und beinahe ganz abgebrochen. Ich stockte wieder kurz, als mir auffiel, dass ich mich an meine Fingernägel vor meiner Gefangenschaft erinnern konnte. Beinahe hätte ich deswegen gelächelt.

Ich stöhnte wieder. Irgendwann entschied ich mich, zu Chris zu gehen. Zu viele Fragen schwirrten mir im Kopf herum und die mussten dringend beantwortet werden. Das wichtigste war nur, in einer seinen guten Launen zu gelangen und ihn mit meiner Fragerei nicht zu nerven, denn sonst würde er mit mir gar nicht reden. Dabei war Reden gar nicht so schwer, aber er stellte sich wie immer total kindisch an.

Ich robbte an das Gitter, das uns trennte. „Hey. Bist du grade in Plauderlaune oder muss ich mich mal wieder mit deiner Schweigsamkeit begnügen?“ Ich fühlte mich nicht mal halb so gut, wie ich rüberkam. Aber irgendwie musste ich seine Laune ja herzaubern. Ob es mir damit auch gelang?

„Mhm“, brummte es aus Chris' Zelle.

So wie es aussah, brauchte es mehr, um ihn zum Reden zu bringen. Ich schaute ihn mir genauer an. Zum ersten Mal saß er anders, als er es sonst immer getan hatte. Seine Beine waren ausgestreckt und er hatte seine Arme hinter seinen Kopf gelegt. So sah er eigentlich ziemlich entspannt. Ich konnte mich nicht erinnern, ihn je entspannt gesehen zu haben.

Die Worte sprudelten aus meinem Mund, bevor ich sie aufhalten konnte. „Wieso habe ich eigentlich nie Hunger?“ Und somit war das Maximum der Anzahl meiner Fragen, die ich ihm noch stellen konnte, drastisch verkürzt. Ich hatte sie unüberlegt verspielt.

„Sie flößen dir, wenn du schläfst, per Infusion Nährstoffe ein.“

Das ich überhaupt eine Antwort erhalten hatte, verblüffte mich. Das sah man mir wohl an, denn plötzlich lächelte Chris. Aber es verschwand genau so schnell wie es gekommen war.

„Ist dir klar, dass die Situation vielleicht nur halb so schlimm wäre, wenn du mit mir reden würdest?“, fragte ich ihn, erwartete aber keine Antwort. Es kam sowieso keine. „Wir könnten miteinander reden und wären dann nicht so einsam.“ Ich fügte noch leise hinzu: „Wenn du wenigstens reden würdest.“

Auch hierzu antwortete er nicht. Nicht, dass ich etwas Anderes erwartet hatte, aber gehofft hatte ich es wenigstens. „Ich weiß, du wirst sowieso nicht antworten“, begann ich zu reden, ohne wirklich zu erwarten, dass er überhaupt antwortete, „aus einem unverständlichen und wahrscheinlich idiotischen Grund; aber ich wünschte, ich würde wissen, wie das Monster es wirklich geschafft, mich dazu zubringen, die Luft anzuhalten. Ich meine, das grenzt doch am Rande der Unmöglichkeit! Und ich hab auch wirklich mehrmals versucht, Luft zu holen, aber es ging nicht! Er hat mich ja nicht mal angefasst. Er hat nur gesagt, ich solle meinen Atem anhalten und dann habe ich es auch wirklich getan, obwohl ich es gar nicht wollte! Und dann...“

Hier merkte ich, dass ich entweder Jemanden zum Reden oder einen Psychiater brauchte. Und da mir dieser gewisse Jemand nicht antwortete, war Chris in dieser Rolle eigentlich perfekt. Über die Tatsache, dass er mir nicht mal zuhörte, sah ich hinweg. Aber wahrscheinlich war es trotzdem nicht gut, ihm meine ganzen Sorgen und Gedanken anzuvertrauen. Ich hatte schon längst meine Vorstellung davon verworfen, dass wir mal ein Paar gewesen waren. Vielleicht waren wir mal einer dieser Fake-Freunde gewesen, die zwar Zeit miteinander verbracht hatten, aber für einander nichts tun würden – denn so wirkte meiner Meinung nach Chris mir gegenüber.

„Eigentlich kann und will ich nicht hinsehen“, sagte Chris plötzlich in die kurze Stille hinein, die sich zwischen uns gebildet hatte.

Erschrocken zuckte ich zusammen. Ich hatte wirklich nicht damit gerechnet, dass er irgendetwas sagen würde. Und dann sagte er auch noch so etwas. Bis ich begriff, dass er damit meinte, dass er es nicht mochte, zuzusehen, wie ich gefoltert wurde, dauerte auch nur deswegen so lange, weil ich von der Tatsache, das er etwas gesagt hatte, verblüfft war.

„Dann sieh doch einfach nicht hin“, antwortete ich.

„Und genau das kann ich aus demselben Grund nicht, aus dem du dich fast selbst erstickt hast.“ Damit lies er mich weiter in Ungewissheit stehen.

Zuerst war ich völlig verwirrt. Eigentlich hatte das eine mit dem anderen nichts gemein. Wenn er nicht hingucken wollte, musste er es auch nicht. Er konnte seine Augen schließen und es einfach nur im Hintergrund abspielen lassen. Ich wünschte, dass würde ich auch können.

Aber dass ich selbst keine Luft mehr holen konnte, hatte doch nicht im Geringsten mit seinem kleinen Problem zu tun. Ich hatte auch nur deswegen keine Luft mehr holen können, weil... Ach, das war echt seltsam gewesen. Das verdammte Monster hatte mich gezwungen in seine Augen zu schauen und ich hatte sogar für einen kurzen Moment die Umgebung nicht mehr so scharf wahrgenommen. Und dann hatte er mir gesagt, was ich tun sollte; dass ich die Luft anhalten sollte – und mein Körper hatte es tatsächlich getan, obwohl ich mein Verstand sich haarsträubend dagegen gewehrt hatte.

Also womit hatte das denn damit zu tun, dass Chris mir bei der Folter zu sah, auch wenn er es nicht wollte?

Langsam setzten sich die Puzzleteile zusammen und ich vermutete, dass das hinterlistige Monster bei uns beiden wohl irgendeine Art Zwang eingesetzt haben musste, um mich selbst ersticken zu lassen und um Chris zu zwingen, mir bei meiner Folter zuzuschauen. Abgesehen davon, dass ich wusste, dass das Monster ein Psychopath war, wusste ich dazu nun auch, dass er wohl Hypnose einsetzen konnte.

Was ihn noch gefährlicher machte.

Vielleicht waren die Schmerzen ja gar nicht real und vielleicht war auch die Heilung durch Chris' Blut nicht echt gewesen. Ein Schauder lief mir über den Rücken und ich schüttelte mich.

Chris sagte nun, wie erwartet, gar nichts mehr und verfiel in seine Starre. Ich hasste es, wenn er das machte.

Es musste wohl einen Sinn haben, dass das Monster Chris dazu zwang, zuzusehen. Theoretisch könnte es ihm auch egal sein, so lange Chris mich auch nur schreien und heulen hörte. Aber er wollte seine Arbeit wohl ganz besonders gründlich machen – die Arbeit als gefährlicher Psychopath.

Ich wollte wieder mit Chris reden, aber irgendwie war mir schon die Lust vergangen. Er würde mir nicht zu hören und selbst wenn, würde er garantiert nicht antworten. Erschöpft lehnte ich mich an die Gefängnismauer.

Es war einfach unglaublich, dass dieses Monster wirklich Hypnose einsetzen konnte – oder was auch immer es auch war. Erst hatte er mich gezwungen, nicht das Bewusstsein zu verlieren, dann sollte ich mich selbst ersticken. Und dafür hatte er mir nur eindringlich in die Augen schauen müssen.

Ich wollte das auch können. Denn dann hätte ich schon längst ihn dazu gezwungen, für mich Flickflack zu machen und sich dann einen Abgrund hinunterzustürzen. Oder irgendetwas anders.

Das Beste war aber auch, dass er mir wohl nicht zutraute, zu essen. Wieso sonst flößte er mir das Essen per Infusion ein? Wer wusste schon, ob ich mit einer Gabel nicht versuchen würde, mich umzubringen und ihnen schneller davon kam, als ihnen lieb war?

Ich suchte meine Haut nach Einstichstellen von der Infusion ab, aber ich fand keine. Konnte es sein, dass Chris mich darüber vielleicht angelogen hatte?

Na ja. Auch wenn, dann sollte es mir egal sein. Ich hatte keinen Hunger. Und wenn ich hier rauskommen wollte, brauchte ich ihn nicht als Last. Und ich würde schon irgendwann rauskommen. Ich hatte zwar nicht die geringste Ahnung, wie, aber irgendwann würde ich es doch schaffen müssen.

Es überraschte mich selbst, wie viel Optimismus in mir steckte. Vielleicht würde er auch irgendwann vergehen, wenn ich lange genug gefoltert wurde und nur noch ein Wrack war – ein Wunder, dass das noch nicht geschehen war –, aber noch hatte ich reale Hoffnung, dass ich es raus schaffen konnte.

Schon gleich schaute ich nach irgendwelchen Fluchtmöglichkeiten. Die Gitter sahen zu stabil aus, um gebrochen zu werden. Die Wände sahen auch nicht weniger zerbrechlich aus, dafür waren die grauen Betonwände viel zu dick. Sonst gab es ja nicht wirklich mehr im Raum, dass mir zur Flucht verhelfen konnte. Okay, dann gab es im Moment keine Möglichkeit zu fliehen. Aber irgendwann musste sie sie mir ja gegeben werden. Das war die einzige Hoffnung, an die ich mich überhaupt klammern konnte. Eine Hoffnung, so stabil wie ein Strohhalm.

6. Kapitel

 

Ich wachte auf und bemerkte mich an die Wand lehnen. Ich musste wohl beim Nachdenken eingeschlafen sein.

Es war für mich ein Schock, als ich merkte, dass ich nicht wieder das Monster vor mir sah und in seinem Folterzimmer lag. Ein erfreulicher Schock natürlich.

Dieses Mal hatte ich nichts geträumt. Oder vielleicht hatte ich es doch, aber ich hatte es vergessen und es war keine Erinnerung gewesen.

Enttäuschung machte sich in mir breit. Denn wenn ich von keinen Erinnerungen mehr träumen konnte, dann konnte ich auch nichts mehr über meine Vergangenheit erfahren.

Hoffend, dass ich das nächste Mal wieder eine Erinnerung träumen konnte, lehnte ich mich wieder zurück und schloss die Augen. Aber der Schlaf war davon gewichen und ich konnte nicht mehr einschlafen.

Ich seufzte und versuchte, mich gemütlich auf den Boden zu legen. Ein widerlicher Geruch schoss mir in die Nase und ich richtete mich wieder auf. Es dauerte eine Weile, bis ich bemerkte, dass es nicht der Boden war, der stank – sondern ich.

Ich war auch nicht mehr in der besten Verfassung. Abgesehen davon, dass der stinkende Schweiß an mir haftete, vom Angst und Schmerz getränkt, war ich auch noch überdeckt von verkrustetem Blut. Es gab kaum blutfreie Stellen an meinem Körper. Selbst meine Kleidung war schwer davon.

Mit einigen Mühen schaffte ich es, die lange Hose auszuziehen und sie vom mir wegzuwerfen. So fühlte es sich schon viel besser an. Aber da es aber nicht gerade warm war, fröstelte ich etwas. Ich zog die Beine an mich.

Mein Top hing mir auch verschlissen und locker an dem Schulten. Das Loch in Bauchhöhe mit extra viel verkrustetem Blut drum herum machte das Halloween-Kostüm perfekt.

Mein Optimismus über meine geplante Flucht war nun halb so groß. Wahrscheinlich würde ich hier niemals rauskommen. Ich bezweifelte, dass das Monster mir irgendwelche Fluchtmöglichkeiten gewähren würde, wenn auch unabsichtlich.

Ob ich seine Folter dann psychisch lange aushalten konnte?

Am liebsten hätte ich meinen Kopf gegen die Wand geschlagen.

 

Ich spielte mit meiner besten Freundin im Park. Das Wetter war regnerisch, aber das machte uns beiden nichts aus. Im Gegenteil, es könnte nicht schöner sein.

Es war abgesehen von uns kein anderes Kind draußen und der ganze Spielplatz war leer, die Wiese des Parks frei von Liegematten. Glücklich rannten wir beide über die nasse Wiese. Die goldenen Löckchen klebten meiner Freundin nun nass im Gesicht und auch mir ging es nicht besser. Als wir uns ins nasse Gras warfen, lachten wir beide gleichzeitig los.

Plötzlich ertönte von irgendwo die wütende Stimme meiner Mutter und wir rissen beide ängstlich die Augen auf.

„Jetzt kommt sofort her!“, rief sie laut und dann lachten wir beide los.

Schimpfend kam unsere Mutter durch den Sprühregen zu uns rüber und zog uns hektisch nach Hause.

Während der Rest der Erinnerung langsam verblasste, schien ich mich daran zu erinnern, dass wir zu Hause in tausend Decken gewickelt wurden, da wir so sehr gezittert hatten. Trotzdem waren wir ein paar Tage danach krank geworden, sind aber dann gemeinsam nebeneinander im Bett gelegen und hatten zusammen Fernsehen geschaut.

Plötzlich mit einem Augenschlag befand ich mich zu Hause; aber schon als Erwachsene in meiner eigenen Wohnung.

Hektisch sprang ich hin und her und richtete mich. Mein träumendes Ich stand nun abseits und beobachtete die Situation verwirrt. Ich verstand nicht, was mich so zappelig machte und lachte meine scheinbare Unbeholfenheit beinahe aus.

Plötzlich zog mein jüngeres Ich mich in sich auf und ich befand mich auf einmal in ihr. Ich war sie. Tausend Gedanken schwirrten durch meinen Kopf.

Gott, es konnte doch nicht sein, dass ich nichts zum Anziehen fand! Alles, was ich hatte, war nicht mehr so schön, wie es mal gewesen war und passte nicht zum Anlass.

Wenn man aber den Anlass bedachte, war dieser recht lächerlich. Und grenzte an Stalking. Aber es war kein Stalking gewesen, sondern eher nur Zufall, dass ich gehört hatte, dass Chris heute zu Thomas kommen wollte. Thomas war nun vor einer Woche in die Wohnung mir gegenüber gezogen und nun ja, er war ein ziemlich netter, aber auch ein unglaublich laut redender Kerl – der Grund, wieso ich nun wusste, dass Chris, sein Freund, heute zu ihm kommen wollte, damit sie zusammen mit ein paar anderen in eine Bar gehen konnten.

Ich hatte mit Chris bisher noch nicht direkt gesprochen, aber er war so unglaublich heiß! Und seine Ausstrahlung war einfach nur... wow! Und ich musste ihn einfach nur kennenlernen ... und für mich gewinnen. Musste es einfach tun. Begegnet war ich ihm ja bei Thomas' Umzug und schon da hatte er mich umgehauen.

Und, na ja, nun hatte ich vor ihm zu begegnen, wenn er sich auf dem Weg zu Thomas machte. Selbst wenn wir kein Gespräch anfangen würden, konnte er wenigstens einen Blick auf mein umwerfendes Ich werfen. (Oder eher das umwerfende Ich, das ich versuchte aus mir zu zaubern, was mir leider aufgrund fehlender Zeit und Kleidung nicht so gut gelang.)

Da er immer pünktlich war (ja, um das zu wissen, musste ich wirklich stalken), wusste ich, dass er genau um sieben Uhr, wie abgemacht, kommen würde; der Rest war glücklicherweise unpünktlich wie die Polizei in Amerika. Also würde ich wirklich nur Chris begegnen.

Verdammt, ich hatte nur noch zwei Minuten! Und ich musste auch noch meine Wimperntusche auftragen!

Schlussendlich zog ich doch das Outfit an, das ich mir gleich am Anfang zurechtgelegt hatte und tuschte noch schnell meine Wimpern, bevor ich aus der Tür schoss und die Treppen runter sprintete. Und erst als ich die Tür unten zuzog, merkte ich, dass ich eigentlich gar nicht geplant hatte, runterzugehen, sondern eigentlich ihm oben „zufällig“ entgegen laufen wollte. Bevor ich mir den Kopf gegen die Wand schlagen konnte, zog ich schnell meine Schlüssel wieder hervor und öffnete die Tür.

Plötzlich kam Chris um die Ecke geschlendert. Beinahe erstarrte ich, als ich ihn sah.

„Oh, hey!“, sagte er, als er mich bemerkte, und grinste.

Ich zwang mich dazu, nicht aufgeregt zu wirken. „Hey!“ Verführerisch grinste ich ihn. Immerhin versuchte ich es, aber vielleicht guckte ich ihn nur verliebt an.

„Woher kommst du denn?", fragte er.

„Ich, ähm...“ Zehntausend mögliche Antworten fielen mir dazu ein, aber ich nahm die erste. „Ich war einfach nur spazieren. Hatte nichts zu tun.“

„Ach so. Aber dir ist schon klar, was sie mit schönen Mädchen wie dir nachts in so einem Viertel so machen?“

Ich errötete. „Mit so schönen Mädchen wie mir?“, fragte ich dumm. Und endlich hatte ich es geschafft die Haustüre zu öffnen.

„Klar doch. Ich meine, du würdest auch in einem Müllsack gut aussehen, aber in diesem Outfit solltest du auf keinen Fall hier abends herumspazieren.“

Wir stiegen zusammen die Treppen hoch. Er hatte also mein Outfit bemerkt. Also hatte es sich vielleicht doch gelohnt, was Schönes anzuziehen.

„Wieso? Denkst du, die Kleidung ist wirklich zu freizügig?“ Ich schaute an mir runter. Eigentlich war meine Hotpants das Einzige, das vielleicht zu viel Haut zeigte. Was ich auch mit Absicht so gewollt hatte, denn ich hatte schöne Beine – vor fünfzehn Minuten frisch rasiert (und vor Hektik geschnitten).

Chris schaute charmant grinsend auf mich runter und blieb zwei Stufen über mir stehen. „Wie gesagt, du würdest selbst in einem Müllsack gut aussehen. Aber wenn du dich doch für etwas Anderes entscheidest: Es steht dir unglaublich gut!“ Dann lief er weiter die Treppen hoch und lies mich seinen knackigen Hintern betrachten. Gott, konnte dieser Mann flirten.

Lächelnd folgte ich ihm. „Und du gehst...?“, fragte ich ihn, unschuldig und scheinbar unwissend.

„Zu Thomas“, antwortete er. „Wir wollten noch was Trinken zur Feier des Umzugs.“

Plötzlich blieb er stehen. „Hey, denkst du, du willst mitkommen?“

Diesmal grinste ich ihn charmant an und antwortete: „Ich denke schon, dass ich will. Aber darf ich denn auch?“

Chris grinste zurück. Mir wurde heiß und ich schmolz nur so dahin. „Wenn du schon so fragst. Klar doch.“

Mein Grinsen wurde breiter und ich lief vor ihm die restlichen Stufen bis zu unserem Stockwerk schnell hinauf.

„Gut. Ich geh dann noch schnell nach Hause, mich frisch machen und so. Aber ich komm dann noch vorbei. Und sag Bescheid, wenn du es dir doch anders überlegst.“

Sein Grinsen wurde verführerisch. „Oh, ich glaube nicht, dass ich es mir anders überlege.“

Ich lachte und mein Mundwinkel gingen mir über beide Ohren. Während ich in meine Wohnung ging, Thomas Chris die Tür öffnete und mir freundlich zuwinkte, verblasste der Rest der Erinnerung und alles wurde schwarz.

 

Ich öffnete meine Augen.

Die Decke über meinem Kopf hatte ich noch nie gesehen.

Sie gehörte weder meiner Zelle noch dem Folterraum; und ganz sicher entsprang sie nicht aus meinen Träumen oder Erinnerungen.

Ich blickte zur Seite. Der Raum, in dem ich mich befand, war ein ziemlich großer. Was auch kein Wunder war, ich befand mich gefesselt auf einem Tisch mitten in einer Kirche. Ganz vorne stand ein steinerner, alt aussehender Altar, gefolgt von mehreren vergilbten Holzbänken. Das Monster stand an seiner gewohnten Stelle mit ein paar Messern in den Jackentasche neben mir und Chris irgendwo gefesselt in einiger Entfernung.

„Wie gesagt“, begann das Monster zu reden, „meinen Ohren tut dein Geschreie auch nicht so besonders gut. Zwar mag ich den schmerzhaften Klang davon, aber dieses Klingeln in den Ohren danach könnte ich mir sparen.“ Er holte tief Luft und grinste mich dann an. "Hier verliert sich dein Schrei prima in dem weiten Raum. Er klingt dann wirklich nur halb so laut, aber doppelt so verzweifelt. Toll, nicht?“

Ja, klar, sehr toll.

Sein Grinsen wurde breit. Es war einfach schrecklich, wie sehr ihn meine Schmerzen freuten.

Was hatte ich ihm nur angetan, dass er mich leiden sehen wollte?

Und was hatte das mit Chris zu tun? Wieso musste er dabei unbedingt zusehen?

In meinen vorhandenen Erinnerungen gab es zu all dem keine Anhaltspunkte und bevor ich mir was zusammensetzen konnte, fuhr ich zusammen. Das Monster fuhr mich das Messer über meinen Bauch.

Noch nie hatte ich eine solche Angst davor gehabt, aber seit er mir ein Messer in den Bauch gerammt hatte, war das meine empfindliche Stelle. Und das wusste das verdammte Monster wohl. Ich biss die Zähne zusammen, aber das Wimmern konnte ich trotzdem nicht unterdrücken.

Er schob mir mein ohnehin zu nichts mehr nützliches Oberteil nach oben und seine Finger fuhren dabei über meine Haut. Ich erschauderte vor Ekel. Diese Berührungen waren beinahe schlimmer als die Messer.

„Ich könnte dich jetzt so leicht umbringen“, sagte er und hielt das Messer direkt vor meinem Herz. „Ein Stoß, ein kurzer Schrei und das wär's!“ Er schaute rüber zu Chris. „Was hältst du davon?“

Chris zerrte an seinen Fesseln, hätte um sich mit Wörtern geworfen, geschrien und gebrüllt – aber so wie es aussah, war er dazu gezwungen nichts zu sagen.

„Gut, da du nichts sagst und von daher nichts dagegen sagst, mach ich es dann.“

„Nein!“, rief ich verzweifelt. „Bitte, nicht!“

Aber er schlug nur nach mir wie nach einer lästigen Fliege. „Psst!“

Dann sprach mit Chris weiter. „Aber was wäre ich denn für ein Monster, wenn ich deine kleine Freundin umbringen würde, bevor ihr euch noch ein letztes Mal miteinander unterhalten könntet? Bevor du sie noch ein letztes Mal im Arm halten könntest. Das wäre doch total unmenschlich!“

Beinahe hätte ich aufgrund der Ironie gelacht.

Das Monster tat plötzlich, als er ob eine Erleuchtung bekommen hatte. „Oh. Es wäre ja unmenschlich. Dann passt es ja perfekt zu mir!“ Er holte mit dem Messer etwas aus, um seine Hand dann heruntersausen zu lassen.

Ich schluchzte laut auf. Tränen liefen mir über die Schläfen. „Nein.“ Es war nur noch ein Wimmern.

Ich spürte die Klinge in mein Fleisch einschneiden und schrie laut auf.

Es war vorbei.

Ich wusste nicht mal mehr, wie mein Leben mal gewesen war und musste nun in Unwissenheit sterben.

Das Messer fuhr immer tiefer und der Schmerz wurde immer größer. Aber es würde ja sowieso bald aufhören.

Ich spürte, wie die Klinge gegen irgendwas stieß. Gegen den Tisch unter mir.

Das Monster zog die Hand vom Messer und ging ein paar Schritte zurück.

Wieso bin ich noch am Bewusstsein?

Die Klinge in meinem Herz schmerzte schrecklich. Ich konnte mich weder bewegen noch konnte ich atmen, obwohl genau das mein Körper von mir verlangte.

Ein Schrei lies mich zusammenzucken und gleich darauf aufheulen. Chris brüllte aus vollem Hals.

„Ich habe gedacht, ich hätte dich zum Schweigen manipuliert“, sagte das Monster und ging auf ihn zu.

Aus verschleiertem Blick sah ich wie Chris ihn aus wutverzerrten Augen anstarrte und ihn weiter anbrüllte. „Du Arschloch! Du hast sie umgebracht!“ Er zerrte weiter wütend an seinen Fesseln, unter denen manchmal die verbrannte Haut zum Vorschein kam.

Wahrscheinlich sah er wohl nicht, dass ich noch atmete. Leider, leider atmete ich noch. Ich wollte, dass dieser Schmerz endlich aufhörte.

Das Monster lehnte sich bedrohlich zu Chris' Gesicht und raunte ihm zu: „Jetzt weißt du, wie sich das anfühlt.“

Als ich tief Luft holen musste, schnitt das Messer weiter in mich rein. Ich heulte los und wurde dann von Hustenanfälle geschüttelt. Es wurde immer schlimmer. Bald würde es vorbei sein.

Chris schaute geschockt zu mir rüber, als er mich hörte und bemerkte, dass ich doch nicht tot war. Seine Augen wurden groß und glasig. Er hörte auf, wütend an den Fesseln zerren.

Das Monster redete nun in einem Plauderton weiter, während ich weiter im Hintergrund sterbende Geräusche von mir gab. „Außerdem habe ich sowieso daneben gestochen, nicht ins Herz. Aufmerksamkeit ist wohl nicht gerade dein Stärke, was? Aber sie wird wahrscheinlich verbluten, wenn ich ihr das Messer raus ziehe.“

Bedrohlich lief er auf mich zu und beinahe bettelte ich ihn dafür an, mir endlich den Rest zu geben. „Aber wo bleibt dann der Spaß, wenn ich sie nun umbringe?“ Somit holte das Monster von irgendwo etwas Blut und goss es mir über die Brust, während er vorsichtig das Messer herauszog.

Das Blut in meiner Wunde brannte wie immer höllisch, während es mich heilte. Was dann geschah, erfuhr ich nicht mehr, denn danach war einfach alles schwarz.

7. Kapitel

 

Chris packte mich an der Hüfte und drückte mich an die Wand. Ich keuchte.

Seine Lippen trennten sich nicht mehr von meinen, sondern drückten sich nur noch stärker an mich. Und plötzlich glitten sie tiefer.

Ich atmete schwer. Fühlte mich, als ob mein gesamtes Leben nur noch an Chris hängen würde. Und ihm würde ich garantiert mein Leben anvertrauen.

Seine Lippen krachten wieder auf meine und verschlangen mich. Begierig biss ich ihm in die Lippe und leckte dann wieder drüber, um den Schmerz zu lindern. Ich wollte ihn. Hier und jetzt und für immer. Noch nie in meinem Leben hatte ich etwas so sehr gewollt.

Er ging etwas von mir weg und zog sich sein T-Shirt aus. Gierig sog ich diesen Anblick auf. Es war, als ob ich auf einen Gott ansehen würde. Seine Muskeln waren perfekt definiert und glänzten in diesem dunklen Schein des Lichts. Dieser Gott war durch und durch perfekt. Und in diesem Moment gehörte er nur mir.

Mit großen, begierigen Augen schaute er mich nun an. Ich legte meine Hand um sein Gesicht und zog ihn zu mir runter. Grinsend beugte er sich wieder zu meinen Lippen.

 

Ich schrak hoch. Mein Atem ging immer noch schwer.

Und ich war erregt.

Mit nassgeschwitzten Händen fuhr ich mir übers Gesicht, um meinen Puls etwas zu beruhigen.

Ich war wieder in meiner Zelle. Und wie immer war von meinen Verletzungen nichts mehr zu sehen.

Ich zuckte zusammen, als ich merkte, dass ich außer meiner Unterwäsche fast nichts mehr anhatte. Meine Hose lag zwar noch da, wo ich sie in die Ecke der Zelle geworfen hatte, aber von meinem Oberteil war keine Spur. Es war aber auch, so gesehen, zerrissen und blutgetränkt zu nichts zu gebrauchen gewesen.

Immer noch mit laut schlagendem Herzen richtete ich von der Holzliege auf und lugte zu Chris' Zelle.

War es wirklich eine Erinnerung gewesen oder was es einfach nur ein Traum ... eine Fantasie?

Nein, so schlimm stand es mit mir auch nicht. Ich träumte nicht von ihm und mir, während wir es heiß zugehen ließen. Also konnte es wirklich nur eine Erinnerung gewesen sein.

Meine Vermutung, dass zwischen uns nichts als Freundschaft gewesen war, war nun komplett vergessen. Trotzdem konnte ich nicht verstehen, wieso er zu mir dann so abweisend war wie zu einer Fremden. Vielleicht also war das zwischen uns mal eine Affäre gewesen.

Ich musste plötzlich wieder daran zurückdenken, wie erschrocken und wütend Chris gewesen war, als er gedacht hatte, ich wäre gestorben. Wie sehr er gebrüllt hatte; als würde sein eigenes Leben davon abhängen. Und dann dachte ich an die Worte des Monsters. Nachdem Chris gedacht hatte, ich wäre gestorben, hatte er ihm zugeraunt, dass Chris nun endlich wissen würde, wie sich das anfühlte.

War von dem Monster also auch irgendjemand gestorben? Doch was hatte das mit mir zu tun? Und war er wirklich auf Rache aus?

Bevor mein Kopf so sehr schwirrte, dass ich Kopfschmerzen bekam, rutschte ich wieder rüber zu dem Gitter, um Chris zu sehen. Ich wusste nicht, wieso ich es überhaupt tat, aber es fühlte sich irgendwie gut an, ihn zu sehen. Eine Art Vertrautheit machte sich dann in mir breit und das war die einzige Möglichkeit, wie ich dieses Gefühl in meiner Gefangenschaft spüren konnte.

Als ich aber durch das Gitter spickte, sag ich, dass Chris schlief. Gerade der Mann, von dem ich gedacht hatte, er würde nie schlafen. Das kam wirklich unerwartet. Er wirkte nämlich immer zu sehr unter Anspannung dafür. Selbst im Schlaf sah er angespannt aus. Aber so sah ich wahrscheinlich auch aus. Man konnte einfach nicht ruhig schlafen, wenn man wusste, was Schlimmes einen erwartete.

Während ich ihm beim Schlafen beobachtete, merkte ich, wie das Gefühl meiner Erinnerung wieder hochkam und ich fing an zu schwitzen. Noch nie hatte ich so etwas ihm gegenüber empfunden, aber nach diesem Traum fühlte ich mich ganz anders. Ich wusste nicht, was die Situation an sich veränderte, aber es verwirrte mich doch. Auch wenn sein Oberkörper blutbefleckt war, konnte man trotzdem deutlich seine Muskeln sehen und ich musste mich beherrschen, nicht anzufangen zu sabbern. Dass er auch noch im meine Richtung gewendet lag, machte die Situation nicht besser. Unwillkürlich musste ich an die eben geträumte Erinnerung denken.

Wie er auf mich an die Wand gedrückt hatte. Mich geküsst hatte. Und wie er sich sein T-Shirt ausgezogen und vor mir gestanden hatte wie ein Gott.

Ich musste mich wirklich ablenken, bevor Sabber aus meinem Mundwinkel fließen konnte. Also drehte ich mich als Erstes zurück in die Mitte meiner Zelle. Musste einfach an etwas Anderes denken, bevor ich wegen Chris durchdrehte. Und erst als ich erschöpft von vier Liegestützen auf den Boden zusammenbrach, merkte ich was ich eigentlich machte. Und wusste gleich, dass das eine gute Idee war. Es gab keine bessere Ablenkung als Sport und stinken tat ich sowieso, also machte das bisschen Schweiß keinen Unterschied. Dazu konnte ich auch noch trainieren.

Ich fing an, auf der Stelle zu laufen. Plötzlich kam mir die Grund, Sport zu machen, ganz logisch vor. Ich bereite mich für meine Flucht vor. Und wenn ich fit genug war und wirklich jeden Tag trainierte, konnte ich von hier wirklich entkommen.

Ich grinste breit und stellte mir jetzt bereits meine Freiheit vor. Aber dann kam mir wieder Chris in den Sinn.

Konnte ich wirklich ohne ihn fliehen?

Eigentlich konnte ich es keinem wünschen, hier länger als eine Sekunde zu verbringen – und irgendwie erst recht nicht Chris. Dabei hatte es gar keinen Sinn, ihn mitzunehmen. Er würde es sicher auch nicht für mich tun und alle beide konnten wir es sowieso nicht hinausschaffen.

Aber vielleicht konnten wir es eben auch nur gemeinsam schaffen, zu entkommen?

 

Als ich wieder aufwachte und sah, dass ich noch in meiner Zelle war und nicht wieder auf dem Foltertisch, richtete ich mich sofort auf, um wieder weiter Sport zu machen. Doch als ich aufstand, überwältigte mich den Muskelkater. Ich schrie auf und stürzte aus Überraschung auf den Boden. „Ach, scheiße!“

Lautes Gepolter kam plötzlich aus der Zelle neben mir. Chris stürzte an das Gitter und sah mich an. „Was ist passiert?“, fragte er mit fragenden, aufgerissenen Augen.

Ich richtete mich vorsichtig vom Boden auf und meine Wangen wurden glühend heiß. „Nichts. Ich bin gestolpert.“

„Gott!“, rief er, atmete aber hörbar aus. „Und ich hab gedacht, es ist irgendetwas Schlimmes passiert.“ Kurz schaute er über meinen beinahe nackten Körper. Und damit lehnte er sich wieder zurück und dann war er schon nicht mehr hinter der Betonwand zu sehen.

Als ich mich von der Verlegenheit erholt hatte, stöhnte ich. Und zwar vor Enttäuschung, denn ich hatte damit mein tägliches Redevolumen mit Chris verbraucht.

Trotzdem rutschte ich zu ihm rüber, um mein Glück bei ihm zu versuchen.

Ich wollte irgendetwas sagen, dass eine gute Einführung für ein Gespräch wäre, dass ihn irgendwie zum Reden bringen würde. Aber mir fiel einfach nichts ein. Als ich durch das Gitter lugte, sah ich ihn nicht. Also musste er wohl an die Wand gelehnt sein. Ich tat es ihm gleich und stöhnte.

„Ich kann mich wieder erinnern. Okay, also nicht an alles, so gesehen an nichts, aber es ist immer noch so viel. Und ich muss es alles verarbeiten.“ Mein Kopf drehte sich zur Seite. „Und an meine Eltern erinnere ich mich. Aber ich habe keine Ahnung, wo sie jetzt sind und das zerfrisst mich. Sie vermissen mich jetzt wahrscheinlich total.“ Ich machte eine kurze Pause. „Kennst du meine Eltern?“ Da ich keine Antwort erwartete und bekam, schüttelte ich einfach den Kopf über meine Dummheit, ihn überhaupt gefragt zu haben. „Ich wünschte, ich könnte mich an mehr erinnern. Nein, an alles. Es ist doch einfach schrecklich, sich an so gut wie gar nichts erinnern zu können.“

Danach war es einfach still. Ich hörte nicht mal seinen Atem.

„So wie es aussieht, zerstört mein Blut die Barriere, die Winthir über deine Erinnerungen erstellt hat.“ Plötzlich hatte Chris doch etwas gesagt und ich zuckte erschrocken zusammen, als er die Stille brach. „Pass aber auf, dass er davon bloß nichts erfährt.“

Ich erstarrte. Nichts von dem, was er mir gesagt hatte, verstand ich. Ich versuchte, das alles nochmal zusammenzufassen.

Das Monster, das wohl Winthir hieß, hatte mir meine Erinnerungen genommen. Na ja, nicht direkt genommen, aber eine Barriere davor gestellt – und zwar wie auch immer er es geschafft hatte.Aber als ich länger überlegte, wurde mir aber auch klar, wie das Monster das gemacht hatte. Nämlich mit seiner Hypnose oder Manipulation oder was auch er anstellte, wenn er mir in die Augen schaute und dazu etwas befahl. Und diese Manipulation musste Chris' Meinung nach wohl verblassen, weil ich sein Blut in mir hatte (das mich auch noch komischerweise heilen konnte).

Aber dieselbe Frage stellte sich nun wieder: Was war an Chris Blut so besonders? Wieso konnte es heilen und Manipulationen sogar überwinden?

Es kurierte mich sowie Chris in Sekundenschnelle von den Messerstichen; und den scheinbar unüberwindbaren Zwang des Monsters hatte nicht nur Chris besiegen können, als er trotz Zwang bei meiner Folter angefangen hatte zu brüllen. Auch ich bekam Stück für Stück die Erinnerungen zurück, trotz Sperre.

Und so wie es aussah, wusste das Scheusal nicht, das Chris Blut auch bei mir gegen seine Hypnose wirkte. Und er durfte es auch weiterhin nicht erfahren, niemals, sonst würde er mir wieder alles nehmen.

Außerdem war die Vorstellung einfach nur befreiend, dass er doch nicht die komplette Kontrolle über uns hatte.

 

Ich träumte wieder von meinen Eltern. Oder erinnerte mich wieder an sie.

Ich war schon etwas älter als in den anderen Träumen. Ich wusste nicht genau, wie alt, aber mein außenstehendes beobachtendes Ich sah einen pickeligen Teenager mit glänzenden langen Haaren, der gerade meine Eltern wütend schrie. Sauer brüllten sie zurück. Das Thema des Streites konnte ich nicht verstehen, ich hörte nur unser Brüllen, keine Worte. Und obwohl es nur eine Erinnerung war, die ich träumte, klingelten meine Ohren vom Geschrei.

Ich hatte noch nie einen Traum wie diesen gehabt. Immer waren schöne Erinnerungen dabei gewesen, aber nie schlechte. Aber das erinnerte mich daran, dass es auch schlechte Seiten im Leben gab. Den besten Beweis dafür hatte ich direkt vor der Nase: Ich wurde gefangen gehalten und gefoltert.

Es mussten wohl immer die Erinnerungen zurückkommen, die sich am besten in meinem Gedächtnis festgesetzt hatten. Denn sonst kamen nie Momente in denen ich zum Beispiel nur frühstückte.

Mein pubertierendes Ich heulte plötzlich los und rannte in sein Zimmer. Mein Vater schüttelte nur besorgt den Kopf und meine Mutter setzte sich traurig auf einen Stuhl. Der Rest verschwamm.

 

Ich richtete mich vom Liegen wieder auf. Ich war höchstens zehn Minuten weg gedämmert. Der Schweiß vom eben betriebenem Sport, kurz bevor ich eingeschlafen war, klebte noch nass an mir.

Chris hatte wahrscheinlich mein Keuchen während des Sports bemerkt. Nun dachte er sich wohl, wie bescheuert ich war. Es brachte nichts, da wir niemals entkommen würden. Meine Bemühungen, sportlicher zu werden, um fliehen zu können, befand er garantiert als bescheuert. Er selber hatte ja längst aufgegeben. Er bewegte sich so gut wie gar nicht. Er redete nicht.

Aber aufgeben wäre niemals eine Option für mich. Ich durfte einfach nicht aufgeben. Denn wenn ich aufgeben würde, hätte ich schon verloren und würde aussehen wie eine leblose Puppe, von allen Hoffnungen verlassen. Ich brauchte diese Hoffnung auf Flucht einfach.

 

Das nächste Mal, als ich einschlief und wieder aufwachte, befand ich mich wieder in der Kirche auf dem Foltertisch.

Ich lies es einfach über mich ergehen. Es würde noch lange so weitergehen, ehe ich eine Fluchtmöglichkeit fand. Also musste ich es einfach vorbeigehen lassen.

Das jedenfalls dachte ich mir, bevor es losging. Aber es war wie immer einfach schrecklich, sobald eines der Messer in mich fuhr. Und das Monster machte es mir auch nicht leichter. Stattdessen zwang er mich, genau hinzuschauen, wie er meine Haut „verzierte“. Zwang mich, meine gesamte Konzentration auf die Schmerzen zu lenken und nicht andersherum, wie ich es gewollt hatte. Zwang mich, ihm in die Augen zu sehen, die mich gebieterisch und grinsend ansahen.

Es konnte nicht besser werden. Nur schlimmer. Ich konnte mich nicht daran gewöhnen, nie, selbst wenn ich es noch so sehr versuchen würde.

8. Kapitel

 

Ich wachte wieder auf und tat nichts.

Manchmal noch betrieb ich etwas Sport, aber mir war längst die Lust ausgegangen. Manchmal noch stachelte ich mich dazu an, damit meine Muskeln nicht komplett erschlafften, aber dann erinnerte ich mich, dass es sowieso keinen Unterschied machte. Aber es war trotzdem noch irgendwo ein Hoffnungsschimmer in mir. Deswegen machte ich immer noch weiter.

Ich wusste nicht, wie viele Tag, Wochen oder gar Monate vergangen waren. Ich stand sowieso nicht zu festen Zeiten auf und konnte das so nicht berechnen. Die einzige richtige Beschäftigung war für mich das aufs Klo gehen. Man hatte mir irgendwohin einen Eimer gestellt, der immer geleert wurde, sobald ich eingeschlafen war. Ich wusste nicht, wer das arme Schwein war, das das ganze überhaupt tat. Wahrscheinlich derselbe, der mich auch die ganzen Nährstoffe per Spritze einflößte. Ich bezweifelte, dass das Monster das selbst erledigte.

Mit Chris redete ich auch nicht. Er antwortete mir sowieso nicht mehr. Er war genau dieselbe leere Hülle geworden wie ich.

Somit blieb eigentlich nichts mehr.

Doch das Einzige, das mich am Leben hielt, waren die zurückkommenden Erinnerungen. Sie brachten mich zum Lächeln, ehe ich mich der grausamen Realität stellen musste.

 

Wir liefen zu Fuß nach Hause von dem noblen Restaurant, zu dem mich Chris geführt hatte. Noch nie zuvor hatte ich ihn in Anzug gesehen und er stand ihm wirklich gut. Eigentlich hatte ich an ihm nie etwas Anderes gesehen als lässige Kleidung. Das heute war eine wirkliche Wandlung.

„Wo führst du mich hin?“, fragte ich, als er die völlig falsche Richtung einschlug.

Er grinste. „Überraschung.“

Seufzend folgte ich ihm.

Plötzlich öffnete sich vor uns ein Meer aus Lichtern. Wir standen am Ufer des See unserer Stadt. Die Stadt eröffnete sich vor uns.

Mir fehlten die Worte. „Wow“, sagte ich dann nur.

Diesen Ort hatte ich nicht gekannt. Es war hier sicher am Tag schon sehr schön, aber nachts sah es nun einfach unglaublich aus.

„Ja“, meinte Chris. „Ich liebe diesen Ort auch.“

„Er steht gleich hinter dem Wald auf deiner Liste der Lieblingsorte, nicht?“ Ich lachte. Er war wirklich verliebt in den Wald und ich hatte keine Ahnung, wieso. Ich liebte es eher, unter Menschen zu sein.

Chris lachte auch los. Und dann, plötzlich drückte er mich an eine Wand und küsste mich hart. Ich schlang die Beine um ihn.

 

Keuchend schreckte ich vom Schlaf hoch. Wieder rieb ich mir übers Gesicht und spürte meine Erregtheit.

Das war das erste Mal, das ich von Chris geträumt hatte seit dem letzten Traum, wo wir miteinander rumgemacht hatten. Sonst hatte ich seit einer wirklich langen Zeit nur von meiner Kindheit geträumt, überwiegend von meinen Eltern. Dass ich wieder von Chris träumte, hatte ich echt nicht erwartet.

Ich hatte wirklich nur gedacht, dass wir eine kurze Affäre hatten von höchstens einer Woche. Es wunderte mich total, wie sehr der Chris aus meinen Erinnerungen sich von dem Chris aus der Gegenwart unterschied. In meinen Erinnerungen war er immer gut drauf, schaute mich immer grinsend an. Er flirtete wie verrückt und war andererseits unglaublich charmant und süß. Nun war er gar nicht redselig und komplett abweisend. Es war sogar in letzter Zeit noch schlimmer geworden, er war nur eine Hülle ohne Leben.

Aber eigentlich war ich im Moment auch nicht viel anders als er. Auch ich war des Lebens überdrüssig und bewegte mich auch nicht mehr wie erforderlich.

Trotzdem aber hatte ich immer noch Hoffnung in mir und war in weitaus besserer Verfassung als Chris. Und es wäre mit uns beiden garantiert nicht so schlecht geworden, wenn wir uns nur miteinander unterhalten würden, um uns seelisch zu stärken. Aber das tat Chris ja nicht.

Der Chris aus meinen Erinnerungen passte hier gar nicht ins Bild. Und ich wusste nicht, ob Chris sich aus freien Stücken so verändert oder ob das Monster ihn verändert hatte. Ich hatte von ihm bereits ein Trauma, wieso Chris dann nicht auch?

9. Kapitel

 

Wir fuhren endlich mit meinen Eltern mit dem Auto nach Disneyland. Endlich. Ich hatte schon so lange darauf gewartet, wollte da schon so lange hin, aber wir hatten wegen des Geldes nie die Möglichkeit dazu gehabt. Wir waren nie die reichste Familie gewesen, aber nun endlich, als ich siebzehn war, wurde mein Herzenswunsch erfüllt, als Geschenk für meinen gelungenen Abschluss. Man hätte meinen können, dass man in diesem Alter zu groß für einen Vergnügungspark war, aber das fand ich nicht. Dafür wäre ich nicht zu groß.

„Wie weit ist es denn jetzt?“, fragte ich wie ein kleines Kind. Seit wir losgefahren waren grinste ich ununterbrochen und da hielt mich sogar die Übelkeit meiner Reisekrankheit nicht auf.

„Ach, ich hab doch schon vor zehn Minuten gesagt, es ist nicht mehr...“ Meine Mutter wurde unterbrochen als sie losschrie.

Und da sah ich es.

Plötzlich erschien aus dem Nichts ein Geisterfahrer.

Mein Vater drückte die Bremse durch, doch der entgegenkommende Fahrer schien nur noch schneller zu fahren. Und dann war es zu spät. Das Auto krachte frontal auf uns zu. Ein lauter Knall und das Geräusch von zersplitterndem Glas.

Ich schrie.

 

Ich schreckte aus dem Schlaf hoch und schrie immer noch. Erst als ich bemerkte, dass ich schrie, hörte ich damit auf.

Tränen flossen mir in Sturzbächen über die Wangen. Das Bedürfnis, wieder zu schreien, wurde größer und ich schluchzte laut.

Ich konnte mich wieder an meine Eltern erinnern. Und daran, was mit ihnen passiert war.

Sie waren tot.

 

Plötzlich regte sich etwas in der Zelle neben mir und Chris stürzte zu mir rüber. Seine Augen waren weit aufgerissen, als er mein tränennasses Gesicht sah, und sein Blick war entsetzt.

Ich schlug mir die Hände ins Gesicht und schrie: „Sie sind tot! Sie sind TOT!“ Verzweifelt fuhren meine Hände durch mein Gesicht und verzerrten sie zu einer Grimasse. „Hast du davon gewusst? Hast du das gewusst?“, schrie ich Chris an.

Er schaute mich verwirrt an. „Wer ist tot?“, fragte er ruhig.

Ich brüllte. „Verdammt. Meine ELTERN! Sie sind tot! Du wusstest davon, nicht?“

Mitleidsvoll schaute er mich an.

Ich riss meinen Mund auf. „Gott! Du wusstest davon und ich NICHT!“ Heulend lief durch die Zelle. „Wieso hast du es mir dann nicht gesagt?“, brüllte ich. Mit vorwurfsvollen Augen starrte ich ihn an.

Seine Stimme war immer noch ruhig, aber an seinem Gesicht sah man, dass es ihm nicht gerade am Arsch vorbeiging. „Hätte ich es dir wirklich sagen sollen? Hätte ich dir wirklich all die schönen Momente nehmen sollte, die du hattest, als du dich an deine Eltern erinnert hast? Hätte ich das wirklich mach sollen?“

Ich wollte ihn wieder anbrüllen, sagen, dass es alles seine Schuld war. Dass es seine Pflicht war,mir das zu verraten, es waren ja MEINE Eltern. Dass mein Leben von nun an gar nicht mehr lebenswert war, weil es niemanden mehr gab, der sich um mich sorgte, der mich liebte.

Stattdessen blieb ich mit offenem Mund stehen und brach dann schließlich auf der Stelle zusammen. Ein einziger Schluchzer entwich mir noch, bevor ich die Beine mit meinen Armen umschloss und von nun an still war.

„Josie?“ Chris sah mich fragend an. „Geht's dir gut?“

Am liebsten hätte ich ihn angebrüllt, dass es mir NICHT gut ging und er sich und sein plötzliches Mitleid sonst wohin stecken konnte. Er war nie für mich da gewesen, wollte nie mit mir reden, obwohl ich es dringend gebraucht hatte. Das er jetzt plötzlich Mitleid mir gegenüber zeigte... Ich wollte ihn dafür schlagen. Ich sagte nichts, schüttelte einfach nur den Kopf.

„Bitte, komm schnell her“, sagte er. „Ich werde mich nicht nochmal wiederholen", fügte Chris noch hinzu.

Ich wollte nicht zu ihm kommen. Na ja, eigentlich schon, aber ich hatte genug von ihm. Wieso kam er auf mich jetzt zu, wenn er immer Abstand gehalten hatte?

Eine ganze Weile bewegte ich mich nicht. War starr in meiner Position. Doch schlussendlich hob ich meinen Kopf und sah zu ihm. Er zwang sich zu einem halben Lächeln und winkte mich zu sich her.

Plötzlich erinnerte ich mich wieder an den Chris aus meinem Erinnerungen. Der mir gegenüber so unglaublich war. Und den erkannte ich auf einmal vor mir wieder. Ohne weiter nachzudenken, krabbelte ich zu ihm rüber an das Gitter. Sobald ich in der Reichweite seiner Arme war, schloss er sie um mich und drückte mich an sich. Die Gitterstäbe zwischen uns drückten schrecklich, aber das blendete ich aus. Stattdessen konzentrierte ich mich nur auf seine vertraute Nähe. Ich heulte wieder los.

Beruhigend strich er mir über den Rücken und ich krallte mich an seinen breiten Schultern fest.

„Ich...“ Er presste die Lippen zusammen. Er wirkte, als ob er sich dazu zwingen müsste, etwas zu sagen. „Ich habe nicht mit Absicht nicht mir geredet.“

Ich schaute zu ihn hoch. Als ich meine Tränen wegwischte, bemerkte ich, wie er angefangen hatte, zu zittern.

„Es tut mir wirklich leid“, sagte er. Ein dünner Schweißfilm breitete sich auf seiner Haut aus und der Griff um mich wurde fester. Ich löste mich erschrocken von ihm. „Winthir hat mich gezwungen, nicht mit dir zu reden. Auch wenn ich es schaffe, diesen Zwang zu überwinden, funktioniert das nicht für sehr lange. Es fällt mir jetzt sehr schwer mit dir zu reden.“ Als ob er seinen Worten mehr Ausdruck verleihen wollte, presste er die nächsten Worte aus seinen Zähnen hervor und der Schweiß bedeckte nun seinen gesamten Körper. „Aber ich schweige nicht, weil ich mich von dir abwenden will.“

Das Zittern hörte auf. Chris entspannte sich und lehnte sich erschöpft zurück. Also hatte er das Bedürfnis, noch etwas zu sagen, wohl niedergeschlagen und ihn zwang keine Manipulation mehr zu Schweigen, da er dies nun ohnehin tat.

Das, was er gesagt hatte, überraschte mich. Ich war ziemlich sicher, dass er die Wahrheit gesagt hatte, und nun wusste ich allerdings nicht, was ich tun sollte. Mich darüber freuen? Wieder heulen? Wütend herumschreien, weil das Monster sich monstermäßig benommen hatte?

Ich lehnte mich an die Wand. Schlussendlich grinste ich doch. Ich war doch nicht komplett alleine. Und Chris war kein hoffnungsvoller Fall – und das freute mich, denn irgendwie hatte ich ihn auch gern. Vor allem nach der Erinnerung, in der er mir nachts die Stadt gezeigt hatte. In meinen Erinnerungen war er perfekt. Und nun hoffte ich, dass von diesem Chris noch etwas da wäre.

Mein Grinsen wurde noch breiter. Zusammen könnten wir es wirklich schaffen. Wir hatten eine Chance, zu entkommen.

 

Das Monster zog die Klinge des Messers quer durch mein Bein und ich schrie. Mein Bewusstsein war nun nahe dabei, sich auszuschalten.

„So, das wär's!“ Er holte wieder Chris' Blut und goss es über mich. Mir wurde kurz schwarz vor Augen, als das Brennen anfing. Und dann war ich komplett weggeschaltet.

Als ich wieder zu mir kam, hatte es sich kaum länger angefühlt wie eine Sekunde. Und dann hörte ich auch noch die Stimme des Monsters und spürte weiterhin das Brennen an meinem Körper, das mich heilte.

„Na also. Nun. Sie ist weg.“

Meine Augen öffnete sich zu kleinen Schlitzen. Ich sah verschwommen, wie er auf Chris bedrohlich langsam zu lief.

Meine Gedanken drehten sich. Folterte er Chris etwa auch, sobald ich kein Bewusstsein mehr hatte?

Als er nah genug an ihn herangekommen war, um ihn hätte anfassen können, schaute er ihn an.

„Du hast ja keine Ahnung, wie gut es sich anfühlt, sie schreien zu hören.“ Er lachte. Ich hörte das Rascheln von Fesseln. „Aber noch besser fühlt es sich an, dabei dein verzweifeltes und gleichzeitig wütendes Gesicht zu sehen.“ Er lachte nochmal laut und böse los.

Aber sein Blick verfinsterte sich wieder. „Jetzt musst du so leiden, wie ich es wegen dir getan habe. Jetzt weißt du, wie sich dieser Schmerz anfühlt. Es ist viel schlimmer, dir anzusehen, was ihr geschieht, als wenn man es dir antun würde.“ Eine Feststellung, keine Frage. Als ob er selber die Erfahrung dazu gemacht hätte.

Er lief um ihn herum. „Sag mir, wie schlimm es sich anfühlt.“ Das Monster sah ihm zwingend in die Augen. „Sag mir wie weh es tut, dabei zuzusehen!“

Chris wollte den Blick von ihm wenden, konnte es aber nicht. „Es schmerzt schrecklich, zu wissen, dass das meine Schuld ist und sie meinetwegen leidet. Aber es tut noch mehr weh, sie schreien zu hören und sie leiden zu sehen. Es zerreißt mich von innen.“

„Ja!“, rief das Monster. „SO fühlt es sich an! Es zerreißt einen von innen!“

Er kam Chris noch näher. „Jetzt weißt du, wie schrecklich sich das anfühlt! Wie auch ich leiden musste!“

„Aber du musstest nicht ansehen, wie Teresa stirbt! Das, was du hier machst, ist doch einfach nur idiotisch!“, erwiderte Chris.

Das Monster guckte ihn schräg an. „Schweig!“, zwang er ihn. „Wieso schaffst du es trotz der Manipulation überhaupt noch, zu reden?“ Todeszornig starrte er ihm in die Augen.

„Und obwohl ich es nicht mit angesehen habe, ist es das schlimmste gewesen, das ich je erlebt hatte. Und ich will, dass du deswegen leidest. Und zwar härter als ich.“

Ich verstand immer noch nicht, was Chris mit dem Tod von dieser Teresa zu tun hatte. Oder was ich sogar damit zu tun hatte. Die Sicht vor meinen Augen wurde etwas klarer und ich merkte, wie angestrengt Chris versuchte etwas zu sagen, was ihm aber nicht gelang.

Sein Blick glitt plötzlich auf mich und er bemerkte, dass ich wach war. Das Monster riss die Augen auf, als es Chris' Veränderung im Gesicht sah, und drehte sich zu mir um.

„Na, nicht mehr am Schlafen?“ Während er auf mich zu kommt, bekomme ich es wieder mit der Angst zu tun. Wieso hatte ich mich nicht einfach schlafend gestellt?

Sein bedrohliches Grinsen zeigte mir, dass er mit seiner Folter weitermachen wollte. Ich wimmerte.

„Bitte, lass es einfach!“, flehte Chris ihn an und zerrte an seinen Fesseln.

„Weißt du was? Vielleicht lasse ich es sogar wirklich“, meinte das Monster. Trotzdem kam er immer näher, aber anstatt mir irgendetwas anzutun, öffnete er mir nur die Fesseln an meinen Händen und Füßen.

Überrascht starrte ich ihn mit großen Augen an.

Als die Fesseln gelöst wurden, richtete ich mich auf, sogar mit seiner Hilfe.

„Oder vielleicht lasse ich es auch nicht.“ Damit holte er mit seiner Faust aus und schlug mir ins Gesicht.

Ich jaulte schmerzhaft auf. Aber kaum hatte ich mich erholt, kickte er mit dem Fuß nach mir. Er traf meine Seite und ich fiel zu Boden.

„Vielleicht macht es mir sogar so viel Spaß, dass ich nie aufhören werde.“ Ein weiterer Tritt, mitten in meinen Rücken. Etwas knackste.

Laut schrie ich los.

„Hör auf!“, schrie Chris und brüllte.

„Und vielleicht stachelt es mich sogar an, wenn du willst, dass ich damit aufhöre.“ Wieder traf er mich im Rücken und ich verkrümmte mich, als die schmerzhafte Ströme durch meinen Körper zuckten.

Erschrocken verstummte Chris.

„Wer weiß“, meinte das Monster, „vielleicht verliere ich jetzt den Verstand und bringe sie gleich hier, gleich jetzt um?“

Während er das sagte, hatte ich es einigermaßen geschafft mich aufzurichten und rannte los. Ich wusste nicht, wo es in dieser Kirche einen Ausgang gab, aber ich wollte nur noch weg von ihm. Mein Körper protestierte von allen Seiten, vor allem mein Rücken, der sich anfühlte, als ob er in der Mitte durchgesägt worden war.

Plötzlich erschien das Monster aus dem Nichts vor mir. Ich schrie erschrocken los und fiel zurück.

„Bitte!“, flehte ich. Ich konnte auch Chris hinter mir irgendetwas rufen hören.

Das Monster schaute mich nur überaus wütend und kickte wieder nach mir. Ich schrie. Ein weiterer Schlag in meinen Arm und ich spürte, wie er brach.

Ein letzter Schlag noch ins Gesicht und ich war weg.

 

10. Kapitel

 

Das erste, das ich wahrnahm, als ich zu mir kam, waren meine Kopfschmerzen. Und dann war da der seltsame Geschmack in meinem Mund. Ich öffnete schmerzhaft die Augen.

Mal wieder war ich meiner Zelle. Mal wieder fühlte ich mich nicht hungrig. Und mal wieder spürte ich diese Erschöpfung nach der Folter.

Es war so gut wie nichts anders.

Yippie!

Ich schaute auf meinen blutbefleckten, halbnackten Körper hinunter. Er sah gut aus (vom Schmutz mal abgesehen) und wies keine Mängel auf. Ich hatte dieses Mal aber auch keine offenen Wunden gehabt.

Hm. Keine offenen Wunden, wo Chris' Blut hätte eingefüllt werden. Nur Knochenbrüche.

Verwirrt wischte ich mir über den Mund, um den seltsamen Geschmack loszuwerden. Doch ich erstarrte, als ich etwas Flüssiges am Mundwinkel spürte. Langsam nahm ich meine Hand runter, um zu schauen, was ich da hatte. Geschockt beobachtete ich die rote, nach Metall riechende Flüssigkeit, die an meinem Finger langsam runterfloss.

„Chris?“, rief ich verzweifelt.

Er tauchte am Gitter auf. Als er mich erstarrt da sah, musste er ein Lachen unterdrücken.

„Wehe, du grinst jetzt!“, warnte ich ihn. Tief atmete ich durch, bevor ich ihn fragte. „Was habe ich am Mund? Ist das Blut? Dein Blut?“

Sein Grinsen zu unterdrücken fiel ihm mit jeder weiteren gestellten Frage schwerer. Dann nickte er.

Ich verzog mein Gesicht und hustete. „Wäh!“

Plötzlich lachte Chris sogar los.

Perplex sah ich ihn aus vor Ekel verzerrtem Gesicht an. „Echt jetzt? Erst redest du nicht mit mir und sitzt steif rum; und jetzt ist alles wieder okay und du lachst mich sogar aus?“

Chris zuckte nur mit den Schultern.

„Und wieso habe ich überhaupt dein Blut an meinem Mund?“

Er antwortete nicht gleich, da er gegen die Manipulation ankämpfen musste. „Du hattest keine offenen Wunden, so konnte er dich nicht heilen. Aber da du schwere Knochenbrüche hattest, musstest du irgendwie mein Blut zu dir nehmen. Also hat er es dir über den Mund eingeflößt.“

Ich schüttelte mich. Alleine die Vorstellung davon war schlimm genug. Der Geschmack auf meiner Zunge machte es noch schlimmer. „Na gut“, murmelte ich.

Er starrte mich noch für eine Weile belustigt an, während ich versuchte, mir den Mund sauber zu wischen.

„Wer ist Teresa?“, fragte ich plötzlich. „Und wieso lässt dich das Monster wegen ihr bezahlen?“

Chris' Miene wurde mit einem Mal steif. Und dann tat er so, als ob er mir nicht mehr antworten konnte.

Ich legte den Kopf schräg und verdrehte die Augen. „Idiot“, murmelte ich.

Chris grinste auf einmal wieder. „Das hast du früher auch immer gesagt.“

Meine Augenbrauen schossen in die Höhe. „Ach, jetzt sagst du etwas?“

Er zuckte mit den Schultern.

„Habe ich dich früher auch gerne geschlagen? Denn danach habe ich gerade besonders Lust.“

Er nickte.

Also ja.

„War sicher schön, dieses früher“, meinte ich. „Da waren die größten Probleme, die, dich zu verprügeln.“

Er grinste wieder. Ich schüttelte lächelnd den Kopf. Dann holte ich tief Luft, um ihm eine Frage zu stellen. „Ich weiß, es ist schwer für dich. Aber erzählst du mir vielleicht ein bisschen was über früher?“ Bittend mir großen Hundeaugen schaute ich ihn an.

Doch Chris schüttelte dem Kopf. „Er hat letztens die Manipulation erneuert. Es fällt mir wieder schwerer, mit dir zu reden“ war seine Ausrede.

Ich verdrehte erneut meine Augen. Das hieß wohl, er wollte weiter Stillschweigen bewahren.

Und der seltsame Geschmack in meinem Mund erinnerte mich plötzlich wieder daran, dass er auch da war. Ich leckte mir über die Lippen. „Wenn ich hier wenigstens Wasser bekommen könnte“, murmelte ich.

Chris schaute mich eine Weile an, dann sagte er: „Komm mal her!“

Ich zögerte nicht und rutschte zu ihm rüber. Als ich an dem Gitter angekommen war, streckte er auf einmal seine Arme nach mir aus. Ich erstarrte. Seine Hände glitten um mein Gesicht und zogen mich noch näher an ihm.

Dann legte er seine Lippen auf meine.

Ein Schauder ging über mich. Dieselben Gefühle, die ich auch immer in meinen Erinnerungen verspürt hatte, kamen zurück. Wärme, Geborgenheit, Vertrautheit. Und, ich konnte es nicht verhindern, Erregung.

Er leckte mir über die Lippen und sein Geschmack breitete sich in meinem Mund auf.

Chris küsste mich weiter und härter. Die Gitterstäbe drückten mir ins Gesicht.

Schwer atmend löste ich mich von ihm und starrte ihn entgeistert an.

Erst starrte er mich eine Weile an, dann lehnte er sich einfach wieder zurück, als wäre nichts gewesen, und verschwand dann hinter den Schutz der Wand. Ich glaubte, den Anflug eines Lächelns in seinem Gesicht gesehen zu haben.

Chris lies mich tatsächlich nun da sitzen. Erst küsste er mich und dann wandte er sich einfach von mir ab, als ob nichts gewesen war.

Ich war entsetzt und auch empört darüber. Aber vor allem verwirrt. Und das Wort verwirrt traf es so ziemlich auf den Kopf, denn es war auf einmal wirklich, als ob meine Gedanken wirr durch mein Gehirn flogen.

Mit meinen Fingern fuhr ich mir über die Lippen. Das Gefühl seiner Lippen auf meinen verflog langsam, aber trotzdem konnte ich noch genau spüren, wie sie sich an mich pressten.

Der Geschmack in meinem Mund hatte sich auch verändert. Es war nicht mehr der Geschmack von Blut, sondern es war sein Geschmack.

„Danke“, murmelte ich. „Wenigstens ist jetzt dieser Geschmack weg.“

Ich hörte ihn lachen.

 

Erinnerungen strömten auf mich ein.

Erinnerungen aus meiner Kindheit, wie ich spielend über der Wiese rannte, wie ich mit meinen Eltern meinen Geburtstag feierte. Wie ich meinen ersten Schultag erlebte. Mein erstes Tor beim Fußball schoss. Noch viele mehr über meine Schulzeit.

Dann kurz blitzte wieder ein Bild auf, wie ich beinahe unverletzt aus dem zerstörten Auto stieg. Blut floss literweise auf den Boden. Kurz bevor ich losschrie, veränderte sich das Bild wieder und ich stand vor dem Krankenbett meines Vaters.

Er hatte den Unfall zwar überlebt, aber nun lag er im Koma. Man hatte bei ihm Hirntod diagnostiziert und ich stand neben ihm, um mich von ihm zu verabschieden.

„Ich werde euch nicht enttäuschen“, versprach ich ihm. „Ich werde mir ein Leben aufbauen, worauf ihr stolz sein werdet.“

Damit gab der Apparat neben meinem Vater einen langen, andauernden Piepston von sich und die Krankenschwester stürzte ins Zimmer, um mich zu trösten.

 

Erschrocken richtete ich mich auf. Erst als ich mehrmals tief Luft geholt hatte, normalisierte sich mein Puls.

Es war das erste Mal gewesen, dass ich so viele Erinnerungen auf einmal zurück bekommen hatte. Auch wenn die ersten Bilder schön gewesen waren, waren die letzten verstörend. Eine einzelne Träne rollt meine Wange runter.

Woran lag es, dass ich auf ein Mal so viele Erinnerungen hatte?

Ich schluchzte auf und Chris erschien an der Zelle. Fragend sah er mich an.

Es war, als ob mir in dem Moment alles klar wurde. Es musste an seinem Blut liegen, dass ich getrunken hatte. So wie es aussah, war es etwas anderes, wenn ich es trank, als wenn es mir in die Wunden geschüttet wurde. So bekam ich viel mehr von meinen Erinnerungen zurück.

„Du musst mir dein Blut geben“, sagte ich entschlossen.

Chris war so verwirrt, dass er sogar die Manipulation vergaß. „Was?“

„Ich kann mich gerade wieder an so vieles erinnern. Wie du schon mal gesagt hast: Es muss an deinem Blut liegen.“

Er schaute mich weiterhin irritiert an.

„Ich will mich wieder erinnern können und dein Blut hilft mir dabei!“, sagte ich und sah ihn eindringlich an. „Da du mir sowieso nichts erzählen kannst – und willst –, finde ich so dann eben selber heraus, was früher alles geschehen ist.“ Mein Blick wurde flehender. „Bitte!“

Lange schaute er mich an und lies kein Gefühl nach außen blicken, ehe dann doch nickte. „Aber wie soll ich dir Blut geben?“

Ich zuckte mit den Schultern. „Gibt es hier vielleicht einen spitzen Stein?“

Er schüttelte den Kopf, winkte mich aber trotzdem zu ihm rüber.

Meine Augenbrauen schossen in die Höhe. Es war mir echt fraglich, was er vorhatte. Trotzdem kam ich zu ihm ans Gitter. Und erinnerte mich wieder daran, was das letzte Mal hier geschehen war. Ein wohliger Schauder ging über mich. Ich wollte mich deswegen schellen.

Als ich bei ihm angekommen war, zog er mich wieder näher. Ich erstarrte wieder, aber nur aus Vorfreude, dass er mich gleich küssen würde. Ich wusste nicht, wieso ich es so sehr wollte, vor allem, weil ich ihn all die Zeit nicht leiden konnte, aber es musste wohl an meiner Vernarrtheit an ihn in der Vergangenheit liegen.

Aber er küsste mich nicht. Stattdessen legte er seinen Mund an seinen Arm und biss hinein. Ein schmerzhaftes Stöhnen entkam ihm dabei.

Entsetzt riss ich die Augen auf. „Was machst du?“, fragte ich ihn hysterisch.

„Hier, nimm!“, forderte Chris und hielt mir sein blutendes Handgelenk hin.

Meine Augen wurden noch größer. „Was?“

Er stöhnte erneut. „Schnell, bevor es wieder verheilt!“

Chris gab mir tatsächlich sein Blut, damit ich mich wieder erinnern konnte. Vor einer Minute noch schien es mir nach einer guten Idee gewesen zu sein, aber jetzt wurde mir schlecht.

„Bitte, beeil dich. Es macht mir keinen Spaß, mir erneut in dem Arm zu beißen.“

Ich atmete tief durch und lehnte mich langsam vor. Doch bevor ich nah genug dran war, zog Chris seine Hand wieder weg und biss wieder rein.

„Aber jetzt schnell!“

Das Blut floss in Strömen an seinem Handgelenk hinunter. Ich nahm seinen Arm und leckte ganz vorsichtig das Blut weg, bevor noch mehr davon auf den Boden tropfen konnte. Seine Haut überzog eine Gänsehaut.

Ich nahm meinen Kopf wieder hoch und schüttelte mich. „Denkst du, das reicht?“, fragte ich nervös, wusste aber schon sogleich die Antwort. Wieder beugte ich mich runter. Ich legte meinen Mund an die Stelle, in die er gebissen hatte, und saugte. Blut floss in meinen Mund und ich verschluckte mich beinahe an der Menge.

„Die Wunde verheilt schon“, meinte Chris. „Es müsste jetzt eigentlich auch reichen.“

Ich nickte, während ich mir den Mund sauber wischte. Doch dann sagte ich „Warte!“, als er seine Hand wegzog.

Ich möchte mich nur an so viel wie möglich erinnern.“ Mit dieser Erklärung nahm ich wieder seine Hand und nahm das danebengegangene Blut auf. Wieder bekam Chris eine Gänsehaut.

Als ich zu ihm hoch ins Gesicht blickte, sah ich, wie er mir tief in die Augen schaute. Ich verlor mich in seinen. In ihnen lag irgendein gewisser Ausdruck, den ich erst nicht deuten konnte. Erst als ich die Beule in seiner Hose bemerkte, wurde mir alles klar und ich riss die Augen hoch. Ich hatte nicht gewusst, dass ich so eine Wirkung auf ihn hatte.

„Verdammt“, murmelte Chris. Schnell drehte er sich um und verschwand hinter seinem Versteck, der Wand.

Ich atmete schwer. Wusste nicht, wie ich mich fühlen sollte. Was ich denken sollte.

Und obwohl ich nicht wusste, was früher einmal gewesen war, wusste ich, wie ich mich jetzt fühlte. Und was ich jetzt wollte.

„Chris?“ Ich schaute hinter dem Gitter nach ihm. „Rutscht du bitte mal rüber.“

Er tat es wirklich. Gegen meine Erwartung tat er es wirklich und erschien in meinem Sichtwinkel.

„Näher“, flüsterte ich.

Er sah zu mir auf. Irgendetwas schimmerte in seinen Augen. Chris rutschte näher zu mir rüber. Ich sah den Schweiß auf seiner Brust.

„Näher.“

Als er nah genug war, streckte ich meine Hand durchs Gitter und umfasste sein Gesicht mit meiner Hand. Sanft drückte ich es zu mir.

Plötzlich packte seine Hand mich und drückte mich an ihn. Wieder drückten die Stäbe, aber es war mir egal. Seine Lippen drückten sich hart und begierig auf meine und ein Feuerwerk der Gefühle explodierte in mir.

Meine Hand wanderte von seinem Gesicht weiter runter. Chris stöhnte auf. Auch er nahm seine Hand und fuhr damit über meinen Bauch, meine Hüfte. Blitze jagten durch meinen Körper.

Das alles fühlte sich so gut, so richtig an. Und so vertraut, als ob wir das nicht zum ersten Mal taten – was auch streng genommen so war, ich konnte mich nur nicht mehr daran erinnern.

Seine Finger glitten weiter über meine Seiten und ich wollte nur noch mehr. Mit meiner Hand strich über seinen steinharten Bauch. Meine Gefühle explodierten wieder dabei und ich stöhnte in seinen Mund. Meine Hand glitt immer tiefer und Chris packte mich fester.

Plötzlich schob er mich von sich weg. Schwer atmend sah ich ihn an.

„Du hast keine Ahnung, wie sehr ich damit weitermachen will“, raunte er. Sein Blick glitt über meinen halbnackten Körper und er schloss beim Einatmen die Augen. „Aber wie sehr wir es auch versuchen würden, dieses verdammte Gitter würde uns im Weg stehen.“ Er holte nochmal tief Luft und öffnete dann wieder die Augenlider, um mich anzuschauen. „Wir müssen damit aufhören.“ Es war, als ob das die schwierigsten Wörter seines Lebens waren, so wie angestrengt er seinen Körper hielt, wie er diese Worte zwischen seinen Zähnen herauspresste. Selbst mir fiel es dabei schwer, zu nicken, um ihm recht zu geben.

Ich wich von ihm einfach zurück ohne noch etwas zu sagen, rutschte weg und lehnte mich erschöpft an die Wand. Tief atmete ich ein, um dann alles Revue passieren zu lassen.

Es war verrückt. Ich hatte noch nie in meiner gesamten Zeit hier so empfunden. Doch irgendwie ich war wirklich glücklich darüber, dass wir uns so näher gekommen waren. Zum ersten Mal war ich so richtig glücklich. Nicht mal meine Erinnerungen kamen gegen seine Nähe an.

11. Kapitel

 

Es war wieder so still wie es vor einigen noch Tagen gewesen war. Nur mit der Ausnahme, dass ich Chris' schweren Atem hörte. Was ich normalerweise nie tat. Selbst wenn es hier komplett leise war, hatte ich ihn so gut wie nie atmen gehört. Es war als wäre er gar nicht am Leben. Jetzt jedoch...

Sein Atem erinnerte mich nur noch an das, was eben geschehen war. Nicht, dass ich es bereute, im Gegenteil. Aber der Gedanke daran machte mich ganz aufgeregt, lies mich keuchen.

Ich holte eine letztes Mal tief Luft und legte mich hin. Ich musste einschlafen. Ich musste meine Erinnerungen wieder zurückbekommen. Und dafür musste ich nur meine Augen schließen und mein Hirn sich erinnern lassen.

Das Dumme war nur, dass ich nun hellwach war. Selbst wenn ich meine Augen schloss, war es nicht dunkel, sondern es schossen mir tausend Bilder von Chris vors Auge. Somit öffnete ich sie sogleich wieder.

Herumzuwälzen brachte mir auch nichts.

Plötzlich wurde die Stille durchbrochen durch hallende Schritte. Sofort richtete ich mich auf. Am Ende des Gangs erschien eine Gestalt, die ich unter Millionen erkennen würde.

Das Monster.

Er grinste böse, als er auf uns zukam.

Ich versteifte mich. Wahrscheinlich würde er jetzt mit seiner Folter fortfahren. Die Frage stellte sich nur, wieso er nicht erst gekommen war, als ich eingeschlafen war.

„Na sieh mal an, wer wach ist“, sagte er und grinste höhnisch. „Wie geht's dir, Prinzessin?“

Ich zuckte zusammen, als er mich ansprach, starrte ihn dann aber wütend an.

Plötzlich erfasste mich Panik. Ich hatte eben Chris Blut getrunken, das hieß also, dass alle Wunden, die das Monster mir jetzt zufügen würde, deswegen auch heilen würden. Und zwar sofort, direkt vor dem Auge des Monsters. Das Einzige, was er daraus schließen konnte, war die Wahrheit – nämlich, dass ich Chris' Blut zu mir genommen hatte – und dann würde er sich auch fragen, wieso ich das getan hatte. Zu schnell würde er wohl auf die richtige Antwort kommen. Chris Blut sorgte dafür, dass ich mich wieder erinnerte und das würde er mir dann wieder wegnehmen. All die Erinnerungen, die ich mühevoll gesammelt hatte, würden mir wieder gelöscht werden – oder wieder hinter eine Barriere gestellt. Wenn das Monster sich nicht noch etwas Schlimmeres für mich deswegen ausdenken würde.

Als ich rüber zu Chris schielte, sah ich, dass er wohl dasselbe dachte.

„Da wir ja so schön versammelt sind...“ Ich schnaubte, als das Monster das sagte. „... will ich euch gerne etwas mitteilen. Mein Bruder kommt bald her, also...“

„Sie haben einen Bruder?“ Die Worte rutschten mir einfach so raus, ehe ich darüber nachgedacht hatte. Es war ja nicht seltsam, dass er einen hatte, immerhin konnte jeder einen haben, aber die Vorstellung, dass er einen hatte, war komisch.

Das Monster bedachte mich eines genervten Blickes. „Ja, habe ich. Aber eigentlich ist er nicht direkt mein Bruder, sondern nur der Bastard meines verdammten Vaters. Vor ein paar hundert Jahren hat er eine Sklavin geschwängert und mein Bruder kam dabei heraus. Was für ein Zufall es war, dass er ebenfalls verwandelt wurde, ärgert mich heute noch. Aber zurück zu dem, was ich sagen wollte.“

Mein Kopf schwirrte.

Vor ein paar Jahrhunderten?

Sklaven?

Verwandelt?

„Da mein Bruder kommt, wird es doppelt so viel Spaß machen, dich zu foltern. Ihr könnt euch also darauf freuen. Vor allem, weil er dazu noch pervers veranlagt ist.“

Ich riss meine Augen auf. „Noch ein Geistesgestörter?“ Ich wusste nicht, was mich heute so gesprächig machte.

Das Monster blickte mich böse an. „Wenn du wüsstest, was ich durchgemacht habe, würdest du mich nicht so nennen“, raunte er.

Meine Stirn legte sich in Falten. „Was Sie durchgemacht haben, war sicher halb so schlimm gewesen wie das, was mit mir in den letzten Monaten geschieht – wenn es wirklich so schlimm bei Ihnen war. Und wenn ich es wissen soll, dann geben Sie mir doch meine Erinnerungen zurück!“

Jetzt merkte ich, dass ich hier die Geistesgestörte war. Ich durfte mich nicht mit ihm anlegen und doch ich tat es im Moment.

„Vielleicht tu ich es ja“, meinte er. „Doch meinst du wirklich, du willst etwas über deine Vergangenheit erfahren? Ich weiß, wie schlimm es dir vor einigen Jahren und Monaten noch ging.“

Er lügt. Mein Leben war schön gewesen. Was er sagt, stimmt nicht mal im Ansatz.

„Dein Leben war erbärmlich. Es ist doch viel schöner für dich, wenn du weiter von einem schöneren frühen Leben träumst.“

Er lügt. Das sagte ich jedenfalls mir, um daran auch weiter zu glauben. „Doch wenn es schon so erbärmlich war, wieso haben sie mir dann die schrecklichen Erinnerungen darüber genommen? Sind Sie so nett? Habe ich mich all die Zeit deswegen geirrt?“

Dazu wusste er nun nichts zu sagen. „Ich wünsche dir nun viel Spaß mit mir und meinem Bruder,“ sagte er anschließend und schritt wieder davon.

„Kennst du seinen Bruder?“, fragte ich Chris, als das Monster schon eine Zeit lang im Gang verschwunden war. Ich drehte mich zu ihm um.

Er schüttelte den Kopf. „Aber mir gefällt nicht, dass Winthir gemeint hat, er wäre pervers. Das heißt nichts Gutes.“

Ich erschauderte. Tief atmete ich durch. Dann fiel mir wieder ein, was das Monster gesagt hatte. „Wieso hat er eigentlich davon erzählt, dass irgendetwas vor ein paar Jahrhunderten geschehen ist? Und wieso Sklaven? Es gibt doch keine! Und was hat es mit 'verwandelt' auf sich? Was heißt das?“, fragte ich.

Chris zuckte mit dem Schultern, schaute mich auch nicht direkt an, als er sagte: "Ich weiß nicht."

Ich verdrehte die Augen. „Wenn du schon lügst, versuch überzeugend zu wirken. Übrigens schlag ich mir den Kopf an die Wand, wenn du mir nicht die Wahrheit sagen wirst!“

Chris lachte auf. „Ich bin sogar davon überzeugt, dass du das wirklich machen wirst.“ Gleich darauf wurde er aber wieder ernst. „Aber die Wahrheit ist seltsam und verwirrend. Ich weiß nicht, ob ich es dir wirklich sa...“

„Soll ich meinen Kopf jetzt schon gegen die Wand schlagen?“, unterbrach ich ihn.

Er seufzte. „Nein.“ Dann holte er tief Luft. „Also, was denkst du, wieso heilt dich mein Blut?“

Ich zuckte mit den Schultern. „Daran, dass du ein Vampir bist, liegt es ja nicht. Das hast du mir ja bereits gesagt.“

„Ja und jetzt kommt die Erklärung, wieso ein Vampir dich nicht heilen kann.“ Auf meine gehobenen Augenbrauen sagte er nur: „Wenn du mir nicht glauben willst, kann ich gleich damit aufhören. Also, Vampirblut kann dich nicht heilen, weil es gar keins gibt.“

„Oh, was für eine Erleuchtung!“, meinte ich sarkastisch.

„Ja, weil Vampire aus Stein bestehen.“ Bevor ich dagegen protestieren konnte, schaute Chris mich streng an. So blieb mein Mund geschlossen. „Winthir ist ein Vampir. Kannst du dich noch erinnern, als du in der Kirche vor ihm weggerannt bist und er plötzlich vor dir erschienen ist. Hast du dich darüber nicht auch gewundert?“ Das hatte ich tatsächlich. „Das gehört zu den Eigenschaften eines Vampirs. Aber das ist jetzt auch nicht so wichtig. Worüber Winthir gesprochen hat, war, dass er vor einigen Jahrhunderten gelebt hatte. Sein Vater hatte eine Sklavin, was damals so typisch war, und durch die kam sein Halbbruder heraus. Beide wurden in dieser Zeit in Vampire verwandelt.“

Mit großen Augen starrte ich ihn an. „Vampire?“, fragte ich und versuchte immer noch mit dem, was Chris gesagt hatte, nachzukommen.

„Ja. Und das ist die ganze Wahrheit.“ Mit ruhigem Gesicht schaute er mich an, aber sein angespannter Körper verriet ihn.

Ich schüttelte verwirrt den Kopf. „Na ja, okay. Aber was bist dann du?“

Chris sah aus, als ob er befürchtet hatte, dass die Frage kommen würde.

„Ach komm schon, du hast es mir doch schon mal gesagt. Ich kann mich nur nicht daran erinnern.“

„Genau genommen habe ich es dir nie gesagt. Du hast solange darauf herumgeritten, bis du es selbst erraten hattest.“

Ich schlug mir die Hände ins Gesicht.

„Ja, aber ich habe doch nicht den geringsten Ansatz dazu, es herauszufinden! Was gibt's denn noch für erfundene Wesen? Werwölfe? Aber die haben doch kein heilendes Blut oder so! Oder vielleicht gibt es ja noch...“

„Ja“, sagte Chris so leise, dass ich es beinahe überhört hatte.

„Was ja?“

„Werwolf trifft es so ziemlich auf den Punkt.“

Meine Augen wurden noch größer. „Was? Aber in keiner Geschichte heißt es, dass ihr heilendes Blut habt.“

„Denkst du wirklich, alles was erfunden worden war, stimmt?“

Ja, langsam schon. „Aber...“ Das war es, mehr sagte ich nicht. Mehr fiel mir dazu auch nicht mehr ein.

„Komischerweise haben wir Blut, mit dem wir auch andere heilen können. Aber das kommt dann auch wieder auf die Blutgruppe an, sonst würde es dich verätzen. Und wir beide haben eben dieselbe Blutgruppe, deswegen kann ich dich auch heilen.“

Mein Kopf drehte sich.

„Ich weiß, es ist verwirrend.“ Er winkte mich zu ihm heran und ich zögerte erst. Immerhin war ein Werwolf direkt vor mir. „Aber so ist die Wahrheit immer. Und die wolltest du ja unbedingt hören.“

Ich atmete tief durch und kam dann doch zu ihm rüber. Er war kein anderer als der davor, also durfte ich mich nicht vor ihm fürchten. Als ich trotz ängstlichem Ausdruck im Gesicht zu ihm rüber kam, lächelte er. Er wirkte tatsächlich glücklich. So hatte ich ihn noch nie erlebt.

Seine Hand umfasste mein Gesicht. Mit langsamen Bewegungen fuhr er mit den Fingern über meine Lippen. Mit großen Augen schaute ich ihn dabei in die Augen. Die Berührung war hauchzart, ich spürte sie kaum, jedoch entfachte sie trotzdem ein Brennen in mir.

„Müsstest du dich nicht in einen Wolf verwandeln, wenn du ein Werwolf bist?“, fragte ich. Sein Finger glitt dabei über meinen Zahn.

„Ja. Aber diese Eigenschaft hat er genauso unterdrückt, wie den Willen, mit dir zu Reden.“

„Und trotzdem redest du mit mir“, erwiderte ich.

Er nickte. „Ja. Aber auch nur, weil Winthir nicht glaubt, dass ich das schaffen könnte. Er meint, der Zwang hält noch hundertprozentig.“

„Das heißt, du hast den Zwang vollkommen überwunden?“ Vielleicht würde ich es auch bald können. „Das heißt, du könntest dich jetzt verwandeln?“

„Könnte vielleicht schon, aber ich mache es erst im richtigen Moment.“ Die Hand um mein Gesicht nahm er jetzt runter. Der heiße Abdruck davon blieb.

„Und wann ist der Moment gekommen?“ „Bald“, antwortete er. Durch seinen Tonfall war es mir nun unmöglich, ihn noch weiter zu fragen.

Plötzlich war ich extrem müde. Ich wollte nur noch schlafen.

Chris deutete meinen Gesichtsausdruck wohl richtig und sagte: „Jetzt leg dich hin und verdaue das alles. Es ist genug Stoff und du brauchst jetzt Ruhe. Brauchen wir beide.“ Damit rutschte er wieder tiefer in seine Zelle, sodass ich ihn nicht mehr zu sehen bekam.

Auch ich legte mich zurück auf meinen Platz in einer Ecke. Den zum Schlafen bereitgestellten Holztisch mochte und benutzte ich nie.

 

Viele verschiedene Bilder strömten in kurzer Zeit auf mich ein. Sie schienen unübersichtlich, aber plötzlich konnte ich zu jedem Bild eine Geschichte zu ordnen.

Die meisten gingen darüber, wie ich mir mein Leben nach dem Tod meiner Eltern wieder aufgebaut hatte. Erst kam ich ins Waisenhaus, da ich noch nicht volljährig gewesen war und keine Verwandten hatte. Während dieser Zeit war ich schon von einer Arbeit zur nächsten gesprungen, um genug Geld für meine Zukunft zu sammeln. Zwar wurde ab jetzt meine neue Wohnung und mein Studium vom Staat bezahlt, trotzdem hätte ich sehr arm gelebt ohne das zusätzliche Geld.

Dann kam als nächstes meine Beziehung mit Chris dran. Nach meinem Studium lernte ich ihn erst kennen. Dann verschwanden die ganzen Bilder vor mir und es war dunkel.

Als ich blinzelte, war es auf einmal wieder hell. Eine Gestalt stand vor mir.

Chris.

„Aber das kann doch nicht sein!“, sagte ich. Mein Ton klang ziemlich aufgeregt. „Du hast geblutet!“

„Nein, habe ich nicht“, antwortete Chris angespannt. „Bilde dir nichts ein.“

„Aber ich habe da so viel Blut gesehen! So was kann man sich nicht einbilden!“

„So wie es aussieht doch“, murmelte er.

Ich schüttelte meinen hochroten Kopf. „Unser erster Streit fängt also damit an, dass du lügst?“

Dazu sagte er nichts mehr, starrte mich nur aus wütenden Augen an. „Es hat aber auch einen Grund, wieso unser erster Streit gerade jetzt stattfindet und nicht schon früher“, sagte er plötzlich in die angespannte elektrisierte Stille. „Sonst haben wir nie wirklich miteinander geredet, wir waren immer mit etwas Anderem beschäftigt.“ Seine Stimme war rau und gedämpft.

Plötzlich küsste er mich hart und drückte meinen Körper begierig gegen die Wand. Erst gab ich nach, genoss das Gefühl seiner Nähe, seiner Grobheit.

„Stopp, es reicht!“ Ich versuchte mich von ihm wegzudrücken, aber er war zu stark. Und als ich auch noch stöhnte, als er meinen Hals küsste, packte er mich nur noch härter.

„Hör auf und lenke nicht von Thema ab!“ Mit beiden Händen schlug ich ihm gegen die Brust, aber mir tat es am Ende wahrscheinlich mehr weh als ihm.

„Christoph!“

Beim Hören seines Namens merkte er dann, dass er den Bogen überspannt hatte. Er schaute mir hoch in die Augen.

„Sag mir sofort die Wahrheit oder ich schwöre dir, ich schlag mir so lange den Kopf an die Wand, bis du es tust!“

„Das wirst du eh nicht tun“, sagte er. Seine Hände waren rechts und links von mir und sein Gesicht nur weniger Zentimeter von meinem entfernt.

Wütend schaute ich ihn an, weil er mir wirklich nicht glauben wollte. Dann schlug ich mir heftig den Kopf an die Wand.

„Gott, wieso hast du das gemacht?“, fragte er geschockt.

Ich tat es nochmal. Sternchen flogen vor meinen Augen herum. Noch ein Mal schlug mein Kopf gegen die Wand hinter mir. Langsam wurde mir schlecht. Ich machte immer weiter, bis Chris meinen Kopf festhielt und rief, ich sollte aufhören.

„Okay, okay. Hör aber bitte damit auf!“

Ich sah ihn an, aber irgendwie verschwamm er in zwei Personen.

„Was glaubst du denn, es sei passiert?“, fragte er.

„Keine Ahnung. Du heilst schnell, vielleicht bist du ja ein Vampir wie aus 'The Vampire Diaries'?“, antwortete ich benommen.

Er runzelte seine Stirn. „Darauf will ich nicht mal antworten. Und wieso Vampir?“

„Weil ich wahrscheinlich gerade eine Gehirnerschütterung habe und mir schlecht ist?“, riet ich. So schlecht ging es mir aber auch nicht und das sah Chris mir wohl an. Sein Gesicht verzog sich zu einem Lächeln.

„Ich glaube, ich muss dir etwas zeigen.“ Er ging ein paar Schritte von mir weg.

Plötzlich verrenkte er sich. Sein Körper tat seltsame Verbiegungen und ich schrie los.

„Chris?!“

„Bleib zurück!“ Seine Stimme klang nicht mehr nach ihm selbst, sondern bestialisch.

Erschrocken presste ich mich an die Wand. Seine Gelenke verbogen sich unnatürlich und er fiel schmerzhaft auf alle Viere. Plötzlich schoss aus seine Haut Fell und Chris' vor Schmerzen verzerrtes Gesicht verschob sich in eine Schnauze. Und dann stand nicht mehr Chris vor mir, sondern ein dunkelbrauner Wolf.

Meine erste Reaktion sollte schreiend davonrennen gewesen sein, aber anstatt mich vor Angst zu verkriechen, kam ich dem Wolf langsam näher. Ich streckte meine Hand nach ihm aus, denn ich wusste, ich musste mich vor ihm nicht fürchten.

Der Wolf stupste mit seiner Schnauze meiner ausgestreckte Hand an und ich lächelte. Als ich ihm in die Augen sah, erkannte ich Chris' dunkle Augen.

Das Bild war mit einem Schlag wieder weg. Stattdessen hüpften weitere Bilder an mir vorbei, ehe ich in eines davon gezogen wurde.

Diese Erinnerung dauerte nur ganz kurz, vielleicht nur fünf Sekunden. Aber sie war scharf wie sonst was, ich konnte mich an jedes kleine Detail im Hintergrund erinnern.

Chris stand direkt vor mir, hielt mein Gesicht in beiden Händen und sah mich liebevoll an. Tief sah er mir in die Augen und sagte die drei kleinen, aber magischen Wörter.

„Ich liebe dich.“

12. Kapitel

 

Ich wachte auf und richtete mich auf. Gerne wollte ich sagen, dass das alles nur geträumt war und das war es genau genommen auch, aber es musste wirklich einmal passiert sein.

Er liebte mich.

Und ich hatte keine Ahnung, was ich davon halten sollte.

Vielleicht hatte ich es auch getan – ihn geliebt –, aber im jetzigen Stand meiner Erinnerungen konnte ich es nicht genau sagen.

Jetzt tat ich es auf jeden Fall nicht. Ich hatte keine Ahnung, was ich für ihn im Moment empfand, immerhin kannte ich ihn gut wie gar nicht. Die einzigen Male, die wir uns hier näher gekommen waren, waren nicht viel von Bedeutung. Na ja, für mich nicht, denn ich liebte Chris nicht. Aber er tat es wahrscheinlich noch. Und ihm hatte es vielleicht Hoffnung gegeben und seine Sehnsucht wieder geweckt, als er mich geküsst hatte.

Ich rutschte die paar Meter rüber zu dem Gitter und sah hindurch. Chris lag angespannt an die Wand gelehnt, schlief aber. Ich lehnte mich wieder zurück und seufzte. Es war so still.

Auf einmal kamen meine Gedanken zurück zum Monster. Allein der Gedanke an ihn brachte mich zum Zittern. Es war einfach unmöglich an ihn zu denken, ohne die Schmerzen gleichzeitig zu spüren.

„Chris?“, rief ich verzweifelt in die Stille. Ich brauchte etwas, um mich abzulenken. Alles war besser, als an das Monster zu denken.

Erst später bemerkte ich meinen Fehler. Chris schlief so gut wie nie und als er es doch tat, lies ich ihm nicht seine Ruhe. Ich verstummte und hoffte, er hatte mich vielleicht doch nicht gehört.

Es raschelte. Dann hörte ich aus der Zelle gegenüber ein Stöhnen. „Josie?“, rief er nach mir.

Verdammt, er hatte mich also doch gehört und ich hatte ihn aufgeweckt.

„Hast du mich gerufen?“

Ich nickte verlegen.

„Was ist los?“, fragte er besorgt. Als mir wieder einfiel, wieso er sich so um mich sorgte, wurde mir die Luft zugeschnürt. Er machte sich vor Sorgen verrückt, weil er mich liebte. Und mir hingegen war er eigentlich so gut wie egal, es hätte auch irgendein anderer Mann an seiner Stelle stehen können. Aber auch nur fast. Wäre da nicht die Vertrautheit, die ich in seiner Nähe stetig spürte. Als ob ich ihn kennen würde – und wiederum doch nicht.

„Es ist nichts. Ich habe nur ... schlecht geträumt“, antwortete ich.

„Du hast dich an alles erinnert?“, fragte er mit großen Augen, die Sorge widerspiegelten.

„Ja. Also nein. Schon, aber... Ich hab doch nicht schlecht geträumt, ich hab nur...“

„Ja?“ Seine vertrauten Augen sorgten dafür, dass ich ihm doch die Wahrheit sagte.

„... Angst.“

Er kam zu mir ans Gitter. Seine Hand legte sich um mein Gesicht und ich schmiegte mich an seine raue Hand. Für kurze Zeit vergaß ich sogar all meine Sorgen.

„Ich habe auch Angst“, sagte überraschender Weise in diese angenehmen Stille.

Beinahe lachte ich auf. „Wovor hast du denn Angst? Du wirkst immer so unerschrocken, es gibt wahrscheinlich nichts was dir Angst machen könnte, und dann passiert dir sowieso nichts.“ Als mir klar wurde, was ich gesagt hatte, kniff ich vor Dummheit die Augen zusammen. Als ob er sich über sich Sorgen machte.

„Ich habe nicht um mich Angst, nur um dich. Was mir passiert, ist mir egal.“

Ich schnappte auf. Das war eine Liebeserklärung gewesen, nur keine direkte. Ich biss mir auf die Lippe.

„Also, eigentlich...“, stotterte ich, „also, ich habe schon Angst vor dem Monster und so... aber... ich habe nur Angst, dass...“ Ich fuhr mir durch die verklebten, fettigen Haare. „Na ja, dass... dass...“ Dass Chris mich so sehr liebte, dass er sich für mich opfern würde. Was ich für ihn wahrscheinlich nicht tun würde. Und dass ich es für ihn nicht tun würde, machte mir am meisten Angst.

„Josie. Rede mit mir. Du kannst es mir sagen.“ Seine Hand fuhr von meinem Gesicht zu meinem Arm und er rüttelte leicht daran.

Ich holte tief Luft. Statt es ihm zu erzählen, fragte ich: „Was empfindest du für mich?“

Sein Blick blieb unverändert, aber nur, damit seine Gefühle vor mir nicht zum Vorschein kamen. Plötzlich fragte er: „An was hast du dich erinnert?“

Ich sog scharf die Luft ein. Er konnte wohl schnell Sachen zusammenzählen. „Na ja. Viele Erinnerungen zu meinem Erwachsensein, also über mein Studium und... dich.“

„Und wie viel weißt du jetzt?“ Sein Blick war immer noch aufmerksam und scharf.

Ich zuckte scheinbar beiläufig mit den Schulter. „Ich weiß, wie du als Wolf aussiehst. Und wieso du dich darüber aufgeregt hast, als ich dich hier zum zweiten Mal gefragt habe, ob du ein Vampir aus 'The Vampire Diaries' bist.“

Er lachte kurz auf, dann kehrte seine Ernsthaftigkeit zurück. „Und was noch?“

Ich beantwortete seine Frage mit einer Gegenfrage. „Liebst du mich wirklich?“

Sein Gesicht schien so, als ob er befürchtet hatte, dass ich von seiner Liebeserklärung wusste. „Ja. Das tue ich“, sagte er schließlich. Aber anstatt sich nach diesem Geständnis erleichtert und besser zu fühlen, verspannte er sich. „Und genau liegt das Problem. Hätte ich das niemals getan, wärst du nicht in dieser Situation. Du würdest jetzt noch ganz normal in deinem Zuhause leben.“

„Aber was hat es damit zu tun, dass du mich liebst?“ Ein Schauder lief über meinen Körper, als ich es sagte.

Er antwortete nicht darauf, stellte mir dafür aber eine Frage, die mich ziemlich aus dem Konzept brachte. „Und was genau macht dir eigentlich Angst dabei, dass ich dich liebe?“ Bei seinem Blick hätte ich beinahe aufgeheult. Er war zwar gefasst, aber die Verzweiflung und Trauer zerrte an seiner Maske.

„Ich ... Kannst du vielleicht verstehen, wenn ich dir sage, dass ich diese Liebe nicht erwidern kann?“

Emotionslos starrte er mich an. „Kann ich. Habe ich schon früher getan. Du hast mir nie deine Liebe gestanden.“

Ich versuchte nicht darauf einzugehen, obwohl der Drang, mich ihm heulend in die Arme zu werfen, immer größer wurde. „Es zerreißt mich“, sagte ich, um auf seine Frage endgültig zu antworten. „Das Gefühl, das ich dir gegenüber nicht empfinden kann. Liebe. Egal, was du für mich tun würdest... Würde ich das auch? Das bezweifle ich. Und ich will dich nicht auf irgendeine Weise verletzen. Das ist das Letzte, was ich will. Selbst wenn ich dich nicht liebe, hänge ich irgendwie an dir.“ Dass ich das wirklich gesagt hatte, sickerte erst jetzt so langsam in mein Bewusstsein. Ich musste das nächste Mal unbedingt nachdenken, bevor ich etwas sagte.

Aber was ich gesagt hatte, war trotzdem wahr, stellte ich fest und das wurde mir erst jetzt richtig bewusst. Ich würde nichts für ihn tun, aber wehtun wollte ich ihm trotzdem nicht.

„Du musst dir wegen mir keine Sorgen machen. Mir geht es gut. Und ich erwarte nicht, dass du für mich vor eine Kugel springst oder Ähnliches.“ Was ich aber für dich ohne Zögern machen würde, fügte ich für ihn im Geist hinzu.

Ich konnte seine Kälte nicht länger ertragen. Jetzt verhielt er sich mir gegenüber, als ob ich niemand wäre. Dabei war ich jemand für ihn. Und nicht nur irgendjemand.

Ohne lange nachzudenken, streckte ich meine Hand nach ihm aus, um die Härte aus ihm irgendwie vertreiben zu können. Da er zurückgewichen war, berührte ich nur seine Hand. Meine Finger umschlossen sie fest und ich schaute ihm fest in die Augen. Er erwiderte den Blick erst nur halbherzig, aber dann wurde die Wärme in ihnen intensiver.

Und es schien mir plötzlich, als ob ich mich erinnern würde – vielleicht aber spann ich auch irgendwas zusammen. „Der Grund, wieso ich dir die Liebe nicht erwidern wollte“, sagte ich, während ich auf meine Erinnerung zurückgriff, „war, dass ich nicht nochmal jemanden verlieren wollte, den ich liebte.“

Diese Erklärung erschien mir so logisch. Und sie fühlte sich auch so richtig an, als ob ich es die ganze Zeit über gewusst hatte, aber es mir nicht eingestehen wollte. Ich erinnerte mich an den Moment zurück, als Chris 'Ich liebe dich' gesagt hatte. Dieser Moment saß so fest in meinen Erinnerungen fest, dass ich jedes Detail davon noch wusste. Es musste so stimmen.

Chris beugte sich lächelnd vor und küsste mich sanft auf die Lippen. Noch nie hatte er mich sanft geküsst, nicht, so weit es mir mein Gedächtnis zuließ – aber es fühlte sich genauso gut, genauso richtig an.

Der Kuss dauerte nur kurz an, es war eher ein sanftes Drücken gewesen, aber in mir kribbelte alles von dieser Berührung.

Als er sich von mir löste, schaute er mich ernst an. „Das nächste Mal, wenn du einschläfst, werden sie dich holen“, sagte er. Bevor ich fragen konnte, woher er das wusste, meinte er: „Ich spüre es. Ihn. Seinen Bruder. Seine Anwesenheit ist unverkennbar.“

Also war es bald wieder soweit. Das Monster würde mich wieder foltern. Und es würde noch schlimmer werden, denn nun war sein Bruder auch mit dabei.

Auf einmal fühlte ich mich schwach. Als hätte irgendjemand die Energie aus mir gesaugt, wie ein ... Vampir.

Es war unglaublich, wie sich meine Meinung aufgrund des neugewonnen Wissens über das Monster verändert hatte. Ich hatte ihn gehasst und hatte furchtbar Angst vor ihm. Jetzt hatte ich furchtbare Angst vor seiner Spezies und gab ihm nicht mehr direkt die Schuld dafür, sondern eher den blutigen Gedanken aller Vampire.

„Ich will nicht, dass sie dich auch nur noch ein einziges Mal anfassen. Und erst recht nicht diese perverse Ausgeburt von Bruder. Er darf dich nicht so anfassen, wie ich es mal getan habe.“ Seine Stimme war nun fest, entschlossen und wütend.

Ich nickte nur monoton. Was konnten wir schon dagegen ausrichten? Wir hatten es nie geschafft und würden es auch weiter nicht schaffen.

„Wir hätten früher schon etwas tun müssen.“

„Damals, als ich noch genug Motivation hatte, also so gefühlt vor einem Jahr?“, sprach ich ihm ins Wort. Ich meinte es nicht böse, ich hatte nur keine Lust mehr über eine Flucht nachzudenken. Ich hatte bereits alle Wege genaustens durchdacht. Es gab keine Möglichkeiten zur Flucht. Wir hatten weder die Waffen, noch die Kraft zum Ausbruch.

„Es tut mir leid. Wirklich leid, dass ich nicht früher gehandelt hatte." Chris strich mit großen schuldigen Augen über mein Gesicht. "Aber jetzt müssen wir etwas tun. Und endlich habe ich einen Plan.“

Erwartungsvoll schaute ich ihn an. Er meinte es wohl ernst, also gab es vielleicht doch noch eine Chance.

„Einen Plan?“

„Ja. Und du wirst wegrennen, wenn sich die Gelegenheit bietet. Du denkst nicht an mich. Okay?“ Fest sah er mir in die Augen.

„Du willst mir also deinen ach so tollen Plan nicht verraten?“

„Okay?“, wiederholte er.

„Ja, okay. Ich verspreche es.“ Ich meinte es trotz des Versprechens nicht ernst. Sollte ich ihn dann wirklich vergessen und einfach abhauen? Ich wusste es wirklich nicht. Ich wollte es, aber konnte ich ihn wirklich zurücklassen?

Man schien es meinem Gesicht komischerweise nicht anzusehen, dass ich das Versprechen nicht ernst meinte. Chris glaubte mir. Gut so. Er würde mich sowieso nicht anders überzeugen können.

Trotzdem überfiel mich ein Zittern, als ich wieder an das Monster dachte. Wenn sein Halbbruder noch schlimmer war, wie schlimm konnte es dann noch werden?

Und ich hatte gedacht, es konnte nicht schlimmer werden.

„Wenn er mich wirklich holen wird, sobald ich einschlafe, um mich wieder zu foltern ...“ Ich schluckte. „... dann halt mich jetzt so lange wie möglich wach. Bitte.“

„Das mache ich.“ Es klang wie ein Versprechen. Ich glaubte sofort, dass er es so gut wie möglich in die Realität umsetzen würde.

„Was hat es also mit dieser Teresa auf sich?“, fragte ich ihn, um die Zeit so gut wie möglich totzuschlagen und dabei auch noch etwas aus Chris rauszukriegen. „Wieso ist das Monster deswegen auf Rache aus? Hast du ihn ausgelacht, als er nach ihrem Tod zusammengebrochen ist?“

„Nein.“ Er biss die Zähne zusammen. „Denn ich habe Teresa umgebracht.“

Mein Kiefer klappte nach unten. „Du hast was?“, japste ich. Chris war also auch ein Monster. Und ich hatte mich von ihm küssen lassen.

„Es war eine heikle Situation gewesen. Entweder sie oder ich. Und ich hänge eben an meinem eigenen Leben.“

„Warte, was heißt entweder sie oder ich?“

Chris holte tief Luft. „Sie war ein Monster Werwölfen gegenüber. Ihr Hass war unglaublich. Sie hatte es sich in den Kopf gesetzt, sie alle zu töten.“ Er sprach in einem sachlichen Ton, aber er war angespannt. Vor allem nachdem er meinen Schock darüber gesehen hatte. „Wie gesagt, entweder sie brachte mich um oder ich sie.“

Also war er vielleicht doch kein Mörder. Nur der Mörder eines Monsters.

„Irgendjemand muss Winthir wohl verraten haben, wer sie umgebracht hatte. Er war mit Teresa seit Jahren zusammen und sie war seine große Liebe. Und deswegen wollte er, dass ich für ihren Tod litt. Und zwar schlimmer als er es selber getan hatte.“

Deswegen hat das Monster mich, Chris' große Liebe, gefangen genommen und foltert mich nun, während Chris zusehen muss. Das ist, von seiner Seite aus gesehen, der perfekte Racheplan.

„Eigentlich ist dies vor Jahren geschehen. Mit seinem Angriff hatte ich nie gerechnet. Und er hat wirklich so lange gewartet bis ich mich verliebt hatte. Wie du ihn schon nennst, er ist ein Monster. Und ich war so dumm gewesen, dass ich nach so vielen Jahren nicht mehr mit Rache gerechnet hatte.“

Hatte ich davon gewusst? Hatte Chris mir diese Geschichte schon mal erzählt oder hatte er es sich nie getraut, erzählt zu haben, dass er jemanden umgebracht hatte? Sehr unwahrscheinlich also, dass er mir davon mal erzählt hatte. Vielleicht war es aber auch meine Schuld gewesen, dass er es mir nie anvertraut hatte. Ich hatte ihm nie meine Liebe gestanden.

Hatte ich ihn überhaupt jemals geliebt?

„Es war überhaupt echt dumm, erst jetzt über eine Flucht nachzudenken und sie zu planen. Wir... Nein, ich hätte früher handeln müssen. Jetzt da auch noch sein Bruder da ist, wird es wahrscheinlich auch noch schwieriger, zu entkommen.“ Er seufzte verzweifelt.

„Nein“, widersprach ich ihm. „Es ist genauso meine Schuld wie deine, dass wir hier noch festsitzen. Ich habe überlegt, wie ich hätte fliehen können, aber ich hatte nie wirklich hart darüber nachgedacht. Denn hätte ich es, wäre mir sicher etwas eingefallen.“

Chris schüttelte den Kopf. „Aber wenn ich mich nicht in dich verliebt hätte, wäre dir gar nichts erst passiert. Du wärst nicht in dieser Situation.“

„Wenn ich mich nicht von Anfang an dir an den Hals geworfen hätte, wäre es auch anders gewesen.“ Ich schaute ihn lange an, in der Hoffnung, er verstand, dass ich einen Scherz gemacht hatte. „Es ist egal, was mal gewesen ist. Aber es ist jetzt wichtig, dass wir aus dieser Situation rauskommen!“

Zum ersten Mal fühlte ich mich stärker als Chris. Sonst war er immer meine Stütze gewesen, aber jetzt war er wohl psychisch beinahe am Ende. Ich beugte mich zu ihm rüber und umfasste sein Gesicht, wie er es immer gemacht hatte. Tief schaute ich ihm in die Augen.

„Entweder wir schaffen es dieses Mal, zu entkommen oder nicht. Wahrscheinlich werden wir sterben, wenn wir es nicht schaffen. Aber dann hat es sich wenigstens gelohnt. Dann sind wir ihn wenigstens so los. Egal wie, wir werden ihn bald ein letztes Mal sehen.“

Er nickte und ich fühlte wie ihn wie auch mich Stärke durchströmte. Beinahe waren wir beide glücklich.

„Erzählst du mir also von deinem Plan?“, fragte ich.

Er schüttelte den Kopf. „Aber wenn wir es doch nicht schaffen, zu entkommen und du schlussendlich weißt, dass alle Bemühungen nichts mehr bringen ...“ Er sah mir ernst in die Augen. „... dann bring dich um.“

Ich nickte, ebenfalls einen ernsten Ausdruck im Gesicht. Wenn die Flucht wirklich nicht gelingen würde, dann würde es sich auch nicht lohnen, weiterzuleben. Das war unsere einzige Chance zu einem normalen Leben. Und selbst wenn Chris mich liebte, wollte er, dass ich im Falle des Falles starb. Lieber sterben, als weiter dieses Leben zu leben. Stellte sich nur die Frage, wie ich mich umbringen konnte.

Ich entschied mich, vom Thema abzulenken. Und da fiel mir etwas ein. „Woran liegt es eigentlich, das deine Haut immer so zischt, wenn sie die Fesseln berührt?“, fragte ich.

Er lächelte über den Themenwechsel. „Die Fesseln sind aus Titan. Hochgiftig für Werwölfe; und das beste Element, wogegen du dich gegen uns schützen kannst. Sieht übrigens aus wie Silber, weswegen der Mythos entstanden ist, dass Silber Werwölfe töten kann.“

Ich lachte. Keine Ahnung, was mich dazu brachte, überhaupt meine Mundwinkel zu heben. Wahrscheinlich daran, dass ich wusste, dass meine letzten Stunden geschlagen hatte. Aber vielleicht lag es auch einfach nur an Chris.

 

Ich hatte den Überblick darüber verloren, wie lange wir miteinander über die banalsten Dinge gesprochen hatten. Und von außen gesehen sah es seltsam aus, denn Chris hatte mir eben seine Liebe gestanden und ich hatte ihn praktisch von mir abgewiesen. Außerdem war dies nicht der beste Ort zum Herumblödeln und auch nicht die beste Zeit.

Aber wir brauchten das. In wenigen Stunden würde alles eine komplette Wendung nehmen – mit einen ungewissen Ende. Entweder wir würden es schaffen zu fliehen oder wir würden sterben, entweder durch die Hand des Monsters oder durch unsere eigene. Vielleicht aber auch würde es noch übler werden und er würde uns erneut gefangen nehmen. Die Folter würde doppelt so schlimm weitergehen und die Sicherheitsmaßnahmen verstärkt werden. Es gab also einen ganz einfachen Grund, wieso der Tod da besser war.

Vor Müdigkeit fielen mir langsam die Augen zu. Ich war bis zum Boden hin erschöpft. Auch Chris war müde, doch er versuchte, das zu überspielen und brachte mich stattdessen andauernd zum Lachen. Aber langsam konnte ich wirklich nicht mehr.

„Chris?“

Es war schon eine Weile ruhig, alle möglichen Gesprächsthemen schon zweimal durchgekaut.

„Ja.“

„Ich will nicht einschlafen.“

„Mhm.“

„Lenke mich bitte noch etwas ab. Halte mich davon ab, zu schlafen." Das hatte er zwar schon die ganze Zeit getan, aber es würde nie reichen. „Ich mag einfach nicht mehr daran denken. Ich weiß, es muss irgendwann kommen, aber ich will es einfach nicht mehr im Kopf herumschwirren haben.“

Er überlegte eine Weile, bis er etwas sagte. „Ich liebe dich.“

Ich seufzte und gähnte dann. „Es lenkt mich nicht wirklich davon ab, es bringt mich eher zum Heulen.“

Auch Chris seufzte. „Was soll ich deiner Meinung sonst noch sagen? Mir fällt wirklich nichts mehr ein.“

„Erzähl mir wie wir überhaupt hier hergekommen sind“, meinte ich. Langsam aber sicher stand ich mit einem Fuß in der Traumwelt. Schmerzhaft kniff ich mir ins Bein, um wieder da rauszukommen.

Chris überlegte nicht lange. Er erzählte es mir gleich, ohne Bedenken daran, dass es mich verstören könnte, ohne die Frage zu stellen, ob ich es wirklich wissen wollte oder was auch immer ihn daran gehindert hatte, mir etwas zu erzählen. Es war sowieso egal. Ich würde es wahrscheinlich sonst nie erfahren.

„Seine Spione waren wohl schon lange hinter uns her“, begann er zu erzählen. „Denn sonst hätte Winthir nicht genau drei Tage nachdem ich dir meine Liebe gestanden habe, uns angegriffen...“

Ich hörte ihm gespannt zu.

13. Kapitel

 

Ich träumte von der Geschichte, die er mir erzählt hatte. Ich erinnerte mich wieder daran. Und nun erlebte ich diese Situation mit, wie immer, wenn ich von meinen Erinnerungen träumte.

Schweiß lief mir kalt den Rücken hinab, obwohl mir so heiß war.

Es war Angstschweiß.

Ich wusste nicht mehr, wo ich war, und dieses Viertel mit den zerbrochenen Fenstern schien nicht mehr ganz so vertrauenswürdig. An jeder Ecke konnte irgendjemand mich schnappen und vergewaltigen. Vielleicht darauf auch noch auf einem Markt versteigern.

Aber das war nicht mein größtes Problem. Es hatte einen ganz bestimmten Grund, wieso ich überhaupt durch diesen baufälligen Teil der Stadt rannte.

Irgendwelche Idioten hatten meine Wohnung überfallen. Und es hatte ganz danach ausgesehen, als hätten sie eine ganz bestimmte Person darin gesucht. Mich.

Ich hatte keine Ahnung, woher dann plötzlich Chris kam. Seine Wolfsgestalt erschien aus dem Nichts, als die Einbrecher mich schließlich versteckt in einem Schrank fanden. Sie hatten mir schon fast ein Tuch mit Chloroform vors Gesicht gehalten, da sprang er plötzlich durch die Tür und riss alle um. Jedoch richteten sie sich alle beinahe sofort auf und knurrten ihn an.

Ich war verwirrt gewesen, als ich plötzlich scharfe Eckzähne bei ihnen aufblitzen gesehen hatte. Jetzt, nachdem sich mein Gehirn sich einigermaßen von dem Vorfall beruhigt hatte und nur noch rennen vorhatte, verstand ich, was sie waren. Chris hatte mir einmal von Vampiren erzählt. Und sie waren so gut wie unsterblich, unzerstörbar. Das war Chris aber auf keinen Fall, er konnte durch einen einfachen Griff sterben. Er hatte höchstens mehr Stärke als ein normaler Mensch.

Ich bereute es, ihn zurückgelassen zu haben. Er hatte mir geholfen und ich war davongerannt, ohne weiter an ihn zu denken. Ich hätte die Vampire wenigstens von ihm ablenken können. Ich hätte seinen voraussichtlichen Tod verhindern können.

„Renn!“ hatte Chris gesagt. Und ich hatte es getan. Und mir über ihn keine Gedanken gemacht.

Ich hielt an. Weiter konnte ich nicht mehr rennen. Meine Beine brannten vor Überanstrengung und verkrampften sich, jeder Atemzug ließ meine Lunge schmerzhaft zusammenziehen. Erschöpft lehnte ich mich an eine Hauswand.

Ich wollte, musste zurückrennen. Ich konnte ihn doch niemals zurücklassen! Aber eine Stimme sagte mir, ich sollte weiter rennen. Chris hatte gewollt, dass ich verschwand und ich hatte es getan und sollte es auch weiterhin tun.

Es waren Angst und Egoismus, die mich dazu trieben, doch weiterzurennen. Aber ich war nicht lange gerannt, vielleicht eine Minute, und plötzlich erschien vor mir ein Mann. Ich erkannte ihn als einen der Einbrecher. Laut schrie ich auf.

Der Mann entblößte seine scharfen und spitzen Zähne, als er böse grinste. „Na endlich“, sagte er.

Ich wimmerte ängstlich.

„Und ich habe gedacht, er würde sich nie verlieben.“

Dann hielt er mir plötzlich ein seltsam riechendes Tuch vors Gesicht – Chloroform. Ich wehrte mich, doch ich war machtlos gegenüber dem Vampiren. Panik stieg in mir auf. Doch bevor ich noch etwas tun konnte, war ich weg.

Ich wachte auf und fühlte mich seltsam benebelt. Chris lag neben mir. Blutbesudelt, schweißnass – aber ohne Verletzungen. Er lebte.

„Chris!“, rief ich auf und sprang zu ihm rüber. Aber eine Hand um meinen Arm hielt mich zurück. Es war die des Mannes, der mich gekidnappt hatte.

Chris regte sich ebenfalls, aber seine Hände und Füße waren gefesselt. Sein zorniger Blick bohrte sich in den siegreichen des Monsters vor mir.

„Schau doch, Dornröschen ist endlich wach“, sagte er. „Leider hat die kleine schlafende Prinzessin unsere Unterhaltung verpasst. Aber vielleicht sollte ich ihr jetzt alles darüber erzählen?“

Chris knurrte. Er zerrte an den Fesseln, aber er tat sonst nichts, außer ihn anzubrüllen.

Wieso verwandelte er sich denn nicht? Wieso? Es wäre doch die Lösung aus der Situation gewesen!

„Du Schwein?“, schrie er. „Lass sie frei! Sie hat nichts damit zu tun! Gar nichts!“

Aus meinen Augen flossen Tränen. „Chris! Was soll das alles hier? Wer ist er?“, rief ich verzweifelt.

„Schweig, Weib!“, schrie der Mann. Mit einem Schlag ins Gesicht haute er mich um.

Ich schrie und schluchzte auf.

„Fass sie nicht an!“, brüllte Chris wieder.

Der Mann drehte sich zu ihm um. Sein Blick war mörderisch. Wie das eines Monsters. Er war ein Monster. „Mit dir habe ich bereits geredet. Jetzt ist das Prinzesschen dran!“ Das Monster nahm Chris hoch, als würde er gar nicht wiegen – was es für einen Vampir auch so war – und schleppte ihn raus.

Ich wollte ihnen schreiend hinterher rennen, aber ich war wie festgefroren. Kurz war ich allein, dann kam das Monster auch schon wieder herein.

„So und jetzt komm her!“, forderte er.

Ich wimmerte.

Oh nein, er darf mich nicht anfassen.

Aber er kam stattdessen näher und packte mein Gesicht. Meine Augen weiteten sich.

Nein, bitte, lass mich in Ruhe!

„Du wirst gleich alle deine Erinnerungen verlieren. Und zwar wirklich alle.“ Er schaute mir tief in die Augen.

Verwirrt sah ich ihn an. Was wollte er damit erreichen, es mir zu sagen?

„Alles über deine Kindheit und Jugend, und erst recht die Zeit mit deinem Freund Christoph.“

Am liebsten hätte ich ihn wütend dafür angeschrien. Ich würde nicht vergessen! Niemals! Niemals würde ich es zulassen, dass er meine Erinnerungen wegnahm. Aber als ich versuchte mich daran zu erinnern, wie schön es früher gewesen war, war da nichts als Leere.

„Du wirst deinen Namen vergessen.“

Ich versuchte mich an anderes zu erinnern, aber sobald ich es tat, verschwand die Erinnerung sofort wieder.

„Du wirst noch laufen können, essen können und alles andere, was einen Menschen so auszeichnet. Aber die Erinnerungen wirst du verlieren. Du wirst ohne Erinnerung sein.“

Ohne Erinnerung.

Diese zwei Worte setzten sich in meinem Kopf fest.

Fieberhaft versuchte ich mich an meinen Namen zu erinnern, denn ich durfte nicht alles vergessen. Die Erinnerungen waren das, was einen ausmachte. Ich dachte zurück an Chris. Nein, ich durfte ihn nicht vergessen. Das Monster konnte mich nicht dazu bringen. Aber ich konnte mich nicht von ihm lösen, weder von seinem Griff, noch von seinem Blick.

„Und du wirst auch diesen Moment hier vergessen.“

Nein, das würde ich nicht.

„Schlaf jetzt.“

Das tat ich.

 

Es schien, als ob mich ein Lachen weckte. Denn genau in dem Moment, als ich die Augen aufschlug, fing irgendeiner an, böse zu lachen.

Ich kannte die Stimme nicht, sie stammte weder von Chris noch von dem Monster. Ich blickte zum Ursprung des Lachens. Da stand ein in Straßenklamotten gekleideter Mann, seine Haare kurz geschoren, dunkle Haut und mit einem eigentlich normalen Gesichtsausdruck. Wäre ich ihm auf der Straße begegnet, wäre er mir wie ein ganz normaler Mensch vorgekommen.

Aber das war er nicht. Er musste wohl der geistesgestörte, perverse Bruder des Monsters sein.

„Du hast keine Ahnung, wie lange es gebraucht hat, dich zu wecken, Prinzessin“, meinte das Monster.

„Prinzessin?“, fragte sein Bruder. „Wieso nennst du sie Prinzessin? Sollten solche nicht schön sein?“ Er lachte. Das Monster stimmte mit ein.

Ich biss wütend meine Zähne zusammen, aber nicht wegen der Beleidigung. Ich wusste wegen dem Monster nicht, wie ich einmal aussah, und das machte mich sauer. Einfach nicht zu wissen, wie man aussah.

Als das Lachen verklang, schaute der Bruder mich plötzlich lüstern an. Ich erschauderte. Der Blick war durch und durch verrückt. Es war kein normaler Blick voll Verlangen, den ich sonst immer bei Chris gesehen hatte, sondern einer, der zeigte, was für verrückte Sachen er mit mir anstellen wollte.

„Na, was wollen wir jetzt mit dir machen?“, fragte er, sein Blick ging über mich. Der Blick erinnerte an einen, der kurz davor war, mit seinem neuen Spielzeug zu spielen. Ich hatte auf einmal das Bedürfnis mich zu übergeben.

Chris knurrte laut los. Der Bruder lachte. „Du hast recht, Bruder“, sagte er zu dem Monster. „Wenn er im Hintergrund knurrt, dann macht es nur noch mehr Spaß und es kommen einem nur noch mehr Ideen in den Sinn.“

Das Monster nickte grinsend. „Noch witziger war es aber, als er herausgefunden hatte, dass sie sich an nichts erinnert. Er wollte so sehr mit ihr in ihren gemeinsamen Erinnerungen schwelgen, aber plötzlich weiß sie nichts mehr davon.“ Beide lachten darüber los. Es war wie in einem schlechtem Film, in dem sich die Bösewichte sich über Unwitziges lustig machten. Vielleicht wäre es für mich aber auch lustig, wenn die Rollen vertauscht wären.

„Und dann habe ich ihn auch gezwungen, nicht mit ihr zu reden. Das hat ihn wahrscheinlich innerlich noch mehr zerrissen!“ Das Gelächter wurde noch lauter. Fast hätte ich deswegen selber gelacht.

„Aber die beste Idee war es aber ihn auch noch zu zwingen, bei der Folter hinzusehen! Er hätte sich abwenden können, aber er konnte nicht und musste alles mitansehen!“

Na ja, langsam wurde ihr Lachen weniger witzig. Wann würde Chris endlich seinen Plan durchführen? Langsam war es auch echt an der Zeit und die beiden waren abgelenkt. Also wäre jetzt der perfekte Zeitpunkt. Aber Chris tat nichts Außergewöhnliches, er blickte nur weiterhin finster drein.

Doch vielleicht merkte er nun, dass der Plan doch Nichts mehr war. Oder er hatte mir nur etwas von Flucht eingeredet, damit ich mich beruhigte, obwohl ich heute sogar sterben würde. Kurz: Der Plan war gescheitert und wir würden für immer in Qualen leben.

Ich ermahnte mich, nicht ständig negativ zu denken. Alles ist okay, redete ich mir ein. Ich musste mich beruhigen. Mein Herz schlug schon doppelt so schnell und Vampire hörten so etwas normalerweise. Und sie hatten es gehört. Das Monster drehte sich grinsend zu mir um.

„Na, freust du dich schon, was?“ Die beiden grinsten sich an.

„Ich darf doch anfangen, oder?“, fragte sein Bruder, aber er schüttelte den Kopf.

„Nein“, sagte er. „Aber gleich.“

Er hatte keine Messer bei sich, weder in der Hand, noch in der nicht vorhandenen Jackentasche. Aber er kam auf mich trotzdem zu und ich fürchtete, er würde mich wieder manipulieren, mir selbst weh zu tun. Doch er tippte mich nur mit dem Finger an. Und zwar am Arm. Erst schaute ich ihn verwirrt an, denn ich verstand den Sinn dahinter. Selbst als er so stark drückte, dass es wirklich richtig weh tat, verstand ich es nicht. Und ich schrie auch nicht, wahrscheinlich war ich schon für so etwas abgehärtet.

Aber das Monster drückte immer stärker zu. Als sein Finger sich plötzlich in mein Fleisch bohrte, schrie ich auf, sowohl aus Überraschung als auch aus Schmerz. Dieser Schmerz war schlimmer, als die von den Messer. Die Klingen waren scharf gewesen und glitten leicht in mich. Sein Finger jedoch waren hart und bohrten sich schmerzhaft rein, zerrissen meine Haut und meine Muskeln. So etwas Brutales konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.

Mein Schrei war laut. Der Schmerz halte in meinem ganzen Körper wieder. Verzweifelt schaute ich zu Chris.

Mach doch etwas! Mach doch! Was ist jetzt mit deinem achso tollen Plan passiert?

Sein Gesicht war verzerrt vor Wut, Trauer und Mitgefühl. Aber er tat nichts. Also hatte er mich wegen des Planes nur angelogen. Ich hasste ihn dafür, selbst wenn er nur das Beste für mich gewollt hatte. Er hatte mir etwas vorgespielt.

Das Monster zog den Finger aus mir raus, aber mein Schrei hielt immer noch an. Hysterisch guckte ich auf das blutige Loch in meinem Oberarm. Dabei hatte ich gedacht, ich könnte wegen ihm nicht mehr hysterisch werden.

Das Monster schleckte seinen Finger ab und ich wäre angewidert, wenn der Schmerz nicht so viel meiner Konzentration einnehmen würden.

Ich merkte nicht, wann das Monster mit seinem Halbbruder getauscht hatte, aber auf einmal stand er vor mir. Sein angeblich perverser und durchgeknallter Bruder. Ein Schauder ging über mich, als er mich gierig ansah. Dass ich nur noch zerrissene Unterwäsche trug machte die Situation für mich auch nicht besser.

Es würde schlimmer werden als mit dem Monster. Diesmal würde es nicht nur Schmerzen geben. Er würde mich vergewaltigen – und Schlimmeres mit mir anstellen.

Und wieder staunte ich, wie normal er aber eigentlich aussah.

Ich schloss die Augen, als er sich zu mir hinunterbeugte. Zu groß war der Ekel. Aber ich spürte seine Anwesenheit umso mehr und allein deswegen trieb es mir Tränen in die Augen. Als seine Finger plötzlich meine nackte Haut berührten, schien es mir, als krabbelte eine Kakerlake über meine Haut. Ich wollte mich winden, saß aber in den Fesseln fest.

„Fass sie nicht an!“, rief plötzlich Chris.

Ich schlug meine Augen auf.

Der Bruder runzelte die Stirn. „Hast du ihn nicht dazu manipuliert, still zu bleiben?“, fragte er das Monster.

„Ja, eigentlich schon.“ Er schürzte die Lippen. „Aber er scheint sich dagegen zu wehren. Ich glaube, er wird sich irgendwann sogar immer mehr dagegen wehren, obwohl seine Kraft täglich schwindet. Ich muss ihn vielleicht heute umbringen.“

Es schien, als hätte das Monster unseren Plan erfasst. Wir wollten fliehen und dieser Wille war nur da, weil Chris den Zwang überwunden und mit mir gesprochen hatte – sonst wären wir vielleicht sogar weiterhin Marionetten des Monsters gewesen, starr wie Puppen, mit einer neutralen Einstellung zu allem.

Und bis mir durchdrang, dass das Monster Chris töten wollte, berührte mich der Bruder schon wieder.

„Fass sie nicht noch ein Mal an!“, warnte Chris ihn.

Grinsend drehte er sich zu ihm um. „Und was willst du dagegen unternehmen?“ Er packte mich auf einmal fest an die Brust und ich stöhnte schmerzhaft auf. „Du kannst nichts dagegen machen, du bist gefesselt!“ Er lachte.

„Dann komm doch her!“, rief Chris. „Komm her, wenn du dich traust!“

Mit einem gehässigen, überlegenem Grinsen schlenderte der Bruder auf ihn zu. „Egal, was du sagst oder machst“, sagte er zu Chris und grinste dann, „du wirst mich nicht daran hindern können, sie anzufassen.“

Mit jedem Wort lehnte er sein Gesicht näher zu Chris bis die beiden am Ende nur noch ein Zentimeter trennte. Mit ihren Blicken lieferten sie sich ein Duell, bei dem man meinen könnte, dass sie sich wirklich durch Blicke töten konnten.

Plötzlich verdrehte Chris unnatürlich seinen Kopf. Erschrocken schaute ich hin, während sich sein Gesicht verformte und sein Kiefer sich nach vorne verschob. Er gab einen unmenschlichen Laut von sich, das beinahe nach einem Heulen klang. Seine Beine und Arme zerrten an den Fesseln, die langsam quietschend nachgaben. Dann, auf einmal, hatte Chris die eine Hand aus der Fessel gezogen, dann die andere und die Füße. Als er auf dem Boden aufkam, schossen Haare aus seiner Haut und nun stand nicht mehr Chris da, sondern ein großer Wolf.

Der Bruder des Monsters war erstarrt. Er war so überrascht darüber gewesen, dass Chris sich verwandelte – was er eigentlich gar nicht mehr können durfte, da das Monster ihn dazu gezwungen hatte –, dass er sich nicht rührte, bis Chris ihn beim Lösen der Fesseln umgeworfen hatte. Es war mir ein Rätsel, wieso er die Fesseln nicht in seiner menschlichen Gestalt hätten zerstören können.

Wütend richtete sich der Bruder auf, nachdem er auf den Boden gestürzt war. Auch das Monster regte sich zum ersten Mal wieder, aber es reagierte nicht wütend, sondern eher geschockt. Bevor der Bruder irgendwas tun konnte, stürzte Chris sich auf ihn und schleuderte ihn in eine Ecke. Ohne sich weiter um ihn zu kümmern, rannte der Wolf auf das Monster und mich zu. Der hatte seinen Schock nun überwunden und stand nun gefasst da, bis Chris ihn angriff. Chris sprang in die Luft, einen gefährlichen Blick im Gesicht, und landete auf dem Monster. Na ja, das wäre er, wenn das Monster nicht geschickt auswich, stattdessen Chris packte und durch die Luft schleuderte. Als der Wolf gegen eine Wand krachte und eine tiefe Delle hinterließ, heulten wir beide leise auf. Doch er richtete sich schnell wieder auf und griff das Monster wieder an.

Verzweifelt zerrte ich an meinen Fesseln.

Es war hoffnungslos. Chris handelte aus voller Wut, aber das Monster war bei vollem Bewusstsein. Er wusste genau, was Chris machen würde, da er gefasst und konzentriert war. Niemals würde das für uns gut ausgehen.

Die beiden kämpften nicht lange, dann zog sich Chris plötzlich zurück. Er gab auf.

Oh nein. Nein. Bitte nicht. Mach weiter. Bitte. Ich will hier raus. Ich will, dass wir beide hier raus kommen. Bitte. Gib nicht auf.

Chris zog sich immer weiter zurück. Er zog sogar wortwörtlich seinen Schwanz ein. Das Monster schenkte ihn ein böses triumphierendes Grinsen. Beinahe schluchzte ich dabei auf.

Erst als ich merkte, dass sich Chris immer weiter zu mir zurückzog, kapierte ich, dass das nur eine Strategie war. Er kam mir immer näher dabei. Vielleicht wollte er mir doch irgendwie helfen?

Denselben Gedanken hatte das Monster wohl nun auch. Doch bevor er irgendetwas unternehmen und überhaupt richtig kapieren konnte, was Chris vorhatte, stürzte sich Chris zu mir nach hinten und riss mit seinen Zähnen die Fessel meiner Hand auf. Seine spitzen Zähne bohrten sich dabei ein Stück weit in meine Haut und ließen sie bluten, aber ich spürte es nicht. Zu viel Adrenalin strömte durch mein Körper, der den Schmerz betäubte.

Chris riss bereits die nächste Fessel an meinem Bein auf, da flog das Monster plötzlich auf ihn zu und krachte gegen ihn. Ich hörte Chris' Knochen brechen.

Durch die Wucht flog mit ihnen der gesamte Tisch um, auf dem ich lag. Sie landeten aber etwas weiter weg von mir auf den Boden, während ich wegen der gelösten Fesseln durch mein Gewicht nach vorne fiel und mit dem Gesicht auf den Boden krachte. Ich spürte wie mir etwas Warmes durch die Nase lief und dann auf den kalten, steinernen Boden tropfte.

„Au!“, stieß ich aus.

Der Vampir und der Wolf kugelten sich laut kämpfend auf dem Boden. Ich konnte nicht unterscheiden, vom wem welche Laute kamen. Es sah übel aus, überall waren irgendwelche Zähne und Klauen gepaart mit einem Knurren oder Brüllen.

Plötzlich löste sich das Fellknäuel aus der Kugel und lies das Monster in einer verrenkten Position liegen. Winthir wand sich schmerzhaft hin und her, um seine verbogenen Gliedmaßen wieder einzurenken. Unmenschliches Geheul wich aus seinem Mund.

Chris in Wolfsgestalt raste auf mich zu, aber seine Verletzungen hielten ihn dabei ziemlich auf. Sein braunes Fell war blutbesudelt, seine Wunden so tief, dass sie immer noch am Heilen waren. Er humpelte, seine Knochen in der Vorderfote waren wohl gebrochen. Trotzdem war er relativ schnell bei mir.

Vorsichtig packte er die nähergelegene Fessel an meinem Bein und zermalmte sie mit seinen Zähnen. Erstarrt beobachtete ich, wie diese Zähne es schafften, das hartes Metall zu zerdrücken, ohne dabei abzubrechen.

Chris beobachtete mich mit einem Blick, mit dem ich ihn in Wolfsgestalt nie gesehen hatte. Ich hatte nicht einmal gewusst, das in dem Blick eines Wolfes so viel Liebe vermittelt werden konnte, so viel Zuneigung und gleichtzeitig so viel Schmerz. Er humpelte bereits zu der anderen Fessel an meinem Arm, doch er strauchelte dieses Mal weniger, die Wunden mussten wohl schon alle geheilt sein.

War es nun endlich vorbei? Waren wir endlich frei?

Plötzlich ertönte ein Knurren und kurz darauf stürzte sich wie aus dem Nichts das Monster auf Chris. Ich schrie erschrocken auf. Chris schaffte es gerade noch, die Fessel leicht mit seinen Zähnen zu berühren, da wurde er schon von dem Monster weggeschleudert. Er stürzte sich auch gleich darauf Zähne fletschend auf den Wolf, ohne mich zu beachten.

Chris' Zähne hatten sich nur kaum in die Fesseln bohren können, eher hatte er meine Hand erwischt. Jetzt hatte ich tiefe Kratzer, die fast meine Hand durchbohrt hatte, die unaufhörlich bluteten. Ich fluchte und versuchte meine Hand irgendwie noch aus der Fesseln zu kriegen, aber stattdessen fuhr ein gewaltiger Schmerz durch meinen Arm. Tränen schossen mir in die Augen und verschleierten die Sicht, das Blut aus meiner Nase floss mir in den Mund und ich spuckte.

Verzweifelt versuchte ich noch an der Fessel an meinem linken Arm zu rütteln, aber sie saß fest. Noch mehr Tränen flossen meine Wangen hinunter. Ich konnte doch nicht einfach wegen einer einzigen Fessel hier festgehalten werden!

Ich hob meinen Kopf, um nach Chris Ausschau zu halten und zuckte zusammen, als ein weiterer heftiger Schmerz durch meinen Arm zuckte. Es war nicht schwer, sie zu finden, selbst in der hintersten Ecke der mittlerweile verwüsteten Kirche. Sie waren laut, brüllten und knurrten beide, warfen sich gegenseitig oder Gegenstände durch den Raum.

Ich brauchte seine Hilfe. Ich brauchte Chris' Hilfe. Alleine konnte ich mich nicht von dieser Fessel lösen. Aber er war so weit entfernt und zu beschäftigt mit dem Monster. Niemals würde er es schaffen, mir zu helfen. Wahrscheinlich würde er sogar sterben und das Monster sich dann mit mir weiter beschäftigen.

Immer verzweifelter zerrte ich an meiner Hand, doch es tat einfach nur weh und ich bekam sie einfach nicht raus. Heulend sank ich zusammen und lies es sein. Es war hoffnungslos. Das war es von Anfang an gewesen. Wie hätte ich wirklich denken können, von hier entkommen zu können?

Mit halb geschlossenen Augen beobachtete ich die beiden Wesen kämpfen. Es gab keine Sinn mehr. Ich war sowieso zu müde, um noch irgendetwas zu unternehmen. Zu viel Blut hatte ich bereits verloren.

Ich hörte plötzlich Chris meinen Namen rufen. „Josie!“

Meine Augen riss ich schlagartig weit auf. Chris hatte kurz die Kontrolle über das Monster gewonnen, aber hatte noch keine Möglichkeit gefunden ihn umzubringen. Stattdessen hatte er sich halb zurückverwandelt. Sein Körper war zwar immer noch mit Fell bedeckt, aber seine schnauze hatte sich zurückgebildet und ein beinahe menschliches Gesicht blickte mich an.

„Josie!“

Der Idiot verwandelt sich wirklich zurück.

Er war wirklich dabei, sich zurückzuverwandeln. Aber wieso?

„Renn, Josie!“

Das Monster nutzte Chris' Zeit der Schwäche aus und sammelte all seine Kraft, um ihn von sich zu stoßen. Chris flog in hohem Bogen und krachte gegen den Altar, in dessen Nähe Winthirs Bruder lag. Im Flug verwandelte er sich wieder in den Wolf, schaffte es aber noch, mir ein einziges Wort zuzurufen.

„RENN!“

Erst jetzt verstand ich, dass er sich nicht versucht hatte, zurückzuverwandeln, weil er wie ich aufgegeben hatte. Er hatte es getan und dabei sein Leben riskiert, damit er mir sagen konnte, ich sollte rennen.

Es packte mich plötzlich irgendeine von innen kommende Kraft – der Überlebenswille – und zwang mich, weiter an der Fessel zu rütteln.

Ich musste entkommen! Aber wie?

Es war unmöglich, es ohne Chris' gewaltige Kraft zu schaffen. Alleine war ich zu schwach. Mir fehlte die nötige Kraft, um etwas mit der Fessel anzustellen.

Denk! Komm schon! Denk nach!

Ich merkte, wie meine Hand in der Fessel etwas hin- und herflutschte aufgrund des vielen Blutes.

Das war die Lösung! Ich musste einfach nur mein Blut als eine Art Gleitmittel benutzen. Dann konnte ich endlich aus der Fessel rauskommen. Ich konnte dann endlich davonrennen!

Ich fing an, an meiner Hand fester zu zerren, doch ich bekam sie nicht über meine Fingerknöchel. Verzweifelt zog ich stärker an ihr, nahm etwas Blut von meinem Bein und schmierte es zwischen die Fessel und meiner Hand. Und endlich, endlich, da knackte ein Fingerknöchel und mit einem Ruck konnte ich meine Hand aus der Fessel ziehen. Erst durchfuhr meinen Arm ein scharfer Schmerz, doch meine Adrenalinwelle unterdrückte ihn.

Schnell richtete ich mich auf und rannte los. Ich lief so schnell wie möglich auf den nächsten und auch einzigen Ausgang der Kirche zu und fand mich in einem allzu bekannten Gang wieder. Ich hielt nicht, sondern rannte weiter und sah dann direkt vor mir die Zelle, die mich so lange gefangen gehalten hatte. Sie diesmal nicht von innen, sondern von außen zu sehen, war ein ganz eigenartiges Gefühl und es durchströmte mich und lies mich sogar lächeln.

Ich bin frei.

 

14. Kapitel

 

Ohne mich noch weiter aufzuhalten, rannte ich weiter. Bald hatte ich es geschafft. Bald war ich frei von diesen Qualen und der Gefangenschaft und zusammen mit Chris...

Abrubt blieb ich stehen und erst da verschwand das ganze Adrenalin und durch einen scharfen Schmerz in meinem Fuß stolperte ich. Die klaffende Wunde, die Chris mir aufgerissen hatte, als er die Fessel zerstört hat, blutete stark und hatte eine gute Spur von mir gelegt. Es war ein Wunder, wie ich damit überhaupt so weit gekommen war.

Vielleicht war ich im Moment frei. Vielleicht würde ich hier rauskommen. Aber Chris nicht. Jedenfalls war er jetzt noch nicht frei. Jedoch hatte er es mir ermöglicht, zu entkommen, er selbst kämpfte hingegen noch gegen das Monster. Und ich hatte ihn völlig vergessen und bin ohne mich weiter um ihn zu kümmern losgerannt.

Schmerzwellen durchströmten meinen Körper. Ich wollte mich mithilfe meiner Hand aufrichten, doch diese war wahrscheinlich gebrochen. Mit meinem Fuß, der eher einem Stück groben Fleisch aus der Metzgerei glich, konnte ich mich nicht mehr aufstützen.

Renn!“, hatte Chris gesagt, als die Vampire uns hier her verschleppen wollten. Ich bin gerannt. Ohne ihn.

Renn!“, hatte er auch jetzt gesagt.

Vielleicht würde ich es schaffen zu fliehen. Das Ende des Grauens war bereits zu Greifen. Aber so wie ich Chris mittlerweile kannte, würde er sogar sein eigenes Leben dafür opfern, dass ich entkommen konnte. Er würde nicht wie ich einfach davonrennen, nur um seine eigene Haut besorgt; bereits jetzt riskierte er sein Leben dafür, dass ich Zeit hatte, zu entkommen. Er hätte schon längst selber verschwinden können, ohne mich.

Und dann war da ich. Ich verhielt mich jetzt nicht anders, wie, als die Vampire uns überfallen hatten. Chris hatte gegen sie gekämpft – ich hatte ihn zurückgelassen, meine Beine in die Hand genommen und war davongerannt. Und ich würde einfach immer davonrennen anstatt mich einer Konfrontation zu stellen – und ich fand das auch gut so. Wieso sollte ich mich unnötig in Gefahr bringen? Wieso sollte ich Chris nicht zurücklassen, wenn ich ich mich selbst retten könnte?

Ich fasste meinen Entschluss, ehe ich mich umentscheiden konnte – und rannte zurück. Zurück zu Chris. Er würde mich niemals so hängen lassen und ich durfte es auch nicht.

Mein Fuß rebellierte höllisch, genauso wie mein Magen, der sich schmerzhaft beim Anblick meines bloßen Fleisches zusammenzog. Der Weg zurück schien viel länger zu sein, beinahe kam ich nicht voran. Doch ich zwang mich dazu, Schritt für Schritt zu setzen, denn aufgeben kam nicht in Frage. Entweder ich ging in die eine oder in die andere Richtung, aber stehen bleiben konnte ich nicht.

Die Geräusche des Kampfes drangen wieder lauter in meine Ohren und ich zuckte jedes Mal zusammen, sobald ich darunter ein schmerzhaftes Heulen eines Wolfes hörte.

Als ich endlich zum Eingang hineingestürmt kam, packte mich der Schock. Chris war sichtlich erschöpft, es gab beinahe keine Stelle, an der kein Blut an seinem Fell hing. Das Monster hingegen hatte noch sein bestialisches Grinsen, das breiter wurde, sobald er in Führung gelang. Und das geschah, so wie es nun aussah, immer öfter. Erschrocken schluchzte ich auf.

Hastig drehte der Wolf seinen Kopf zu mir, als er den Laut hörte. Diese Ablenkung nutzte das Monster aus und schleuderte Chris gegen die Holzbänke. Mich erschreckte weniger das Geräusch der splitternden Bänke als das Aufheulen des Wolfes. Ich schluchzte nochmal auf.

„Nein!“, schrie ich, als Winthir auf ihn zu lief, er hingegen sich nicht bewegte. Trotz Schmerzes rannte ich auf beide zu. „Stopp!“

Als das Monster nur noch wenige Schritte von Chris ohnmächtiger Wolfsgestalt war, legte ich einen Zahn zu. Plötzlich drehte er sich jedoch so schnell um, dass mein Auge die Bewegung nicht erfassen konnte, und packte mich, ehe ich mich auf ihn werfen konnte.

„Na, Prinzesschen?“ Ungläubig zog er seine hellen Brauen hoch, die im Kontrast zu seinen dunklen Haaren standen. „Hätte nicht gedacht, dass du noch zurückkommst. Dumm, würde ich sagen. Eigentlich hatte ich gedacht, mir bleibt nur noch der Spaß mit deinem Hund vergönnt, aber so wie es aussieht, scheinst du ja wieder da zu sein.“ Er grinste breit. „Das wird gleich ziemlich witzig werden mit euch beiden.“

Winthir packte mich fester und zog mich plötzlich mit sich. Die Umegbung verschwamm für eine Millisekunde um mich herum und plötzlich standen wir beide am anderen Ende der Kirche. Mein Magen drehte sich um und mir rutschte mein Mageninhalt hoch. Doch da ich nichts im Magen hatte, weil ich wochen- oder monatelang per Infusion gefüttert wurde, konnte ich nur meine Magensäure im Rachen spüren. Ehe ich sie rausspuckte, schluckte ich sie hinunter.

Diese Geschwindigkeit tut wohl keinem Menschen gut.

Das Monster warf mich vor sich auf den Boden und ragte nun gefährlich über mir auf. Ich versuchte, zurückzuweichen, jedoch stieß ich nur gegen eine Wand hinter mir. Weitere Fluchtmöglichkeiten versperrte er mir mit seinem Körper.

Durch seine Beine hindurch sah ich, wie Chris wieder aus seiner Ohnmacht erwachte. Schmerzhaft rappelte er sich auf und schüttelte sich, ehe er sich der Situation wieder ernst wurde. Seine Muskeln spannten sich an, sichtbar trotz der Entfernung und seines Fells. Seine Schnauze wandte sich in unsere Richtung und erstarrte erst, heulte dann laut los, ehe es sich in zu uns stürzte.

Schnell blickte ich hoch zu dem Monster. Selbstsicher blickte er drein, als ob sich von hinten kein aggressiver Wolf auf ihn stürzen wollte. Allein sein Blick jagte mir kalte Schauder den Rücken runter.

Verzweifelt blickte ich wieder durch die Beine zu Chris, doch genau in dem Moment warf sich jemand gegen ihn. Zusammen mit dem Bruder des Monsters krachte Chris auf den Boden. Erschrocken zuckte ich zusammen. Ich hatte keine Ahnung, woher er gekommen war und eigentlich hatte ich ja geglaubt, Chris hätte ihn schon längst erledigt, aber plötzlich war er aus dem Nichts gekommen. Ein Schrei verlies meinen Mund ohne, dass ich es wirklich bemerkte.

Im beinahe selben Moment als dies geschah, schlug Winthir mit der Faust auf mich ein. Mein Körper wurde hart gegen die Wand geschleudert, als der nächste Schlag mich traf. Wieder schrie ich auf, diemal allerdings vor Schmerz.

„Du wirst mir nicht entkommen“, spuckte das Monster mir ins Gesicht, als er zu mir runter kam. „Niemals wird das einer von euch.“

Er schlug mir in den Bauch und ich schnappte nach Luft, krümmte mich zusammen und begann zu husten.

„Deine Qualen werden niemals enden, bis auf dein Ende wirst du so und noch schlimmer leiden müssen. Und wem hast du das zu verdanken? Deinem Hund!“

Ich spuckte Blut. Tränen flossen in Sturzbächen meine Wangen hinunter. Vielleicht hatte ich alle versaut, indem ich hergekommen war. Vielleicht aber hatte ich dadurch Chris Leben gerettet. Schlussendlich zählte jedoch, dass ich wieder hier war und Chris nicht im Stich gelassen hatte. Selbst wenn ich es geschafft hätte, zu entkommen, so hätte ich mein Leben lang mit Schuldgefühlen ihm gegenüber leben müssen.

„Endlich konnte ich ihm einen Bruchteil davon zurückzahlen, was er mir angetan hat.“ Das Monster hatte aufgehört, auf mich einzuschlagen, sein aggressiver Gesichtsausdruck blieb jedoch. „Doch es wird niemals genug sein!“

Erst jetzt merkte ich wie erschöpft ich war. Meine Verletzungen zerrten an mir und trieben mich in den Schlaf, sobald mein Adrenalinpegel wieder sank und keiner mehr mir weh tat. Nur noch der Nachhall der Wunden blieb. Mir war abgesehen davon nur noch schwindlig, mein Kopf schmerzte und zwang mich, die Augen zu schließen und der Welt Lebewohl zu sagen. Noch kurz konnte ich sehen, wie das Monster wieder für einen Schlag ausholte.

Ein markerchütternder Schrei lies mich die Augen aufreißen und das Monster innehalten. Ich sah nur noch wie Chris den Kopf des Bruders an seinen Haaren hielt und ihn dann davon schleuderte – und zwar ohne den restichen Körper. Selbst das Monster war für einen Moment erstarrte, als er diese Situation auf sich einwirken lies, während der Wolf nun auf uns zurannte.

Winthir brauchte nicht lange, um sich wieder zu fangen. Stattdessen packte er mich, zog mich hoch und stellte mich vor ihn hin, sodass ich schlussendlich als sein Schutzschild fungierte.

„Stopp. Wenn du noch einen weiteren Schritt in meine Richtung machst, dann werde ich sie umbringen“, drohte er und griff dann plötzlich in meinen Brustkorb hinein an der Stelle, an der mein Herz schwach schlug. Laut schrie ich auf. „Ich werde ihr wortwörtlich das Herz herausreißen und es wird sich für dich anfühlen, als wäre es dein eigenes.“

Ich traute mich nicht, mich zu bewegen. Ich konnte es nicht einmal. Stattdessen füllte sich mein Körper voller Schmerz, der mich paralysierte. Mein Körper verlangte nach Sauerstoff und bewegte meine Lungen, um mehr Luft aufnehmen zu können, jedoch verursachte diese Bewegung nur noch mehr dieser höllischen Schmerzen.

Chris blieb sofort stehen, als ihm mit meinem Tod gedroht wurde. Seine braunen Augen weiteten sich erschrocken und blickten sofort auf Winthirs Hand in meinem Brustkorb.

„So schwer war das doch gar nicht“, meinte er und grinste höhnisch. „Und jetzt schau mir genau in die Augen, Hund, und befolge dem, was ich dir gleich sagen werde, oder deine Freundin wird daran glauben müssen.“

Wiederwillig lenkte Chris seinen Blick auf das Monster, das nun wieder grinsen musste. Seine Fingernägel bohrten sich dabei tiefer in mein Fleisch und ich krächzte. Langsam spürte ich Blut in meinem Mund sammeln und es floss aus meinem Mundwinkel runter auf Winthirs Hand.

„Und jetzt verwandelst du dich zurück!“, forderte er.

Der Wolf begann, erst widerwillig, sich zu verwandeln, seine Haare zogen sich ein, Knochen knacksten und verfornten sich, die Schnauze bildete sich zurück. Und dann kniete da der menschliche Chris auf allen Vieren, ehe er sich aufrichtete und dann so stand, wie Gott ihn geschaffen hatte.

Die Erschöpfung übermahnte mich und mein Kopf sackte nach vorne. Ich hatte keine Kraft mehr mich zu hakten und auch meine Knie gaben nach, ich wäre hingefallen, wenn das Monster mich nicht krampfhaft in seinem Griff hätte.

„Du wirst nicht einschlafen, sondern wach bleiben!“

Er schüttelte mich leicht und auf einmal schlugen meine Augen wieder auf und mein Kopf schoss hoch. Oh nein!

„Und jetzt“, sprach er zu Chris, der ihm immer noch widerwillig in die Augen sah, „wirst du ein paar Schritte näher kommen, aber nicht einmal auf die Idee kommen hier irgendwie einzuschreiten, erst recht nicht, mich anzufassen und mir weh zu tun.“

Chris lief bedacht so viel wie möglich Schritte auf uns zu, klammerte sich daran, diesem Zwang zu widerstehen, den das Monster ihm auferlegt hat.

„Gut“, lobte das Monster ihn. Plötzlich zog er seine Hand aus mir und ich stöhnte schmerzhaft auf, konnte danach nur noch röcheln.

„Und jetzt wirst du“, sprach er weiter zu Chris, „deine Hand nehmen und sie genau dahin stecken, wo auch ich sie hatte.“

Alle Farbe wich aus Chris Gesicht. Doch er konnte nicht anders und kam noch ein paar Schritte näher. Dann blieb er stehen und rührte sich nicht.

„Jetzt greif deine Hand um ihr Herz!“, wiederholte das Monster.

Chris schüttelte seinen Kopf kaum merklich, doch sein Körper zitterte vor Anstrengung, als seine Hand sich hob.

Während sein Gesicht nur Anstrengung zeigte und Schweiß aus seinen Poren trat, so war meins voller blanker Panik. Ich würde gleich durch Chris Hand sterben. Er würde mich jeden Moment umbringen!

Nein!, rückte ich meine Gedanken zurecht. Ich würde durch Winthirs Hand sterben, nicht durch Chris. Er wurde beherrscht und konnte nicht dafür. Es würde nicht seine Schuld sein, wenn seine Hand mir mein Leben nehmen würde. Und er durfte sich deswegen nicht quälen lassen.

Gerade wollte ich genau das ihm sagen, als ich plötzlich eine Bewegug von ihm wahrnahm. Mehr konnte ich nicht mehr mitbekommen, als ich plötzlich auf dem Boden lag und sah wie Chris Gesicht sich plötzlich in eine Wolfsschnauze verwandelte. Sie schellte nach vorne, packte den erschrockenen Winthir auf Hals und ruckte zurück. Es ertönte ein in den Ohren weh tuendes Reißen und plötzlich trennte sich Winthirs Kopf von seinem Rumpf, flog nach hinten und landete dumpf auf dem Boden. An der Stelle, wo eine klaffende, offene Wunde sein sollte war es nur leicht rosig, wo eine durchsichtige Flüssigkeit herauströpfelte.

Geschockt durch meine mittlerweilen halboffenen Lider sah ich auf Chris, dessen Gesicht sich gerade zurückverwandelte. Dann erschlaffte ich, als das letzte Stück Kraft mich verlies.

Chris stürzte auf mich, doch ich war noch lange nicht vom Schlaf davongetragen. Stattdessen hielt sich wohl noch die Drohung des Monsters leicht in meinem Kopf, die mich zwang, wachzubleiben.

Schnell biss sich Chris in die Handgelenke, woraus sofort Blut sprudelte, das er nun über meinen Körper hielt.

„Nicht“, nuschelte ich. Er hatte bereits zu viel Energie verloren, er sollte es nicht weiter an mich verschwenden.

„Schsch“, beruhigte er mich und hielt mir dann sein Handgelenk vor den Mund. Ich konnte nicht anders als zu schlucken, dann es so viel Blut war, und ich verschluckte mich. Erst als er meinte, es sei genug, hörte Chris auf, sich selbst zu beißen und mir sein Blut einzuflößen.

Zärtlich legte er seine Hand um meine Wange und wischte das Blut von meinem Mund. Er lächelte sogar leicht.

„Haben wir es nun wirklich geschafft?“, flüsterte ich, zu mehr war ich nicht im Stande. „Sind wir endlich frei?“

Chris nickte und es erschienen Tränen in seinen Augenwinkel, die seine Wange hinunterflossen und Schmutz und Blut dabei auf ihrem Weg mitnahmen. Er nickte, erneut diesmal stärker.

„Ja“, sagte er und lächelte noch breiter, mit weiteren Tränen in den Augen. „Es ist vorbei.“

Nun nahm er mich in den Arm, küsste meine Stirn. Auch ich nahm meine neugewonnene Kraft dazu, ihn zu umarmen.

Lange lagen wir da und umarmten uns, lächelten, weinten. Doch Chris löste sich aus dieser Umarmung schlussendlich.

„Wir müssen die Leichen verbrennen“, meinte er ernst. „Nur so können wie uns vollkommen sicher sein, dass sie tot sind.“

„Reicht das denn nicht auch so?“ Ich schaute auf die abgetrennten Köpfe beider Brüder.

Chris schüttelte den Kopf. „Vampire kann man nur dann endgültig vernichten, wenn man sie verbrennt.“

Ich richtete mich auf, als er aufstand, doch Chris drückte mich wieder sanft zu Boden. „Bleib liegen und sammle wieder Kraft. Ich gehe etwas Feuer suchen.“

„Und wo wirst du Feuer finden?“, fragte ich.

Chris zuckte nur mit den Schultern und ging aus dem Kirchengebäude raus. Kurz darauf kam er wieder, sammelte die Leichen zusammen und warf ein brennendes Streichholz auf sie. Es dauerte nicht mehr lange, da brannten sie lichterloh.

Wir beobachteten, wie die Flammen hoch züngelten, jedoch nie weiter als über den polierten Boden gingen und uns nicht verletzten. Als der heiße, dunkle Rauch des Feuers unten dichter wurde, schob mich Chris aus dem Gebäude und wir verließen sie durch eine Tür, durch die es direkt nach draußen ging. Wenn ich diese früher entdeckt hätte, wäre ich sicher schon längst davongerannt.

„Du hättest nicht zurückkommen dürfen“, sagte Chris auf dem Weg nach draußen.

Ich schüttelte den Kopf. „Du wärst sonst gestorben.“

„Wäre ich nicht.“

„Wärst du doch“, widersprach ich ihm. „Ich konnte Winthir gerade noch von dir ablenken, ehe er dich in Stücke zerrissen hätte, weil du ohnmächtig warst.“

„Aber wärst du gar nicht erst gekommen, wäre ich wegen dir nicht abgelenkt geworden und ich wäre gar nicht ohnmächtig geworden!“

„Du hättest aber nicht mehr lange durchhalten können!“

„Hätte ich doch!“

„Hättest du nicht!“

„Mit dir kann man sich nicht unterhalten, du bist zu starrköpfig!“, erwiderte Chris.

„Du doch auch!“

„Aber du hättest dort sterben können!“

„Bin ich aber nicht!“ Meine Stimme hatte sich schon längst erhoben, genauso wie Chris'.

Er seufzte, schlang seinen Arm fester um meine Taille und lehnte sein Kinn an meinen Kopf.

„Ich hab nicht geahnt, wie gut es tut, etwas Normales zu tun, wie sich wieder mit dir zu streiten.“

Ich beruhigte mich.

Dann blieb ich kurz stehen, drehte mein Gesicht zu Chris.

„Ich liebe dich.“

Er lächelte. „Ich liebe dich auch.“

Wir gingen auf einen kleinen Pfad zu, hinter uns die Kirche mit den brennenden Leichen, aus der mittlerweile Qualm drang, und einem direkt daneben liegenden, grauen Steingebäude, das so viel Geheimnisse in sich barg.

Es war vorbei.

Endlich.

Das Monster war tot. Sein Bruder auch.

Nur wusste ich nun nicht, was das Leben mir ab jetzt bringen würde. Alles hatte sich verändert. Mein bisher aufgebautes Leben lag in Trümmern. Vor mir lag eine ungewisse Zukunft.

Wohin würde dieser Pfad uns führen? Was würden die Menschen, die uns sicher bald sehen würden, sich denken, wenn sie halbnackte, blutverschmierte Menschen sahen? Wie würde ich jetzt in mein ehemaliges Zuhause kommen? Woher würde ich das Geld nehmen, um wieder alles aufzubauen?

Es waren eine Menge Fragen, zu denen ich die Antwort noch nicht finden konnte. Doch ich wusste, dass ich zusammen mit Chris einen Neuanfang starten konnte.

Vielleicht würde uns die Polizei erstmal in ein Gefängnis bringen, immerhin war Chris der Mörder von zwei Personen. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht würden wir auch gar keine Probleme mit der Polizei und den Behörden kriegen, wenn diese gar nichts erst erfahren. Vielleicht würden wir einfach ein Haus in einem Wald kaufen, in einem schönen, ruhigen Wald, wo Chris es am liebsten hat – fragte sich nur immer noch, woher wir das Geld zum Kaufen kriegen konnten. Vielleicht aber auch mussten wir uns selbst eine Hütte bauen.

Doch so lange ich an Chris Seite war, konnte es mir egal sein, was die Zukunft bringen wird.

Der Horror war vorbei. Wir konnten nun von vorne beginnen.

ENDE

Erstmal vielen, lieben Dank, dass ihr das Buch gelesen habt!

Einem Autor wie mir bedeutet das wirklich viel! :D

 

Deswegen würde ich mich auch gerne über ein Kommentar von euch freuen!

Diese gefallen mir nicht nur, sondern helfen mir auch sehr viel weiter beim Schreibem weiterer Bücher.

 

Also wenn ihr das Buch jetzt gelesen habt, entweder online oder nach einem Download, hinterlasst bitte einen Kommentar! 

Hat es euch gefallen? Wenn nein, wieso nicht? Irgendwelche Verbesserungsvorschläge?

 

Ansonsten würde ich euch noch weitere meiner Bücher ans Herz legen <3 ;) und euch schließlich nochmal danken und euch am liebsten fürs Lesen gerne drücken! :D

Impressum

Texte: © elyn, 2015. Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved.
Tag der Veröffentlichung: 02.04.2015

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