Schon seit Jahrtausenden leben übernatürliche Wesen in der Gesellschaft. Manche verborgen, in den dunkelsten Höhlen, auf das keiner sie findet. Andere in der Öffentlichkeit, aber mit einer unbekannten Identität.
Viele sind anders, als dass sie ihr Ruf zur Schau stellt. Nicht blutrünstig, nicht gnadenlos.
Und doch gibt es manche, die abgrundtief böse und auf Rache besinnt sind. Doch genau das macht sie nicht unmenschlich. Denn in Wirklichkeit sind die Menschen nicht anders.
Genauer betrachtet, sind diese Wesen früher einmal Menschen gewesen. Menschen wie du und ich. Und doch machte die Zeit sie zu dem, was sie jetzt sind. Allein durch Plagen und Krankheiten, der Habgier und Brutalität des Menschen und der unerklärlichen Magie, die in jedem schlummert, aber nicht bei jedem zu Vorschein kommt.
Ja, für viele ist es unerklärlich und viele glauben heutzutage nicht mehr daran. Aber diese unscheinbare Kraft, die sich bisher kein Mensch erklären konnte, gibt es wirklich.
Nicht jeder weiß damit umzugehen, vor allem, da meist die Magie nicht ausgeprägt genug ist, als dass man sie für größere Sachen benutzen könnte. Und die einzigen, die dies beherrschen, bezeichnet man als Hexen.
Hexen sind die, die gelernt haben, auf ihre Gefühle zu setzen und dadurch die lodernde Kraft in ihrem Inneren zu benutzen. Doch leider verbrannte man bis vor wenigen Jahrhunderten sie noch, aus Angst, sie würden eine Gefahr darstellen. Die Menschen hatten Angst vor dem, was sie selber in sich hatten. Doch das verdrängten und vergaßen sie natürlich und brachten tausende und abertausende, meist unschuldige Frauen und Männer auf den Scheiterhaufen.
Und da beginnt die Geschichte einer Hexe. Eine, die ihren Ursprung schon vor Christus hat.
Denn als Koras Schwester durch eine von ihr geschehene Tat der Hexerei beschuldigt und auf dem Scheiterhaufen verbrannt wird, kommt sie außer sich und bringt aus rasender Wut die Geliebte des Tyrannen, der derzeitige Herrscher ihrer Siedlung, um. Und damit er ihr bis in die Ewigkeit nachtrauern konnte und leiden musste, machte sie ihn unsterblich mit dem Zusatz, dass sie seine Gefühle dadurch verstärkte und ihn auch noch zwang, andere für sein Überleben zu töten. Würde er dies nicht tun, würden ihn schreckliche Qualen heimsuchen, tut er es aber doch, überfallen ihn die Schuldgefühle. Nach dieser Tat starb Kora durch den enormen Kraftaufwand, der ihr die letzte Lebensessenz nahm.
Aus Wut zerfleischte der Tyrann daraufhin sein gesamtes Volk und versuchte sich danach selbst umzubringen, doch er war unzerstörbar, unsterblich. Stattdessen entdeckte er, wie er mehr von seiner Art machen konnte und erstellte sich seine eigene Armee, mit der er jede Hexe aus Rache umbringen wollte.
Die Hexen schafften es nach jahrelangen Kämpfen, ihn zu besiegen, doch es war knapp gewesen. Viele starben.
Und auch wenn der Tyrann nicht mehr am Leben war, blieben seine Nachkommen, die sich seither im Dunkeln aufhalten und den Tod mit sich bringen.
Ding Dang Dong!
Endlich erlöste mich die Schulglocke von dem Unterricht und ich seufzte erleichtert auf. Noch länger und ich hätte mitten im Matheunterricht Selbstmord begangen.
Nachdem der Lehrer den Unterricht mit den Hausaufgaben beendet hatte – Wieso gibt er uns überhaupt noch Hausaufgaben auf, wenn es doch schon geklingelt hat? - , begannen die anderen sich gegenseitig voneinander zu verabschieden. Ich packte meine Sieben Sachen und stürmte schnellst möglichst aus dem Klassenzimmer.
Ich habe mich von niemandem zu verabschieden, denn ich bin eine relativ ruhige Person und nicht so anhänglich wie die anderen. Keine stundenlangen gefühllosen Umarmungen, keine Küsschen auf die Wangen. Ich bin wie eine Ein-Mann-Band. Ich brauche mich und sonst niemanden.
Ich lief durch die mittlerweile mit Schülern gefüllten Flure und versuchte mich so schnell wie möglich durch zu quetschen. Was gar nicht so einfach war, wie es sich anhörte. Vor allem als die kleinen Fünfer an mir vorbei rannten und mit ihren Schulranzen, die größer schienen als die Winzlinge selber, mich und auch andere damit erschlugen.
„Hey, Catalina!“, hörte ich da den größten Idioten und Macho der wahrscheinlich ganzen Stadt Luca hinter mir rufen. Ich drehte mich um und hätte mir am liebsten mit der flachen Hand ins Gesicht geschlagen. Ich hätte es auch gleich sein lassen. Ich kam sowieso etwas zu spät zum Bus.
„Hast du Zeit, heute zu mir zu kommen, damit wir ein bisschen spielen können?“ Er zwinkerte mir zu. Um ihn herum standen ein paar `seiner´ Mädels, die aussahen, als würden sie gleich kollabieren, da sie sich ein Lachen verkniffen.
Ich hätte am liebsten meine Augen verdreht. „Sorry, aber ich bin ein bisschen zu alt, um mir dir Bauklötzchen zu spielen. Aber vielleicht gehst du mal in den Kindergarten, da findest du genügend Gleichaltrige, mit denen du spielen könntest. Wenn du sie mit deinem hässlichen Aussehen nicht sogleich vergraulst.“ Bei dem letzten Satz wandte ich mich um, um zu gehen.
Dann aber drehte ich mich nochmal zu ihm um. „Sorge dich mal lieber um deine Hühner, die dir hinterher gackern. Wenn du dich nicht bald um sie kümmerst, kollabieren die noch vom Entzug deiner Männlichkeit.“
Und damit versuchte ich mich um einen raschen Abgang, um ihren Kommentaren zu entwischen. Den Obermacho hörte ich aus der Ferne noch lachen, während seine Klammeräffchen sich lautstark über mich beschwerten. Wahrscheinlich hörte sie dabei die gesamte Schule.
Es war mir klar, dass er mir ständig solche Fragen stellte, da er es nur liebte, meine Kommentare darauf zu hören. Und das war auch gut so. Denn ich liebte es auf eine Weise irgendwie auch. Es brachte mir Unterhaltung. Und das Letzte, was mir fehlen würde, wäre, dass er wirklich Interesse haben würde.
Endlich erreichte ich den Ausgang der Schule. Durch die Tür, durch die Unmengen von Schülern quetschend, kam ich endlich an die frische Luft, an die Freiheit. Ich schloss kurz meine Augen und atmete die frische Luft ein. Kurz vergaß ich alles um mich herum.
Was allein frische Luft alles bewirken konnte. Bereits nach wenigen Sekunden waren die Kopfschmerzen wie weggeblasen.
Nur kamen die leider sofort wieder, als ich mich in den Bus quetschte und von anderen Schülern und stickiger Luft umzingelt wurde.
Ich wunderte mich jedes Mal aufs Neue, wie so viele Menschen in einen einzigen Bus passen konnten. Ein so großes Wunder war es dann aber auch nicht, da sich alles von selbst erklärte. Allein auf den Sitzplätzen befand sich immer jeweils eine Person mehr als erlaubt und die Schüler, die es noch nicht in den Bus geschafft hatten, drückten die bereits im Bus stehenden immer weiter zusammen, sodass es hier fast so war wie in einer Diskothek. Du spürst den Atem anderer auf deiner Haut, fühlst sie ganz nah bei dir und hast keinen Platz mehr zum Atmen. Nein, es war sogar noch schlimmer.
Ich stand mitten in der Menge und musste mich wohl oder übel der Menge beugen. Wortwörtlich. Fielen die bei einer Bremsung nach hinten, tat ich das auch. Und beim Anfahren war das nicht anders. Langsam wurde mir übel.
Das Schlimmste kam aber beim Aussteigen. Bei Öffnen der Tür fielen aber auch wirklich welche auf den Boden! Ich verkniff mir ein Kichern.
Ich lief über den ZOH und stieg in meinen Bus ein. Zum Glück war dieser Bus nicht überfüllt. Es lebten halt mehr alte Menschen in der Gegend, in der ich lebte, als junge.
Es dauerte eine Weile bis ich an meiner Bushaltestelle aussteigen konnte, denn erst mussten wir am sogenannten Ghetto-Viertel vorbei fahren, bis wir in die große Wohngegend, in der ich lebte, fuhren. Und bis der Bus an der letzten Bushaltestelle, an meiner, anhielt, dauerte es auch noch etwas länger, da es wie immer irgendwelche Probleme mit den alten Anwohnern gab.
Endlich zu Hause angekommen, sprang mir schon meine kleine Schwester in die Arme. Ich hob sie hoch und drehte sie ein Mal im Kreis.
„Na? Wie war es im Kindergarten?“, fragte ich sie und lies sie runter.
„Gut“, antwortete sie und rannte in ihr Zimmer. Ihre braunen Löckchen wippten dabei hoch und runter.
Eigentlich war sie das komplette Gegenteil von mir. Sie hatte braune Haare, während ich blond war. Sie wurde in der Sonne sehr schnell braun, während ich, nachdem ich über fünfzehn Jahre Zeit gehabt hatte, immer noch heller war als sie. Klar, es kommt auf den Hauttyp an, aber das machte mich wahnsinnig.
Und dann noch ihre Kontaktfreudigkeit. Sie konnte auf jeden Möglichen zurennen und sich mit ihm unterhalten. Einfach so. Weil sie von ihm etwas Süßes wollte. So etwas konnte ich einfach nicht.
„Hallo“, begrüßte mich meine Mutter, die gerade aus dem Wohnzimmer kam und umarmte mich. Ich umarmte sie ebenfalls.
„Hey.“
Wir plauderten etwas über den heutigen Tag. Ich lief in die Küche und machte mir das Essen vom Herd auf einen Teller.
„Hast du schon die Lebensmittel gekauft, die auf der Einkaufsliste standen?“ Meine Mutter kam gerade in die Küche und legte sich auch etwas Essen auf den Teller.
„Shit, nein, habe ich vergessen!“
Meine Mutter blies die Luft aus ihren Lungen. „Ich habe es dir doch gesagt. Wenn wir keine Mehl und keine Milch haben, können wir keine Torte für Papa machen.“
„Ja, ich weiß. Ich gehe es gleich holen. Tut mir leid, ich hab´s vergessen.“
Ich nahm den ersten Bissen des Schnitzels.
„Shit!“, rief plötzlich meine Schwester.
„Das darfst du doch nicht sagen, hab´ ich dir gesagt!“, schimpfte meine Mutter.
Meine Schwester neigte ihren Kopf und schaute mich lächelnd an. „Catalina hat es aber auch gesagt und wenn sie es sagen darf, darf ich es auch!“
„Nein!“, riefen meine Mutter und ich zeitgleich.
„Ich war böse und hätte das nicht sagen dürfen“; erklärte ich ihr.
Sie grinste und rannte wieder davon.
Sie war aber auch eine Teufelin, die Kleine. Sie wusste, was verboten war, machte es aber trotzdem. Nur aus Trotz. Sie kam einem vielleicht unschuldig und süß vor, aber sie hatte es faustdick hinter den Ohren.
Als ich mit dem Essen fertig war, holte ich noch schnell den Einkaufszettel und etwas Geld, dann zog ich meine Schuhe an und ging raus, um die Sachen zu besorgen.
Gott, wie ich meine Schwester liebe! So frech. Da tritt sie wohl in meine Fußstapfen! Ich musste kichern.
Da ich nicht mit dem Bus fahren wollte, ging ich zu Fuß auf den Weg zum Supermarkt. Es war ja nicht besonders weit.
Im Supermarkt besorgte ich das Wichtigste und sogar eine kleine Überraschung für meinen Vater. Ich war gespannt darauf, wie er reagieren würde. Wahrscheinlich als erstes entsetzt. Ich fing an zu lachen und ignorierte die komischen Blicke, die man mir von der Seite zu warf.
Den Weg, den ich dahin genommen habe, nahm ich dann auch wieder zurück. Nur wurde die Einkaufstasche nach einer Weile etwas zu schwer. Langsam geriet ich etwas außer Puste.
Ich lief weiter und entschied mich für eine Abkürzung durch ein paar Gassen. Bei der nächsten Seitenstraße bog ich ab. Ich hatte keine Lust, die Tasche so lange zu schleppen.
Es dauerte vielleicht eine Minute, bis ich es bemerkte: Die Gassen in diesem Teil des Ghetto-Viertels waren wie leer gefegt. Normalerweise sah ich immer ein paar Kinder hier spielen oder ein paar ältere Leute die Straße entlang laufen. Aber diesmal war hier niemand. Es war richtig still.
Auch gut so! Wieso brauche ich jemanden, der sieht, wie ich eine schwere Tasche schleppe? Damit er mir lachend hinterher rennt und mir schlimmstenfalls sogar die Tasche wegnimmt?
Doch plötzlich überkam mich ein komisches Gefühl. Ich wollte so schnell wie möglich weg von hier, ich wollte sofort umdrehen und weglaufen. Weit weg. Aber das fand ich lächerlich.
Werde ich paranoid?, fragte ich mich.
Ich lief weiter.
Andererseits... Ich bin bisher immer nur meinem Bauchgefühl nach, und es hatte mich eigentlich noch nie betrogen. Also, was sollte ich tun?
Jetzt werde nicht lächerlich, Catalina!, dachte ich, Lauf weiter! Da gibt es niemals etwas, was dir Angst einjagen könnte! Höchstens ein paar Spasten!
Aber so sicher darüber war ich mir auch nicht mehr. Ich beschleunigte meine Schritte.
Plötzlich riss mich etwas Hartes, Kaltes auf den Boden. Ich landete seitlich mit meinem Körper auf dem Boden und schürfte mir die Hände auf. Meine ganze linke und meine ganze rechte Seite schmerzte. Das würde schlimme blaue Flecken geben!
Die Tasche mit den Sachen für den Geburtstag meines Vaters lag verstreut ein paar Meter von mir.
Mein Herz fing mit einem Schlag schneller an zu pochen und ich schnappte nach Luft. Schnell blickte ich auf. Es war nichts zu sehen. Der Weg, auf dem ich vor kaum fünf Sekunden noch gelaufen bin, befand sich fast zehn Meter von mir entfernt.
Wie bin ich so weit durch die Luft geflogen? Was hat mich überhaupt so weit fliegen lassen? WAS war das?
Meine erste Vermutung lag bei einem Stein, da es so hart und kalt gewesen war, aber hier gab es weit und breit keinen Stein dieser Größe und wenn überhaupt: Wer hätte schon die Kraft gehabt, so einen schweren Stein auf mich zu werfen? Und wozu?
Die Fassade eines Hauses, die sich gelöst haben konnte, konnte es auch nicht gewesen sein, da dieses harte Teil seitlich auf mich geflogen kam.
Ich versuchte mich aufzurichten, aber mir wurde sogleich schwindlig, also ließ ich es sein. Doch mein Verstand, wie auch mein Bauch – ein Duo, das nur selten zusammenwirkt - rieten mir, lieber gleich abzuhauen. Und zwar schnell. Wieso? Ich hatte keine Ahnung, ich wusste nur, das ich es tun sollte.
Ich versuchte nochmal aufzustehen, aber da hörte ich plötzlich eine wunderschöne Stimme, aber mit einem gefährlichen und herrscherlichen Unterton.
„Ach, der Geruch vom frischen Blut!“, sagte die Stimme, die einer Frau gehören musste, die nicht älter als zwanzig sein konnte.
„Ja, einfach köstlich!“, hörte ich eine andere, tiefere Stimme.
Ich blickte um mich.
Und stieß einen Schrei aus, als ich hinter mich sah und krabbelte automatisch etwas weiter weg.
Eine Frau und ein Mann standen hinter mir in circa drei Metern Entfernung, komplett in Schwarz gekleidet. Beide waren sie ziemlich blass und mit ihrer schwarzen Kleidung konnten sie locker als Leichen durchgehen. Die Frau hatte ein kurzes schwarzes Kleid, das kaum bis zur Mitte ihrer dünnen, blassen Oberschenkel ging. Dazu hatte sie schwarze High Heels an, die so hoch aussahen, dass ich mich wunderte, wieso sie ihre Beine damit noch nicht gebrochen hatte. Ihre dunklen Haare waren zusammengebunden und ihre großen Augen waren stark mit Kajal betont.
Der Mann, der so ungefähr ihr Alter hatte, trug eine schwarze Hose zusammen mit einem schwarzen Hemd. Seine schokoladenbraunen Haare hingen ihm etwas ins Gesicht.
Sie sahen sich beide auf seltsamer Weise ähnlich – von der Hautfarbe mal abgesehen. Und beide hatten ein böses Lachen aufgesetzt. Alles in allem sah wirklich unheimlich aus. Ich fröstelte.
Und dann erst bemerkte ich die Augen dieser zwei Personen, die ich aufgrund der Entfernung erst nicht erkennen konnte. Sie waren rot. Blutrot.
Das brachte mich zu einem erneuten Aufschrei.
Nein, nein, nein. Das kann nicht sein. Jemand spielt mir einen Streich!
Die Frau lächelte mich schelmisch an und auch der Mann guckte mit gierigen Blicken auf mich herab.
Ich bereitete mich sofort auf den Tod vor. Wieso, wusste ich selber nicht, aber mein Bauch hatte wie immer eine Vorahnung.
Plötzlich fasste ich einen Entschluss. Ich wollte nicht sterben. Ich wollte weiterleben! Schnell setzte ich mich auf und rannte in die Richtung, aus der ich gekommen war.
„Du denkst, du kannst uns entkommen?“, hörte ich die Stimme der Frau. Ich hörte sie lachen und plötzlich überkam mich ein gewaltiger Schmerz im ganzen Körper. Ich sank auf die Knie und fiel dann mit dem Gesicht auf den steinharten Boden. Mein ganzer Körper verkrampfte sich und ich hatte das Gefühl, mein Schädel würde jeden Moment explodieren. Ich hatte den Drang zu schreien, aber es gelang mir nicht.
„Hey, mit dem Essen spielt man nicht, Amalia!“, sagte der Mann.
„Du bist doch nur eifersüchtig, dass ich sie habe, David!“, antwortete diese sogenannte Amalia.
„Komm schon, lass mir auch ein bisschen Spaß, Cousinchen!“
„Das hättest du wohl gerne.“ Der Schmerz wurde stärker und ich konnte mich überhaupt nicht mehr bewegen. Nicht vor Schmerz, sondern weil ich einfach wie gelähmt war. Es war, als ob ich festgefroren wäre, mit Krämpfen, die kein Mensch aushalten konnte.
Dann ließ der Schmerz etwas nach, aber er war immer noch unerträglich. Langsam konnte ich mich wieder etwas bewegen. Ich wand mich auf dem Boden hin und her. Der Druck auf meinem Kopf wurde leichter und so traute ich mich, meine geschlossenen Augen ein bisschen zu öffnen. Vor mir lag die Straße, dessen eine ihrer endlosen Gassen mir jetzt zum Verhängnis wurde.
„Okay. Hier hast du sie.“ Endlich hörten diese Krämpfe auf und ich stöhnte vor Erleichterung auf.
Was war das?, war mein erster Gedanke.
Doch kaum hatte ich mich erholt – ich konnte mir nicht einmal vorstellen, ob ich mich jemals wieder davon erholen konnte - , da wurde ich plötzlich vom Boden gehoben. Aber mich hob keiner, sonder ich schwebte!
Auf einmal flog ich mit einem scharfen Ruck nach oben. Ich hielt den Atem an. Als es aufhörte, schaute ich hinunter. Unter mir ging es mindestens zehn Meter runter!
Ich fragte mich, wie ich so schnell hochgekommen bin, doch dann sah ich in das böse grinsende Gesicht von David.
Nein, das kann nicht sein!, dachte ich. Wie... machen die das bloß?
Und plötzlich fiel ich runter. Ich wollte schreien, aber mir blieb die Luft weg und ich sah, wie der Boden mir mit jedem winzigen Augenblick näher kam.
Kurz vor dem Aufprall schloss ich meine Augen. Doch der Aufprall kam nicht. Stattdessen hörte ich nur das böse Lachen von David. Ich öffnete meine Augen. Der Boden war nur wenige Zentimeter von meinem Gesicht entfernt.
Plötzlich aber gab das unsichtbare Etwas, auf dem ich in der Luft gelegen bin, nach und ich fiel hart auf den Boden. Ich stöhnte laut auf.
Womit habe ich das bloß verdient?, fragte ich mich. Aber als Antwort bekam ich nur das höhnische Gelächter der Teufelsgeschwister.
„Mach dir ja keine Hoffnungen!“, rief David schallend, „Das war gerade mal der Vorgeschmack, von dem, was noch kommt!“
Und plötzlich wurde ich wieder wie durch Geisterhand vom Boden gehoben und im Sekundenbruchteil gegen eine alte Hauswand in drei Metern Höhe geworfen. Dort wurde ich noch ein paar Sekunden dagegen gedrückt, ehe ich wieder runter fiel.
Was geschieht hier nur?Wieso kann ich fliegen? Wie schafft er das?
Ich hatte gedacht, dass man mich wieder auffangen würde, sobald ich dem Boden zu nahe komme, aber da irrte ich mich gewaltig. Ich knallte hart mit meinem Rücken auf und mir blieb für eine gefühlte Ewigkeit die Luft weg. Ich schnappte mehrmals nach Luft, bis es mir nach meinem siebten Versuch auch endlich gelang. Danach erlitt ich einem schlimmen Hustenanfall, wobei mein Körper sich auf schmerzhafteste Weise verkrampfte.
Wieso sterbe ich nicht einfach?
Mir tat wirklich alles weh. Ich hatte garantiert am ganzen Körper Prellungen und Blutergüsse und ein paar gebrochene Rippen hatte ich auch, ich konnte förmlich spüren, wie die Splitter mir in die Lunge bohrten. Eigentlich konnte ich mir keinen einzigen Knochen vorstellen, der nicht gebrochen war.
„Willst du nochmal?“, fragte David seine Cousine und schon überkamen mich wieder diese gewaltigen Krämpfe. Woher die kamen, war mir unklar. Doch dann... Das kann doch nicht etwa Amalia sein... Aber wie... AUU! Verdammt, wo bin ich denn nur hineingeraten?
Diesmal konnte ich nicht anders, als zu schreien und ich schrie mir die Seele aus dem Leib. Ich wollte mich irgendwo festhalten, aber ich fand keinen Halt. Ich kratzte mit meinen Fingernägeln auf dem Boden, aber ich glaube, ich kratzte mir nur die Fingernägel blutig.
Dann presste ich meine Hand auf den Boden und drückte mich mit dem Unterkörper davon ab.
Plötzlich spürte ich, wie ein Riss im Boden unter meiner Hand entstand. Ich dachte mir, das sei nur Illusion und ich schrie weiter.
Doch plötzlich hörte der Schmerz auf. Ganz auf einmal. Ich entspannte mich kurz und verkrampfte mich jedoch gleich wieder, bereit auf die nächsten Schmerzen, die mich erwarten würden. Aber die blieben aus.
Ich schlug quälend meine Augen auf. Ich sah an beiden Seiten die Wände der unbewohnten Häuser, die hoch hinaus gingen und an denen ich verschwommen einen Blutfleck erkennen konnte und den immer dunkler werdenden Himmel.
Ich drehte meinen Kopf nach rechts. Dabei knackste mein Nacken laut, doch den Schmerz spürte ich kaum. Da standen David und Amalia und starrten mich mit aufgerissenen Mündern geschockt an. Und ich sah die perlweißen, spitzen Zähne der Beiden aufblitzen. Ob das etwa in ihrer Familie lag?
Und in diesem Moment, indem mir wieder kurz schwarz vor Augen wurde und ich spürte, wie sich mein Pausenbrot den Weg nach oben verschaffte, merkte ich, dass sie gar nicht mich anstarrten. Denn sie blickten nämlich auf eine Stelle unter meiner Hand. Ich hob etwas meinen Kopf und unterdrückte die Schreie, die aus mir raus wollte wegen der Schmerzen.
Ich blickte auf meine Hand. Also war es doch keine Illusion gewesen. Unter meiner Hand hatte sich ein Riss im Boden gebildet, der immer weiter lief, bis er bei David und Amalia endete.
Nun schaute ich auf die Beiden. Ich blickten sich besorgt, wie auch entschlossen an.
Plötzlich war David verschwunden. Nicht, dass er weggelaufen war. Nein. Er hatte sich sozusagen in Luft aufgelöst. Und plötzlich war an der Stelle, an der er gestanden ist, nichts mehr.
Und dann spürte ich einen heftigen Schmerz im Arm und dann im Nacken und ich verlor das Bewusstsein.
Mich trugen zwei Personen auf ein Feuer zu. Ich konnte ihre Gesichter nicht erkennen, die dunklen Gewänder gaben mir keine Sicht auf das, was dahinter war.
Im Hintergrund hörte ich das schlagende Geräusch einer Trommel. Gleichmäßig schlug sie in einem unverkennbaren Rhythmus, das so alt war, wie die Erde selbst, weiter. Bum bum. Bum bum. Bum bum.
Das Feuer war groß. Es war ein Scheiterhaufen. Die Flammen reichten hoch bis auf mehrere Meter. Ich konnte mir nicht vorstellen, jetzt darin zu sterben.
Ich wand mich hin und her, aber die Personen waren wie Statuen. Sie liefen einfach weiter. Da ich wusste, dass meine Kraft, verglichen mit ihrer, Nichts war, gab ich nach vielem Rumgezappel doch auf.
Wir standen jetzt direkt vor dem Feuer. Ohne jeglicher Gnade warfen sie mich rein.
Mein ganzer Körper brannte. Aber meine Haut verkohlte nicht. Nun lag ich da im Feuer und lies das Feuer über meine Haut lecken, ohne das ich zur Asche wurde. Die Schmerzen zogen sich ins Unerträgliche.
Mein Körper brannte höllisch im Inneren, aber ich fühlte mich wie aus Stein. Ich war wie eine starre Statue aus Eis, in deren Inneren ein Vulkan ausbricht. Ich konnte meine Schreie hören. Welten entfernt.
Immer noch hörte ich die gleichmäßigen Schläge im Hintergrund. Bum bum. Bum bum. Nur schlugen sie jetzt etwas langsamer weiter.
Ich fragte mich, wieso ich nicht das Bewusstsein verlor. Ich wollte mich bewegen, aber mein Körper war starr.
Und plötzlich, endlich, als das Bum bum im Hintergrund in einem Schlag verstummte, wurde alles schwarz.
Ich schlug meine Augen auf. Ein komisches Brennen in meinem Rachen lies mich kurz auf husten.
Ich befand mich in einem kleinen dunklen Raum. Die Wände bestanden aus Stein. Obwohl ich aufgrund der Dunkelheit nichts sehen sollte, sah ich alles haargenau. Der Geruch, der hier lag, war modrig.
Immer noch hatte ich dieselben, mittlerweile zerrissenen Sachen an wie zuvor, nur meine Jacke war irgendwohin verschwunden.
Schlagartig kehrten meine Erinnerungen zurück und ich blickte um mich. 4,97 Meter von mir entfernt war eine Holztür, die ziemlich stabil aussah und ein sehr gutes Schloss besaß. Also lagen meine Chancen wohl ziemlich schlecht, wenn es darum ging, abzuhauen.
Ich selber lag auf einem Holztisch. Meine Füße baumelten am Rand des Tischchens.
Langsam stand ich auf. Eher gesagt, wollte ich langsam aufstehen. Aber stattdessen stand ich plötzlich in weniger als einer Zehntel Sekunde vor dem Holztisch. Ich wunderte mich kurz, dann wurde meine Aufmerksamkeit auf etwas Anderes gezogen. Ich spürte die Anwesenheit von jemand Anderem über mir.
Wahrscheinlich mein gottverdammter Entführer, dachte ich und knurrte wütend.
Und erst jetzt fiel mir auf, dass ich mich ziemlich seltsam benahm.
Was...?
Plötzlich hörte ich Schritte, die von einem 78 Kilogramm schweren Mann in 29 Metern Entfernung kamen.
Jetzt waren es 28 Meter. 27.
Ich erschrak. Was würde jetzt wohl mit mir passieren?
Ich muss hier raus!, war mein erster Gedanke. Ich lief mit schnellen, leisen Schritten zur Tür. Ich horchte ein Mal hin. Und dann noch ein Mal. Nichts war zu hören. Ich fasste an die Klinke und zog sie vorsichtig runter. Die Tür bewegte sich nicht. Ich zog noch ein Mal, diesmal ein bisschen fester. Plötzlich riss die Tür aus der Verankerung und dann krachte sie endgültig mit einem lauten Knall auf dem Boden.
„Verdammt!“ Wenn jetzt einer kommt...
Ich blickte schnell auf und wollte gerade abhauen, als ich kaum zwei Meter vor mir einen Mann sah, der – wer hätte das gedacht? - ganz in Schwarz gekleidet war und mich amüsiert anblickte.
Was gibt es denn da zu lachen?, fragte ich mich leicht angesäuert.
„Folge mir!“, sagte er mir in dem Tonfall, der keine Wiederworte duldete.
Er nahm den Gang nach rechts und ich stand da noch einige Sekunden, bevor ich mich dazu entschied, ihm nachzulaufen. Was hätte ich sonst tun sollen? Weiter herumgammeln?
Wie liefen durch einen Gang, der bogenförmig und ganz aus Stein war. Es sah gleichzeitig schön als auch gruselig aus. Ich wusste einfach nicht, was ich von allem hier halten sollte. Ich war gefangen in einem Labyrinth aus Gängen und abgesehen davon, juckte mein Hals ganz komisch.
Obwohl der Mann, hinter dem ich brav herlief, gar nicht so aussah, als ob das könnte, hörte ich keinen einzigen seiner Schritte.
Wie kann man nur so geräuschlos laufen?
Allerdings konnte ich ein leichtes Erbeben spüren, jedes Mal, wenn seine Füße den Boden berührten.
Eigentlich sieht er gar nicht fett aus...
Wie kann ich nur so etwas spüren?
Nach einer halben Ewigkeit erreichten wir ein großes silbernes Tor. Es war wirklich schön. Silberne Lilien verzierten den Rand und bildeten ein hübsches Muster.
Der seltsame Mann klopfte dreimal an das Tor. Es sprang sofort auf. Er trat ein und ich tat es ihm gleich.
Der Saal, den wir jetzt betraten, war einfach nur riesig. Sicher ein Fußballfeld groß und fast noch größer. Die Wände waren hier auch aus Stein, nur sah es hier schöner und wertvoller aus. Der Boden bestand ebenfalls aus dem gleichen Material. Möbel gab es hier keine. Einfach nur ein leerer Raum.
Wie langweilig.
Der Mann, der mich hergeführt hatte, verschwand sogleich.
Vor mir standen sieben Personen. Zwei davon kannte ich bereits. David und Amalia. Sie standen wieder da in einer schwarzen Kluft, nur war es nicht dieselbe, wie vorhin.
Ich blickte sie zornig an. Sie lächelten amüsiert zurück.
Wenn ihr nur wüsstet, was ich jetzt am liebsten mit euch....
Ich schaute die nächsten drei an. Einer von ihnen sah aus wie der Herrscher oder auch Führer von allen. Sein jung aussehendes Gesicht mit den dunklen, durchblickenden Augen und der langen geraden Nase waren von langen, beinahe weißen Haaren umrandet.
Rechts und links von ihm standen zwei andere, so was wie die Stellvertreter. Keine Ahnung, wie ich sie anders hätte beschreiben können.
Die Linke hatte gefleckt kupferfarbene, kurze Haare, der Rechte schulterlanges schwarzes Haar. Sie hatte ein wirklich schönes exotisches Gesicht mit einem schönem braunem Teint, sie hätte aus Südamerika stammen können, eine Amazone. Aber der andere guckte nur desinteressiert und abwesend in der Gegend rum.
Schätzungsweise waren sie wohl Anfang dreißig.
Die zwei anderen waren wohl Wächter, denn sie wirkten ziemlich einschüchternd mit ihrer Größe und ihrem beachtlichen Körperbau. Der eine, größere hatte schwarze Haare, vielleicht fünfundzwanzig. Der andere, der ziemlich jung aussah, höchstens zwanzig Jahre alt, besaß wirklich schöne haselnussbraune Haare.
Diese sieben Personen starrten mich alle mit großen Augen an.
Was ist? Bin ich das neunte Weltwunder, nach Chuck Norris? Habe ich einen fetten Pickel auf der Nase?
Ich bemerkte, dass hier alle etwas Schwarzes angezogen hatten. War hier wohl besonders in Mode. Wehe, ich musste mich ihnen noch anpassen! Aber nach meinen Plänen, kam ich hier sowieso bald raus.
„Hallo, meine Kleine“, sagte der Herrscher und ging langsam auf mich zu, als ob ich ein kleines verschrecktes Reh wäre, „Ich heiße Clas. Möchtest du mir vielleicht deinen Namen verraten?“
Nein, möchte ich nicht, wäre mir beinahe raus gerutscht. Ich blieb stumm.
„Tut mir leid, das mag dir alles etwas seltsam vorkommen,“ Wenn wir das etwas wegnehmen, trifft es genau auf den Punkt, dachte ich, „aber ich finde es schöner, wenn du uns erst mal deinen Namen verrätst. Wie beantworten dir dann auch alle Fragen, wenn du willst“, sagte Clas.
Nein! Ich will hier weg!
In nur wenigen Sekunden rasten mehrere Gedanken durch meinen Kopf.
Hier gibt es doch sicher irgendeinen Ausweg. Ich muss ihn finden! Ich traue diesen Menschen nicht! Aber Amalia wird mich sicher aufhalten. Bei dem Gedanken an die Schmerzen, zuckte ich leicht zusammen.
„Milana. Ich heiße Milana“, antwortete ich, bevor ich noch weiter nachdenken konnte.
Ein falscher Name. Eine sehr gute Idee. So kann er mich nicht so leicht ausfindig machen, sobald ich hier abhaue. Falls ich abhauen kann...
„Hallo Milana. Einen sehr schönen Namen hast du.“ Clas lächelte mich künstlich an.
„Danke.“
„Wie alt bist?“, fragte er neugierig. Ich blickte die anderen Menschen an, die mir laut Bauchgefühl gar nicht mehr wie Menschen vorkamen.
Wo bin ich hier bloß gelandet?
Was soll ich machen?
Was soll ich antworten?
„Fünfzehn.“
„Ach was, so jung?“ Ungläubig starrte er erst mich und dann David und Amalia zornig an. Sie rissen erst ihre Augen auf, dann blickten sie beschämt zu Boden.
„Wir hatten nicht erwartet, dass du so jung bist. Sonst hätten wir dich später verwandelt“, sprach der `Herrscher´ weiter.
Was? Verwandelt? Worüber redet er denn da? Na toll, jetzt bin ich wohl bei `Verstehen sie Spaß´ gelandet. Nein, ich verstehe keinen Spaß!, dachte ich wütend.
Ich suchte den Saal unauffällig nach Kameras ab. Aber irgendwie bezweifelte ich, dass das alles hier nur Spaß war. Es wirkte viel zu echt.
„Deine Verwandlung hat ziemlich lange gedauert“, sagte Clas, „Normalerweise dauert eine Verwandlung nur wenige Stunden, aber bei dir war es beinahe ein ganzer Tag.“
Was? Ich soll fast 24 Stunden bewusstlos gewesen sein und soll mich verwandelt haben?
Clas fuhr fort: „Das liegt wahrscheinlich unter anderem an deinem jungen Alter.“
Es folgte ein kurzes Schweigen, in dem mich alle beäugten, als wäre ich die neuste Attraktion im Zoo. Was auch gewissermaßen so war, denn ich fühlte mich wie in einem Zoo.
„Wusstest du, dass du gar nicht aussiehst wie fünfzehn?“, fragte mich die Frau mir den gefleckten kurzen Haaren, die so etwas wie die stellvertretende Herrscherin sein sollte.
„Hallo. Ich heiße Somala. Es freut mich, dich kennenzulernen.“
„Hallo“, erwiderte ich etwas verlegen.
„Er hier“, Somala zeigte auf den mit den schwarzen schulterlangen Haaren, „ist Marx.“
Ich blickte zu ihm. Er würdigte mich keines Blickes. Was der wohl für Probleme hatte?
Ich erwartete, dass sie mir die restlichen Zwei, die Wachen auch noch vorstellte, aber sie beließ es dabei.
„Ich hoffe wirklich sehr, dass wir dich nicht umbringen müssen, falls du zu wild wirst. Das wäre eine wirkliche Verschwendung, vor allem, wenn du wirklich so ein großes Talent besitzt, wie wir glauben“, sagte Clas.
Ich riss die Augen auf und schaute ihn entsetzt an. Er will mich umbringen? Wieso? Erst lässt er mich hierher bringen, dann will er mich umbringen? Was ist das denn für eine Logik? Eine Serienkillerlogik, vielleicht?
Was soll das heißen, falls ich zu wild werde? Und was für ein Talent meint er? Ich habe keine besonderen Talente!
Und das wird wohl mein Todesurteil bedeuten.
Langsam fing ich an, hysterisch zu werden. Das Brennen in meinem Rachen wurde langsam schlimmer. Es schlich sich langsam meinen Hals hoch. Ich schnappte nach Luft und krächzte. Gleich darauf wurde ich von einem schlimmen Hustenanfall heimgesucht.
Als er langsam verebbte, guckte mich Clas kurz schief an, dann sagte er: „Anthony. Geh mit Milana doch in das Zimmer und gib ihr ein paar von unseren Blutvorräten.“
Der Junge mit den haselnussbraunen Haaren lief auf mich zu, packte mich sanft am Arm und zog mich zu einer Tür, die ich bis zu dem Moment gar nicht bemerkt hatte und machte diese auf. Im Gegensatz zu dem Saal hatte es einen Tisch und sogar ein kleines Bett.
Ich trat ein und hörte gerade noch die Stimme die Stimme von Anthony sagen: „Bin gleich da!“, ehe die Tür schon zufiel.
Ich setzte mich auf das Bett und dachte über das Geschehene nach. Und da fiel mir ein, dass es eine gute Idee wäre, jetzt abzuhauen.
Doch da kam Anthony schon mit zwei Blutbeuteln rein, kaum das ich mir hätte etwas überlegen können.
Wie kann er bloß so schnell schon da sein?
Ich betrachtete ihn genauer. Eine schwarze Hose hing ihm locker an den Hüften und er hatte ein ebenfalls schwarzes T-Shirt an, das sich über seine muskulöse Brust spannte.
Seine Haare waren lässig hoch gestylt und brachten dabei sein Gesicht etwas mehr zur Geltung. Seine grünen großen Augen blickten mich geradewegs an und ich merkte, wie ich ihn anstarrte. Ich senkte meinen Blick und er fiel auf das, was er in den Händen hielt.
Plötzlich roch ich das Blut. Die Schmerzen in meinem Hals wurden unerträglich und mein ganzer Körper verlangte nach dieser einen roten Flüssigkeit. In nur einer zwanzigstel Sekunde war ich aufgesprungen und hatte ihm einen Blutbeutel aus der Hand gerissen. Sofort steckte ich meine Fangzähne in das Plastik und hatte in wenigen Sekunden den Blutbeutel leer gesaugt.
Ich schnappte mir den zweiten, raste in einer Zehntel Sekunde in eine Ecke de Bettes und trank den zweiten Blutbeutel leer.
Als ich fertig war, guckte ich zu Anthony. Seltsamer Weise war das Brennen komplett verschwunden.
„Gibt es noch mehr davon?“, fragte ich.
Er lächelte. „Schon, aber es reichen dir auch zwei, um deinen Durst zu stillen. Du könntest theoretisch auch die ganze Kammer leer trinken, wie ein kleines hungriges Monster, aber das geht ja nicht. Wir brauchen ja auch etwas.“ Anthony lachte.
Erst jetzt realisierte ich, dass das Blut gewesen war. Blut, das Menschen gespendet hatten und das Leben retten könnte. Und das ich in weniger als einer Minute ausgetrunken habe.
Ich bin ein Monster. Ich bin ein Monster!
Sofort warf ich den leeren Blutbeutel, angewidert von dem blutigen Plastikbehälter und mir selbst, weg. Er landete irgendwo in einer Ecke des Raumes.
„Du sollst dir jetzt keine Sorgen machen. Das liegt in unserer Natur“, sagte Anthony, immer noch lächelnd.
Ich starrte ihn an. Unsere Natur? Nein! Ich möchte kein Monster sein! Nein!
Andererseits konnte ich diesem süßen Getränk nicht widerstehen. Genauso wie ich früher Schokolade nicht widerstehen konnte. Früher.
Konnte ich eigentlich in mein „Früher“ zurück, nachdem ich Blut getrunken habe und es mir auch noch geschmeckt hatte?
Nein, konnte ich nicht. Dann musste ich mich wohl oder übel damit anfreunde, was ich war! Aber was genau war ich eigentlich?
Ein schreckliches Monster!, flüsterte mir mein Gewissen zu. Tränen brannten sich in meine Augen.
„Ich werde dir jetzt erklären, was wir sind“, sagte Anthony mit seiner männlichen, kehligen Stimme wie aufs Stichwort. Ich holte tief Luft, meine Tränen verschwanden dabei wie von selbst, und starrte ihn an.
„Wie du vielleicht festgestellt hast, gibt es Vampire. Und nun bist du eine von ihnen, genauso wie ich, Clas und alle anderen hier“, erklärte er mir vorsichtig.
Zuerst war ich etwas geschockt. Es gibt Vampire! Und ich bin jetzt auch einer. Das hat Clas wohl gemeint, als er irgendwas von Verwandlung gesagt hat. Ich habe mich in einen Vampir verwandelt!, schoss mir durch den Kopf. Insgeheim hatte ich es ja bereits geahnt, aber es jetzt von jemand anderem bestätigt zu haben, war etwas ganz anderes.
Gemischte Gefühle machten sich in mir breit. Einerseits Entsetzen, andererseits große Neugier.
Anthony starrte mich so lange weiter an und sagte nichts, bis ich meine Gedanken geordnet und mich aus meiner Starre gelöst hatte.
„Der Grund, wieso du jetzt ein Vampir bist, ist, dass David dich verwandelt hat.“
Ich schaute wütend zur Tür und stellte mir vor, wie er dahinter stand. Ein Knurren entwich mir.
Ich kann knurren?
„Aber er hat es auch nicht umsonst gemacht“, sprach Anthony weiter.
„Ach so! Jetzt muss ich auch noch Geld zahlen dafür, dass er mich verwandelt hat und zwar ohne mich zu fragen?“, fragte ich schnippisch. Anthony konnte zwar im dem Moment nichts dafür, aber ich musste meine Wut irgendwo rauslassen.
„Wie viel verlangt er denn? 100 Euro? 200 Euro? Oder mehr? Sorry, aber ich habe leider kein Geld dabei. Jedenfalls nicht mehr!“ Ich verdrehte sauer die Augen.
Plötzlich fing er an, gegen meine Erwartungen zu lachen und sagte: „Endlich mal jemand mit Humor.“ Während er anfangs ein bisschen angespannt gewesen ist, auch wenn er gelacht hatte, wirkte Anthony jetzt viel lockerer.
Ich runzelte meine Stirn und wunderte mich, inwiefern ich Humor hatte. Eher eine handvoll Sarkasmus.
„Also, er und Amalia waren auf der Suche nach frischer Beute und dann fanden sie dich. Sie bevorzugen es, Menschen zu quälen, bevor sie sie umbringen, deswegen musstest du einiges einstecken...“
Ich zuckte leicht zusammen bei dem Gedanken an die Schmerzen. Auch Anthonys Heiterkeit verschwand. „Ich persönlich, finde es unmenschlich. Aber auf welche Weise sind wir denn menschlich?
Jedenfalls, während sie dich gequält haben, haben sie eine besondere Gabe in dir entdeckt. Es kann auch nur Zufall gewesen sein, aber du hast den Boden zum Zerreißen gebracht.“
Ich nickte. Ich hatte mich auch schon über den Riss gewundert, der sich unter meiner Hand gebildet hatte, als ich die Schmerzen ertragen musste, die Amalia mir zubereitet hatte. Ich erschauderte.
„Also könnte deine Gabe theoretisch das Spalten von Stein sein, allein durch den Gedanken daran. Das ist der Grund, wieso David dich verwandelt hat. Weil du diese besondere Gabe wahrscheinlich besitzt“, sagte Anthony.
„Hat jeder Vampir eine Gabe?“, fragte ich interessiert. Da ich jetzt nichts mehr dagegen unternehmen konnte, was ich war, wollte ich so viel wie möglich über mein Sein herausfinden.
„Eigentlich schon. Nur sind diese Gaben manchmal so minimal ausgeprägt, dass man sie gar nicht dazu zählt. Geschätzte vierzig Prozent besitzen eine, die groß genug ist, das man sie überhaupt so nennen kann.
Und Clas sammelt extra die besten Talente ein, um die anderen Vampire, die außer Kontrolle geraten und ganze Dörfer abschlachten, wieder in die Schranken zu weisen.“
„Und da er die besten Talente sucht, hat er euch alle dazu beauftragt, alle Menschen zu verwandeln, die womöglich eine besondere Gabe besitzen“, reimte ich zusammen.
„Beauftragen ist zwar nicht das passende Wort dazu, aber es geht in die richtige Richtung.“ Anthony lächelte mich stolz an. Ich lächelte zum ersten Mal seit meiner Verwandlung auch. Bei ihm konnte man so leicht locker werden und lachen.
„Clas versucht auch, die Vampire, die tolle Talente haben, herzuholen. Wenn es ihm nicht gelingt, ist er ziemlich lange enttäuscht. Und enttäuscht in Vampir-Jahren, nicht in Menschen-Tagen“, sagte er und lachte. Und obwohl ich Clas wenige Sekunden erst kannte, musste ich sagen, dass es ihm ähnlich klang.
„Na ja, und der Grund dafür, wieso wir das alles machen, also wieso wir versuchen die besten Vampire zu uns zu holen und alle Vampire unter Kontrolle zu halten, ist, dass wir die Herrscherfamilie sind. Also fast wie der König und sein Hofstaat bei den Menschen früher. Nur kann hier jeder dazugehören, der will, genauso wie aussteigen. Einen speziellen Namen haben wir nicht, aber seit kurzem nennt man uns Rey. Diesen Namen benutzen wir eigentlich nur als Nachnamen im Personalausweis, wenn wir mal wohin reisen.“
Ich kann mir vorstellen, was er mit seit kurzem meint. Wahrscheinlich hundert Jahre, wenn nicht mehr...
„Hast du auch eine Gabe?“, fragte ich.
Anthony überlegte eine Weile. „Wie wäre es, wenn ich es dir zeige?“, antwortete Anthony. Ich nickte.
Er schloss die Augen. Gespannt schaute ich ihm zu und wartete darauf, was passieren würde.
Als er dann endlich seine Augen öffnete, war ich erst mal geblendet. Und zwar wortwörtlich.
Seine Augen leuchteten!
Ich wurde so überrascht, dass ich nach hinten krabbelte und gegen die Wand stieß, die Hand vor den Augen haltend. Bei diesem grellen Licht schmerzten meine Augen mir so dermaßen, dass ich dachte, ich werde gleich blind.
Zum Glück verschwand das helle Licht aus Anthonys Augen wieder und ich konnte wieder sehen.
„Wow!“, sagte ich, „Das war...“ Ich suchte nach dem passenden Wort.
„Blendend?“, beendete Anthony meinen Satz. Ich nickte lächelnd mit meinem Kopf.
„Kurz nachdem ich verwandelt wurde, hatte ich nicht mal geahnt, dass ich eine Gabe habe. Ich habe es erst drei Jahre danach herausgefunden. Und da konnte ich das Licht nur mit den Augen erzeugen. Nachdem ich ein paar Mal geübt hatte, konnte ich jedes Körperteil zum Leuchten bringen. Wenn ich will, kann ich auch nur die Personen blenden, die ich will, auch wenn zwischen ihnen welche stehen, die ich nicht blenden will“, sagte Anthony.
„Das heißt, wenn ich übe, kann ich noch mehr als nur Stein spalten?“, fragte ich aufgeregt.
„Eigentlich nur das, was damit verwandt ist, zum Beispiel Beton, Marmor oder sogar die Erde, und dann kannst du von Zeit zu Zeit immer mehr und immer schneller spalten.
Theoretisch. Vielleicht aber auch nicht.“ Ich nickte abwesend.
„Wie alt warst du, als du verwandelt wurdest?“, fragte ich mit dem Glauben daran, dass er fünfundzwanzig sagen würde.
„Neunzehn“, antwortete Anthony.
Ich versuchte normal zu gucken und nicht die Augen aufzureißen. Ich nickte. Aber innerlich war ich wie vor den Kopf geschlagen. Erst neunzehn? Sehen etwa alle Vampire älter aus, als sie sind?
„So, und jetzt zu uns Vampiren: Wir können uns so schnell bewegen, dass das menschliche Auge nicht mitkommt, wir sind unglaublich stark und da wir praktisch aus hartem Stein bestehen, sind wir praktisch unzerstörbar. Und unsere Körper sind sozusagen als Stein konserviert, bis in die Ewigkeit.
Außerdem kann uns das Sonnenlicht nichts anhaben, genauso wie Knoblauch, Kreuze und sonstiger erfundener Unfug.“
Wow, das ist viel zu verdauen. Bin ich denn wirklich so schnell? Und so stark?
„Sieh den Vampirismus aber nicht als Segen an, nur weil es so viele Vorteile gibt, es gibt eben so viele Nachteile, wenn nicht noch mehr. Früher war er sogar als Fluch gedacht.“
Anthony blickte mich streng an.
„Als erstes der Blutdurst: Er macht dich wild, er macht dich unkontrollierbar, er macht dich zum Monster. Und wenn du versuchst, es nicht zu trinken, verdurstest du. Aber du wirst dabei nicht sterben. Sondern dein eigenes Gift, das sich in deinem ganzen Körper befindet, wird dich selbst von innen auffressen, wenn du nach spätestens einer Woche kein Blut zu dir nimmst. Von den Schmerzen möchte ich mal lieber nicht reden.
Und du wirst immer weiter austrocknen und Schmerzen spüren, bis nach durchschnittlich fünfzig Jahren. Dann wird dein Körper viel zu schwach sein und ohne Hilfe von außen...“ Anthony schüttelte den Kopf. „wirst du es nicht mehr schaffen, wieder zu Bewusstsein zu kommen.“
„Okay. Ich glaube, das war etwas zu aufschlussreich für mich!“ Ich machte einen halbherzigen Versuch, zu lachen.
„Aber es ist die Wahrheit. Und unsere Blässe gehört auch zu unserem Nachteilen. Eigentlich haben wir sie nur, da wir eigentlich tot sind. Jeder Mensch, der stirbt, wird blasser, je länger er tot ist, bis er zur einer stinkenden Masse wird. Am Anfang der Verwandlung ist man ja gerade erst gestorben und von da an nimmt die normale Körpertemperatur und unsere Farbe ab. Also verschwinden rote Bäckchen einfach.
Unsere Haut verfestigt sich am Ende der Verwandlungsphase, sodass sie hart wird wie Stein und bleibt dann so, wie sie ist, bis in die Ewigkeit, wie gesagt. Also: Je schneller man sich verwandelt, desto weniger Farbe verliert man.
Deine unglaubliche Blässe ist also damit zu erklären, dass du dich 24 Stunden lang verwandelt hat.“ Anthony streckte seinen Arm aus und legte ihn neben meinen.
Ich musste sagen, dass Anthony schon etwas blass war, blasser als ich vor meiner Verwandlung auf jeden Fall, den Grund weshalb das so war, hatte ich ja gerade eben gehört. Aber als ich meinen Arm neben seinem sah, merkte ich den extremen Unterschied.
Plötzlich war es mein Arm, der eindeutig blasser war. Beinahe weiß wirkte meine Haut. Da machte ich selbst Schneewittchens elfenbeinfarbener Haut Konkurrenz.
Schnell zog ich meinen Arm zurück, um den Tatsachen nicht ins Auge zu sehen. Es machte mir Angst.
„Ein weiterer Nachteil ist, dass wir nicht komplett unsterblich sind. Ich weiß, ein so richtiger Nachteil ist das nicht, aber es wäre ein netter Nebeneffekt des Vampirismus gewesen, wirklich unsterblich zu sein“, fuhr Anthony fort und grinste.
„Uns umbringen kann höchstens einer unseresgleichen, da wir stark genug sind, uns gegenseitig die Köpfe abzureißen. Denn nur so kann man uns für kurze Zeit bewegungsunfähig zu machen. Aber wir können unsere Körper wieder zusammensetzen. Leider dauert der Heilungsprozess sehr lange. Wovor wir uns aber wirklich fürchten sollen, ist Feuer. Irreparable Schäden, damit geht es bestenfalls zu Ende.“
Ich nickte. Feuer – schlecht. Ist abgehakt.
„Und zum Schluss und das neben dem Blutdurst das Schlimmste daran: Unsere Gefühle sind aufs Größte verstärkt. Damit werden wir sehr schnell wütend, depressiv oder aggressiv. Deswegen brauchte man uns vor tausend Jahren gar nicht jagen, da wir uns gegenseitig die Köpfe einschlugen. Heute ist das einigermaßen besser, da wir auch als Menschen anders fungieren.
Aber auch: Ist man als Mensch besonders wissbegierig gewesen, kriegt man als Vampir gar nicht genug davon, neues Wissen aufzutreiben. Und mit dem Gedächtnis mit dem wir ausgestattet sind, wird es kein Problem, eines dickes Buch auswendig vortragen zu können.“ Anthony lachte. Ich verstand zwar nicht, wieso, aber ich lächelte einfach nur auch mal.
„War man als Mensch schon immer starrköpfig und setzte immer seinen Willen durch, könnte sich dies im besten Fall sogar als Gabe entwickeln, das heißt, man bekommt allein durch seinen Willen, alles was man will.
Als kurz gesagt: Nicht jeder Nachteil ist komplett schlecht, wie auch jeder Vorteil nicht ohne Nachteil ist.“
Bisher hatte ich mein neues Vampirsein immer nur als schlecht betrachtet, da er mich aus meiner Umgebung gezogen und mich zum Monster gemacht hatte. Doch jetzt, da Anthony mir so viel über uns erzählt hatte, gefiel mir langsam mein neues Leben. Ich war mir sicher, dass Anthony zwar die entgegengesetzte Wirkung gewollt hatte – keine Ahnung, wieso? - , aber jetzt waren mir die Nachteile am Vampirismus, ehrlich gesagt, scheißegal geworden.
„Wenn ich mich recht erinnere, hatten Amalia und David, als sie mich angefallen haben, rote Augen gehabt. Aber jetzt haben sie eine normale Augenfarbe, genauso wie alle anderen hier.“ Ich blickte in Anthonys grüne Augen. „Woran liegt das?“
„Also, wir haben immer eine normale Augenfarbe, außer bei Wut, Hunger oder Begierde. Dann sind unsere Augen blutrot.“
Ich nickte. „Und wie wird man zum Vampir?“
Anthony schaute mich lächelnd an.
„Stelle ich zu viele Fragen?“, fragte ich. Jetzt wurde es mir ein bisschen peinlich.
„Nein, das passt schon. Also jetzt zum Thema: Wir Vampire besitzen ein spezielles Gift. Es befindet sich in unserem ganzen Körper, wie ich auch in unserem Speichel. Um ehrlich zu sein, besteht unser ganzer Speichel nur aus diesem Gift.
Gelangt dieses Gift durch einen Biss in die Blutbahn eines Menschen, passiert erst mal nichts. Abgesehen von ein paar seltsamen Sinneswahrnehmungen. Aber stirbt der Mensch, solange er das Vampirgift noch in sich hat, dann verwandelt er sich. Normalerweise fünf Stunden, aber es gibt da auch Sonderfälle von denen ich gehört habe."
Anthony guckte mich grinsend an und ich musste anfangen zu lachen.
Ich erinnerte mich an die Schmerzen kurz bevor ich das Bewusstsein verloren habe und dann hier aufgewacht bin. Der brennende Schmerz im Arm stammte wohl von dem Biss und der im Nacken... da bin ich gestorben. Die traurige Erkenntnis traf auch endlich mich.
Ich bin tot.
Ich saß stocksteif da und rührte mich nicht.
Ich bin tot.
Darauf war ich nicht vorbereitet gewesen. Das hatte ich nicht erwartet. Doch es war so. Ohne wenn und aber.
Mein Leben hatte sich nicht nur verändert. Nein. Es ist beendet worden.
Es war kein neues Kapitel in einem Buch. Es war ein komplett neues Buch, mit unvorhersehbaren Ende. Wenn dieses Buch jemals ein Ende haben wird.
Ich konnte mich immer noch nicht rühren, ich wollte es sogar nicht.
Anthony bemerkte wohl meine – unverkennbare – Stimmung, denn er wechselte sofort das Thema.
„Wenn dir noch etwas einfällt, kannst du mich dann ja fragen, wenn wir uns wieder sehen.
Soll ich dich jetzt zu deinem Zimmer bringen?“, fragte er und lächelte um mich wenigstens etwas aufzuheitern.
„Ich kriege ein Zimmer?“
„Ja, natürlich“, Anthony lachte, „hier kriegt jeder sein eigenes Zimmer. Dort liegt dann deine Kleidung und du kannst dich dort, wann immer du willst, zurückziehen.“
Meine traurige Stimmung verflog langsam und es entwickelte sich langsam eine Vorfreude, endlich alleine zu sein und über alles, was geschehen war, nachzudenken.
Anthony ging zur Tür, öffnete sie und lies mich als erstes raus, ganz gentlemanlike. Im riesigen Saal ging er dann auf das große silberne Tor zu und öffnete auch diese. Außer den beiden Türen, gab es hier sichtlich keine mehr. Weiter liefen wir, wie ich vorhin, den kleinen langen, bogenförmigen Gang entlang, nur bogen wir dieses Mal etwas früher nach rechts ab.
„Wollen wir nicht etwas schneller laufen?“, fragte Anthony nach einer Weile. Ich nickte nur. Heute hatte ich wohl nichts Besseres zu tun als zunicken.
Kaum hatte ich mich versehen, flitzte er bereits davon. Ich sah ihn jeden einzelnen seiner Schritte machen, ehe er nach 0,4 Sekunden endgültig verschwand.
Ich guckte ihm mit großen Augen nach. Ob ich auch so schnell rennen konnte?
Plötzlich kam Anthony wieder zurück.
„Kommst du?“, fragte er lächelnd. Ich lächelte ebenfalls und schon war ich weg. Die Wände flitzten an mir vorbei und ich fühlte mich stark, mächtig. Frei. Es war ein unbeschreibliches Gefühl.
Anthony holte mich lachend ein und bog vor mir in eine Treppe nach unten ein. Fast wäre ich weitergelaufen.
Nachdem wir noch ein paar Mal irgendwo abgebogen sind, blieb Anthony ruckartig vor einer Tür stehen. Fast wäre ich in ihn hineingerannt.
„Hier ist dein Zimmer“, sagte er, „Ich hoffe, du hast dir den Weg hierhin gemerkt.“ Er lachte.
Es dauerte eine Weile, bis ich merkte, dass es ironisch gemeint war. Wir Vampire konnten uns ja angeblich alles merken. Ich bezweifelte, dass das bei mir der Fall war.
Er öffnete die Tür und ich betrat mein Zimmer. Ich betrachtete es. Hier bestanden die Wände und der Boden ebenfalls aus Stein. In einer Ecke stand ein Bett, in der anderen ein Kleiderschrank.
Dann bemerkte ich den Spiegel, der direkt neben der Tür hing. Er war gerade noch so groß, dass ich mich in einem Meter Entfernung noch ganz sehen konnte, mit verblassten goldenen Rahmen und leicht verschwommenen Spiegelbild.
Die Frau, die mich dort anblickte, konnte jedoch nicht ich sein. Sie war mir zwar sehr ähnlich, aber sie wirkte viel erwachsener und war viel schöner und viel blasser, als ich es war. Ich trat näher ran. Die Frau tat es mir gleich.
Ich hatte mich sehr verändert. Meine Augen waren viel größer und blauer, was vielleicht auch deswegen so aussah, weil meine Augen an den Rändern sehr dunkel waren, fast wie mit Kajal umrandet. Meine Lippen waren auch etwas voller und blasser geworden. Mein ganzes Gesicht wirkte auch gar nicht mehr so rund und weich, die Konturen waren härter geworden. Trotzdem sah ich immer noch niedlich aus.
Gott sei Dank!, dachte ich, denn niedlich war immerhin mein Markenzeichen.
Auch meine Haare hatten sich etwas verändert. Ich konnte in meinen blonden Haaren leichte Rotreflexe erkennen.
Und meine Haut wollte ich einfach nicht ansehen, doch ich kam nicht drumherum. Denn sie war blass, unglaublich blass. Nicht so, wie bei Anthony oder wie bei den anderen. Nein, im Vergleich mit mir waren sie braungebrannt. Während alle anderen aussahen, wie Menschen, die nicht sehr oft in der Sonne saßen, sah ich aus wie eine auferweckte Leiche. Plus zerrissene Kleider am Leib.
„Dann habe ich mich wohl mein ganzes Leben lang umsonst gebräunt!“, sagte ich ich unabsichtlich laut.
Jemand hinter mir lachte. Ich hatte vergessen, dass Anthony noch da war. Ich drehte mich um, schaute ihn an und musste sogleich auch lachen. Sein Lachen war wirklich ansteckend.
„Ich geh dann mal und lass dich allein, Milana!“, sagte er, immer noch grinsend, verließ mein Zimmer und schloss die Tür hinter sich.
Es dauerte noch lange, bis ich vom Spiegel abließ und mich auf mein Bett setzte. Denn während ich mich beobachtete, hatte ich auch noch über etwas anderes überlegt. Über Milana.
Nicht über mich, die neue Milana. Sondern über die alte. Meine beste Freundin. Immer noch.
Kennengelernt hatten wir uns in der ersten Klasse. Wir sind nicht auf Anhieb miteinander ausgekommen. Um ehrlich zu sein, hatten wir uns des öfteren geprügelt. Weil wir beide, wenn wir mal miteinander spielen wollten, unseren Willen durchsetzen mussten.
Doch wir kamen uns näher, als wir das erste Mal miteinander in den Urlaub nach Antalya flogen, weil unsere Eltern gut miteinander auskamen. Klar hatten wir immer mal wieder dort kleine Streite, weil wir uns zum Beispiel nicht einig werden konnten, welche Süßigkeit wir genau stehlen wollten, aber der Grundgedanke, der, dass wie beide etwas klauen wollten, war immer gleich.
Wir hatten viel Unsinn zusammen getrieben, doch wie schlimm es wirklich werden konnte, erfuhren wir erst später. Als wir beide unheimlich gekleideten Männern folgen wollten. Als wie ihnen in eine Gasse folgten. Als sie uns entdeckten. Als sie Milana einen heftigen Schlag auf den Kopf verpassten.
Meinen eigenen Schrei höre ich immer noch in meinen Ohren. Sie fiel direkt vor mir auf den Boden und wachte nicht auf. Egal, wie sehr ich an ihr rüttelte. Und sie anschrie. Sie schlug ihre Augen nicht auf. Diesen Anblick, wie sie regungslos auf dem Boden gelegen hatte, brannte sich seit jeher in mein Gedächtnis.
Was sie angestellt hatten, merkten die Drogenhändler erst, als es bereits geschehen war. Dann machten sie sich so schnell wie möglich vom Acker.
Ich konnte von Glück reden, dass unsere Eltern in der Nähe waren. Dass sie mich gehört hatten. Sonst wäre weiß Gott wie viel Zeit vergangen, bis uns jemand entdeckt hätte.
Was danach geschehen war, nachdem man mich von ihr weggezerrt hatte, nachdem der Krankenwagen eingetroffen war, daran konnte ich mich nicht mehr erinnern. Der Psychiater nennt es eine posttraumatische Störung. Der, der mich kurz danach behandeln musste, weil ich kein Wort mehr sagen wollte. Er meint, wie auch viele andere, dass dieses Erlebnis mich ruhig gestellt hat, um nicht zu sagen, traumatisiert.
Was meiner Meinung nach totaler Blödsinn ist. Klar, er brachte andauernd gute Argumente auf, wie zum Beispiel, dass ich mich nicht mehr mit jemanden anfreunden will oder dass ich nicht mehr so viel Unsinn treibe und noch viel mehr, doch ich kann mir das nicht vorstellen. Ich wäre auch ohne dem Erlebnis so geworden wie ich bin!
Wenn ich das anderen Vertrauten erzählte, blieben diese daraufhin aber stumm.
Das ist für dich, Milana. Du lebst nun in mir weiter!
Ich schüttelte meinen Kopf, um nicht mehr daran zu denken, legte mich ins Bett und schloss erschöpft die Augen.
Nach geschlagenen neun Stunden gab ich es auf und kam zu dem Schluss, dass Vampire nicht schlafen konnten.
Ich stand auf und bemerkte die zweite Tür in meinem Zimmer. Ich öffnete sie und blickte in ein Badezimmer. In wenigen Sekunden hatte ich mich aus meinen Klamotten geschält, die eigentlich nur aus Lumpen bestanden, und mich unter den Duschkopf gestellt.
Ich lies das Wasser über meine Haut, über meine steinerne Haut, prasseln und stumme Tränen flossen meine Wangen hinunter.
Wie ging es jetzt wohl meinen Eltern und meiner kleinen Schwester? Wie haben sie wohl reagiert, als ich abends nicht nach Hause gekommen bin?
Wenn ich nur daran dachte, wie meine Schwester geheult hatte, als sie erfuhr, dass ich von der Schule einen zehntägigen Ausflug machen würde, musste ich schluchzen.
Würde ich meine Familie je wieder sehen?
Und wenn ich je die Chance dazu bekomme, sie zu besuchen...Wird es dann nicht zu spät sein? Werden sie noch leben?
Ich würde ein für immer vermisstes Kind sein. Und meine Eltern würden nie erfahren, ob es mir überhaupt gut geht oder ob ich überhaupt noch lebe. Diese Erkenntnis brachte mich noch mehr zum Heulen.
Ich musste mich sehr anstrengen, um nicht jeden Moment loszuschreien. Ich unterdrückte jedes Schluchzen und lies den Duschkopf los, um ihn nicht zu zerdrücken.
Womit habe ich das bloß verdient?, fragte ich mich erneut. So oft, wie in diesen Stunden hatte ich mich das in meinem ganzen Leben noch nie gefragt. Aber was zählten kaum sechzehn Jahre, wenn ich mehrere Jahrhunderte vor mir hatte.
Außer Clas bringt mich um.
Nach zwei Stunden entschied ich mich, endlich mit dem Heulen aufzuhören und auszusteigen. Ich stellte das Wasser ab und ging nackt aus dem Bad zu meinem Kleiderschrank. Meine alten Sachen lies ich im Badezimmer liegen, sie hatten keine Verwendung mehr.
Als ich den Kleiderschrank öffnete – vorsichtig –, sah ich nur schwarze Kleidung. So wie es aussah, musste ich ihrer Mode nachlaufen und ebenfalls schwarze Klamotten anziehen.
Aber die Klamotten waren nicht pechschwarz, wie die der anderen, sondern eher dunkelgrau. Je höher der Rang, desto schwärzer die Kleidung, dachte ich und zog mir eine schwarze Hose und ein verblasstes schwarzes Spaghettiträgertop an, denn auf einen Minirock oder auf ein kurzes Kleid hatte ich nun wirklich keine Lust, wovon es aber in diesem Schrank fast nur ausschließlich gab.
Aber um die hohen Schuhe kam ich nicht drum herum, denn es gab nur solche. Glücklicherweise fiel es mir nicht schwer in ihnen zu laufen, wie ich es erst vermutet hatte, denn ich hatte nur selten welche angehabt. Im Gegenteil, sie waren gemütlich.
Unterwäsche gab es hier auch. Ich wollte gar nicht wissen, woher sie meine Körbchengröße wussten. Konnte nur hoffen, dass sie es erraten hatten.
Ich verließ mein Zimmer und entschied mich, mich etwas umzusehen. Den Weg zurück zum Saal hätte ich sicherlich gefunden, aber ich wollte hier viel lieber etwas spazieren.
Ich schaute hinter alle Türen, außer ich konnte spüren, es war jemand drinnen und ich lief ein paar Mal die Decke entlang. Wieso? Weil ich es konnte!
Falls mir jemand entgegen laufen wollte, wich ich aus und nahm einen anderen Gang. Es war alles wie in einem großen Labyrinth. In dem ich mich nicht mal verlaufen konnte.
Als ich nur so auf dem Gang spazierte, merkte ich, dass jemand hinter mir auftauchte. Ich lief weiter und tat so, als ob ich ihn nicht bemerkt hätte.
„Du brauchst nicht so zu tun, als ob du mich nicht bemerkt hättest“, sagte eine mir unbekannte Stimme. Ich drehte mich auf der Ferse um. Vor mir war der eine Wächter, der im Saal neben Anthony gestanden ist, als man mich willkommen geheißen hat. Seitdem habe ich ihn und die anderen nicht mehr gesehen. Um ehrlich zu sein, hatte ich seitdem keinen Einzigen gesehen.
„Du solltest lieber in deinen Zimmer sein und warten, bis dich da jemand rausholt“, sagte der Mann mir, wie einem Schüler, dem der Lehrer befiehlt, ins Klassenzimmer zugehen und nicht die Schule zu schwänzen.
Verdammt, jetzt muss ich auch noch an mein altes Leben denken!
„Wieso sollte ich?“, fragte ich erstaunt, denn ich hatte das selbe Recht wie jeder Andere, wie jeder andere Vampir hier auf diesen Gängen zulaufen. Glaubte ich jedenfalls. Es hatte mir niemand verboten.
„Ist hier etwa etwas, was ich nicht finden darf?“, fragte ich eher spaßeshalber als ernstgemeint.
Der Mann mit dem mir immer noch unbekannten Namen verzog kaum merklich das Gesicht.
Eine virtuelle Glühbirne ging bei mir an. „Das heißt, ich habe die Kammer, in der sich das Spenderblut befindet, nun endlich gefunden?“, fragte ich scheinheilig.
Sein Gesicht verzerrte sich noch weiter zu einer wütenden Grimasse.
Ich musste böse grinsen. Der wird Ärger kriegen, wenn Clas erfährt, dass ich, Dank ihm, weiß, wo sich die Kammer befindet. Um ihn noch etwas weiter zu provozieren, schnüffelte ich etwas in der Luft. Sein Gesicht verzerrte sich immer weiter.
Eigentlich hatte ich keinen Hunger und konnte auch nichts riechen, aber der Blick, den ich zusehen bekam, war unbezahlbar. Nein, ich war nicht schadenfroh. Nur zur falschen Zeit am falschen Ort überaus glücklich.
Langsam stellte ich mich in Laufposition, um so zu tun, als ob ich gleich loslaufen würde. Und er stellte sich dabei schnell in Angriffsposition.
„Das hast du ja toll gemacht, Stephan!“, hörte ich da die spöttische Stimme von David. „Jetzt weiß sie, wo sich die Kammer befindet.“ Er tauchte hinter einer Ecke hinter Stephan auf. „Das wird Clas so gar nicht erfreuen.“
Stephan erzitterte, ob aus Angst oder aus Wut auf mich.
„Es wäre aber wirklich keine schlechte Idee, dass du auf dein Zimmer gehst, Milana“, sprach David weiter, „Die Touristen müssten bald kommen.“
Ich funkelte ihn einige Sekunden wütend an und verstand nicht, was er mit dem letzten Satz meinte. So starrten wir uns noch eine Weile herausfordernd an.
Plötzlich erschien neben David eine weibliche Gestalt. Klein und rundlich, aber sehr hübsch. Gerade Nase, große dunkle Augen und kurze, beinahe schwarze Haare.
Mit einer melodischen Stimme sagte sie: „Sie soll ruhig kommen. Clas befiehlt es!“ und schon war sie weg.
David guckte mich erst skeptisch an, während ich mal wieder gar nichts verstand. Kommen zu was? Welche verdammten Touristen?
Dann sagte David: „Genieße es. Gibt es nur ein mal im Monat.“ und ging damit. Auch von Stephan war nun weit und breit nichts zu sehen.
Ich verstand immer weniger. Genießen, was? Es verlief alles viel zu schnell, als dass ich mitkommen konnte. In nur weniger Zeit hatte ich so viel gehört, wovon ich keine Ahnung hatte.
Wahrscheinlich sollte ich zu dem großen Saal. Aber zurückzulaufen würde selbst bei meiner Geschwindigkeit mehrere Minuten dauern. Also entschied ich mich, der Duftspur von David zu folgen. Eher gesagt, entschied das mein Näschen für mich, als ich auf einmal seine Spur witterte. Er war sicher in die richtige Richtung gelaufen.
Es war nicht leicht, der Duftspur zu folgen, aber wie ich etwas später feststellen konnte, war ich nicht weit vom Saal entfernt gewesen. Als ich vor dem großen silbernen Tor stand, öffnete ich es und trat ein.
Es waren mehr Vampire als das letzte Mal, diesmal insgesamt sechzehn. Sechzehn unterschiedliche Vampire, die, abgesehen von ihrer hellen Hautfarbe, nichts gemeinsam hatten. Selbst die Blicke waren unterschiedlich. Gelangweilt, schüchtern, abwesend, verrückt,... hungrig?
Von allen kannte ich nicht mal die Hälfte. Und höchstens kannte ich nur ihren Namen. Natürlich waren Clas, Somala und Marx da. Auch Amalia, David, Stephan, die hübsche, kleine Frau von eben und Anthony. Als ich ihn erblickte, lächelte ich ihn an. Er lächelte mir zurück.
Na, wenigstens ein Freund, den ich hier haben kann. In irgendwelchen, endlosen Gängen in... Ja, wo eigentlich?
Zum ersten Mal schlich sich bei mir die Frage ein, wo ich mich überhaupt befand.
„Komm, stell dir hierhin!“, sagte Clas und zeigte mit seinem Zeigefinger auf eine Stelle. Ich bemerkte nun, dass sich die Vampire in einer Reihe aufgestellt und Clas mich einem Ende zugeordnet hatte.
Eigentlich wollte ich etwas Freches erwidern, aber in dem Moment war ich etwas zu baff über die Situation. Ich lief zu dem einen Ende – die Blicke der anderen im Rücken spürend –, stellte mich da hin und wartete mit den Vampiren auf... ich hatte keine Ahnung, worauf.
Plötzlich vernahm ich Geräusche. Stimmengewirr und viele Schritte. Menschen. Insgesamt 21 Menschen.
Was hatten Menschen hier zu suchen?
Der Geruch schlug wie eine Abrissbirne auf mich ein. Er schlug mich fast um. Fast wäre ich los gerannt und hätte... weiter mochte ich gar nicht denken. Der Geruch, er war so süß und gleichzeitig so herb, so anziehend...
Jetzt wurde mir langsam klar, wieso wir hier waren und auf was wir warteten. Es war nun mehr als nur offensichtlich.
Ich zuckte zusammen, als meine Gedanken, die ich plötzlich nicht mehr komplett kontrollieren konnte, in die falsche Richtung liefen. Hunger!, grollte es in meinem Inneren.
Die Schritte kamen näher und der Geruch wurde intensiver. Mein Rachen brannte höllisch, nicht zu erwähnen mein restlicher Körper, der bald kollabieren würde wegen Flüssigkeitsmangel – mal auf eine ganz andere Weise. So große Schwierigkeiten wie jetzt, meinen Körper zu kontrollieren, hatte ich noch nie, denn instinktiv wäre ich los gerannt und hätte die Menschen... Ich schüttelte meinen Kopf und versuchte den Gedanken loszuwerden. Leichter gesagt als getan.
Ich wollte fliehen, fliehen vor den Menschen, die eigentlich hätten vor mir fliehen müssen. Aber ich konnte nur das silberne Tor benutzen, um zu verschwinden und dann würde ich aber auf die Menschen treffen, die schon zu nah waren, als dass ich es schaffen würde, an ihnen vorbei zurennen und ihnen nichts anzutun. Anzutun im Sinne von...
Nein! Vergiss diesen Gedanken! Das darfst und wirst du nie tun! Schade nur, dass mein Körper nicht mehr mir gehören wollte und seine ganz eigenen Idee in mein Hirn fließen lies. Und das Erschreckendste daran war, dass es mir auch noch gefiel!
Ich bemerkte aus dem Augenwinkel, wie Clas mich gespannt ansah, genauso wie alle anderen. Wie lange wird sie wohl durchhalten?, fragten sie sich wohl. Nein, diesen Gefallen werde ich ihnen nicht tun! Das gab mir einen größeren Ansporn, standzuhalten.
Alle starrten mich mit tellergroßen Augen an, manche mehr verwundert als interessiert. Alle. Bis die Menschen direkt vor dem Tor standen.
Ich spürte die warmen, rauschenden Herzen der Menschen pochen, jedes einzelne, und verspürte einen Hauch Mitleid, da sie bald nicht mehr schlagen würden. Die Schuldgefühle wuchsen immer mehr an und stauten sich immer mehr auf, bis ich mich fragte, ob die anderen die selben Schuldgefühle empfinden würden.
Ich drehte meinen Kopf und schaute jeden einzelnen an, aber sehen konnte ich in jedem Gesicht nur Begierde und Blutdurst. Ihre Augen waren nun rot, gerädert mit schwarz. Viele hatten ihre Oberlippe hochgezogen und zeigten ihre ziemlich spitzen Fangzähne.
Ist es denn nicht normal, wenn ich Mitleid empfinde? So großes Mitleid, dass ich vor Verzweiflung gleich anfange zu heulen?
Das Tor wurde von einem Vampir, der unter ihnen war und der sie wohl hergeführt hatte, geöffnet. Der süßlich herbe Geruch wurde so intensiv und war so nah, dass ich es nicht mehr aushalten konnte und ich drehte jetzt vollkommen durch. Zuerst knurrte, dann schrie ich, weil ich die Schmerzen nicht mehr aushalten konnte, die sich in meinen Rachen brannten, und schon fiel ich den ersten Touristen an.
Er hatte keine Zeit gehabt, sich zu wehren, was er sowieso nicht geschafft hätte, er hatte es nicht einmal geschafft, zu schreien, nicht mal einen Laut hatte er von sich gegeben, da schlug ich ihm schon meine zwei Fangzähne in seinen Hals und saugte ihn aus. Die warme, leckere Flüssigkeit floss meine Kehle hinunter und löschte das brennende Feuer darauf. Glückshormone strömten durch meinen Körper. Ich war wie auf Drogen. Der Geschmack war viel besser als der Geruch es gewesen war, im Vergleich dazu eine billige Praline und ein großes Stück Donauwelle. Jeder Schmerz und alle Sorgen wurden davon gespült, je mehr ich davon trank. Ich klammerte mich an dem Menschen fest, auf das keiner den Moment mir zerstören konnte.
Nach zwanzig Sekunden schon sackte er zusammen und ich holte auch noch die letzten Blutstropfen aus ihm heraus, bevor ich ihn von mir stieß. Ich sprang bereits auf den nächsten zu und biss ihm in den Hals, als ich von jemanden zur Seite gezogen und weggeschleudert wurde. Ich flog fünf Meter durch den Saal, ehe ich gegen eine Wand krachte und sofort eine tiefe Delle darin hinterließ. Zornig, mit hochgezogener Oberlippe und knurrend blickte ich auf Stephan, der meine Wut aber gar nicht bemerkte, da er meine Beute aussaugte.
Meine. MEINE! Meine Beute!
Das Bild, dass sich hier bot, war grausam. Überall lagen die blutleeren Leichen, die letzten Überlebenden wurden jetzt auch ausgesaugt. Und ich war nicht die Einzige gewesen, die wegen den Menschen so durchgedreht war. Auch die anderen hatten reagiert wie ich.
Ich blickte an mir hinunter. Meine schwarze Kleidung war voller Blutflecken und ich wollte nicht wissen, wie ich im Gesicht aussah. Wieso muss ich beim Essen auch immer kleckern?
Mein Rachen brannte immer noch, jedoch bei Weitem nicht so schlimm wie bis vor kurzem. Der Geruch von Blut und Tod hing schwer in der Luft.
Neben mir versteckte sich eine ängstliche Frau in der Ecke vor den Vampiren, mich hatte sie wohl noch nicht bemerkt. Furcht brannte in ihren Augen und sie stoß einen heftigen Angstgeruch aus. War immerhin auch kein Wunder, so etwas bekam man nicht jeden Tag zu sehen. Und wenn, dann als Mensch nur ein Mal. Selbst ich konnte zum ersten Mal Zuschauer einer solcher Vorstellung sein. Weniger Zuschauer als Schauspieler darin.
Ich verlor wieder die Kontrolle und grinste erst böse, bevor ich auf sie zu stürmte. Ich wollte in ihr zartes Fleisch beißen und Sachen mit ihr tun, die ich mir immer noch verbot, zu denken, als ich wieder weggeschleudert wurde. Eine mir unbekannte Vampirin schnappte sie und trank. Ich wurde wütend, unbeschreiblich wütend, und wollte mir letztendlich den übriggebliebenen Überlebenden schnappen, der sich zwischen die Leichen verschanzt hatte, aber ich war eine halbe Sekunde zu langsam. Marx schnappte ihn sich vor meiner Nase weg. Ich war fassungslos.
Langsam aber sicher verwandelte ich mich in eine tickende Zeitbombe. Den wirklichen Grund dafür fand ich irgendwie nicht. Vielleicht, weil mir meine Beute weggeschnappt wurde? Direkt vor meiner Nase? Und das mehrmals?
Höchstwahrscheinlich.
„Na, nichts abbekommen?“, fragte David, der plötzlich hinter mir stand, wischte sich den blutverschmierten Mund mit seinem Handrücken ab und grinste mich an. Das brachte das Fass zum Überlaufen. Mit einem markerschütterndem Schrei sprang ich ihn an. Er wich aber geschickt nach hinten aus und grinste mich immer noch an, als ich ich auf der Stelle landete, auf der er gerade noch gestanden hatte.
Genau das hatte er vorgehabt!, schrie mir mein Gewissen zu und ich kam langsam wieder zu mir. Er will doch nur, dass du durchdrehst! Pass auf, beruhige dich. Atme tief ein. Und jetzt wieder aus.
Ich reagierte mich nach und nach wieder ab und gab die Angriffsstellung schlussendlich auf. David guckte gespielt traurig. „Oh, willst du mir denn nicht den Kopf abreißen? Ich hab mich doch grade so drauf gefreut!“
Damit er sah, dass ich mit ihm noch nicht fertig war, blickte ich ihn noch ein Mal wütend und Zähnefletschend an, bevor ich mich auf den Weg machte, aus dem Saal zu stürmen.
„Warte noch, Schätzchen!“ Ich drehte mich, noch immer sauer, zu Clas um. Obwohl er leise und ruhig gesprochen hatte, hatte ich ihn doch gut gehört. Wie denn auch nicht, mit den Ohren?
Woher hast du dir eigentlich die Erlaubnis genommen, mich so zu nennen? Schätzchen? Was wird das?
Ich bemühte mich nicht mal um ein Pokerface, er sollte meine Wut sehen, es zu versuchen, wäre sowieso sinnlos gewesen.
„Du hast das gut gemacht. Du kannst stolz auf dich sein“, sagte er nur ohne jeglicher Emotionen, die ich in seinem Gesicht ablesen konnte. Und war damit fertig.
Ich wusste nicht, ob er meinte, dass ich eine gute Ausdauer hatte, wenn es darum ging, Menschen nicht sofort umbringen zu wollen oder dass ich gut war, weil ich es geschafft hatte, einen Menschen auszusaugen. Oder gar beides. Oder etwas anderes.
Ich wollte darüber auch nicht wirklich nachdenken, ich stürmte einfach aus dem Saal und rannte in mein Zimmer und konnte nicht fassen, dass ich gerade einen Menschen umgebracht hatte. Und dass es mir auch noch großen Spaß gemacht hatte.
Eindeutige Anzeichen von Serienkillern.
„Komm schon, Cat...“, spornte ich mich an und irrte mich beinahe beim Namen. Ich war nicht mehr Catalina, ich war Milana. Catalina war tot. „Komm, Milana! Das schaffst du!“
Seit Stunden konzentrierte ich mich auf den Stein, der nicht fest genug in meinem Zimmerboden befestigt worden war und den ich da herausgeholt hatte, um meine Gabe – die ich bis jetzt leider noch nicht gesehen hatte – zu entdecken und anschließend zu verbessern.
Falls ich überhaupt eine Gabe hatte. Ich hoffte es inständig. Denn falls nicht, sah es schlecht für mich aus.
Würde mich Clas wirklich umbringen, wenn ich nutzlos für ihn wäre? Wenn ich keine Gabe besitzen würde? Diese und viele andere Fragen schwirrten mir, seit ich mit dem Versuch, den verdammten Stein mit den Gedanken zu spalten, angefangen habe, durch den Kopf.
Es war wie ein Teufelskreis. Immer wenn ich daran dachte, dass ich es nicht hinkriegen würde – was ziemlich oft geschah –, bekam ich Angst um mein untotes Leben, da Clas mich vielleicht umbringen würde, falls ich keine Talente besaß. Ich wurde davon abgelenkt, mich auf den Stein zu konzentrieren und dann merkte ich, das ich es wieder nicht hinbekam und alles ging von vorne los. Ohne Unterbrechung.
Es wäre schön gewesen, wenn ich hätte schlafen können, denn dann hätte ich die letzten 168 Stunden auch etwas Anderes tun können als auf einen Stein zu starren. Nach sieben Tagen könnte das auch wirklich langweilig werden.
Bereits seit über zwei Wochen war ich in den Gängen dieser prähistorischen Burg. Nach dem Vorfall mit den Touristen war ich die ersten vier Tage nur in meinem Zimmer gewesen, von Selbstmitleid und Schuldgefühlen geplagt. Erst dann habe ich da Zimmer verlassen, um die Vorratskammer zu suchen, da der Hunger bereits an mir nagte. Selbst nach dem reichlichen Essen bis vor vier Tagen. Worüber ich eigentlich aufhören wollte zu denken.
Auf dem Weg dahin traf ich auf Anna, die hübsche rundliche Vampirin von vor vier Tagen. Sie war echt nett und gab mir die Hälfte der Blutbeutel mit, die sie eigentlich für sich selber mitnehmen wollte.
Wenn ich so recht überlegte, konnte es auch einfach daran liegen, dass ich nicht wissen durfte, wo sich die Kammer genau befand. Zwar wusste ich dank Stephan, wo sie ungefähr war, aber eben nicht genau, wo.
Aber Anna war allgemein echt nett und total locker drauf, sie hatte immer ein Lächeln im Gesicht. Nicht so wie Clas, Marx oder die anderen, die entweder mit mir nicht viel redeten oder mich komplett ignorierten, abgesehen von Anthony. Sie klärte mich sogar darüber auf, wo ich mich überhaupt befand. Nämlich in einer Burg. Einer gigantischen, mit unterirdischen Gängen. So viel Information war es am Ende auch nicht, aber immerhin etwas.
Seitdem hatte ich das Zimmer nicht mehr verlassen. Solange der Vorrat von drei Blutbeuteln auch reichen wird, würde ich hier bleiben und an meinen (hoffentlich vorhandenen) Fähigkeiten üben.
Plötzlich öffnete sich unerwartet die Tür hinter mir. Ich wirbelte herum, nahm schnell die Angriffsposition an und knurrte meinen Ruhestörer laut an.
So im Nachhinein merkte ich, dass ich mit einem Knurren bei niemanden der Vampire hätte angsteinflößend wirken können. Und gegen sie zu kämpfen, brauchte ich erst recht nicht zu versuchen. Auch wenn ich dieselben Fähigkeiten wie sie hatte, hieß das noch lange nicht, dass ich es mit ihrer Erfahrung aufnehmen konnte.
„Hey, ich bin´s doch nur!“ Glücklicherweise war es nur Anthony und nicht irgendjemand anderes. Er hielt beide Hände abwehrend vor seinem Körper, falls ich wirklich auf die Idee kam, ihn anzuspringen.
Ich entspannte mich, stellte mich wieder normal hin und lächelte ihn schüchtern an.
„Sorry. Wusste nicht, dass du es bist“, murmelte ich etwas verlegen.
„Macht doch nichts. Ich sollte ja auch nicht hereinkommen ohne anzuklopfen.“ Anthony kratzte sich, ebenfalls verlegen, am Hinterkopf.
Seine schwarzen Klamotten standen ihm so gut wie immer und seine Haare sahen in dem ich-bin-gerade-erst-aufgestanden-Style perfekt aus. Er fuhr sich ein Mal durch die haselnussbraunen Haare und sie saßen so, wie sie sein sollten.
Anders als bei mir. Sahen meine Haare durcheinander aus, hätte ich als Vogelscheuche allerbeste Leistung gezeigt. Und dass mir die schwarze Kleidung so gut stand wie ihm, bezweifelte ich stark, denn sie machte mich nur noch blasser – wenn das überhaupt noch ging.
Wahrscheinlich hatte ich, während ich darüber nachgedacht hatte, einen seltsamen Gesichtsausdruck gemacht, denn Anthony sagte: „Mach´ dir jetzt keine Sorgen, ich bin nicht da, um dir irgendeine schlechte Nachricht zu überbringen!“ Er lachte. Ich musste auch etwas lächeln, auch wenn ich nicht so recht wusste, wieso. Wahrscheinlich lag es wirklich nur daran, dass ich wegen seines Lachens lächeln musste.
„Du bist nur seit über einer Woche hier und nicht mehr raus gekommen“, sprach er weiter und lächelte dann charmant. „Da hab ich gedacht, ich statte dir einen Besuch ab.“
„Mm.“ Ich lächelte schüchtern. „Danke.“
Das hätte ich, um ehrlich zu sein, nicht erwartet. Immerhin kannten wir uns so gut wie gar nicht. Und er besuchte mich.
Irgendwie mochte ich ihn dadurch. Dass er da war. Dieses Gefühl für einen Fremden zu empfinden, war mir echt fremd. Und ob es mir gefiel… Das konnte ich nicht sagen.
Es herrschte für kurze Zeit peinliche Stille, bis sein belustigter Blick auf den Stein fiel.
„Du sollst wissen, dass man sein Zimmer nicht einfach auseinandernehmen darf, auch wenn man zu große Lust darauf hat.“
Ich lachte. „Nein! Der Stein war auch vorhin nicht fest genug im Boden befestigt.“
„Ach, wirklich?“ Anthony grinste. Er schien mir nicht zu glauben.
„Ja! Ich habe ihn bloß da raus genommen, um an meiner Gabe zu üben.“
Anthony riss die Augen auf. „Wie hast du es denn geschafft, den Stein wieder zusammenzusetzen?“, fragte er verblüfft, seine Stimme war lauter geworden.
Ich war erstaunt über seinen Stimmungswechsel. War er gerade etwa... erschrocken? Ich konnte es mir selbst nicht erklären.
Ich schnaubte. „Gar nicht. Ich kriege es nicht mal hin, ihn nur zu spalten“, antwortete ich enttäuscht von mir selbst.
Anthonys Gesichtsausdruck entspannte sich. „Ach so. Und ich hatte schon gedacht...“ Er lächelte wieder und ich konnte gar nichts mehr verstehen.
„Wieso so erleichtert?“, fragte ich neugierig und legte meinen Kopf schief. Eigentlich wäre es ziemlich cool, wenn ich die Steine nach dem Spalten wieder zusammensetzen könnte. Das wäre so etwas wie ein Extra zu etwas, was ohnehin schon schwer zu toppen war. Meiner Meinung nach.
„Ach nichts“, antwortete er schnell. Ich blickte ihn verwirrt an. Natürlich war es nichts. Nichts, als ein paar Geheimnisse, die er mir nicht verraten wollte. Klar, wir kannten uns kaum und es war gar nicht seine Pflicht, mir alles, was er wusste, zu erzählen. Und doch hatte er es geschafft, dass ich ihm irgendwie etwas vertraute, ohne das ich wusste, wieso. Wahrscheinlich lag es daran, dass er mich überhaupt besuchen kam. Wahrscheinlich lag es daran, dass er überhaupt her kam, zu einem Mädchen, dass pubertierender Teenager und Jungvampir zugleich war. Zu jemandem, dem man lieber aus dem Weg ging. Und doch kam er zu mir und das erstaunte mich und brachte meinen dummen Körper dazu, ihm zu vertrauen.
Doch diese dünne Wand des Vertrauens bröckelte so langsam.
Er wusste, dass ich mit dieser Antwort nicht zufrieden sein würde. Ich sah es in seinen Augen. Ohne Antwort ging ich niemals so schnell davon und das schien er zu wissen. Ich wunderte mich, wie gut er mich bereits kannte, nach so wenigen Tagen der Bekanntschaft. Oder war ich einfach so leicht zu durchschauen? So oder so, es war gut, dass er es wusste, denn so blieb ihm einiges Leid und viel Zeit erspart.
Er zögerte. „Äh, es ist nur, dass es ziemlich... unglaublich wäre. Du würdest dann ein sehr großes Talent besitzen“, antwortete er. Ich sah, dass das noch nicht alles war, selten habe ich jemanden so schlecht lügen gehört, und Anthony bemerkte auch meinen kritischen Ausdruck im Gesicht, doch er sprach nicht weiter.
Ich musste natürlich weiter bohren und starrte ihm wartend in die Augen. Und bemerkte, wie grün sie eigentlich waren. Leuchtend grün. Nicht grasgrün, sondern eher die Farbe eines Smaragds. Es wirkte schon fast unnatürlich, wie dieses Grün mir entgegen starrte, so intensiv...
Doch das brachte mich noch lange nicht dazu, vor Augenschmerzen wegzuschauen, damit er es bei seiner unwahren Antwort beließ. Nicht, dass mir das Starren Augenkrebs brachte. Nein, am liebsten würde ich für immer in seine Augen schauen und das tiefliegende Grün darin ergründen.
Wenn es mich nicht so einschüchtern würde. Denn ich hatte grundsätzlich Angst vor solch strahlenden Augen, an die man sich erst gewöhnen musste.
Zuerst blickte mich Anthony aus seinen strahlenden Augen verwirrt an, verstand nicht, was ich von ihm wollte, aber dann grinste er charmant. Ich konnte es an ihm ansehen, dass er nicht vorhatte, mir mehr zu erzählen.
Nach einigen Minuten begriff ich dann auch endlich, dass ich diese Schlacht niemals gewinnen würde. Wenn er etwas nicht wollte, dann tat er es auch nicht und tat auf starrköpfig. Was es durch seine durchblickenden Augen auch noch schwieriger machte, ihm ein würdevoller Gegner zu sein. Da hatte wohl meine Starrköpfigkeit einen Seelenverwandten gefunden. Sie hatte viele bereits zur Weißglut gebracht und könnte einen Partner, der ihr beiseite stand, gut gebrauchen. Ich musste grinsen.
Ergeben wandte ich meinen Blick ab und wurde gleichzeitig froh als auch traurig, dass ich Anthonys durchdringende Augen nicht mehr sah. Ich atmete aus. „Na ja, bis jetzt habe ich es ja nicht mal geschafft, den Stein zu Spalten, also...“ Ich machte eine abwegige Bewegung mit den Händen.
„Mhm.“ Nachdem er sich in Fäustchen gelacht hatte, weil ich gerade verloren hatte, beobachtete Anthony mich eine Weile nachdenklich. „Das liegt daran, dass du nicht konzentriert genug bist. Irgendwas lenkt dich ab.“
Er blickte mir forschend ins Gesicht und ich fühlte mich irgendwie ertappt. Schnell schaute ich weg. „Egal was es ist: Wenn du es schaffen willst, dann musst du deine Gefühle und Gedanken abschalten und dich genau auf diesen Stein konzentrieren!“ Ernst schaute er mich an. Ich nickte.
„Los! Mach schon!“, forderte er, als ich nicht gleich darauf etwas getan hatte. Zuerst blinzelte ich mehrmals und wunderte ich mich über seine schroffe Art (So hatte ich ihn bisher noch nie erlebt, aber wie lange kannte ich ihn schon?), dann aber wandte ich mich dem Stein zu, setzte mich hin und versuchte mich auf diesen zu konzentrieren. Ich versuchte meine Gedanken und Gefühle abzuschalten und dachte nur an das Spalten dieses Steines. Schwierig. Aber es gelang mir doch größtenteils nach vier Minuten, alles um mich herum zu vergessen. Aber ein Gedanke oder Gefühl konnte ich einfach nicht abschalten. Es störte mich einfach zu sehr.
„Ich kann mich nicht konzentrieren, wenn du hier bist“, sagte ich zu Anthony, blickte auf und drehte mich zu ihm um.
„Du musst es aber auch können, wenn dir tausende zugucken, also mach jetzt!“, sagte er lässig und lehnte sich an die Wand. Er sah in dieser Pose echt unheimlich gut aus.
Ich musterte ihn lange, um herauszufinden, was er eigentlich hier wollte. Er hatte wirklich nicht vor zu gehen. Langsam wurde ich sauer. „Das erste Mal würde ich es aber lieber ohne Zuschauer ausprobieren“, antwortete ich gezwungen ruhig und versuchte mich zu einem Pokerface. Gelang mir glücklicherweise auch.
Anthony musterte mich eine Weile genau. „Ich warte“, kam es nun von ihm. Er setzte sich mit wartendem Blick auf mein Bett und machte es sich gemütlich indem er sich nach hinten lehnte, die Arme hinter seinem Kopf verschränkte und seine Knöchel kreuzte.
Ich wurde jetzt richtig wütend. Mein Körper fing an zu zittern, ohne das ich es verhindern konnte.
„Verschwinde. Sofort!“, knurrte ich.
Anthony schüttelte mit seinem Kopf und lächelte. „Wutausbrüche sind keine Lösung“, meinte er gelassen.
Mein Körper zitterte immer mehr und immer stärker, meine Fangzähne hatte ich unbewusst ausgefahren und als ich aus dem Augenwinkel in dem Spiegel sehen konnte, sah ich, dass rund um meine Augen meine Haut schwarz und meine Augenfarbe rot geworden war.
Mein Körper zitterte nun unkontrollierbar und aus meinem Inneren kam ein komisches Kribbeln. Ich war kurz davor, Anthony umzubringen, nur damit er endlich aus meinem Blickfeld verschwand. Ich hätte es zwar nie geschafft, ihn umzulegen, dank meines jungen Alters und meine Unerfahrenheit, aber in diesem Moment herrschte in meinen Gedanken nur das Beseitigen eines unerwünschten Eindringlings.
Das seltsame Kribbeln, das aus meinem Bauch zu kommen schien, breitete sich langsam immer weiter aus. Wäre es nicht gewesen, hätte ich Anthony schon längst angegriffen, da es mich etwas von meinem eigentlichen Willen ablenkte. Das Kribbeln lief weiter und kam langsam bis in meine Fingerspitzen sowie in meinen Kopf. Es war nicht unangenehm, aber auch nicht gerade angenehm. Als es meinen gesamten Kopf ausfüllte, hatte ich Lust gehabt, zu schreien.
Und plötzlich hörte ich etwas leise reißen und gleichzeitig löste sich der Druck in meinem Kopf etwas. Die Wand hinter Anthony bekam erst einen kleinen Riss, dann wurde der Riss immer tiefer und größer und ich schaute gespannt darauf. Mit jeder Sekunde bewegte sich der Riss immer weiter nach unten und er wurde immer größer. Als ich kurz zu Anthony guckte, um seine Reaktion zu sehen, hörte die Wand auf, sich zu Spalten.
Nach einem Moment der Stille sprang Anthony grinsend auf. „Ich hab es doch gewusst!“
„Was hast du gewusst?“, fragte ich Anthony, immer noch wütend auf ihn. Aber wenigstens nicht so sehr, das ich ihn umbringen wollte. Nur an den Kragen gehen vielleicht. Immerhin aber hatte ich aufgehört zu zittern und ich konnte mich beherrschen. Solange Anthony nicht Falsches sagen würde.
„Das es klappen wird! Deine Wut auf mich brachte dich außer Kontrolle und du hast unbewusst deine Gabe benutzt!“
Meine Wut verrauchte langsam und ich realisierte allmählich, was ich erreicht hatte. Ich hatte es endlich geschafft! Also konnte ich es doch! Ich hatte die Gabe Steine zu spalten! Und wenn ich noch übte, vielleicht konnte ich dann noch viel mehr! Und das hatte ich Anthony zu verdanken.
Ich schaute in seine leuchtend grünen Augen, die mich anblickten. Sie strahlten förmlich. Nein, er benutzte dabei nicht seine Gabe. Er war nur wirklich froh, dass er es geschafft hatte, mir zu helfen.
Weil ich so glücklich war, dass ich doch eine Gabe hatte und doch nicht dem Fall drohte, zu sterben aufgrund gewisser Leute, die nichts Besseres zu tun hatten als talentlose Vampire umzubringen, sprang ich zu Anthony und drückte ihn so stark ich konnte. Zuerst erschrak er gewaltig, da er dachte, ich wollte ihn immer noch umbringen und er wollte mich gewaltsam von sich wegdrücken. Aber dann bemerkte er, dass ich ihn nur überglücklich und sehr dankbar umarmen wollte und er legte auch seine Arme um mich.
„Hey, wusstest du, dass du mich wortwörtlich zerdrücken kannst?“, fragte Anthony. Ich löste mich von ihm und wir lachten beide lauthals los.
Wir alberten noch eine Weile rum - ich hatte seit einer Ewigkeit nicht mehr so viel gelacht -, bis er nach einer Stunde sagte: „Ich lass dich dann mal mit deinem Stein alleine. Clas wollte dir nämlich einen Monat geben und bis dahin solltest du deine Gabe beherrschen.“ Ich riss die Augen auf und guckte ihn entsetzt an. Hatte ich gerade richtig gehört? Schien so.
„Und das konntest du mir nicht früher sagen?“, fragte ich ihn schockiert.
„Tut mir leid?“, sagte Anthony entschuldigend und guckte mich lächelnd mit großen Augen an, in der Hoffnung, ich würde ihn aus Wut nicht umbringen wollen. Er wusste, dass ich ihm sowieso nicht böse sein konnte. Wir beide waren wie alte Freunde geworden, die jeden Scheiß miteinander tun konnten. Dass Anthony mir dabei geholfen hatte, meine Gabe aus mir zu entlocken, schweißte uns auf irgendeine Weise zusammen. Aber auch wenn ich ihm, kaum dass er nach meiner Entschuldigung gefragt hat, vergeben hatte, war ich immer noch geschockt.
„Und wieso erfahre ich das erst jetzt?“ Meine Stimme offenbarte die Verzweiflung, die sich nicht verbergen lies. Immerhin stand mein Leben auf dem Spiel. Würde ich nicht gut genug sein, wäre es aus mit ihm.
„Ich weiß nicht.“ Anthony schaute ratlos und etwas schuldig auf den Zimmerboden. „Ich wollte dich eben nicht hetzen und dich noch mehr aufregen, als ich dir über uns alles erzählt habe, was wir sind und so.“ Er presste seine geschwungenen Lippen aufeinander. „Du wirktest da so klein und so unschuldig...“
Ich unterbrach ihn. „Ach, und jetzt wirke ich gar nicht unschuldig?“ Ich stemmte die Hände in die Hüfte.
„Nicht im Geringsten!“ Er lachte und dann noch lauter als er meinen aufgebrachten Gesichtsausdruck sah. „Jetzt siehst du für mich eher so aus als ob du zu viel Unfug im Kopf hättest.“
Ich nickte und versuchte dabei zu verstehen, wie kindisch ich auf ihn wirken musste nach dieser Stunde, die wir zusammen verbrachten hatten, bis ich selber loslachen musste.
„Also gut, ich geh dann jetzt.“ Anthony lachte nach drei Minuten noch immer und murmelte etwas vor sich hin. Ich verstand „Unschuldig“ und kicherte dabei auch etwas, bis ich verstand, was er gerade eben gesagt hatte.
Er wollte sich gerade umdrehen und gehen, aber ich hielt ihn mit einem einzigen Wort auf.
„Warte!“, sagte ich leise, aber er hörte es trotzdem. Natürlich. Mit diesen Vampirohren könnte er theoretisch sogar einen Regenwurm zwei Meter unter der Erde furzen hören.
Anthony drehte sich zu mir um und schaute mir verwirrt in die Augen. Ja, diesen Blick kannte ich. So hatte man mich früher oft angesehen. Nicht verstanden. Manchmal hatte ich sogar etwas Nichtverstehen in den Augen meines Psychiaters aufblitzen sehen. Bei Anthony sah dieser Blick jedoch etwas anderes aus. Nicht so genervt.
Ich sprach schnell aus, was ich wollte, bevor ich mich nicht mehr trauen würde. „Ich will nicht das du gehst. Denn dann bin ich nämlich wieder so alleine und... und das möchte ich nicht sein.“ Ich schaute verlegen auf den Boden.
„Ach, Milana“, seufzte er und kam langsam auf mich zu. Ich hielt dem Atem an. Seine Schritte waren schwer und er hatte etwas Bedrohliches, als er sich mir langsam näherte. Sein Blick hielt mich gefangen. Ich fühlte mich wie ein kleines Lamm, an das sich der böse Wolf heranschlich. Als er direkt vor mir stand, nahm er mich in den Arm. Luft hatte ich noch immer nicht geholt und irgendwie fühlte es sich auch nicht so an, als ob ich Luft zum Atmen brauchte. Ob das an meinem Vampirdasein lag?
„Glücklicherweise weiß ich, wie ich dich aufmuntern kann.“ Seine Stimme wurde immer leiser und er grinste. Seine Lippen näherten sich meinem Ohr, dann flüsterte er: „Bist du kitzelig?“ Und schon fing er an mich zu kitzeln. Ich lachte laut los.
Ich hatte nicht erwartet, dass ich als Vampir kitzelig sein würde, auch wenn ich darüber davor nicht nachgedacht hatte. Ich fand es sogar theoretisch unmöglich, da wir ja aus Stein bestehen und gar keine Nervenzellen und sonstiges besitzen sollten. Also müssten wir nicht kitzelig sein. Doch bei mir müsste mal wieder etwas schief gelaufen sein. Aber es sollte ja genauso keine Vampire geben, also wovon sprach ich.
Anthony kitzelte mich so richtig durch. Ich konnte schon gar nicht mehr richtig lachen, vor lauter Lachen. Einmal hatte ich sogar ungewollt geschrien.
Ich versuchte mich gegen ihn zu wehren, aber er war stärker und er hatte eine geniale Waffe gegen mich: Seine Hände. Wieso musste ich auch so kitzelig sein?
Plötzlich schaffte ich es, meine Hände frei zu kriegen. Schnell packte ich Anthony und warf ihn von mir weg. Er fiel kaum einen Meter vor mir auf dem Boden, obwohl ich meine ganze Kraft dafür eingesetzt hatte. Ich musste meine Muskelkraft wohl etwas trainieren.
Ich setzte mich schnell auf den liegenden Anthony drauf und drückte seine Schultern fest auf den Boden. Das alles geschah in nicht mal einer halben Sekunde.
Ich grinste böse, denn ich hatte was Fieses vor.
„Wie du mir, so ich dir“, sagte ich und kitzelte ihn am Bauch. Aber er lachte nicht.
„Was zum...?“ Ich kitzelte ihn am Hals und unter den Armen, aber als ich ihm ins Gesicht schaute, hob er nur herausfordernd seine Augenbrauen. Das machte mich rasend.
Plötzlich lag ich auf dem Rücken und Anthony saß auf mir und drückte mich nach unten. Dann fing er wieder an, mich zu kitzeln.
„Auf...“, ich bekam Lachkrämpfe und kämpfte hilflos unter Anthony, „...hören!“ Es war erstaunlich, wie schwer es mir fiel, zu Reden.
Als ich mich so weit konzentrieren konnte, das ich einen klaren Gedanken fassen konnte – keine leichte Aufgabe –, schaffte ich es, ihn umzuwerfen, aber das hielt nicht lange.
So kämpften wir eine Weile auf den Boden um den Sieg. Aber letztendlich gewann Anthony und er quetschte mich unter sich so ein, dass ich mich nicht mehr bewegen konnte. Ich kämpfte noch ein bisschen unter ihm, aber es war zwecklos.
Ich hatte jenes Zeitgefühl verloren, obwohl es bei Vampiren eigentlich unmöglich sein sollte. Ja, ich war seltsam, selbst als Vampir. Aber das war mal wieder typisch.
Ich lächelte immer noch. Anthony blickte mir tief in die Augen und grinste ebenfalls. Er hatte so unbeschreiblich schöne grüne Augen mit einem ungewissen Leuchten darin. Ich versank in ihnen und verlor wieder mein Zeitgefühl.
Ich weiß nicht, wie lange wir da auf dem Boden gelegen haben und uns angeschaut hatten. Aber es schien mir eine Ewigkeit und gleichzeitig viel zu wenig.
Und auf einmal glitten ganz viele Gefühle auf einmal über sein Gesicht, die ich kaum einordnen konnte. Freude? Oder doch Trauer? Aber über was?
Was denkt er?
Er löste sich aus seiner Starre und stand auf. Für menschliche Verhältnisse zwar schnell, aber für vampirische ziemlich langsam. Er reichte mir seine Hand, damit ich aufstehen konnte, aber ich schüttelte mit dem Kopf und stand in einer hundertstel Sekunde auch schon auf den Beinen. Ein Gentleman durch und durch, dachte ich und grinste.
Komischerweise wirkte Anthony jetzt viel angespannter, als er gerade eben war. Was war mit ihm los? Ohne jeglicher Emotion in seinem Gesicht noch in seiner Stimme sagte er: „Ich gehe dann jetzt. Wir sehen uns.“ Er zwang sich sichtlich ein Lächeln auf, als er mich zum Abschied noch einmal anblickte. Dann drehte er sich um und öffnete die Tür.
Was ist mit ihm los? Habe ich etwas falsch gemacht? Wieso ist er jetzt so seltsam drauf?
Meine Gedanken drehten sich in meinem Kopf und wiederholten meine Fragen mehrfach, auf der Suche nach einer Antwort, die sie aber leider nicht bekamen.
„Anthony?“ Kannst du bitte da bleiben? Und mir vielleicht sagen, was los ist?
„Mhm?“ Er drehte sich an der Tür nochmal um.
„Kommst du morgen wieder?“
Ein unbeabsichtigtes Lächeln stahl sich über sein Gesicht.
„Natürlich komme ich wieder.“ Und damit wandte er sich endgültig ab und verschwand.
Ich atmete ein Mal tief ein und dann wieder aus. Mein Kopf schwirrte von den Ereignissen.
Ich hatte heute so viel gelacht und so viel Spaß gehabt, wie es nur selten bei mir der Fall war. In Anthonys Nähe fühlte ich mich so wohl und sicher, so hatte ich mich bisher bei wenigen gefühlt. Nur sein Abgang verwirrte mich etwas, da es nicht zu dem Anthony passte, den ich heute kennenlernen durfte.
Ich ging ins Badezimmer, stieg verträumt in meine Duschkabine und lies das Wasser über mich prasseln. Ich hatte nicht mal gemerkt, das ich in meinen Klamotten hineingekrochen bin.
Während meine Sachen und meine blonden Haare nass wurden und das Badezimmer sich mit Wasserdampf füllte, dachte ich über Anthony nach.
Seine Art an sich hat mir von Anfang an gefallen. Immer gut drauf und ein vollkommener Gentleman. Dann sah er auch noch unglaublich gut aus. Vor allem seine Augen waren unglaublich faszinierend. Und seine Haare. Und sein Gesicht.
Ich sollte aufhören, so über ihn zu schwärmen. Eindeutig.
Die Tür öffnete sich. Ich musste mich nicht umdrehen, um zu wissen, wer in mein Zimmer trat. Ich spürte es bereits.
Das war eine der tollen Eigenschaften des Vampirseins. Die Welt um sich bewegen zu spüren und die unterschiedlichsten Gerüche zu erfassen, von denen ich nicht mal wusste, wie sie riechen. Ich hatte noch nie an Steinen gerochen, aber jetzt tat ich es, ohne es wirklich zu wollen. Sie rochen etwas nach Wald, leicht vermodert und uralt.
Aber eine weniger tolle Eigenschaft war eben der ständige Blutdurst. Gerade musste ich meinen Durst wieder mit einem Spenderbeutel löschen. Und egal, wie köstlich es auf meiner Zunge schmeckte, ich mochte es schlichtweg nicht.
„Na? Kriegst du es hin?“, fragte mich Anthony und schloss die Tür hinter sich. Ich drehte mich um und lächelte ihn an, während ich den leeren Blutbeutel einfach in eine Ecke des Zimmers schmiss und mir mit den Handrücken ein paar Blutstropfen vom Mund schmierte.
Und wie gut ich es hinkriegte. So weit wäre ich ohne seine Hilfe niemals gekommen. Und deswegen war ich ihm zutiefst dankbar. „Ja, dank dir.“ Ich grinste ihn breit an und er lächelte zurück.
„Tja, ich weiß halt, was ich mache.“ Beziehungsweise du hoffst, dass alles so klappt, wie du es dir denkst.
Ich schüttelte meinen Kopf und holte tief Luft. „Den Stein zu Spalten schaff ich jetzt ja locker, aber ihn danach wieder zusammen zusetzen...“ Ich verdrehte die Augen. „Das ist eine Katastrophe!“, schrie ich spaßeshalber und warf die Hände in die Luft.
Anthony grinste. „Jetzt reg' dich nicht auf. Das musst du ja nicht unbedingt können. Es kann sein, dass du das nicht einmal kannst.“ Er steckte seine Hände in die Hosentasche und wich meinem Blick aus.
Skeptisch guckte ich ihn an. Wieso verhielt er sich immer, wenn ich Steine mit meinen Gedanken zusammensetzen wollte, so komisch? Das letzte Mal wollte er mir nicht mal den richtigen Grund dafür verraten.
„Ich übe trotzdem weiter.“
„Mhm. War mir klar.“ Er lachte.
„Was ist eigentlich so schlimm daran, wenn ich es kann? Und sag mir die Wahrheit! Ich will nicht wieder nur Ausreden hören.“ Das wollte ich wirklich nicht. Denn nicht die Unwissenheit machte mich sauer, sondern die Tatsache, dass mein neuer und einziger Freund mir etwas verheimlichte.
Unter meinem strengen Blick entschied sich Anthony, so wie es aussah, mir doch die Wahrheit zu sagen. Anfangs konnte er sich nicht entscheiden, was er tun sollte, stammelte etwas herum, bevor er einmal tief einatmete und mit dem Ausatmen zu reden begann. »Es ist nur... Ich hab ja nichts dagegen, ich fände es sogar toll.« Ich hob ungläubig eine Augenbraue. Träum' ruhig weiter, vielleicht glaubst du es am Ende ja selber.
„Guck mich nicht so an und lass mich ausreden.“ Er schien mich auszulachen. „Amalia gefällt es gar nicht, dass du vielleicht eine bessere Gabe hast als sie. Sie hat schon vor Wut gekocht, als sie dich hier eingeliefert hatten. Wenn du mich fragst, hätten sie dich dann auch nicht herbringen sollen. Aber ich glaube, es war wahrscheinlich eher Davids Wille, während sie sich kreischend dagegen gewehrt hatte.“ Seine Lippen kräuselten sich zu einem Lächeln, bevor sich sein Gesicht schmerzhaft verzog. „Sie hat sogar ihre Gabe bei einem meiner Freunde angewendet, weil sie so wütend war.“
Ich zuckte zusammen. Das klang so ziemlich nach der Amalia, die ich kannte.
„Du siehst, es ist nicht gut, sie als Feindin zu haben“, endete Anthony seine Erklärung.
Ich riss meine Augen verzweifelt auf. »Aber ihre Gabe ist doch viel besser! Und schmerzhafter...«, fügte ich geschockt hinzu. Wie konnte das nur sein?
„Aber Clas sieht das etwas anders. Er findet deine Gabe fast genauso gut wie Amalias. Und sie ist eifersüchtig. Äußerst eifersüchtig. Wenn du deine Gabe weiter ausbauen kannst, dann machst du ihr mehr als nur ein bisschen Konkurrenz. Das passt Amalia gar nicht. Und erst recht nicht, wenn du dann noch lernst, den Stein wieder zusammen zusetzen und somit alles, was du mal durch Wut aus Versehen kaputt gemacht hast, wiederherzustellen.
Deswegen finde ich es einerseits nicht so gut.“
Ich starrte ihn immer noch schockiert an.
Dann werde ich ihr das Gefühl geben, sie ist besser!, kam mir der Gedanke. Ich durfte sie einfach nicht als Feindin haben!
Was, wenn sie mich deswegen wieder mit ihrer Gabe quälen wird? Noch einmal wollte ich es nicht über mich ergehen lassen. Nein, bloß nicht! Allein der Gedanke lies mich aus Angst schütteln. Das, was sie wollte, durfte Amalia zwar wahrscheinlich nicht, aber ich glaube, nichts würde sie aufhalten können. Außer vielleicht Clas, den verehrten hier alle wie einen Gott.
Die Gedanken standen mir wohl ins Gesicht geschrieben, denn Anthony sagte sogleich: „Aber das heißt nicht, dass du dich absichtlich schlecht machen sollst.“ Anthony legte seine Hand auf meine Schulter und schaute mich ernst an. „Mach's bloß nicht! Es ist gut, wenn jemand an ihrem Ego kratzt.“ Er grinste fies. „Sie wird nämlich von Jahrhundert zu Jahrhundert egoistischer.“
Mein Schock ließ langsam nach und ich wurde durch Anthonys Gesichtsausdruck zum Lächeln gezwungen. Wenn ich so nachdachte, gefiel mir der Gedanke, Amalia wütend zu machen. Es hatte so seinen Reiz, jemanden, der einen gequält hatte, ebenfalls etwas Böses zu tun. Na ja, ich tat dadurch ja nichts wirklich Böses, ich würde nur durch ihre Wut glücklich werden.
Von mir aus konnte sie eifersüchtig sein. Von mir aus sollte sie sich deswegen umbringen. Ich stellte mir verschiedene Arten vor, sie bis zu ihrem Tod zu reizen und grinste.
Wie kann ich nur so launisch sein, dass ich mich in wenigen Sekunden von ängstlich auf schadenfroh umstellen kann?, dachte ich, als ich mir böse lächelnd die Hände rieb. Ich war und blieb einfach schadenfroh.
„Ich sehe schon, du wirst es nicht machen.“ Anthony lachte. Ich stimmte mit ein. Bei dem Gedanken, wie Amalia wohl aussehen würde, wenn Clas sagen würde, wie wichtig meine Gabe und ich ihm sei, bekam ich einen Lachflash und Anthony mit mir.
Nach ein paar Minuten beruhigten wir uns endlich wieder und hörten auf, uns auf dem Boden zu rollen. Da war wieder dieses Gefühl, das mir sagte, hier fühle ich mich wohl.
„Okay und jetzt mach weiter. Ich gucke dir zu.“ Anthony lachte noch immer und ich kicherte noch etwas vor mich hin.
Erst verstand ich nicht, was er meinte. Doch als er mit seinem Blick auf den Stein deutete, verstand ich, dass ich weiter versuchen sollte, den Stein wieder zusammenzusetzen. Gesagt, getan.
Ich schluckte die letzten Lacher runter, dann setzte ich mich gemütlich hin und konzentrierte mich auf den Stein. Da ich wusste, was ich machen muss, um den Stein zu Spalten, wusste ich ungefähr, was ich machen soll, um ihn wieder zusammenzusetzen.
Um einen Stein zu spalten, brauchte ich meist den Willen dazu und die gewünschte Stelle, die ich spalten sollte. Und wenn ich mich lange genug konzentrierte, durchlief mich dieses seltsame Kribbeln, das dafür sorgte, wenn es sich in meinem ganzen Körper angestaut hatte und dann freikam, dass der Stein riss. Also müsste ich mich genauso konzentrieren wie sonst, um dann den Stein wieder zum Zusammensetzen zu bringen. Theoretisch. Praktisch riss der Stein anstatt das Gegenteil zu tun.
Ich hatte den Stein die ganze Nacht konzentriert angestarrt. Mir wurde dabei sogar so langweilig, dass ich jede kleine Mulde und jede winzige Erhebung benannt hatte. Unabsichtlich. Wie so etwas unabsichtlich ging, wusste ich selber nicht, aber es ging. Da waren Günther, Peter, Pumuckel,... Jeden einzelnen Namen wusste ich. Noch hatte ich nicht allen Mulden und Erhebungen einen Namen gegeben, davon gab es schlichtweg zu viele und gleichzeitig zu wenig Namen, die ich kannte.
Ich schweifte wieder mit den Gedanken ab und dachte ein paar Jahre zurück. Damals hatten wir mit der Klasse auf einem Sportplatz Sport gehabt und ich hatte ein gelbes T-Shirt angehabt. Da es Sommer war, flog jedes einzelne, noch so kleine Krabbeltierchen das sich auf dem gesamten Feld befand, auf mein T-Shirt. Sofort kamen alle Mädchen aus meiner Klasse auf mich zugerannt und benannten die kleinen schwarzen Punkte auf meinem Rücken, da ich sie nicht loswerden konnte. Günther, Peter, Pumuckel,...
An diesem Tag hatte ich mich viel wohler gefühlt als an anderen, da ich mich in diesem Moment so wie der Mittelpunkt der Klasse gefühlt hab. Was ich in gewisser Weise auch war. Dieses Gefühl war ungewohnt, als auch schön für mich gewesen.
Ich driftete immer weiter von der Realität ab und vergaß den Rest, bis mir Anthony seine Hand auf meine Schulter legte. „Hey!“
Ich erschrak so heftig, dass ich sofort seine Hand packte und ihn zu Boden warf. Er war so überrascht über meinen Angriff, dass er es gar nicht geschafft hatte, sich zu wehren. Und nun auf dem Boden lag. Binnen einem Sekundenbruchteil stand er aber auch schon wieder auf den Füßen.
Ich lächelte. „Tschuldigung, aber ich empfehle dir, mich nicht anfassen, wenn ich in Gedanken versunken bin“, sagte ich und lachte. „Geht meist nicht gut aus.“
Anthony legte seinen Kopf schief. Eine einzelne Haarsträhne fiel ihm dabei ins Gesicht. „Und worüber hast du nachgedacht?“, fragte er mit einem leicht belustigtem Unterton.
Ich seufzte. »Über die Vergangenheit...« und ich lief der Gefahr zu, wieder alles um mich herum zu vergessen. Aber ich konnte mich gerade noch beherrschen und sank zurück in die trostlose Realität.
Anthony wurde, nachdem ich das gesagt hatte, ernst und sagte gar nichts mehr. Auch er schien jetzt an die Vergangenheit zu denken.
Ich vergaß ihn und konzentrierte mich auf den Stein.
Die Stunden vergingen. Komischerweise driftete ich nicht nochmal ab. Lag wahrscheinlich an Anthony, der mich beobachtete und bei dem ich nicht verletzlich und leicht ablenkbar wirken wollte.
Erreicht hatte ich nicht viel, wenn man es mit dem Auge betrachtete. Aber ich hatte die Struktur der Steine genauestens untersucht, allerdings nicht mit dem Auge, sondern rein geistlich, was mir aber mit meiner Gabe nicht sehr schwer fiel. Leicht war es aber trotzdem nicht, es erforderte höchste Konzentration.
Ich hatte die Strukturen miteinander verglichen und die Teile, die zueinander gehörten, versucht wieder zu verbinden. Es blieb beim Versuch.
„Was gibt es wohl langweiligeres, als stundenlang einen Stein anzustarren?“, fragte Anthony und grinste. Mittlerweile sind fast vier Stunden vergangen.
„Stundenlang mir dabei zu zugucken?“, riet ich, drehte mich um, legte meinen Kopf schief und kicherte. Dann drehte ich mich wieder zu dem Stein um.
Ich wollte es Anthony jetzt richtig zeigen und ihm seinen hübschen Mund zumachen. Nein, es würde mir eher gefallen, wenn er ihn geschockt aufklappen würde. Ich lachte mir teuflisch ins Fäustchen.
Nochmal versuchte ich die zusammengehörenden Strukturen miteinander zu verbinden und mich durchlief in meinem Körper ein seltsames Ziehen. Und langsam spürte ich etwas im Stein bewegen. Bewegen war aber nicht das passende Wort für das, was passierte, weil nämlich...
„Es klappt!“, schrie ich, stand blitzschnell auf und hüpfte aufgeregt auf der Stelle. Augenblicklich hörte der Stein auf, sich zusammenzusetzen.
„W-W-Was?“, fragte Anthony entsetzt und riss beim Aufstehen den alten Holzstuhl um, der bei mir in irgendeiner Ecke gemodert hatte. Sein Mund klappte auf.
Ich lachte. Sein Anblick war einfach göttlich und außerdem hatte ich es doch geschafft, seine Kinnlade runter zu klappen. Ich hielt mir die Hände vor dem Mund, um mit dem Auslachen aufzuhören.
Anthony machte seinen Mund wieder zu und stellte den Stuhl wieder normal hin, aber ein besorgter Ausdruck blieb in seinem Gesicht.
Ich verstand sofort, welche Sorgen er hatte. Trotz so kurzer Bekanntschaft war er für mich leicht zu durchschauen. „Ist es so schlimm? Du hast doch gesagt, es wäre gut, wenn ich Amalia Konkurrenz mache.“
Anthony verzog etwas sein Gesicht. „Ja, das stimmt schon, aber nur in der Theorie. In der Praxis sieht die Welt etwas anders aus.“
Ich schaute ihn verwirrt an. Aber Anthony sprach einfach weiter. „Ich habe doch nicht wirklich erwartet, dass du es können wirst! Außerdem habe ich das nur gesagt, weil wirklich mal jemand Amalia wortwörtlich in den Hintern treten sollte!“
Nun klang er wirklich entsetzt. »Aber doch nicht du! Du bist doch noch so klein und so schwach und so unschuldig!« Er verschränkte seine Hände hinter seinem Nacken und lief ratlos im meinem Zimmer umher.
Ich überlegte kurz über das, was mich gerade etwas gekränkt hatte. Schwach war ich wirklich im Vergleich zu den anderen Vampiren, aber...
„Ich bin doch nicht klein!“, sagte ich empört und stemmte die Hände in die Hüfte. Und unschuldig auch nicht, das konnte er nur hoffen.
„Doch das bist du“, sagte Anthony schnell und gab mir durch seinen Tonfall keine Chance zu widersprechen. Er lief immer noch ratlos umher. Ich schnaubte.
„Wird schon gut gehen“, meinte ich seufzend.
Das musste man mir lassen. Ich lief der Gefahr zu, mich vierundzwanzig Stunden Amalias hundertprozentigen Hass auszusetzen – um es nochmal zu betonen, Amalias Hass - und alles was ich dazu sagte, war „Wird schon gut gehen“. Ja, manchmal war ich eben hart im Nehmen.
Anthony stoppte sofort mit seinem ratlosen Herumlungern in meinem Zimmer und drehte sich ruckartig zu mir um.
„Wird schon gut gehen?“, fragte er laut und ich hatte Angst, dass ihn jemand hörte. Was würden die anderen sich dabei wohl denken, wenn sie ihn schreien hörten?
Seine Blicke durchbohrten mich erst verständnislos und verzweifelt, dann aber zornig. „WIRD SCHON GUT GEHEN?!“
Ich zuckte zusammen und stolperte ein paar Schritte zurück, weswegen ich fast nach hinten auf meinen Allerwertesten fiel. Ich hatte nicht erwartet, dass er so laut schreien konnte.
Sein Körper bebte und rund um seine Augen lief seine Haut schwarz an. Seine Augenfarbe war auch nicht mehr strahlend grün, sondern blutrot.
Anthony hatte mir ja schon mal gesagt, dass Vampire viel schneller wütend werden, als sie es sonst als Mensch werden würden. Jetzt hatte ich Angst, dass Anthony durch seine Wut mein ganzes Zimmer demolieren würde.
Würde er es wirklich machen? Ich konnte es ihm zutrauen. Stark genug war er ja.
Ich kam langsam auf ihn zu und legte meine Hand auf seine Schulter. „Anthony, beruhige dich!“, sagte ich sanft, aber fordernd und schaute ihm tief in seine dunklen, roten Augen. Ich hatte panische Angst, aber ich musste ihn beruhigen, egal, was in ihn gefahren war.
„Beruhigen?!“, brüllte er wieder und die Wände bebten. Er zitterte vor Wut und ich konnte nicht anders, als ihn mit Angst geweiteten Augen anzustarren. Ich zog meine Hand von seiner Schulter. Was ihn so wütend gemacht hatte, wusste ich nicht genau. Es konnte einfach nicht nur an meiner neuentdeckten Gabe liegen.
Grob packte er mich an den Schultern und drückte mich an die gegenüber liegende Wand, seine Augen immer noch schwarz. Dagegen wehren konnte ich mich nicht. Selbst wenn ich aus meiner Starre rauskommen würde.
Langsam bekam ich es richtig mit der Angst zu tun. Denn wenn er mir aus einem mir unerklärlichen Grund den Kopf abreißen wollte, hätte ich garantiert keine Chance.
Seine Augen blickten wild in meine verängstigten. Er drückte mich so stark gegen die Wand, dass sie langsam eine kleine Delle bekam. Sein Gesicht, das mich sonst immer so strahlend angesehen hatte, war jetzt verzerrt und nicht wiederzuerkennen. Er hatte seine obere Lippe hochgezogen und ich konnte dadurch seine spitzen, scharfen Zähne sehen. Es lief mir kalt den Rücken runter, als ich merkte, dass ich genau so aussah, wenn ich Hunger hatte und Blut trank.
Nach einer gefühlten Ewigkeit, in der ich beinahe panisch los geschriehen hätte, sagte Anthony endlich etwas. Er schien die ganze Zeit mit sich selbst gekämpft zu haben. „Wie kann ich mich beruhigen, wenn ich weiß, was Amalia mit dir anstellen wird?“, fragte er und sein Gesicht wurde weicher. Er schloss seine Augen.
Wieso kam jetzt das Bedürfnis ihn zu trösten und zu umarmen in mir auf? Plötzlich bekam ich Mitleid mit ihm, obwohl es eindeutig mir gelten sollte, aufgrund meiner kuriosen Situation. Ja, ich war immer noch seltsam und das würde sich garantiert nicht mehr ändern.
„Wie kann ich jetzt ruhig sein, wenn ich weiß, dass Amalia dich als Todfeindin sehen wird?«, fragte er mich, sein Gesicht voll Trauer und Fürsorge. Aus Angst davor, dass Anthony wieder durchdrehte, hielt ich mein vorlaute Klappe indem ich mir in die Lippe biss und blickte ihn immer noch mit ängstlichem Blick an.
Der Griff um meine Schultern wurde lockerer und er lies mir etwas mehr Freiheit zwischen ihm und der Wand.
„Ich kann nicht ewig um dich herum stehen“, sprach Anthony weiter, „und darauf aufpassen, dass Amalia dir nicht den Kopf abreist.“
„Das musst du auch nicht!“, sagte ich und wollte weiter reden, aber Anthony kam ganz nah an mich heran, so dass unsere Nasenspitzen wenige Zentimeter voneinander entfernt waren. Ohne es zu merken, hielt ich meinen Atem an.
„Amalia ist älter, stärker und gefährlicher als du denkst. Es gibt viele Sachen, die sie mit dir anstellen will, aber noch lange nicht tut. Ich sehe es in ihren Blicken. Und glaub mir, du willst nicht wissen, was sie alles denkt.“ Er seufzte. „Wenn sie sehen wird, was du kannst, hat sie, ihrer Meinung nach, allen Grund dafür, ihre Gedanken in die Tat umzusetzen.“
Ich erschauderte. Entsprach das wirklich der Wahrheit? Ich hoffte nicht.
„Es tut mir wirklich Leid, dass ich so überreagiert habe, aber ich habe wirklich Angst um dich!«, sagte Anthony besorgt. Dann hob sich bei ihm ein Mundwinkel. „So wie es aussieht, liegt mir etwas an dir.“
Mein stehengebliebenes Herz schien einen Satz zu machen und ich hielt mich gerade noch zurück, meinen Mund aufzuklappen.
Anthony entspannte sich nun komplett, hielt mich aber immer noch zwischen ihm und der Wand gefangen.
Wenn ich so nachdachte, gefiel es mir zwischen Anthony und der Wand eingequetscht zu sein. Solange er nicht wütend war. Denn so ganz nah bei mir, Gesicht an Gesicht... da fühlte ich mich so wohl. Was ich aber eigentlich nicht tun sollte.
Und sein Mund so nah an meinem, ich könnte da schon fast... Stopp! Milana? Woran denkst du gerade? Verbanne diesen Gedanken sofort aus deinem Kopf! Vergiss es! Und hör auf, ihm so auf die Lippen zu starren!
Ich versteifte mich unter Anthony. Er lies mich sofort frei und ging einen Schritt zurück.
„Danke“, sagte ich leise und presste meine Lippen aufeinander. Wäre ich ein Mensch gewesen, wäre mein Kopf rot angelaufen.
Anthony nickte und lehnte sich an die Wand. Ich senkte meinen Kopf. Wieso hatte ich nur immer so unpassende Gedanken? Hoffentlich hatte er nicht gesehen, wie ich seine Lippen angestarrt hatte.
Aber habe ich nicht das selbe Bedürfnis in seinen Augen gesehen? Er hat doch... Nein, das bilde ich mir sicher ein!, dachte ich. Ich atmete tief ein und roch Anthonys Geruch. Vergiss es!
Um nicht nichts zu tun, wandte ich mich wieder meinen zwei Steinhälften zu und konzentrierte mich darauf. Nach ein paar Minuten höchster Konzentration setzten sie sich langsam wieder zusammen und nach einer halben Stunde sah der Stein wieder wie neu aus. Na ja, fast. So neu ein alter Stein eben aussehen konnte.
Glücklich und stolz drehte ich mich wieder zu Anthony um, aber er war nicht mehr da. Er hatte mir nicht gesagt, dass er überhaupt geht, ich hatte es nicht mal gehört. Das einzige, was mir bewies, dass er überhaupt irgendwann dagewesen war und mich gegen die Wand gedrückt hatte, war die schmale Delle in der Steinwand meines Zimmers...
Ich hatte keine Ahnung, was in meinem Kopf vorging. Vor allem dann, wenn ich Anthony sah.
Er war mein Freund. Mein einziger hier.
Ich überlegte eine Weile. Anthony war sogar mein einziger Freund seit Jahren. Stumme Tränen stahlen sich aus meinem Auge. Es fühlte sich so gut an, einen Freund zu haben.
Hatte ich in den letzten sieben Jahre einen Fehler begangen? Dass ich keinen Menschen an mich ran gelassen hatte?
Eigentlich hatte ich das nur getan, weil ich nicht wollte, dass dasselbe nicht noch ein Mal geschah. Dass noch ein Mal meine beste Freundin vor meinen Augen starb. Das redete ich mir jedenfalls ein. Denn wie wahrscheinlich war so etwas denn?
Ich seufzte. Gleichzeitig hatte ich verlernt, wie man überhaupt mit Freunden umging. Wie man Freunde fand und wie man Freundschaften schloss. Obwohl es mir jetzt ziemlich leicht fiel.
Und wieso erst jetzt? Wieso konnte ich das nicht früher mit meinen Klassenkameraden?
Weil ich viel zu wählerisch bin! Da bin ich doch selbst Schuld!
Ich hatte jede Annäherungsversuche meiner Mitschüler abgelehnt, ihnen den Rücken zugewandt. Ohne sie richtig zu kennen. Aus dem Grund, sie nicht zu kennen.
Und ausgerechnet bei meinem ersten Freund seit Jahren, als ich mich endlich getraut hatte, jemanden zu vertrauen, tat ich diesen einen gewaltigen Fehler. Man wollte nicht seine Freunde küssen und man tat es nicht. Doch wieso hatte ich es trotzdem vorgehabt? Ich schloss meine Augen und atmete tief durch.
Freunde waren da, um einen zu unterstützen, um mit ihnen Spaß zu haben, um die Zeit miteinander zu verbringen. Und sie waren nicht da, um sie küssen zu wollen.
Doch wie erklärte ich das meinem Herz, dass mir zuflüsterte, ich solle Anthony küssen?
Liebes Herz, Anthony und ich sind nur Freunde, mehr nicht!
So, geklärt! Oder? Ich seufzte frustriert.
Ich wollte nach Hause. Dort war alles einfacher. Und ich war dieses Leben dort gewohnt. Keine typischen Teenie-Probleme, die einen zum Heulen brachten.
Mehr denn je vermisste ich es jetzt, mit meiner Familie abends vor dem Fernseher zu sitzen und uns über die banalsten Dinge lustig zu machen bis wir dafür zu müde waren. Jetzt konnte ich nicht mal mehr wissen, wie sich Erschöpfung anfühlte. Seelische Erschöpfung vielleicht. Denn ich war es Leid, hier meine Zeit abzusitzen wie in einem Gefängnis, bis ich mich kontrollieren konnte. Damit ich Menschen wegen ihrem köstlichen Blut nicht mehr töten wollte.
Erst als ich schluchzte, merkte ich, dass mein Gesicht Tränen überströmt war.
Ich wollte das nicht mehr! Ich wollte kein tötendes Monster sein!
Das ist alles nur die Schuld von Amalia und David! Es ist alles ihre Schuld! Das wäre alles nicht passiert, wenn sie nicht da gewesen wären!
Ich war wütend. Verzweifelt und wütend. Eine gefährliche Kombination, denn ich war nun auf Rache aus.
Ich ballte meine Faust, denn mein Körper fing an zu kribbeln. Ich unterdrückte den Drang, etwas zu zerstören und stand aus meiner zusammengekauerten Pose auf. Meine Füße gingen mechanisch auf die Tür zu und ich riss sie auf.
Ich muss sie finden! Ich muss die beiden finden!
In meinem Kopf malte ich mir Szenarien aus wie ich sie umbrachte.
Ich torkelte den Gang zum Saal entlang. Das Prickeln in meinem Körper hinderte mich daran zu laufen und mein Kopf fühlte sich zu voll an. Als wollte etwas da raus springen, das ich aber zurückhielt. Ich biss meine Zähne zusammen.
Ich hielt mich an den Wänden fest, um nicht hinzufallen. Es schwindelte mir, der Druck wollte meine Schädeldecke wohl zerbrechen lassen. Das Bild vor meinen Augen schwankte immer stärker hin und her.
Ich werde sie kriegen! Ich. Bringe. Sie. Um.
Plötzlich hörte ich in der Nähe Schritte. Ich drehte mich hektisch um und starrte die Person an. Anna.
Ich sah rot. Sie hatte mir zwar nichts getan, im Gegenteil, sie hatte mir eher geholfen als mir geschadet, doch ich war wütend auf alle. Auf alles.
„Milana?“, fragte sie. Ich knurrte.
„Was um alles in der Welt ist mir dir geschehen?“ Sie kam langsam auf mich zu.
„Nein!“, schrie ich. „Komm mir nicht zu nah! Oder ich schwöre dir, ich bring dich um!“
Anna riss ihren dunklen Augen auf. Sie schienen jetzt noch größer.
„Es wird alles gut.“ Sie streckte ihre kurzen Arme zu mir rüber.
Ich schüttelte den Kopf und mir wurde so schwindelig, dass ich fast auf den Boden fiel. Das Kribbeln in meinen Beinen machte es mir nicht leichter zu stehen.
Meine Wut wurde größer, sobald ich wieder an David und Amalia dachte, und zeitgleich wurde auch das Kribbeln schlimmer. Mein Körper schmerzte bereits davon.
„Es wird alles gut“, wiederholte Anna und beugte sich zu mir runter. Ich merkte nun, dass ich halb auf dem Boden lag.
Nichts wird gut. Es ist alles ihre Schuld. Ich bringe sie um! Ich werde sie umbringen!
Ich wollte aufstehen, aber mein Körper bebte zu sehr.
Ich bringe sie beide um!
Meine Wut richtete sich immer weiter aufs Zerstören aus. Und doch schaffte ich es, mich in Grenzen zu halten.
Noch nicht. Erst wenn ich David und Amalia vor mir sehen würde. Dann könnte ich meine gesamte Wut an ihnen auslassen.
Ich hatte Anna völlig vergessen, weil ich mich zu sehr auf das Aufstehen konzentriert hatte, bis sie sich wieder bewegte.
„Halt dich von mir fern!“, kreischte ich. Ich schaffte es, mich aufzurichten.
Und dann konnte ich nicht mehr. Es war zu viel. Mein Körper schien zu explodieren und ich schrie los. Gleichzeitig brach der Schmerz aus mir und ich fühlte mich leichter.
Mein Schrei hielt an bis der Schmerz und das letzte Kribbeln verschwunden waren. Dann sank ich auf meine Knie und öffnete meine zusammengekniffenen Augen.
Anna schaute mich schockiert an, doch sie reichte mir immer noch die Hand. Hinter, vor und unter ihr waren Risse. Riesige Risse in dem Stein, der die Wände und den Boden bildete. Ich brauchte eine Weile, um zu realisieren, dass ich das gewesen war.
Meine Wut war weg. Mit dem Schmerz, der sich bei mir angestaut hatte. Und als er ausgebrochen ist, brach auch meine Gabe aus. Jetzt besaß der halbe Gang enorme Schäden. Ich hatte Angst, dass die gesamte Konstruktion nicht standhalten und auf mich herunterstürzen würde.
Ich fing an zu schluchzen und rollte mich in eine Kugel.
Das war zu viel. Viel zu viel für mich. Der Wunsch, diese Burg hinter mich zu lassen, wurde immer größer.
Wieso geschah das mit mir?
Anna war sofort bei mir, als keine Gefahr meinerseits mehr drohte. Ich spürte, wie sie die Arme um mich legte. „Alles wird gut.“
Mein Körper wurde von meinem Schluchzen geschüttelt. Das Einzige, das mich jetzt glücklich machen würde, wäre mein Zuhause. Doch es war weit weg.
„Es wird alles wieder gut“, sagte Anna. „Da mussten wir alle schon mal durch. Aber es wird wieder.“
Ich hörte ihrer Stimme zu. Es war das, das mich in diesem Moment davon abhielt, einen Nervenzusammenbruch zu kriegen.
„Jeder von uns hatte dieses Problem im ersten Monat.“ Sie strich mir über den Rücken. „Es wird wieder. Du hast das Schlimmste überstanden.“
Ich atmete immer noch gebrochen und schluchzte, doch es ging mir etwas besser. Nach einer kurzen Stille, in der ich hoffte, dass sie noch irgendwas sagte, begann sie wieder zu sprechen.
„Bei mir war es nicht anders. Das erste, das ich in meiner Verzweiflung getan habe, war, von einer Klippe zu springen. Natürlich habe ich überlebt, trotz schlimmerer Verletzungen.“ Anna lachte. Ihre Brust vibrierte hinter mir. „Doch dann war wieder alles gut. Und das wird es auch bei dir.“
Es herrschte eine große Stille zwischen uns, die aber keineswegs unangenehm war. Nein, ich hatte selten so eine Trost spendende Umarmung bekommen. Und noch nie hatte ich mich so verstanden gefühlt.
Niemand hatte verstanden, wie es sich anfühlte, seine beste Freundin zu verlieren. Vor allem nicht auf die Weise und nicht in dem Alter. Keiner hätte mir da helfen können. Ich hatte mich immer so allein gefühlt und jetzt spürte ich zum ersten Mal das, was ich seit langer Zeit nicht mehr spüren konnte: Geborgenheit. Es lag nicht daran, dass meine Eltern es mir nicht gegeben hatten, ich konnte oder wollte es nur seit dem Vorfall vor sieben Jahren nicht spüren.
„Soll ich dich in dein Zimmer bringen?“ Anna zarte Stimme umhüllte mich wie ein Kokon.
Ich nickte. Eine ganze Weile war bis jetzt vergangen.
Sie begleitete mich bis in mein Zimmer und legte mich dann in mein Bett.
„Soll ich da bleiben?“
Ich schüttelte den Kopf.
Bevor sie ging, murmelte ich noch „Danke“ und sie nickte mir lächelnd zu. Dann schloss sie die Tür und ich hörte wie sie verschwand.
Ist sie jetzt meine Freundin?
Über ein Monat war jetzt schon rum. Seit ich ein Vampir geworden war. Seit mein Herz die letzten Schläge gemacht hatte. Der Gedanke daran verursachte mir eine Gänsehaut.
Die Zeit hatte sich lang gezogen wie Kaugummi und gleichzeitig ist sie so schnell vergangen wie noch nie. In dieser Zeit wollte ich nichts mehr, als einfach abzuhauen und zur meiner Familie zurückzukehren. Und genauso wollte ich keineswegs hier raus, da der Gedanke, jemanden weh zu tun, mich quälte. Ich verzehrte mich bereits nach Blutbeuteln wie ein Drogenabhängiger nach Drogen. Wenn ich frisches Menschenblut roch, drehte ich völlig durch und wurde zum Tier.
Ich hatte Angst, nach draußen zu gehen und ein Massaker zu veranstalten. Es war der einzige Grund, wieso ich geblieben bin. Aber vielleicht lag das auch noch an Anthony.
Ich seufzte. Er hatte sich nach dem letzten Mal bei mir nicht blicken lassen. Er kannte mich gut genug, um zu wissen, wie sehr es mich verletzte.
Wieso kam er nicht mehr? Hatte ich etwas falsch gemacht? Vielleicht war ich ihm egal und kam deswegen nicht?
Ich wurde noch deprimierter, als ich es ohnehin schon war. Wenn er mich nicht mochte, wäre er doch die Male davor auch nicht gekommen, oder? Doch auch das brachte mich nicht zum Lächeln.
Und von meinen Depressionen muss er doch sicher gehört haben! Oder doch nicht? Wäre er dann nicht schon längst da?
Ich fühlte mich wirklich schlecht. Nicht nur wegen Anthony – wenn ich ihn mal vergessen konnte – sondern auch wegen Clas. Er wollte ja nach einem Monat sehen, wie es mit meiner Gabe stand. Letztes Update: Gut genug um gewisse Personen eifersüchtig zu machen.
Jetzt fragte sich, was ich tun sollte. Clas meine wahren Kräfte zeigen und riskieren durch Amalia den Kopf zu verlieren? Oder, um Amalia nicht eifersüchtig zu machen, sagen, dass ich keine Gabe besaß und riskieren durch Clas oder durch seine Helferlein den Kopf zu verlieren?
Ich hatte mich für das Erste entschieden, da es Clas Amalia nicht erlauben würde, mich umzubringen, falls ich wirklich so nützlich für ihn werden würde. Aber ich konnte mich jede Sekunde umentscheiden, denn die Angst vor Amalia nagte an mir.
Und nun lag ich auf der Zimmerdecke, da ich nichts besseres zu tun hatte. Die Fingerspitzen in die Decke gekrallt, in der Hoffnung, dass jemand kommen und mich aus meiner Langeweile und aus meinen Depressionen, die jeder Jungvampir hatte und die ich eigentlich bereits überwunden hatte, holen würde. Letztendlich aber lies ich die Decke los und lies mich auf den Boden fallen. Leise kam ich mit meinen Füßen auf.
Ich hatte es satt, vor mich hin zu gammeln und meine Gabe weiter zu verbessern. Das war mir bereits zu langweilig. Etwas zerreißen, reparieren. Zerreißen, reparieren. Die Wände und den Boden, die ich bei meinem Beinahe-Nervenzusammenbruch zerrissen hatte, sahen auch wieder so aus wie neu.
Ich beschloss Anthony aufzusuchen und zu fragen, wieso er nicht komme.
Meine Kleider gingen mir langsam aus. Zwar war mir langweilig, aber nicht langweilig genug, um meine Wäsche zu waschen. Sie hatten es nicht unbedingt nötig, weil ich nicht schwitzte, aber sie wurden vom Steinspalten und Steinreparieren staubig.
Ich nahm aus meinen Kleiderschrank mein letztes, ein kurzes schwarzes – na ja, eher dunkelgraues - Kleid. Mit der großen Auswahl viel mir das Auswählen ja nicht so schwer. Jetzt noch die High Heels. Fertig!
Ich war es gar nicht so gewohnt, aufgetakelt mit kurzem Kleid und hohen Schuhen irgendwo hin zu laufen. Immerhin war ich gerade erst fünfzehn und hatte noch das Recht, mich kindlich anzuziehen. Na ja, klar, manche Teenies liefen bereits mit vierzehn so rum wie ich gerade. Aber zu denen gehörte ich eben nicht.
Ich schaute in den Spiegel. Es sah selbst nach einem Monat noch ungewohnt aus. Ob das Nuttige vergehen würde, wenn ich mich lange genug ansah?
Ich schnaubte belustigt. Mehr als genug Zeit dafür, um es herauszufinden, habe ich ja.
Da ich zu Anthony wollte, um ihn zur Rede zur Stellen, versuchte ich, seinem Geruch zu folgen, aber er war bereits verblasst. An der Klinke meiner Tür hing er noch sehr schwach – ja, ich musste daran schnüffeln wie ein Hund –, aber sobald ich weiter ging, war er nicht mehr da.
Und so kam ich auf die Idee, durch die ganze Burg zu laufen und nach seinem Geruch zu schnüffeln. Irgendwann würde ich ihn schon finden.
Ich suchte und suchte. Nach einer Stunde hatte ich wahrscheinlich gerade mal ein Drittel der Burg abgesucht, wenn nicht weniger. Sicher gab es hier noch Gänge, die geheim waren und die ich garantiert nie betreten würde. Diese Burg war einfach nur gewaltig.
Kein Wunder, dass hierher Touristen kamen. Der sichtbare Teil war allein schon riesig, aber da, wo sich die Vampire aufhielten, war die Burg größtenteils auch noch unterirdisch. Ich würde wohl nie herausfinden, wie groß die gesamte Burg war.
Apropos Touristen. Plötzlich schnappte ich deren Geruch auf, als ich merkte, wie sehr mein Rachen eigentlich brannte. Zuerst dachte ich, es sei Einbildung, da ich vor fast einer Woche zum letzten Mal getrunken hatte. Aber ich hörte tatsächlich Stimmen, die immer näher kamen. Und das Pochen mehrerer Herzen. Die genau auf mich zu liefen.
Gift sammelte sich in meinem Mund und ein scheußliches Feuer breitete sich in mir aus.
Wieso hat mir niemand gesagt, dass heute die Touristen kommen? Ich habe doch auch Hunger! Verdammt!
Und dann drehten sich meine Gedanken in die andere Richtung. Was bin ich nur für ein Monster?, fragte ich mich nun. Monster, Monster, blutsaugendes Monster!
Mir war aber auch klar, dass ich nicht ohne ihr Blut auskommen würde. Ich würde auf die schmerzhafteste Weise austrocknen. Trotzdem fühlte ich mich unglaublich schlecht. Mein Gewissen nagte an mir schlimmer als ein Biber an einem Baum. Ich blinzelte meine Tränen weg.
Die Menschen kamen immer näher. Schnell flitzte ich in die entgegengesetzte Richtung und riss das große silberne Tor auf. Wieder sahen mir sechzehn hungrige Vampire entgegen.
„Schätzchen!“, rief Clas, der es sich an seinem Stehplatz gemütlich gemacht hatte, als er mich erblickte.
Ich starrte ihn wütend an. Gründe? Ganz einfach!
Erstens: Ich mochte es nicht, wenn man 'Schätzchen' oder andere Spitznamen zu mir sagte. Und wenn Clas das noch nicht wusste, konnte er seinetwegen nur noch hoffen, dass er es an meinem Gesichtsausdruck blickte. Und es damit lies.
Zweitens: Mit meinen wütenden Blick stellte ich ihm die Frage, wieso ich grade selber erfahren hatte, dass heute die Touristen kamen.
Clas blickte die Frage, die ich ihm mit meinem Blick stellte und lachte übertrieben. „Ach, komm schon. Schau mich nicht so böse an! Es war uns doch klar, dass Du kommen würdest“, versuchte er mich zu beschwichtigen.
„Ja, klar, natürlich wusstest du das!“, meinte ich ironisch, „Es war ja nicht so, dass Du mehr für dich haben wolltest. Nein, auf keinen Fall!“ Ich spielte erst geschockt und riss meinen Mund auf, dann setzte ich ein künstliches Lächeln auf und lächelte Clas an. Wütend stampfte ich zu derselben Stelle, an der ich letzten Monat auch gestanden bin.
Alle im Raum starrten mich geschockt an. Doch ich hatte keine Lust, darauf zu achten.
Ich wurde wirklich leicht eingeschnappt, seit ich mich verwandelt habe. Und irgendwie fühlte ich mich, nachdem ich das gesagt hatte, wie in meinem Element. Wenigstens hatte ich mich nicht komplett verändert. Auch wenn ich jetzt ein anderer Mensch – sorry, Vampir – war, blieb mir meine scharfe Zunge.
Alle fingen an, wie wild zu murmeln. Ich hob eine Augenbraue.
„Wie konnte sie nur so etwas sagen?!“
„Sie hat ihn mit DU angesprochen!“ Mach' dir jetzt bloß nicht ins Höschen!
„Gleich bekommt sie ihre Strafe dafür!“
„Miststück!“
Diese Stimme konnte ich unter Tausenden wiedererkennen. Ich drehte mich wütend und auf die Lippe beißend zu Amalia. Als sie meinen Blick bemerkte, grinste sie mich an.
Dir wird schon bald das Lachen vergehen, sobald du meine Gabe gesehen hast, dachte ich und grinste innerlich. Äußerlich ließ ich mir nichts davon anmerken und starrte sie weiter hasserfüllt an.
Mein Blick schweifte zu Clas. Er beobachtete mich gespannt und neugierig.
„Soll ihn ja nicht jeder verehren wie ein Gott!“, murmelte ich und verdrehte die Augen. Augenblicklich wurde es mucksmäuschenstill und alle drehten sich erschrocken zu mir um. Die gespannte Stimmung schien die Vampire sichtlich zu erdrücken. Auch Anthony, den ich grade erst entdeckt hatte. Sofort guckte ich ihn enttäuscht und tadelnd an, um ihm ein schlechtes Gewissen zu machen. Was ihn noch erwartete, wollte er lieber nicht wissen.
Ich verstand nicht, was alle für ein Problem hatten. Er war ja wirklich kein Gott. Oder etwa doch? Vielleicht weiß ich nur nichts davon?
Am liebsten hätte ich laut losgelacht, aber es schien dem Rest echt ernst zu sein. In Zukunft müsste ich da wohl etwas vorsichtiger sein.
Und dann spürte ich schlagende Herzen, nicht sehr weit von mir entfernt. Mein Körper schien jetzt wirklich in Flammen zu stehen und mein Mund füllte sich mit dem bitteren Gift. Meine Zähne konnte ich auch nicht mehr richtig zusammenbeißen, da mir meine Fangzähne im Weg standen.
Ich merke erst jetzt, dass die Touristen wenige Schritte von der Tür entfernt sind?!
Auch die Anderen schienen das erst jetzt zu bemerken. Blitzschnell wandten sich alle Köpfe von mir weg, in die Richtung des Tores. Und so schnell vergaß man ein Drama und wandte sich zum nächsten.
Als sich das Tor öffnete, kam mir alles wie ein Dejà-vu vor. Gleich würden alle auf die Menschen springen und ich würde wieder kaum etwas abbekommen und müsste um mein Essen kämpfen.
Nein! Darauf hatte ich keine Lust.
Plötzlich überkam mich solch eine Wut, dass ich das Gefühl hatte, ich könnt den ganzen Saal zum Einstürzen bringen. Es kam mir sogar vor, als ob er wirklich kaum merklich bebte. Stattdessen hatte ich eine bessere Idee.
Ich holte mit meiner Hand Schwung und lies den Boden, ohne das ich ihn berührte, in einer viertel Sekunde nach oben gleiten und stellte ihn als Wand vor allen Vampiren auf. Gleich darauf sprang ich meine erste Beute an.
Die Menschen waren so erstaunt über das, was sie gerade gesehen hatten, dass sie gar nicht merkten, wie einer von ihnen zu Boden ging. Auch die Vampire waren anfangs so geschockt, dass sie reglos vor der eben erbauten Wand standen, bis sie den Geruch von fließendem Blut vernahmen und der Erste durch die Wand brach.
Die Touristen lösten sich erst jetzt aus ihrer Starre und bemerkten mich über einem ihrer Leute. Mittlerweile war er beinahe blutleer.
Als die ersten Vampire die Menschen angriffen, war ich schon beim Zweiten.
Von überall vernahm ich Schreie. Sofort wurde ich wieder traurig und meine Gehirn fing an, mich als Monster zu beschimpften. Mein Biss verlor an Stärke. Aber ich konnte mich trotzdem nicht mehr beherrschen, ich musste einfach die Frau zu Ende auszusaugen und sie dann blutleer auf den Boden fallen lassen.
Zuerst wollte ich nicht mehr weiter töten. Ich konnte und wollte nicht mehr, zwei waren mehr als genug. Zwei zu viel.
Und dann sah ich, wie nur noch ein Überlebender in der Mitte des Raumes stand, der mit weit aufgerissenem Mund hysterisch auf das Drama vor ihm sah. Mein vampirischer Instinkt wurde geweckt.
Alle Vampire in diesem Raum, die gerade niemanden mehr zum Aussaugen hatten, wollten den letzten Überlebenden. Es würde einen Wettkampf geben. Ich liebte Wettkämpfe. Über alles.
Glücklicherweise war ich am nächsten an ihm dran und hatte somit das letzte Spiel für mich entschieden. Ich grinste. Aber kaum das ich meine Fangzähne wieder ausfahren konnte, überkam mich der Schmerz. Ja, DER Schmerz.
Ich verfluchte Amalia und spürte wie mir meine Beute weggezogen wurde. Vor Schmerz fiel ich auf den Rücken und verzog mein Gesicht.
Durch meine Schreie hindurch hörte ich, wie die Leichen weggetragen wurden und Amalias leises Lachen. Pass auf, du, wenn ich dich kriege! Ich knurrte wütend und wand mich auf dem Boden. Bei Hauen meiner Hände auf den Boden entstanden tiefe Dellen.
Die Schmerzen waren schlimmer, wie ich sie in Erinnerung gehabt hatte. Wahrscheinlich lies Amalia jetzt ihre gesamte Wut auf mich aus. Eine gefühlte Ewigkeit verging.
„Stopp!“, rief Clas mitten in meine Schreie. Meine Wahrnehmung war abgestumpft und ich spürte meine Umgebung kaum. „Hör auf! Es reicht! Das war schon Strafe genug.“
Die Schmerzen hielten noch etwas an, wurden dann aber schwächer und hörten schlussendlich auf, als Clas sich laut räusperte.
Innerlich Clas dankend, entspannte ich mich auf dem Boden, stand aber gleich darauf auf und starrte Amalia wütend an. Sie wagt es!
Unheimliche Stille überkam den Saal. Der Boden, den ich zerstört hatte, dessen Überreste hatte bereits schon jemand aufgesammelt und in einer Ecke aufgestapelt. Da, wo sich der Boden befinden sollte, befand sich ein großes Loch, das fast den ganzen Saal für sich beanspruchte. Darunter befand sich harte, dunkle Erde. Von den Leichen war nicht die leiseste Spur.
Den Blick auf Amalia gerichtet, wollte ich sie schon fast anspringen und ihr den Kopf abreisen. Doch ich war gerade noch genug bei Verstand, um zu wissen, dass das würde garantiert schlecht für mich enden würde. Also lies ich es sein und schaute sie noch immer hasserfüllt an.
Amalia lächelte, weil sie wusste wie rasend sie mich gemacht hatte und dass es für mich nichts bringen würde, sie anzugreifen, da sie entweder weitermachen würde, mir Schmerzen zu zubereiten oder da sie mich sowieso locker abwehren würde, da sie viel stärker war als ich oder mich dann sogar jemand anderes aufhalten würde.
Ich wurde immer wütender und mein Körper zitterte unkontrolliert. In mir sammelte sich wallende Hitze auf. Ich knurrte und da verschwand das Lächeln aus ihrem Gesicht. Ich fand das seltsam, da sie eigentlich keine Angst vor mir haben sollte. Zornig durchbohrte ich sie mit meinem Blick.
Mittlerweile hatte sich David zu ihr gesellt und schaute sie besorgt an. Amalia blickte ihren linken Arm an und fing an, schmerzhaft ihr Gesicht zu verzehren, zu Stöhnen, dann zu Wimmern.
Ich stellte mir vor, wie ich ihren Kopf von ihrem Körper trennen würde und sie dieselben Geräusche von sich geben würde, obwohl... Es würde mir besser gefallen, wenn sie schreien und mich darum bitten würde, sie nicht um zu bringen.
Aber wieso wimmert und stöhnt sie überhaupt?
Vielleicht will sie mich ablenken und dann umbringen?, dachte ich. Sofort überkam mich wieder dieser Hass und ich fixierte mich weiterhin genau auf sie.
Amalia wurde hysterisch und fing an, wie bekloppt zu hüpfen. Blanke Panik stand ihr mitten ins Gesicht geschrieben, während ich etwas Reißen hörte. Gleichzeitig breitete sich im stillen Saal ein eigenartiger Geruch aus, der mir irgendwie bekannt vorkam. Es roch ähnlich wie mein Gift, das meinen Mund füllte, wenn ich hungrig wurde.
Ich lies mich nicht ablenken und starrte sie weiterhin zornig an und merkte nicht, wie ein kleiner Riss ihren linken Arm verzierte, der ganz langsam immer größer und tiefer wurde.
Jetzt bekam der Satz 'Jemanden umbringen wollen' eine ganz neue Bedeutung. Es war nicht nur der Hass auf eine bestimmte Person, die einem einfach nur auf die Nerven ging und die man am liebsten auf den Mond schießen würde. Nein, es war pure Mordlust. Ich wollte Blut sehen, Blut schmecken und riechen - was bei aus Stein bestehenden Vampiren schlecht ging. Ich wollte gequälte Schreie hören. Und den allerletzten Laut, den sie von sich geben würde.
„Stopp!“, rief jemand, der sehr nach Clas klang.
Was heißt hier 'Stopp'?, fragte ich mich und bemerkte endlich den kleinen Riss in Amalias Arm, die ihn hysterisch anblickte.
„Hör auf!“, kreischte sie auf. Pure Angst beherrschte ihr Gesicht.
Ich legte meinen Kopf schief und konzentrierte mich ganz genau auf diese Stelle, als der Riss immer schneller größer und tiefer wurde. Noch war er wenige Zentimeter groß, aber das wollte ich rasch ändern.
„Ich hab gesagt, LASS DAS!“, brüllte Clas. Aber ich hörte nicht hin. Ich hatte in dem Moment nur einen Gedanken, für etwas Anderes gab es keinen Platz. In mir stieg ein unbekanntes Gefühl auf, das sich zu gut anfühlte.
Plötzlich riss mich etwas Hartes zu Boden. Das reißende Geräusch hörte auf und ich landete auf dem Gesicht auf dem Boden. Gott sei Dank konnte ich mir mein Gesicht nicht aufschürfen. Dafür aber mein Kleid.
Ein bekannter Geruch umgab mich. Anthony. Er hatte sich auf mich drauf geworfen.
Aber wieso? Mochte er Amalia nicht genauso wenig wie ich? Das hatte er mir doch mal gesagt!
Langsam setzten sich die Puzzleteilchen zusammen. Wenn er es nicht gemacht hätte, wäre es jemand anderes gewesen, der mir höchstwahrscheinlich gleichzeitig den Kopf vom Körper getrennt oder mir anderweitig wehgetan hätte. Im Stillen dankte ich ihm dafür.
Ich stand auf und wischte mir den Dreck von meinem Kleid. Es war ein bisschen hochgerutscht, aber glücklicherweise nicht zu hoch. Ich zog es mir etwas weiter runter.
Anthony stellte sich nach einem Räuspern von Clas wieder in die Reihe, die sich hinter mir gebildet hatte. Ich wunderte mich über die immer gleiche Aufstellung, jeder hatte seinen festen Platz.
Und ich nun auch. Dabei wollte ich nur nach Hause.
Amalia ging begleitet von David aus dem Saal, um sich ihre 'Wunde' 'verarzten zu lassen'. Sie heulte immer noch etwas vor sich hin und versank im Selbstmitleid. Ich lachte mir heimlich in Fäustchen.
Ich blickte mich um. Alle schauten mich mit ehrfürchtigen Blicken an. Ich musste lächeln. Und mein Lächeln verschwand sogleich als ich in Clas' Gesicht blickte. Es sah zwar so gleich aus wie immer, aber ich musste an sein wütendes Brüllen grade eben denken.
Einige schauten etwas ängstlich, andere verdrehten die Augen und starrten mich wütend und neidisch an. Tja, nicht jeder hatte so eine Chance, sich an Amalia und ihren Taten zu rächen.
„Erstaunlich, was du im letzten Monat alles gelernt hast. Und dass du auch noch so talentiert bist!“, sagte Clas und beäugte mich. Am liebsten hätte ich mir zwei Finger in der Mund gesteckt.
Wenn er schon so rum schleimt, kann ich ja auch angeben! Ich verbeugte mich vor ihm wie ein Maestro vor seinem Publikum und sagte: „Vielen Dank für Eure Aufmerksamkeit. Ich hoffe es hat Euch gefallen!“ und grinste.
Clas grinste ebenfalls. Es sollte echt wirken, aber ich durchschaute ihn. Stattdessen sah ich in seinen Augen nur Neugier.
„Natürlich hat es mir gefallen. Wie könntest du glauben, es würde mir nicht gefallen?“
Ich lächelte zurück. Vielleicht konnte man durchsehen, dass dieses Lächeln nicht echt war.
„Wir hatten bereits geahnt, dass du viel Talent besitzt, da du bereits im menschlichen Zustand die Gabe ausüben konntest. Dass du Stein Spalten kannst. Unglaublich! Aber das, was du uns heute präsentiert hast, das tritt weit über unsere Vorstellungskraft. Habe ich nicht Recht?“, fragte er Somala und Marx und drehte sich zu ihnen um. Somala nickte ernst und beeindruckt, Marx war erst typisch er selbst und blickte mich nicht einmal an. Abermals fragte ich mich, welche Probleme er hatte.
Und dann aber drehte Marx sich ruckartig zu mir um und starrte mir direkt in die Augen. In seinem Blick las ich: „Na, kannst du standhalten?“
Meine erste Reaktion wäre fast ein Zusammenzucken gewesen, da ich eine Reaktion seinerseits nicht erwartet hatte. Stattdessen schaute ich spöttisch zurück und starrte ebenfalls in seine Augen. Das sollte heißen: „Für wen hältst du mich eigentlich?“
Wir starrten uns gegenseitig zornig in die Augen, darauf wartend, wer als Erstes nachgäbe.
Ich spürte die Anspannung um mich herum, jeder guckte uns in diesem Augenblick zu. Was mir so am liebsten war. Denn jeder würde bald Marx' Niederlage sehen.
Ob ich zu selbstsicher war? Wahrscheinlich. Wer legte sich schon freiwillig mit Älteren und Stärkeren an?
Auch wenn wir so unterschiedlich waren, waren wir uns in einem jedoch vollkommen gleich. Auch wenn ich es nicht gerne zugab: Unsere Dickköpfigkeit verband uns.
Es vergingen Sekunden, Minuten... Bis Clas irgendwann die Schnauze voll hatte.
„Ich glaube, das reicht. Es wird langsam lächerlich!“
Aber das war es gar nicht. Und wir beide hatten keine Lust aufzugeben. Aufgeben würde heißen Verlieren und wer wollte das schon?
Clas räusperte sich. Aber das änderte nichts.
Und da hatte ich eine Idee, wie ich aufgeben UND gewinnen würde. Mein Blick wandte sich aus Marx', was mir wegen seiner unheimlichen Ausstrahlung leicht fiel.
Ich sah auf zu Clas und konnte Marx im Augenwinkel grinsen erkennen. „Du hast Recht. Wir sollten uns nicht lächerlich verhalten und darum kämpfen, wer gewinnt. Habe ich nicht Recht?“, wiederholte ich Clas' Worte und wandte mich dann wieder Marx zu, dessen Grinsen gefallen war.
„Das Spiel ist noch lang nicht vorbei“, sagten seine Blicke.
„Nein, noch lange nicht“, antworteten meine.
„Wollen wir uns nicht lieber mit Wichtigerem beschäftigen?“, lenkte Clas wieder die Aufmerksamkeit auf sich.
„'Türlich.“ Das kam von mir. Und damit lag die Aufmerksamkeit aufs Neue nicht auf Clas. Alle starrten mich erneut an, als ob ich etwas verbrochen hätte. Ich verdrehte meine Augen und signalisierte hiermit: »Ja ja! Ich halte schon meine Klappe!«
Clas hörte darüber hinweg und sprach weiter: „Ich bin fasziniert von deinen Begabungen. So... einzigartig!“ Clas Augen fingen an zu Leuchten. „Ich bin begeistert!“
Ich wäre auch begeistert, wenn ich so einen Diener hätte, dachte ich und verzog mein Gesicht über den Gedanken daran, dass ich Clas' Untertan oder ähnliches war, solange ich hier blieb.
Aber auch wenn ich es äußerlich nicht zeigte, überschlug sich mein Bauch innerlich vor Freude. Das ich sogar Vampire auseinander reißen konnte, allein durch meine Vorstellungskraft! Das hätte ich mir wirklich nie erträumen können. Und ich hätte vor allem nie gedacht, dass ich nicht nur Steine zerreißen, sondern auch bewegen konnte. Es war für mich fraglich, wie ich überhaupt auf die Idee gekommen bin, eine Steinwand vor den Vampiren aufzubauen. Aber es hatte funktioniert und deswegen war ich unglaublich stolz auf mich. Was man alles mit der Willenskraft erreichen konnte!
„Du hast besseres verdient!“, sagte Clas und riss mich zurück in die Realität. „Talente wie solche dürfen doch nicht in so runtergekommenen Zimmern wohnen wie du, und neue Kleider bekommst du auch noch!“ Clas' Miene zu urteilen, plante er noch mehr. Seiner Stimme nach zu urteilen, freute er sich unglaublich, dass er mich hatte. Da konnte Amalia einpacken. Ich grinste.
Ich überlegte. Der Gedanke, ein neues Zimmer zu bekommen, wäre nicht so schlecht. Doch was würden nur die Anderen denken, wenn sie mein altes Zimmer sehen würden? Der eine Stein war immer noch nicht da, wo er normalerweise stecken sollte und die Wände hatten neue Risse bekommen, da mir langweilig geworden war. Die Alten hatte ich natürlich wieder repariert, aber zu den Neuen bin ich noch nicht gekommen. Oder wollte nicht.
Ich konnte förmlich die Gesichter vor mir sehen von denen, die in mein altes Zimmer eintraten. Ob sie Angst vor mir bekommen würden? Ich lachte.
Clas sprach bereits weiter: „Wir werden dir verschiedene Kampftechniken beibringen, damit du dich auch verteidigen kannst, wenn es ernst wird.“ ...und ich möchte noch ein paar Stunden länger labern, aber ich lasse es jetzt mal vorerst sein, vervollständigte ich in Gedanken.
Nachdem er endlich meinte, genug gesagt zu haben, schickte Clas ein paar Vampire weg, damit sie mir mein neues Zimmer einrichten konnten. Nun wandte er sich zu mir: „Bald kannst du dein neues Zimmer betreten.“ Er setzte sich sein berühmtes Lächeln auf. War ich etwa die Einzige, die ihn durchschaute?
Gleich nachdem das Tor von den mein-Zimmer-einrichtenden-Vampiren geschlossen wurde, öffnete es sich sogleich und Amalia und David traten ein. Mein Blick fiel sofort auf die Bandage um Amalias linken Arm. Das Vampire so etwas mal brauchen würden! Ich krümmte mich innerlich vor Lachen.
„Wie geht es deinem Arm, liebe Amalia?“, fragte Clas und er meinte es ernst, denn seine Stimme klang nicht mehr so künstlich wie sonst. Und diese altbackene Sprache... Beim Gewöhnen daran würde ich es garantiert schaffen, einige graue Haare zu bekommen.
Statt Amalia antwortete David: „Ihr Arm wird heilen, spätestens in drei Tagen ist er wieder wie neu. Aber aus Angst, dass ihr Arm irgendwie abfallen wird, hat man ihr eine Bandage drumherum gebunden.« Leider wird ihr keine Narbe bleiben, die sie immer daran erinnern würde. Ach! Wäre doch zu schön gewesen!
„Ach, Schätzchen!“ Clas drehte sich energisch zu mir um, als er spürte wie ich einen Schritt Richtung Ausgang trat und schaute mir mit einem echten Lächeln in die Augen. Ich zuckte kaum merklich zusammen. Seine Augen waren kohlrabenschwarz.
Wie kann das sein? Kommt das mit dem Alter?
„Zeige mir bitte doch mal, was du sonst noch alles kannst. Ich bin nur interessiert!“
Bin ich ebenfalls! Nur wusste ich nicht, was ich machen sollte. Immerhin habe ich heute doppelt so viel gekonnt, wie ich von mir wusste.
Ich entschied mich dafür, ihnen nicht zu zeigen, dass ich gleichzeitig Steine wieder zusammen setzen konnte, denn sonst müsste ich versuchen, Amalias Arm zu Heilen und den Boden wieder reparieren. Und dazu hatte ich nun wirklich keine Lust.
Ich lief auf eine Stelle am Boden zu, wo er noch ganz war und setzte mich dort im Schneidersitz hin. Dann legte ich meine beiden Hände vor mir auf den Boden und hoffte, dass ich ein Stück da rausholen konnte.
Ich könnte natürlich die Bruchstücke des von mir zerstörten Bodens nehmen, aber ich wollte Clas und seine Vampire ein bisschen ärgern.
Ich schloss meine Augen und langsam riss der Boden und ich bekam einen kleinen Würfel.
„Wow!«, murmelte ich. Ich hatte nicht erwartet, dass der Würfel so perfekt sein würde. Ich spürte die Blicke der anderen auf mir und ich genoss es. Nicht immer war ich der Mittelpunkt gewesen und bewundert worden. Eher nicht beachtet und schräg angeguckt.
Plötzlich hatte ich eine Blitzidee. Davor hatte ich nicht den leisesten Schimmer, was ich hätte tun können.
Ich konzentrierte mich und fing an die Struktur des Steines mit meinem Unterbewusstsein nach zufahren. Dann bildete ich eine neue Struktur aus dem Stein in meinen Kopf. Fast hatte ich das Gefühl mein Kopf würde mir weh tun durch meine Konzentration.
Ich spürte wie kleine Stückchen von dem Würfel aus Stein abbröckelten und ganz abfielen. Anfangs waren es nur sehr kleine Teile, die sich von dem Stein lösten, dann lösten sich immer größere Teile.
Als ich meine Augen aufschlug, lag in meinen Händen ein kleiner Schneemann statt dem Steinwürfel. Ich drehte die Steinskulptur langsam in meinen Fingern und musste lächeln. Meine Gedanken rutschten zurück in die Vergangenheit.
Wie ich früher mit meinen Eltern Schneemänner gebaut hatte... Sie waren meist größer als ich gewesen. Dieses Jahr hätte ich mit meiner Schwester einen bauen können. Vielleicht an Weihnachten.
Aber Weihnachten war schon fast vor einem Monat gewesen. Dieses Weihnachten musste meine Familie ohne mich feiern. Hatte sie überhaupt gefeiert? War ihre Trauer über den Verlust ihrer Tochter beziehungsweise ihrer Schwester zu groß?
Eine stumme Träne stahl sich aus meinem Auge, lief an meiner Wange hinunter und landete auf dem Schneemann.
„Milana?“, fragte Clas irritiert. Ich erschrak gewaltig. Ich zuckte zusammen und wirbelte erschrocken herum.
Mein Bewusstsein hatte sich komplett ausgeklinkt und ich hatte völlig vergessen, dass ich nicht allein da war.
Ich atmet laut.
„Schsch!“, hörte ich die Stimme von Anthony mich beruhigen. Er stand plötzlich neben mir und legte seine Hand auf meine Schulter.
Clas guckte erschrocken als auch überrascht. Er bekam Angst, dass ich nach Hause wollen würde, denn er wollte mich nicht zwingen, da zu bleiben. Außerdem hatte er von mir keine solchen Gefühlsregungen erwartet. Für ihn wirkte ich stärker als ich in Wirklichkeit war.
Ich merkte nach wenigen Sekunden, was geschehen war und zog meinen Kopf ein. Mir war das alles furchtbar peinlich und ich wäre rot angelaufen, wenn ich noch ein Mensch wäre.
Was werden die anderen jetzt von mir denken? Dass ich ein kleines weinerliches Mädchen bin? Höchstwahrscheinlich. Ich bin doch gerade mal fünfzehn Jahre alt. So sind doch alle kleinen Mädchen.
Aus Wut auf mich selbst und auf alle anderen, warf ich den Schneemann weg, so dass er in mehrere Stücke zerbrach und rannte auf das schöne silberne Tor zu, riss es auf und verschwand.
Clas schaute mir mit großen Augen hinterher.
Tränen rannten mir über mein wutverzerrtes Gesicht. Ich biss mir auf die Lippe bis sie eine kleine Delle bekam.
Kaum zwanzig Meter wahllos irgendwohin gelaufen, kam mir einer der Vampire, die mein neues Zimmer einrichten mussten, entgegen. Bevor ich ihn sah, wischte ich mir schnell meine Tränen weg und hielt dann direkt vor ihm an.
Er schaute zwar komisch, als er meine glasigen Augen und mein wütendes Gesicht sah, fragte aber nicht nach, sondern sagte mit einer brüchigen Stimme: „Ihr Zimmer ist eingerichtet. Sie können sich dorthin begeben.“
Was siezt du mich? Wer bin ich? Gott? Clas?, hätte ich gesagt, wenn ich in der Lage dazu gewesen wäre. Aber jetzt war ich einfach zu niedergeschlagen. Am liebsten würde ich die ganze Burg einstürzen und mich unter ihr begraben lassen. Ich biss meine Zähne gereizt zusammen.
Er erklärte mir schnell, welchen Weg ich nehmen musste, um zu meinem Zimmer zu gelangen, dann verschwand er schnell, um so viel Strecke wie möglich zwischen uns zu bringen. Fast hätte ich deswegen gelacht. Fast.
Mache ich ihm wirklich so viel Angst?
Es stellte sich heraus, dass mein Zimmer ziemlich in der Nähe des Saals war. Als ich mein Zimmer betrat, achtete ich nicht auf die geraden und schönen Steinwände, auf den großen Kleiderschrank, den wertvollen Tisch mit zwei gemütlichen Stühlen drumherum, auf das schöne Himmelbett in der Mitte des Zimmers und nicht zu vergessen, die Größe des Zimmers.
Ich zog mich nur schnell aus und warf mich einfach ins Bett.
Geheult hatte ich nicht nochmal, aber dafür hatte ich mich in meine dicke Decke eingewickelt und mit mir selbst gekuschelt. Ohne über alles nachzudenken, was ich normalerweise getan hätte. Ich hatte mich dazu gezwungen.
Wozu hatte ich eigentlich ein Bett? Ich konnte doch eh nicht schlafen. Was nützte es mir dann?
Plötzlich klopfte es meiner Tür, aber ich blieb so liegen wie ich war.
Oder sollte ich doch lieber zur Tür gehen und meinen Besucher nackt begrüßen?
Ich hatte sowieso keine Lust irgendjemanden in meinen Zimmer zu haben. Selbst Anthony.
Ich wusste, dass Anthony hinter der Tür stand und als er den Kopf durch die Tür steckte, sah ich ihn.
„Darf ich rein?“, fragte er.
„Nein“, antwortete ich.
Aber – wer hätte das gedacht – er kam trotzdem rein und schloss vorsichtig die Tür hinter sich.
„Wieso fragst du eigentlich, wenn du sowieso reinkommst?“, fragte ich schlechtgelaunt.
Anthony antwortete nicht, sondern guckte lächelnd auf meine Kleidung auf dem Boden und fragte: „Wieso zerreißt du deine Kleidung?“
Was?, fragte ich mich genervt und lugte etwas über die Bettkante.
Ups! Da hatte ich statt mir meine Kleidung auszuziehen, mir meine Kleidung wortwörtlich vom Leib gerissen.
Ich stöhnte laut auf, lies mich zurück in mein Bett fallen und vergrub mein Kopf in das Kissen. Ich wollte mich einfach nur verkriechen!
Anthony kam zu mir aufs Bett und setzte sich neben mich hin. Ich spürte, wie sich neben mir das Bett senkte und ich blickte vom Kissen wieder auf. Anthony schaute mich mit warmen, weichen Blicken an. So starrten wir uns eine Weile an, ohne etwas zu sagen.
„Komm her!“, sagte Anthony und winkte mich mit seinen Händen rüber. Ich guckte ihn skeptisch an. Immerhin war ich hier nackt in eine Decke gewickelt. Das war mir ein wenig unangenehm.
„Jetzt stell dich nicht an!“, sagte Anthony lachend und weitete seine Arme aus. Ich rutschte zu ihm samt Decke und lies mich von ihm umarmen. Symbolisch gab er mir einen Kuss auf die Stirn.
Tränen flossen mir aus den Augenwinkeln, ich wusste selber nicht warum und weshalb. Es gab viel zu viele Gründe dafür, die ich alle nicht einordnen konnte.
Ich verbarg mein Gesicht in Anthonys schwarzem T-Shirt und durchnässte es mit meinen Tränen. Anthony sagte währenddessen nichts und hielt mich stumm in seinen Armen.
Immer wenn ich anfing zu schluchzen, beruhigte er mich Schsch-Lauten. Schon bald versiegten meine Tränen und ich lag ruhig auf Anthonys harter Brust.
Ich konnte mich noch dunkel daran erinnern, dass ich ihn für sein Nicht-Kommen in den letzten Wochen zur Rede stellen wollte. Und während ich in seinen Armen lag, schien mir das nicht gerecht.
Ich hob langsam meinem Kopf und flüsterte: „Danke.“
Darauf schüttelte er lächelnd den Kopf und schaute mir wieder in die Augen.
Ich konnte grübeln, so lange ich wollte, aber ich konnte immer noch nicht verstehen, wieso ich das Zeitgefühl verlor und praktisch unbeweglich war, sobald ich in Anthonys Augen schaute. Seine Augen besaßen ein so wunderschönes Grün, wie ein leuchtender Smaragd, der poliert und perfekt geschliffen in die Sonne gehalten wird.
Plötzlich hörte ich einen schrillen Schrei. Ich schrak zusammen und kuschelte mich automatisch enger an Anthony. Er drückte mich fester an sich und lockerte erst seinen Griff, als der Schrei endete.
Erschrocken schaute ich zu Anthony hoch, der mich wieder an sich drückte.
„Was war das?“, fragte ich ängstlich mit aufgerissenen Augen.
Seine vor Ohrenschmerz verzogene Miene wurde wieder normal. „Das war Amalia“, sagte er und grinste dann. „Du hättest sehen sollen, wie sie reagiert hat, als du die Steinwand vor uns aufgebaut hast. Du warst unglaublich! Und dann wie du Amalia... na ja, gibt es eine Bezeichnung für das, was du gemacht hast?“ Wir beide lachten gleichzeitig los.
„Und jetzt dreht sie wahrscheinlich durch, deswegen der Schrei.“
Ich versteifte mich. Nun war es geschehen. Amalia wusste von meiner Gabe. Jetzt war sie meine offizielle Todfeindin. Genervt atmete ich geräuschvoll aus.
Anthony drückte mich wieder an sich. So blieben wir in dieser Position bis ich mich von ihm wegdrückte.
„Danke nochmal“, flüsterte ich und guckte ihm wieder in die Augen. Um mich nicht in ihnen zu verlieren, schaute ich schnell wieder weg. Das konnte nämlich zu schnell passieren.
Ich hatte gar nicht gemerkt, wie mir die Decke von meinem Rücken gerutscht ist. Schnell setzte ich mich normal auf und richtete mir die Decke so, dass sie meinen Körper umwickelte und nur noch meine Arme raus hingen.
Währenddessen schaute mir Anthony zu und lächelte.
„Bin ich etwa so interessant?“, fragte ich etwas verlegen und lachte.
„Natürlich! Vor allem nachdem, was du uns heute gezeigt hast.“
Ich lachte. Dann drehte ich meinen Kopf zu ihm.
Anthony lächelte mich an wie ein Honigkuchenpferd.
„Was?“, fragte ich.
Er lächelte immer noch schelmisch.
„Anthony, was hast du vor?“, fragte ich. Langsam bekam ich es mit der Angst zu tun.
Er kam mir langsam immer näher und ich ahnte schon, was er vor hatte. Ich wollte gerade ausweichen und „Nein!“ rufen, aber da war es schon zu spät. Da nahm er seine Hände und fing an mich unter dem Hals zu kitzeln.
„Nein!“, kreischte ich, aber es brachte mir nichts. Anthony hörte nicht damit auf.
„Lass das!“, brachte ich unter dem Lachen hervor.
Irgendwie schaffte ich es seine Oberarme zu greifen und festzuhalten. Mein Gott, sind die muskulös!
Ich hatte solche Angst, dass meine Bettdecke verrutschen würde. Wieso hatte ich mich auch unbedingt ausziehen müssen?
Ich drückte so stark ich konnte seine Arme, damit er endlich aufhörte mich zu kitzeln. Und endlich lies er von mir ab und schrie. Kleine Dellen verzierten seinen Bizeps. Ich grinste.
„Na warte. Das wirst du bereuen!“, knurrte er und packte mich mal wieder so, dass ich mich nicht bewegen konnte.Wie ich es hasste, wenn er mich so fest hielt! So konnte ich mich kein Stück bewegen, eingequetscht zwischen dem Bett und Anthony.
Anthony hielt mich immer noch fest im Griff, gerade so stark, dass es mir nicht weh tat. Unsere Nasenspitzen berührten sich und ich konnte seinen süßen Atem spüren. Seine smaragdgrünen Augen blickten geradewegs in meine eisblauen. Meine anfänglichen Versuche, von ihm loszukommen, gab ich sogleich auf.
Seine Lippen kamen ganz langsam meinen näher. Mein Atem ging schneller und ich wusste nicht, wo ich hingucken sollte, auf seine Lippen oder in seine Augen. Doch dieses Problem erledigte sich, als meine Augen sich automatisch schlossen.
Dann trafen sich unsere Lippen. Ein Feuerwerk schien in mir zu explodieren und meine Haut kribbelte angenehm. Sein Kuss war so sanft und so kurz gewesen, dass ich für einen kurzen Augenblick glaubte, ich hätte ihn mir nur vorgestellt.
Als er sich von mir löste, schaute er mir in die Augen, die ich langsam wieder öffnete.
Mein erster Kuss. Bei diesem Gedanken musste ich lächeln.
Als Anthony sah wie ich lächelte, lächelte er ebenfalls. Ich biss mir auf die Lippe, während ich mir mein aufsteigendes Kichern unterdrückte.
Mit einer Hand packte ich sein Nacken und zog ihn zu mir. Wieder trafen sich unsere Lippen und ich bekam Flugzeuge im Bauch – Schmetterlinge wären untertrieben.
Wir küssten uns lange, keiner wollte mehr aufhören, und doch war es am Ende trotzdem zu kurz für mich. Auch wenn zwei Minuten bei Menschen eine Meisterleistung waren. Wir brauchten ja zwischendurch keine Luft zu holen.
Als er sich wieder von mir löste, spürte ich noch seinen Geschmack auf meinen Lippen und ich leckte drüber.
Ich wollte mich zu ihm ziehen und endlich weitermachen mit dem, was mich nach dem ersten Mal bereits süchtig nach mehr machte. Aber da legte er seinen Finger auf meine Lippen.
Und dann hörte ich Schritte, die immer näher kamen. Ich verstand, wollte mich trotzdem nicht stören lassen.
Wenn ich mich nicht irrte, dann war das Amalia. Ich erkannte sie an ihrem leichtem, schnellem Gang.
Schnell legte Anthony mich wieder normal ins Bett und achtete darauf, dass die Decke mich wieder ganz umhüllte. Dann legte er sich schnell neben mich und nahm mich in den Arm.
Wenige Sekunden darauf kam Amalia in mein Zimmer, natürlich ohne anzuklopfen. Sie riss die Tür knurrend auf und blickte mich mordlustig an, bis sie Anthony an meiner Seite bemerkte. Sofort schaute sie erschrocken, dann enttäuscht und dann wieder so hochmütig wie immer.
Ich schaute sie währenddessen geschockt an. War sie eben hergekommen, um mich umzubringen? Das war doch ein schlechter Scherz, oder?
Anthony hingegen wirkte ganz gelassen. Hab ich das doch falsch verstanden?
„Hey, Amalia! Bist du auch hier, um Milana zu besuchen?“, fragte er mit einem leicht sarkastischen Ton.
„Ja“, antwortete sie tonlos. Ihr war diese Situation sichtlich unangenehm und sie passte ihr ganz und gar nicht.
„Hat dich etwa Clas geschickt?“, fragte wieder Anthony. Ich saß währenddessen ganz steif da.
Mit zusammengebissenen Zähnen antwortete sie: „Natürlich. Aus einem anderen Grund wäre ich nicht hergekommen.“
Das ich nicht lache. Die ist doch nur deswegen gekommen, um mich mich umzubringen.
Oh Gott, sie will mich umbringen!
„Gut, dann sage ich danke für deinen Besuch. Und jetzt hau' ab!“, zischte ich und fletschte meine Zähne. Anthony, der seinen Arm um mich gelegt hatte, drückte mich kurz. Das sollte wohl heißen, dass ich das nicht mehr tun sollte. Als ob mich so etwas davon abhalten würde.
„Ja klar, mache ich auch gleich.“ Aber sie wollte natürlich nicht gehen, ohne sich ein letztes Mal zu rächen.
„Was ist, Milana?“, Amalia schaute zu den Kleiderfetzen, die immer noch auf dem Boden lagen. „Hast du dich vor Anthony ausgezogen, aber er wollte dich nicht? Mein Beileid, aber das wundert mich auch nicht.“
In mir brodelte es vor Wut, aber ich wollte mir nichts anmerken lassen. Darauf antwortete ich dann nur: „Da fragt sich, wer hier wen ausgezogen hat...“, zwinkerte und grinste.
Amalia schaute mich mit ihrem „Es ist noch nicht vorbei!“-Blick an, den nur sie so perfekt beherrschen konnte, und verschwand in der Tür, die sie heftig zu knallte. Die Wände wackelten. Ein Wunder, dass die Tür noch heil war. Die Türen mussten hier wohl aus einem sehr guten Material bestehen.
„Das war jetzt unnötig!“, sagte Anthony.
„Wieso? War doch witzig!“ Ich lachte.
Ich hatte gar nicht bemerkt, dass Anthony kurz vorm Durchdrehen war. Sonst hätte ich meine Klappe gehalten. Seine Augen guckten wütend durch mein Zimmer. Seine Brust hob sich schnell hoch und runter.
„Sie war so knapp davor, dich umzubringen. So knapp!“ Er presste seinen Daumen und seinen Zeigefinger zusammen, um es zu demonstrieren und hielt es mir vor die Nase.
„Wäre ich nicht dagewesen, hätte sie dich zerstückelt!“
Ich hatte wirklich nicht gemerkt, wie aufgebracht er im Inneren war, als Amalia da gewesen war. Er hatte es sich nur nicht anmerken lasse.
Dabei hatte ich gedacht, ich kannte ihn gut. Falsch gedacht! Aber in einem Monat konnte man schlecht alles über einen erfahren, erst recht nicht, wenn man sich nur ein paar Mal gesehen hat.
„Diese...“ Um ihn zu beruhigen, nahm ich ihn in den Arm. Dabei rutschte mir fast die Decke über die Brust, aber das war mir jetzt egal.
„Anthony! Bitte! Beruhig dich!« Ich sah ihm in die Augen. Und grinste etwas. Seine Wut war echt zum Knuddeln. Fast hätte ich ihm in die Wangen gekniffen und das sah er mir wohl an.
Er atmete geräuschvoll aus. „Ich schwöre dir, irgendwann bringt sie mich so weit, dass ich sie umbringe!“ Dann nahm er mich nochmal in den Arm und legte sich mit mir hin.
Nach zehn Minuten löste ich mich aus seinem Griff und schaute ihm wieder in die grünen Augen. Wir lächelten uns an.
Dann wurde Anthonys Miene schlagartig ernst.
„Hör mir zu, Mila!“, begann er. Augenblicklich musste ich grinsen. Er nennt mich Mila. „Niemand darf von unserem Kuss erfahren. Hast du verstanden?“ Mit ernstem Blick starrte er mich an.
Ich nickte. „Ja, wenn du meinst.“ Aber ich wollte es Amalia doch so was von auswischen! „Aber wieso eigentlich?“
Anthony grinste charmant und küsste mich dann kurz auf den Mund. Wieder explodierte ein Feuerwerk in mir. Ich lächelte.
„Das erklärt mir immer noch nicht, wieso.“
Er schaute mich kritisch von oben bis unten an und plötzlich veränderte sich sein Grinsen. Ich rückte sofort von ihm weg.
„Keine Angst. Ich werde dich schon nicht kitzeln“, sagte er, rutschte etwas näher zu mir und zog mir meine Decke höher.
„Oh!“ Meine Decke war beinahe ganz von meiner Brust gerutscht. Ich fing an beschämend auf meiner Lippe zu kauen.
„Ich gehe dann. Wir sehen uns bald, Mila“, sagte Anthony, zwinkerte mir zu und war schon zur Tür hinaus.
Jetzt war ich alleine. Schon wieder. Mit den Gedanken an den Kuss und meinem neuen Spitznamen.
Dieser Mistkerl!
Leicht genervt schaute ich mich im Zimmer ein bisschen um und staunte. Es war wirklich unglaublich schön. Und das Himmelbett super gemütlich. Leider konnte ich nicht darauf schlafen. Verdammt! Alles war hier in schlichtem Beige gehalten, aber es sah echt toll aus. Wieso konnte ich so etwas zu Hause nicht auch haben?
Und nun liefen meine Gedanken mal wieder nach Hause. Ich könnte nach Hause. Theoretisch. Ich wusste, wie Menschenblut schmeckte und deswegen durchdrehen musste ich nicht mehr. Na ja, das waren meine Gedanken. Denn solange ich kein Blut vor mir hatte, fiel mir diese Ausdauer so leicht wie das Laufen. Doch war das Gegenteil der Fall, dann...
Ich will trotzdem wieder nach Hause.
Aber wie konnte ich so meinen Eltern vor die Augen treten? Vor allem so blutrünstig? Auch wenn ich es hinkriegen würde, ihnen nichts anzutun, dann würden sie sich garantiert über meine Verfassung wundern. Ein leichenblasser Körper und verzweifelte rote Augen in einem hungrigen Gesicht.
Nein, den Gedanken, nach Hause zu gehen, sollte ich für lange Zeit zunächst vergessen. Erst, wenn ich kein gefährlicher Blutsauger mehr war, erst wenn ich es schaffen würde mit Menschen in einem Raum zu sein ohne böse Gedanken, erst dann sollte ich darüber nachdenken, zu meiner Familie zurückzukehren.
Es versetzte mir einen kleinen Stich ins Herz. Was mir aber meine gute Stimmung aufgrund von Anthony trotzdem nicht nehmen konnte. Und damit die gute Stimmung bloß nicht verflog, musste ich als erstes alle schlechten Gedanken verbannen. Also musste ich mich ablenken.
Ich lief auf eine Tür zu, hinter der sich das Badezimmer befand. Immerhin roch es nach Badezimmer. Und das war es auch. Ein unglaublich schönes und großes sogar. Wieso hatte ich überhaupt einen ganzen Monat in einer Bruchbude gelebt, wenn es so etwas gab?
Ich lies die Decke, die mich umhüllte, auf mein Bett fallen und lies mir das Wasser in die Wanne ein. Mit einem wohligem Seufzen setzte ich mich rein.
Anthony hat mich geküsst! Er hat mich wirklich geküsst! Ich fing an, glücklich in der Badewanne herumzuspringen.
Ein bisschen Wasser schwappte über den Badewannenrand. Ich lies es sofort sein und dachte darüber nach, wieso ich eigentlich so glücklich war. So toll war es ja auch nicht, denn so wie es aussah, waren hier Beziehungen oder ähnliches verboten. Wieso sonst durfte niemand von unserem Kuss erfahren? Ich seufzte.
Ich versuchte an etwas anderes zu denken, aber das war gar nicht so einfach. Immer wieder schwirrten meine Gedanken zu Anthony.
Die Wanne war wirklich schön. So eine Eckbadewanne hatte ich mir schon immer gewünscht. Ich warf extra viel Badeschaum rein, damit mein Glück perfekt war. Ich liebte viel Badeschaum einfach.
Plötzlich hörte ich, wie jemand an meine Zimmertür klopfte, konnte aber nicht herausfinden, wer es war. Diese Person war mir unbekannt. Ich wusste nur das es ein etwas kleiner Mann war, vielleicht einen Meter siebzig groß. Mehr Information konnte ich auf die Weite nicht erfassen.
Ich blieb sitzen und versuchte, nicht an den Mann zu denken. Das Einzige, das ich jetzt wollte, war schließlich entspannen.
Nachdem dem Mann auch nach einer Minute nicht die Tür geöffnet wurde, kam er rein und blickte sich im Zimmer um, bis er schlussendlich die Badezimmertür öffnete und eintrat. Währenddessen hatte ich mich wie nach meinem Vorsatz nicht bewegt, nur meine Beine am Badezimmerrand abgestellt und sie überkreuzt. Er inspizierte mich genau mit seinen Blicken, bis er meine hochgezogenen Augenbrauen sah.
„Hallo. Ich bin Daniel und Clas schickt mich. Ich soll mit dir trainieren“, sagte er in dem typischen höflichen Ton, den die anderen Vampire hier auch benutzten. Aber irgendwie doch ein bisschen anders. Seine dunkelblonden Haare waren ziemlich kurz, was ihm ein älteres Äußeres verlieh. Ich schätzte ihn auf fünfundzwanzig und obwohl er nicht gerade groß war, hatte er Muskeln wie sonst was.. Sorgen, dass er mich theoretisch jetzt vergewaltigen könnte, hatte ich trotzdem nicht.
„So so. Daniel? Und wo wolltest du mit mir trainieren? Hier, im Badezimmer? In der Badewanne?“, fragte ich, die Augenbrauen immer noch oben. Ich hatte jetzt keine Lust aus der Badewanne zu steigen, auch wenn ich die letzten zwei Stunden darin verbracht hatte.
„Nein, aber ich erwarte dich in fünfzehn Minuten im Saal. Bist du bis dahin immer noch nicht aus der Wanne, muss ich dich wohl oder übel da rausholen“, sagte er grinsend und verschwand. Daniel war mir eigentlich von Anfang an sympathisch gewesen und das hatte mir einen Grund gegeben, ihn zu necken. Und so einer, der Angst vor mir hatte, war er anscheinend auch nicht, denn sonst hätte er mich nicht so angegrinst wie einer, der etwas Fieses vorhat. Wäre aber auch seltsam, wenn mein Trainer sich jedes Mal in die Hose scheißen musste, sobald ich Kampftechniken an ihm ausprobieren sollte.
Ich stieg sofort aus der Wanne, lies das Wasser den Abfluss runter und trocknete mich ab. Gleich darauf lief ich zu meinen neuem Kleiderschrank, der aber weniger Kleidung besaß, als ich erwartet hatte.
Darin fand ich außerdem ein Zettel, der raus fiel, als ich die Kleiderschranktüren öffnete. Schnell schnappte ich mir ihn, bevor er auf den Boden fiel.
Mit einer geschnörkelten Schrift, die aus dem vorvorletzten Jahrhundert stammen konnte, stand drauf: „Kleidung momentan in Lieferung.“
„Na toll!“, murmelte ich. „Jetzt muss ich auch noch auf Kleider warten, die ich mir nicht selber aussuchen kann und die mir sicher nicht gefallen werden!“ Ich warf mich aufs Bett.
Doch dann fiel mir wieder ein, dass ich nur noch fünf Minuten hatte und ich holte mir was aus dem Kleiderschrank.
Ich hatte Recht gehabt mit meiner Behauptung: Je höher der Rang, desto schwärzer die Kleidung. Zwar waren die Kleider, die zweisam am Bügel hingen, nicht ganz so rabenschwarz wie die von Clas, Marx und Somala, aber auch nur einen Grauton heller. Und außerdem kam mir das Kleid, dass ich gerade in meinen Händen hielt, irgendwie bekannt vor...
Ich bekam einen Lachkrampf, als ich es bemerkte. Das war Amalias Kleid, eines, das sie vor ein paar Wochen getragen hatte. Man hatte ihr ihre Kleidung abgemurkst! Mann, muss sie deswegen wütend sein!
Aber dass ich jetzt zwei ihrer Kleider besaß, hieß nicht nur, dass wir dieselbe Kleidergröße hatten. Clas hatte mich ihr gleichgestellt! Das hätte ich mir im Leben nie vorstellen können.
Ich fing an, aufgeregt auf meinem Bett zu hüpfen. Das war zwar kindisch, aber ich war ja ein Kind. Ein Kind, das für immer fünfzehn sein würde. Und höchstwahrscheinlich würde ich mich für immer wie ein Kind verhalten. Nicht, das es mir was ausmachte. Immerhin würde ich für die Ewigkeit einen Grund dafür haben, wieso ich mich wie ein Kind verhalten durfte.
Binnen einer Sekunde schlüpfte ich in das Kleid. Es drückte etwas – was auch kein Wunder war, Amalia war etwas kleiner und zierlicher als ich – und als ich in den Spiegel sah, fiel mein Blick auf den altmodischen Schnitt des Kleides. War zwar nicht ganz so meins, aber was solls'?
Ich zupfte noch etwas am Kleid rum und lief dann – barfuß – zur Tür raus und zum Saal.
Was, wenn Amalia sich hier irgendwo versteckt und nur darauf wartet, dass ich an ihr vorbei laufe, damit sie mich umbringen kann?, kam mir der Gedanke. Mir wurde unbehaglich und ich lief schneller und war dann endlich im Saal angekommen.
„Schade, dass du auf mich gehört hast. Ich hätte dich liebend gerne aus der Badewanne geholt“, sagte Daniel und zwinkerte mir lächelnd zu. Augen verdrehend schüttelte ich den Kopf und grinste. Ich hatte guten Grund, ihn sympathisch zu finden, denn er meinte seine Äußerungen nicht anzüglich, sondern einfach nur freundschaftlich.
Der Boden war außerdem wieder ganz. Vom Loch, das ich mit meiner Gabe geschaffen hatte, keine Spur. Wann hatten sie Zeit gehabt, den Boden zu reparieren? Immerhin waren es kaum drei Stunden her gewesen. Wie hatten Clas' Handlanger so schnell einen neuen Boden besorgen können?
Da bemerkte ich, dass Clas mit den zwei anderen gar nicht hier war. Ziemlich seltsam, da ich sie bisher nirgendwo sonst gesehen habe außer hier und ich es mir gar nicht anderweitig vorstellen konnte.
„Wo ist Clas?“, fragte ich, während ich immer noch den Saal nach ihnen absuchte.
„Er ist in seinem Zimmer. Er will uns nicht stören. Aber er wird irgendwann kommen und dir beim Training zugucken.“
Ich nickte. „Das heißt wohl, niemand wird sehen, wie du mir den Kopf abreißt.“
Daniel fing an zu lachen. „Ja. Genau danach sieht es aus.“ Mit einem unheimlichen Lächeln beobachtete er mich nun.
Vielleicht habe ich ihn falsch eingeschätzt? Denn wieso schaut er nun so seltsam? Meint er das ernst?
Plötzlich stürzte er sich auf mich. Ich erschrak so gewaltig, dass ich starr wurde vor Angst und Daniel schmiss sich mit fletschenden Zähnen auf mich drauf. Ich landete mit dem Rücken hart auf dem Boden. Seine Hände packten meinen Hals und ich befürchtete, dass das jetzt mein Ende sein würde. Ich zitterte, schloss meine Augen und überließ mich dem Schicksal.
Mit geschlossenen Augen wartete ich auf mein Ende. Wieso zieht es Daniel so in die Länge?
Ob ich bereit war auf meinen Tod? Hölle, nein. Ich hatte noch so viel vor, außerdem wollte ich doch noch ein einziges Mal meine Familie davor sehen. Mein ganzes Leben stand noch vor mir.
Plötzlich stand Daniel von mir auf. Ich schlug irritiert die Augen auf, als er mit einem leicht belustigten Unterton etwas sagte.
„Ich hatte zumindest erwartet, dass du zur Seite gehst. Ich habe es dir ziemlich leicht gemacht. Du hast dich nicht einmal gewehrt, als du gedacht hast, ich wollte dich umbringen.“ Er seufzte nun enttäuscht. „Wir müssen wohl ganz von vorne anfangen...“
Es dauerte eine Weile bis ich verstand, was er damit meinte und ich seufzte erleichtert auf, als ich merkte, dass doch nicht mein letztes Stündchen geschlagen hatte. Gleich darauf aber schämte ich mich dafür, dass ich nichts getan hatte.
Wieso bin ich wenigstens nicht auf die Idee gekommen, auszuweichen?
„Ich bin doch sowieso zu schwach, um dich von mir runter zu werfen“, antwortete ich mürrisch.
„Wenn du es schlau anstellst, dann wird es kein Problem sein“, sagte Daniel. „Außerdem bist du ja hier, um das zu lernen.“ Er rannte wieder auf mich zu. Geschickt drehte ich mich zur Seite, so dass Daniel an mir vorbei rannte. Er blieb stehen und drehte sich wieder zu mir um.
„War nicht schlecht, aber welcher Idiot rennt nur auf dich zu, ohne zu versuchen, dich zu packen? Dieses Mal greife ich direkt an, also pass' auf!“ Und schon raste er wieder auf mich zu.
Ich wusste nicht, was ich tun sollte und so entschied ich mich, als er schon zu nah war, zu springen. Ich setzte mich in die Hocke und drückte mich ab, beinahe zu stark, denn ich knallte fast in die Decke.
Es war ein unglaubliches Gefühl, gewissermaßen zu fliegen. Ich war so überwältigt und abgelenkt davon, dass ich gar nicht sah, wie Daniel ebenfalls hochgesprungen war und auf direktem Wege auf mich zuflog. Nur als er direkt vor mir war, bemerkte ich ihn und erschrak, als wir - Stein gegen Stein - zusammenprallten. Das Geräusch, dass dabei erklang, war erschreckend. Ich sog scharf die Luft ein.
Daniels Sprung war so schwungvoll gewesen, dass ich wieder zurück katapultiert wurde, zusammen mit ihm. Er legte während des Flugs seine Hände um meinen Hals und flüsterte: „Jetzt hätte ich dir deinen Kopf abreißen können.“ und ich erschauderte.
Kurz darauf kam der Aufprall mit dem Boden, den ich - Dank Daniels Worten - nicht erwartet hatte. Wir krachten hart auf, so dass der Boden eine tiefe Delle bekam, und wir schleiften noch mehrere Meter auf ihm, bis wir durch die Reibung endlich anhielten.
Ich versuchte noch, mich unter Daniels Griff zu befreien, aber ich war wegen meines jungen Alters einfach nur zu schwach. Ich gab schnell auf.
„Du willst jetzt doch nicht etwa aufgeben, oder? Gebe dein Bestes, das musst du hinkriegen!“, rief Daniel und drückte mich nur noch stärker auf den Boden.
„Wie bitteschön soll ich es jetzt noch schaffen, wenn du mit deiner ganzen Kraft auf mich draufdrückst?“, fragte ich teils verzweifelt, teils verbissen, da ich immer noch an seinen Armen an meinem Hals zerrte, und sah ihn an. „Dafür bin ich doch zu schwach.“
Daniel verdrehte die Augen. „Ich habe doch gesagt, es gibt Tricks.“
Ich verdrehte meine Augen ebenfalls und versuchte weiterhin, Daniel von mir wegzudrücken. Aber er bewegte ich nicht einen Zentimeter. Ich schürzte meine Lippen und kniff ihm in den Hintern.
„Was...?“ Sofort versteifte er sich und sein Griff wurde etwas lockerer. Ich drückte ihn mit ganzer Kraft von mir weg und trotzdem flog er höchstens einen Meter durch die Luft und landete dann auf dem Rücken. Er richtete sich allerdings sofort wieder auf und schaute mich kurz irritiert an. Dann sagte er lachend: „So war das eigentlich ganz gut. Du musst genau das tun, was dein Gegner nicht erwartet.“
Ich lachte laut auf. „Das heißt, ich soll jedem, der mich angreifen wird, in den Hintern kneifen?“
„Nein, das nicht.“ Er unterdrückte sein Lachen. „Aber es zählt der Überraschungseffekt.“ Und plötzlich war er nach oben gesprungen und verschwunden. Ich blickte hoch zur Decke, aber da oben war er nicht. Ich drehte mich ein paar Mal im Kreis herum, doch selbst dann fand ich ihn nicht.
Plötzlich flüsterte eine Stimme direkt neben meinem Ohr: „Buh!“
Ich stieß einen Schrei aus, sprang weg und warf meine Faust in die Richtung, in der ich Daniel behauptete. Ich traf sogar mitten in sein Gesicht! Na ja, fast. Daniels Hand schellte nach oben und hielt meine Faust auf, kurz vor seinem Gesicht.
„Ich habe doch gesagt, es kommt auf den Überraschungseffekt an. Und das du nach mir schlägst, war allerdings vorauszusehen“, sagte er und lachte, während er immer noch meine Faust in der Luft festhielt und langsam immer stärker zudrückte.
„Au! Lass los! Es tut weh!“
Aber Daniel drückte nur noch stärker zu.
Fast wie aus Reflex bewegte ich meinen Fuß so, dass ich meine Gabe dadurch zum Einsatz brachte und sich ein Stück neben mir aus dem Boden löste. Der Stein bewegte sich ruckartig nach oben und flog dann direkt auf Daniels Kopf zu.
Er hatte diesen Angriff aus der Luft gar nicht erwartet, da er mich und meine Faust in seiner Hand grinsend beobachtet hatte und so landete der Stein hart in seiner rechten Gesichtshälfte. Der Stein riss Daniel um und er landete auf dem Boden.
Zuerst wollte ich zu ihm hinrennen und ihm helfen, weil er so bemitleidenswert auf dem Boden lag. Aber es konnte ja sein, dass er auch nur so tat und nur darauf wartete, dass er mich wieder besiegen konnte, weil ich einen Moment der Schwäche hatte.
Als er stöhnend wieder aufstand und sich seine Schläfe rieb, sagte er: „Eigentlich wollte ich mit dir trainieren, ohne dass du deine Kräfte anwendest.“ Er machte einen halbherzigen Versuch zu lachen, doch sein Gesicht blieb schmerzverzerrt.
Es hatte ihn also wirklich hart getroffen, wenn er schon stöhnte. Wäre er ein Mensch gewesen, würde er garantiert nicht mehr leben, da ich ihm den Kopf zerschmettert hätte.
Als Daniel seinen Kopf leicht von mir wegdrehte um seinen Nacken etwas zu dehnen, sah ich, dass sein Gesicht nicht ganz ohne sichtbare Schäden davongekommen war. Seine Wange war eingedrückt worden, aber ich sah, wie die Delle von Sekunde zu Sekunde wieder verschwand.
Daniel schüttelte seinen Kopf um die Schmerzen zu vertreiben. „So, jetzt geht es eigentlich wieder. Wow, das hat ganz schön weh getan. Aber es war gut, dass du so spontan reagiert hast. Endlich mal was, das mich wirklich umhaut.“ Daniel lächelte. „Wortwörtlich.“
Ich lachte mit. Ich habe eigentlich weniger aus Spontanität gehandelt als aus Reflex. Aber das spielte hier ja auch keine große Rolle.
Nachdem sich Daniel nun endgültig erholt hatte, übten wir an den Kampftechniken beziehungsweise an meinen Ausweichmanövern weiter. Und weiter...
„Du musst das etwas schlauer anstellen. Du weichst zwar gut aus, es ist eine ziemlich gute Technik, aber wenn du andauernd das Selbe machst, weiß dein Gegner schon im Voraus, was du machen wirst und er fängt dich dann irgendwann. Dann sieht es schlecht für dich aus, da wir noch kein Krafttraining hatten“, sagte Daniel. Er stellte sich wieder in seine Angriffsposition und griff mich an. Ich benutzte meine altbewährte Technik auszuweichen, nur nicht nach rechts, sondern nach links. Er schaffte es glücklicherweise nicht, mich zu schnappen, vor allem aber auch deswegen, weil er etwas überrascht war.
„Denkst du, es ist besser, wenn du in die andere Richtung ausweichst?“, fragte er mich und lachte.
„Eindeutig! Das hast du doch gerade gesehen!“, antwortete ich und fing auch an zu lachen.
Ich würde ihm gerne sagen, dass ich müde war, weil wir schon zu lange dasselbe machten. Aber er würde mir das sowieso nicht glauben, da ich gar nicht müde werden konnte.
Andererseits machte mir das Training ziemlich großen Spaß, weil ich mit Daniel so viel lachen konnte. Er war für mich wie ein großer Bruder geworden, den ich mir als Kind immer gewünscht hatte. Einer, der mit mir spielte, der mir etwas beibrachte und der mich beschützte. Denn so kam Daniel mir vor. Vor allem als der Bruder, der mir etwas das Kämpfen beibrachte, damit ich mich gegen böse Jungs verteidigen konnte.
Wir übten noch ein paar leichte Kampftechniken, die mir trotz ihres geringen Schwierigkeitsgrads nicht ganz so leicht fielen, und unzählige schwere. Seltsamerweise kriegte ich die schwierigen beinahe mit Leichtigkeit hin, was sicher daran lag, dass es mir Daniel leicht machte.
Außerdem waren für mich am schwersten gerade die Schritte, in denen ich Gelenkigkeit benötigte. Wie es sich herausstellte, ging es da Vampiren nicht anders als Menschen. Man musste dafür trainieren um einen Spagat zu können, den konnte man nicht einfach so kurz machen.
In der eleganten Ausführung der einzelnen Schritte war ich auch kein Ass. Daniel meinte, ich besaß die Eleganz eines Nilpferdes beim Kämpfen. Nicht weil ich schlecht kämpfen konnte, wie er sagte. Nur anstatt, zum Beispiel, geschmeidig und gefährlich einen Schritt nach dem anderen zu setzen, stampfte ich und statt graziös zu springen, sprang ich mit der Wucht eines Sumō-Ringers.
Angeblich würde es nicht so schlimm aussehen, wie er es beschrieb. Aber selbst wenn, dann wollte ich mir gar nicht vorstellen, wie ich aussehen mochte.
„Hör auf dich darüber aufzuregen!“, hatte Daniel gesagt. „Wenn du versuchst, anmutig und edel auszusehen, wenn du kämpfst, siehst es noch dümmer aus.“ Er hatte gelacht, doch mir war gar nicht zu Lachen zu Mute. Immerhin war es ich, die bescheuert aussah.
„Jetzt komm schon, heb' mal deine Mundwinkel.“ Er war wirklich hergekommen und hatte sie mir mit den Fingern angehoben, bis ich ihm in den Finger gebissen hatte. „So übel ist es auch nicht, denn mit der Kraft, die du mit deinem Auftreten symbolisierst, könntest du deine Gegner erschrecken.“
Das Einzige, das laut Daniel eigentlich so komisch aussah, war, dass ein so süßes kleines Mädchen – damit war ich gemeint – so auftrat wie Spartacus. Wow, die kennen hier Spartacus? Und ich habe in dem Monat hier keinen einzigen Fernseher gesehen.
Nach den Übungen zum Kämpfen machten wir außerdem viel Krafttraining, da ich ja ziemlich schwach war, im Vergleich zu den anderen, älteren Vampiren. Selbst wenn ich anders auftrat.
Das Krafttraining war wirklich anstrengend gewesen. Ich hatte immer gedacht, ich wäre unbesiegbar. Ich hatte mich immer so stark und mächtig gefühlt, fast wie der König der Welt. Aber da irrte ich mich gewaltig. Na ja, wenn es darum ging, mit Vampiren Armdrücken zu spielen. Oder sie von sich wegzudrücken, während sie in die entgegengesetzte Richtung drückten. Mit ihrer gesamten Kraft versteht sich.
Es war etwas ungewohnt, nach sieben Tagen den Saal zu verlassen. Ich machte mich gleich auf den Weg in mein Zimmer.
Auch wenn wir Vampire nicht müde werden konnten, an unsere Grenzen gehen konnten wir. Ich wollte mich jetzt nur noch in mein flauschiges Bett legen und nichts machen.
Als ich in meinem Zimmer ankam, sah ich erst mal in den Spiegel. Und erschrak, als ich mich darin sah. Ich sprang etwas vom Spiegel weg. Fast hätte ich mich selber angeknurrt. Ich lachte mich über meine Dummheit aus.
Ich sah wirklich schrecklich aus. Amalias Kleid - ich musste immer noch darüber lachen, dass das IHR Kleid war - war ziemlich zerfetzt und war jetzt zu nichts mehr zu gebrauchen. Meine Haare standen in alle Richtungen ab und hatten überall Knoten. Mein zweifelhafter Versuch, die Haare durch meine Hände etwas in Ordnung zu bringen, scheiterte.
Ich nahm den Weg ins Badezimmer und duschte mich schnell ab. Es war das erste Mal, dass ich in der Dusche weniger als zehn Minuten gebraucht hatte. Sonst saß ich immer über eine Stunde in der Wanne. Was meist auch daran lag, dass ich darin wartete bis meine Tränen versiegten.
Als ich mich abgetrocknet hatte, lief ich zum Kleiderschrank, wo ich mein letztes Kleid von Amalia – Muhahahahaa! – rausholen wollte. Aber stattdessen blickten mir viele neue Kleider entgegen. Und so schlecht, wie ich befürchtet hatte, waren die Klamotten gar nicht. Im Gegenteil. Sie entsprachen ganz meinem Geschmack. Wahrscheinlich auch deswegen, weil sie aus diesem Jahrhundert kamen. Ich fing an zu grinsen und konnte damit nicht mehr aufhören.
Glücklicherweise war es nicht schwer, sich an diese kurzen Kleidchen zu gewöhnen. Ansonsten hätte ich hiermit ein Problem gehabt. Anfangs hatte ich mich mit den Kleidern etwas nuttig angezogen gefühlt, jedoch waren sie zu schön, um sie nicht anzuziehen und außerdem trugen sie hier alle, also blieb mir sowieso keine Wahl.
Als ob es schwer wäre, sich schön anzuziehen und sich darin wohlzufühlen.
Das Kleid, das ich gerade angezogen hatte, hatte obenrum Spitze, was ihm dadurch Eleganz verlieh. Es lag eng an mir – wie auch die Kleider, die ich davor getragen hatte – und brachte meine Kurven, die ich nach der Hälfte meiner Pubertät gewonnen hatte, gut zur Geltung.
Alle meine Kleider hatte ich mir noch nicht angeschaut, ganz einfach aus dem Prinzip, dass ich noch ausflippen würde, wenn sie wirklich alle so schön sein würden, wie ich es erhofft hatte. Dieser Schrank war der Traum eines jeden Mädchens. Na ja, wenn nicht wirklich alles kohlrabenschwarz wäre.
Meine Haare hatte ich auch endlich in Ordnung gebracht, so dass ich endlich wieder ansehnlich aussah.
Ich seufzte erleichtert und warf mich glücklich auf mein Bett. Wie selten war ich glücklich gewesen seit ich ein Vampir geworden war? Leider war ich nicht mal die Hälfte meiner gesamten Zeitspanne hier so gewesen. Mir fehlte alles. Meine Familie und mein altes Leben, selbst wenn es etwas trostlos gewesen war ohne Freunde. Und das, was mich an ein normales Leben erinnerte, also neue Kleider, machten mich wieder gut gelaunt.
Ich überlegte, wann ich hier überhaupt glücklich gewesen war. Und das erste, was mir einfiel, war die Zeit, die ich mit Anthony verbracht hatte. Ich musste jedes Mal, wenn ich in seiner Nähe war, lachen. Und seit dem letzten Mal spürte ich jedes Mal ein Kribbeln im Bauch, wenn ich an ihn dachte. Verdammt, ich hatte mich verliebt. Ich konnte mein Ende schon vor mir sehen.
Ich durfte mich einfach nicht verlieben. Wenn ich aus dieser Burg kommen wollte, dann brauchte ich nichts, das mich hier festhielt. Und ich brauchte niemanden, der mir am Ende das Herz brach – auch wenn ich mir das von Anthony jetzt schlecht vorstellen konnte. Doch ich durfte nicht mein Herz so schnell weggeben. Doch ich fürchtete, dafür war es nun zu spät. Dummes Teenager-Herz!
Schnelle Schritte kamen meinem Zimmer näher. Ich atmete hörbar auf, als ich spürte, dass das nicht Amalia war. Ich hatte Teufelsangst vor dieser Frau, vor allem nach der Aktion, bei der sie mordlustig in mein Zimmer gestürzt ist. Ich konnte von Glück reden, dass nichts Schlimmeres geschehen ist.
Nach kurzen zwei Sekunden klopfte Anthony an meine Tür.
„Was klopfst du, wenn du sowieso reinkommen wirst?“, fragte ich grinsend und drehte meinen Kopf zur Tür. Verdammt, ich grinse wieder so dümmlich!
Ich hatte zwar nicht laut gesprochen, aber Anthony hatte mich gehört. Er öffnete lachend die Tür und schloss sie wieder hinter sich.
„Da wirst du wohl Recht haben!“ Anthony lachte laut auf und ich wurde von ihm angesteckt. Und schon hatte ich vergessen, worüber ich die letzten Sekunden nachgedacht hatte.
Als Anthony verstummte, guckte er plötzlich ernst auf mich. Ich richtete mich verwirrt auf.
„Hast du eine Ahnung, wie lange ich auf dich habe warten müssen?“, fragte er und zog zum Spaß eine traurige Grimasse.
Ich verdrehte meine Augen. Lachend fragte ich: „Sieben Tage?“
Anthony kam auf mich zu, packte mich und wirbelte mich durch das Zimmer. Ich fing an zu lachen.
„Und das ist eine ziemlich lange Zeitspanne, wusstest du das?“, flüsterte er lächelnd.
Er setzte mich wieder ab, senkte sein Gesicht zu meinem und blickte mir lange in die Augen, während sich unsere Nasenspitzen berührten. Ich hielt es einfach nicht mehr länger aus und packte seinen Hinterkopf mit meinen Händen und zog ihn zu mir. Als sich unsere Lippen trafen, kribbelte bei mir alles. Ein unglaubliches Gefühl.
Leider entzog Anthony sich mir bald und ich guckte traurig drein. Ich wollte ihn wieder küssen und legte meine Arme schon um seinen Nacken, da hob er mich hoch, trug mich zu meinem Bett und setzte mich da ab. Gleich darauf setzte er sich neben mich und fragte, als ob nichts gewesen wäre: „Und? Hast du viel gelernt?“
Ich lies enttäuscht die Luft aus mir raus und schürzte die Lippen. „Ja, natürlich. Bei Daniel kann man auch richtig viel lernen. Er ist die beste Person mit der man Zeit verbringen kann“, antwortete ich beleidigt.
„Ja, das hoffe ich doch. Ich habe doch nicht umsonst sieben Tage lang gewartet“, sagte Anthony lachend. Ich verschränkte die Arme und stellte mich bockig.
„Jetzt, was stellst du dich so an? Wieso bist du so beleidigt?“, fragte er, hob mit einem Finger mein Kinn hoch und lächelte mich an. Ich schmolz nur so dahin und zwang mich, nicht auch zu lächeln. Ich glaube, er wusste nur zu gut, welche Wirkung sein Lächeln auf mich hatte. Verdammt! Was geschah nur mit mir?
„Ich finde, es war eine gute Idee von Clas, dich trainieren zu lassen. Denn jetzt kannst du dich endlich mal wehren, wenn ich dich in Zukunft kitzeln werde. Zwar wirst du sowieso keine Chance gegen mich haben, aber...“ Anthony zuckte gleichgültig mit den Schultern und setzte dann sein fieses Lächeln auf. Kaum hatte ich Luft holen können, bemerkte ich: Er kitzelte mich schon wieder!
Anthony hatte absolut Recht, ich hatte einfach keine Chance gegen ihn. Zwar könnte ich mich dagegen wehren, aber die speziellen Griffe dafür wollten mir Dank Anthonys Hände einfach nicht einfallen. Dafür lachte ich zu sehr, ich konnte mich einfach nicht konzentrieren.
Irgendwann hörte Anthony auch endlich auf und ich konnte wieder durchatmen.
„Ich hatte eigentlich erwartet, dass du dich wehrst“, sagte Anthony lachend.
„Das hatte Daniel auch gesagt, nachdem er mich zum ersten Mal angegriffen hatte.“ Wir lachten.
„Clas erwartet wohl viel von dir...“, durchbrach Anthony die kurze Stille, die sich zwischen uns breit gemacht hatte. „Noch nie war jemand so lange da drin, so viele Tage hintereinander, nur um zu trainieren. Drei Tage war bisher die höchste Zeitspanne gewesen und da hatte Stephan trainiert. Du siehst ja an seiner Statur, wie stark er ist und Clas hat alles darauf gesetzt, ihn zu einem starken Kämpfer auszubilden.“ Anthony war kurz still. „Clas muss wirklich viel von dir erhoffen.“
Das brachte mich zum Stutzen. Vielleicht hätte ich mich darüber freuen müssen, aber das tat ich nicht.
Was ist, wenn ich nicht Clas' Erwartungen entspreche? Was ist, wenn er sich zu viel von mir erhofft?
Langsam wurde ich nervös und meine Beine fingen unkontrolliert an zu zittern. Anthony bemerkte es und wurde etwas ratlos, was er tun sollte. Schlussendlich legte er eine Hand auf meine Oberschenkel, um mich zu beruhigen.
„Weißt du“, fing Anthony an zu erzählen und schaute weg, als ob er sich an etwas erinnern müsste, „damals, zu der Zeit, in der ich geboren wurde, da trugen nicht einmal Huren solche Kleider, wie du sie jetzt trägst.“
Ich lachte auf, schlug nach Anthony und konnte danach nicht mehr aufhören, ihn zu schlagen. „Und das sollte mich jetzt beruhigen?“, fragte ich immer noch lachend.
„Natürlich. Du siehst doch, du lachst wieder“, antwortete er und lächelte.
Ich lächelte ebenfalls und gab ihm im Stillen Recht. Ich legte meinen Kopf leicht schräg und forderte: „Erzähl mir mehr über die Zeit, in der du geboren warst! Erzähl mir mehr über dich!“
Anthony lächelte, überlegte kurz, worüber er erzählen sollte und fing dann an: »Ich bin geboren am 13. Februar 1714 mitten in Florenz. Die Italiener nennen es Firenze.«
„Warte!“, unterbrach ich ihn, „Das heißt du bist genau 300 Jahre alt und du bist Italiener?“
„Nein, 300 Jahre bin ich noch nicht, ich feiere mein Jubiläum in vier Tagen. Und ja, sono un vero italiano!“
Ich lachte. „Und was bedeutet 'sono un vero italiano'?“
„Dass ich ein waschechter Italiener bin! Meine Eltern tauften mich auf den Namen Antonio, aber um mich meinem Umfeld anzupassen, änderte ich meinen Namen vor 91 Jahren in Anthony.
Meine vier Geschwister und ich wuchsen unbeschwert auf. Ich war der jüngste von uns fünf und dadurch am verwöhntesten. Meine Familie war ziemlich wohlhabend und wir konnten uns ziemlich viel leisten. Ich hatte eine einfach traumhafte Kindheit!“, schwärmte Anthony. Ich grinste.
„Ich war gerade neunzehn Jahre alt geworden, mein ältester Bruder war währenddessen schon dreißig. Was heute zwar untypisch ist, war früher vollkommen normal: Ich war einen hübschen Mädchen versprochen worden, das nicht älter als ich war, in den nächsten Tagen sollten wir heiraten. Eigentlich kannten wir uns nur vom Sehen, aber unsere Eltern entschieden, dass es am Besten wäre, wenn wir zusammen kämen. Wegen dem Finanziellem. Was wir aber nicht wussten und nicht ahnen konnten: Sie und ihre sogenannten Eltern waren Vampire.“ Sein Gesicht verfinsterte sich. Ich starrte ihm gespannt auf die geschwungenen Lippen.
„Kurz nach der Hochzeit, die groß gefeiert wurde, brachte ihre Eltern und sie meine um. Und nicht nur meine Eltern. Auch meine Brüder und Schwestern, ihre Frauen und Männer und Kinder. Überall in dem Haus, in dem ich aufgewachsen war, lagen die blutleeren Leichen. Es war ein einfach schreckliches Bild.“
Anthony war in dem Moment zwar ruhig, aber ich sah, wie er seine Hände zu Fäusten zusammengeballt hatte. Man sah ihm an, wie sehr er sich beherrschen musste.
Tonlos sprach er weiter. „Mich griffen sie auch an, aber statt zu sterben, verwandelte ich mich. Ich weiß nicht, ob sie es beabsichtigt hatten oder es ein Versehen war. Jedenfalls: Nach meiner Verwandlung habe ich sie gesucht, um mich zu rächen. Aber ich hatte sie seither nicht wieder gesehen.“ Er knirschte mit seinen Zähen.
„In Firenze sagte man sich, es waren Räuber gewesen, die uns wegen unseres Geldes ausgeraubt hatten. Sie dachten, dass auch ich umgebracht worden war. Und ich kam nie wieder nach Hause zurück. Nicht mal in die Nähe meiner alten Heimatstadt.“
Als Anthony seine Geschichte endete, wurde es ganz still. Ich war vollkommen gefesselt von seiner Geschichte gewesen, dass ich, als er aufgehört hatte zu erzählen, in Trance war. Nur schwer konnte ich mich aus ihr lösen.
Anthony saß währenddessen neben mir und versuchte sich zu beruhigen. Sein Körper war angespannt und ich sah den Schmerz in seinen Augen. Na super, jetzt habe ich ihn dazu gebracht, sich über seine Vergangenheit aufzuregen!
Ich legte meinen Arm um ihn und zog ihn zu mir. Nach scheinbar endlosen Minuten hatte sich sein Atem endlich wieder normalisiert und er war wieder ganz der Alte.
Ich hatte erwartet, dass er mir nichts mehr erzählen würde, da es vielleicht zu viel für ihn wäre. Doch er holte Luft und erzählte:
„Vor hundert Jahren noch, da regierte über die Vampire ein Unterdrücker, den alle gehasst hatten. Er hatte bereit seit Jahrhunderten geherrscht, aber er war viel zu mächtig, als dass man sich ihm widersetzen konnte.
Der Übel an allem war aber seine Frau. Sie war der Teufel höchstpersönlich. Sie hatte die schrecklichsten Ideen, Mensch und Vampir zu foltern. Vielleicht wäre es halb erträglich gewesen, wenn er ohne seine Frau regiert hätte. Offiziell hat er es ja getan, aber seine Frau stand immer hinter ihm und hat uns das Leben nur noch schlimmer gemacht.
Es gab zum Beispiel das Gesetz, den beiden immer treu zu dienen. An sich nichts Schlimmes, aber sie nutzten es aus und zwar vor allen für Dinge, die, sagen wir mal, nicht gut waren. Und danach wurden wir dafür bestraft, es getan zu haben. Mir ist nie etwas geschehen und ich kann von Glück reden. Leider hatte einer meiner Freunde etwas Pech. Dafür, dass er unter dem Befehl des achsotollen Königs und seiner Frau einen von uns umbrachte, wurde er selber um einen Kopf kürzer.
Man hatte sich schon immer darüber Gedanken gemacht, die beiden umzubringen, aber es blieb bei dem Gedanken. Vor allem, weil seine Armee viel zu groß war. Selbst manche unter den eigenen Reihen hatten Mordgedanken, aber sobald sie es versucht hatten, wurden sie sofort selber zerstückelt.
Aber schlussendlich verschwor sich sogar der Großteil seiner eigenen Armee gegen ihn, da auch sie unter den Qualen seiner Frau litten. Sie und viele andere schlossen sich dafür zusammen und planten monatelang den Angriff. Clas war der Anführer dieser Gruppe, da er einer der Ältesten und Klügsten war.
Die Schlacht hatte viele Leben gefordert, sowohl Menschen- als auch Vampirleben. Aber immerhin hatten die Angreifer gesiegt.
Aber da es sicher immer einen geben würde, der uns alle gefährden wird, ernannte man Clas vor 99 Jahren als neuen Herrscher.
Ich war währenddessen in Brasilien gewesen und habe die Welt erkundet. Zwar war ich da bereits schon ein Mal gewesen, aber du kannst dir nicht vorstellen, wie sich ein Land nach hundert Jahren verändern kann. Jedenfalls, als ich von der Schlacht erfahren hatte, wollte ich unbedingt auch da hin und Clas' Gruppe zum Sieg verhelfen. Aber ich wusste nicht, dass, als ich davon erfahren hatte, er schon gesiegt hatte. Als ich in Österreich ankam, ...“
„Warte, wir sind gerade in Österreich?“, unterbrach ich ihn. Ich war bisher nicht dazugekommen, nachzufragen – beziehungsweise es wollte mir keiner genauer erklären.
„Ja, um genauer zu sein auf der längsten Burganlage der Welt. Und sie wäre noch größer, wenn die Menschen von den unterirdischen Gängen wüssten. Du weißt ja, dass es hiervon viele gibt.“ Anthony lächelte mich an.
Mir stockte der Atem, aber dann musste ich auch lächeln. Es wäre auch seltsam gewesen, wenn ich in Indien gelandet wäre, denn sonst würden hier alle Indisch oder Englisch sprechen. Aber hier sprachen zum Glück alle deutsch. Ich wäre nicht so erfreut gewesen, wenn ich ständig in einer Fremdsprache reden müsste und nicht in meiner Muttersprache.
Anthony fuhr mit seiner Geschichte fort: „Also, als ich in Österreich ankam, suchte Clas gerade nach neuen Talenten, da er seine Macht erweitern wollte, falls ihn Gegner stürzen wollten. Und da ich ein durchaus nützliches Talent besaß, nahm er mich auf.
Nach acht Jahren änderte ich dann meinen Namen, da der Name Antonio in Österreich ziemlich unpassend war, auch wenn Italien ein Nachbarland ist. Aber vor allem, weil ich mich von den Fesseln der Vergangenheit lösen wollte und etwas Neues machen. Aber das habe ich dir ja bereits erzählt.“ Ich nickte. Dann fiel mir aber auf, dass ich etwas ziemlich Wichtiges gar nicht wusste.
„Was ist eigentlich Clas' Talent?“, fragte ich. Bisher hatte ich weder von seiner Gabe gehört, noch hatte ich sie gesehen. Außerdem wurde mir jetzt klar, wieso hier Clas alle behandelten wie einen Gott. Er war der Anführer der Gruppe gewesen, die die Schreckensherrschaft beendet hatte. Somit mussten ihm hier alle überaus dankbar sein.
„Er kann mit anderen per Gedanken kommunizieren. Wann immer er will und egal wie weit die Entfernung zwischen ihm und der gewünschten Person liegt.“ Ich nickte anerkennend. Ich hingegen hatte die Geschichte hinter allem nicht gekannt und nicht verstanden, was so toll an dem Arschkriecher war. Langsam wurde mir klar, wie wichtig er für diese Vampirgesellschaft war und ich begann mich für mein Benehmen ihm gegenüber zu schämen.
„So, das war meine Geschichte und die Geschichte hinter der jetzigen Welt. Erzählst du mir jetzt etwas von dir?“ Anthony schaute mich grinsend an und pikste mich. Ich kicherte.
„Och, da gibt es nicht viel zu erzählen“, antwortete ich. Anthony zog überrascht die Augen hoch.
„Was willst du denn wissen?“, fragte ich ihn, „Ich bin im Mai vor fünfzehn Jahren geboren, also bin ich bei Weitem nicht so alt wie du. Ich ging zur Schule, wie jedes andere Kind und bekam gute Noten. Ich habe eine siebenjährige kleine Schwester und Eltern, die noch leben. Was willst du denn noch wissen? Mehr gibt es nicht.“
„Also, wenn es nicht mehr gibt, dann will ich auch nicht mehr wissen.“ Aber Anthony schaute mich trotzdem noch so an, als ob ich ihm noch etwas Wichtiges verschwieg.
„Okay, ich muss noch zugeben, dass ich ein blutrünstiger Vampir bin!“
Anthony fing an zu lachen. „Nicht nur ein blutrünstiger, sondern auch ein begabter!“
Ich kicherte. „Schmeichler!“
Nach einer Weile, in der wir etwas rumalberten, fiel Anthony etwas ein: „Ich muss dir noch die Nachricht überbringen, dass du morgen wieder zum Training erscheinen sollst. Am Morgen.“ Ich verzog etwas mein Gesicht und nickte. Wie wäre es denn mit ein bisschen Freizeit? Oder kannte Clas dieses Wort nicht?
Ups, ich habe vergessen, dass ich ihm ein bisschen mehr Respekt schenken wollte. Ist wohl schwerer als gedacht.
Anthony lachte mich erst aus, dann sagte er: „Also, ich muss jetzt gehen. Clas braucht mich nun.“
Ich schaute ihn verwirrt an. „Clas braucht deine Hilfe? Worüber geht es denn?“
Anthony lächelte süß. „Das, liebe Mila, darf ich dir leider nicht verraten! Noch nicht!“ Ich fing an zu schmollen.
Anthony lachte, öffnete die Tür, sagte: „Wir sehen uns ja bald wieder!“ und war schon verschwunden.
Immer noch schmollend setzte ich mich auf mein Bett und begann zu grübeln, was Clas mit Anthony vorhatte. Egal, bald würde ich es erfahren. Egal ob sie es wollten oder nicht.
Ich stand alleine im Saal und wartete auf Daniel. Es hieß ja, ich sollte am Morgen da sein, um mit dem Training weiterzumachen. Deswegen war ich schon vor Sonnenaufgang sofort in den Saal gelaufen, da ich keine Lust mehr hatte, alleine in meinem Zimmer zu warten. Da war mir sogar das Training lieber. Allerdings war niemand da gewesen, als ich im Saal erschienen bin.
Überall, wo ich hier bisher gewesen war, gab es keine Fenster, was auch kein Wunder war, da wir ja unter der Erde waren. Es gab nur ein kleines Fenster ganz oben in dem riesigen Saal, das aber zu klein war, als dass ich mich da durch quetschen konnte, auch wenn da das Glas nicht wäre.
Woher ich ohne Fenster wusste, wann Tag und Nacht war, das konnte ich nicht sagen, aber ich konnte es irgendwie spüren. Wann Sonnenaufgang und Sonnenuntergang war. Plus der beinahe genauen Uhrzeit.
Den riesigen, goldenen Kronleuchter an der Decke, der etwas Licht spendete, nicht beachtend, rannte ich auf die Ecke zu, wo das Fenster war, und sprang hoch. In sieben Metern Höhe krallte ich mich an der Wand fest und kletterte den restlichen Meter noch hoch. Ja, die Decke war wirklich acht Meter hoch.Als ich aus dem Fenster schaute, war es noch dunkel. Das einzige, was ich sah, war feuchter Erdboden, der einzeln unter der Schneedecke hervorlugte und viele Baumstämme. Aber ich merkte mit meinem Super-Vampiraugen, wie langsam die Sonne hoch kroch.
Als die ersten Sonnenstrahlen das Land vor mir erhellten, hörte ich wie Schritte dem Saal näherkamen. Es war Daniel. Er öffnete die Tür und musste schmunzeln, als er mich vor dem Fenster kleben sah.
„Schon seltsam, das du nicht bereits versucht hast, auszubüchsen, so fasziniert wie du auf die Natur da draußen starrst.“
Ich drehte meinen Körper zu Daniel, lächelte und sprang runter.
„Es ist einfach nur unglaublich! Ich sehe da raus und sehe so viel, was ich als Mensch nicht gesehen habe. Ich spüre, wie sich Eichhörnchen bewegen, auch wenn ich sie selber nicht sehen kann und ich rieche, wenn ich so nah am Fenster stehe, sogar den Waldboden und die Bäume!“
„Wenn du schon vor dem Fenster so fasziniert stehst, dann kann ich mir nicht vorstellen, wie du gleich reagieren wirst.“ Daniel fing an zu lachen.
Ich zog die Stirn kraus. „Häh?“
„Na, wir gehen heute raus, um dich an die Umgebung zu gewöhnen.“
„Ehrlich?“
„Ja, natürlich. Warum sollte ich lügen?“
Ich kreischte auf und sprang ihm überglücklich in die Arme.
„Was wird das?“, fragte er erschrocken.
„Nur ein Freudenausbruch“, nuschelte ich ihm in den Hals, während ich ihn immer noch umarmte. Daniels Brust vibrierte, als er lachte und er drückte mich von sich weg.
„Clas meint, wir sollten dich langsam an die Umwelt gewöhnen“, erklärte er. „Du kannst ja nicht ewig hier drinnen bleiben. Außerdem müssen wir dich auch daran gewöhnen, dass du nicht jedes Mal einen Menschen umbringst, sobald du einen siehst.“
Ich wurde verlegen und senkte meinen Kopf. Was konnte ich schon dafür? War nicht meine Schuld, dass ich jetzt ein Vampir war.
„Komm!“, sagte Daniel und öffnete das silberne Tor. Als wir raus traten, folgte ich ihm auf den Weg nach draußen.
„Hier!“, sagte Daniel und drückte mir zwei Blutbeutel in die Hand. „Damit du keinen Hunger hast.“
Ich war so froh, endlich mal raus zu dürfen, dass ich mich schon wunderte, wieso ich nicht explodierte. Das würde mein erstes Mal draußen sein in meinem neuen Leben.
Während des Laufens trank ich noch mein Blut zu Ende und warf die leeren Plastikbeutel irgendwo auf den Boden. Ich musste mich wirklich sehr konzentrieren, um nicht während des Rennens gegen eine Wand zu rennen. Dafür war mir die Wand zu Schade.
Ich überlegte, wie es draußen wohl sein würde. Ich konnte es mir eigentlich nicht vorstellen, ein Leben außerhalb dieser Mauern war mir plötzlich fremd. Aber was würde passieren, wenn ich die Kontrolle verlieren würde und vor vielen Menschen jemanden umbringen würde? Ich war so sehr in meinen Gedanken versunken, dass ich nicht merkte, dass Daniel anhielt und ich lief in ihn rein.
Während Daniel so stehen blieb, wie er war, prallte ich an ihm ab und fiel nach hinten auf meinen Allerwertesten.Daniel drehte sich um und begann mich eiskalt auszulachen.
„Ich... ich habe noch nie... einen Vampir gesehen, der... überhaupt irgendwo dagegen gelaufen ist...“, Daniel konnte kaum reden vor Lachen, „und dann... dann noch einen, der... der hinfällt!“
Beleidigt richtete ich mich wieder auf. „Ja ja! Lach dich tot!“ Wütend lief ich den Gang stampfend weiter.
„Warte!“, rief Daniel mir hinterher.
Wütend drehte ich mich um. „Was?“
Daniel grinste. „Wir müssen hier hoch“, sagte er und zeigte mit dem Finger auf eine Treppe. Jetzt fühlte ich mich richtig blöd. Nun war es wohl offiziell: Ich war sehr, sehr ungewöhnlich! Und blöd. Ich folgte ihm schweigend die Treppe hoch. Nach zig Treppen kamen wir an einem Aufzug an.
„Seit wann gibt es denn hier einen Aufzug?“, fragte ich erstaunt.
Daniel grinste. „Schon länger.“ Er drückte die Türen auseinander und statt einer Aufzugkabine blickte mir ein mittelalterlich gestalteter Raum entgegen.
„Ladies first!“, sagte Daniel und ich trat durch die Türe. Als auch Daniel durch die Tür trat und sie vorsichtig schloss, sah ich, dass auf der Tür ein Schild aufgehängt war mit der Aufschrift: „Außer Betrieb“. Wenn ich es nicht besser wissen würde, würde ich denken, was wahrscheinlich jeder denken wird, wenn er an diesem „Aufzug“ vorbei läuft.
„Raffiniert!“, sagte ich und staunte. Meine Wut von vorhin war jetzt vollkommen verraucht und ich dachte nur noch an mein Rauskommen.
„Das sagen auch die Touristen, wenn wir ihnen sagen, dass sie gleich etwas zu sehen bekommen, das eigentlich nicht jeder zu sehen bekommt.“
Mein Bauch verkrampfte sich. Ja, sie bekamen etwas zu sehen, das sonst nicht jeder zu sehen bekam. Das würde auch das Letzte sein, das sie zu sehen bekommen würden.
Wir liefen noch einen schmalen Gang entlang bis wir an einen Hinterausgang gelangten. Ich lief schnell selber hin und drückte die Türklinke runter, da ich es gar nicht mehr erwarten konnte.
Schon hinter der Tür roch ich die verschiedensten Gerüche und als ich die Hintertür endlich öffnete, roch ich alles noch viel intensiver. Viele verschiedene Gerüche vermischten sich miteinander, aber ich spürte trotzdem, dass jeder auf seiner Art anders war. Ich konnte sie nur noch nicht einordnen.
Vor mir erstreckte sich ein Wald im Schnee. Die Landschaft war sehr hügelig und bewaldet. Mit schnellen Schritten lief ich auf den nächsten Baum - eine Buche - zu und roch an ihr und prägte mir ihren Geruch ein. Gleich darauf lief ich auf den nächsten Baum zu.
„Lauf aber nicht zu weit weg von mir!“, hörte ich Daniel rufen.
Ich lachte. „Also, wenn du das willst, musst du mir wohl oder übel hinterher laufen.“ Schon flitzte ich durch den Wald.
Es war eine Leichtigkeit, den vielen Bäumen auszuweichen. Ich wusste nicht, wieso es mir so schwer gefallen war, durch die Flure der Burg zu laufen, denn hier fiel es mir so leicht.
Ich fühlte mich frei, so frei. Endlich war ich nicht mehr in dieser Burg eingesperrt. Das seltsame, drückende Gefühl, das durch die Steinwände ausgelöst wurde, war verschwunden. Dieses neu erweckte Gefühl war einfach unbeschreiblich. Ich wusste, ich konnte jetzt alles machen, was ich wollte und dieses Gefühl durchströmte meinen Körper wie eine Droge.
Ich merkte, dass sich die Gerüche langsam änderten und ich verspürte einen leichten Hauch von Mensch darin. Und plötzlich stand Daniel vor mir und versperrte mir den Weg. Sofort bremste ich und brachte mich kurz vor Daniel zum Stehen.
„Wir sollten jetzt lieber umdrehen!“, sagte Daniel fordernd.
„Ach, sollten wir?“, fragte ich neckisch. Ich verstand das ganze als ein Spiel und ich wollte weiter rennen, aber Daniel versperrte mir weiterhin den Weg. Damit provozierte er mich nur noch mehr und ich sprang zum Trotz auf den Baum über mir und setzte mich auf einen der Äste.
„Komm jetzt runter und wir gehen!“, sagte Daniel genervt. Aber ich grinste nur und sprang auf den nächsten Baum. Und schon sprang ich wie ein Äffchen von einem Baum zum anderen Baum, dicht gefolgt Daniel, der mir wütend hinterher sprang. Aber für mich war immer noch alles ein Spiel.
Der Wind fuhr mir wild durch die Haare und ich brachte einen Freudenschrei raus. Ich sprang von einem Baum zum anderen, ohne auch nur etwas das Gleichgewicht zu verlieren oder zu stolpern.
Bis ich an den Rand des Waldes kam. Ich blieb auf dem Baum sitzen auf dem ich stehengeblieben war, der am äußersten Rand des Waldes stand.
Unter mir erstreckte sich ein Dorf, das die unterschiedlichsten Gerüche verströmte. Aber vor allem einen.
Menschenblut. Ich zuckte zusammen, als ich böse Gedanken bekam.
Ich glaube, es ist besser, wenn ich jetzt so schnell wie möglich verschwinde, dachte mein Unterbewusstsein, denn mein Körper krampfte sich aufgrund des Geruchs zusammen. Aber dazu war das Dorf für mich zu interessant. Ich wollte es mir ansehen.
Als sich Daniel neben mich auf den dicken Ast fünf Meter über dem Boden setzte und meine teils gierigen, teils neugierigen Blick bemerkte, legte er mir eine Hand auf die Schulter und sagte ruhig: „Komm, gehen wir!“
Ich schüttelte den Kopf, während ich immer noch auf das Dorf hinunter starrte.
„Können wir runter ins Dorf?“, fragte ich wie ein kleines Kind.
„Nein, noch nicht“, antwortete Daniel ernst. „Es ist noch viel zu gefährlich, dir könnte etwas passieren.“ Beziehungsweise den Menschen dort.
„Ach, bitte!“, bettelte ich und faltete meine Hände. „Es ist sowieso noch sehr früh. Da ist doch kein einziger Mensch draußen!“
Daniel überlegte hin und her. „Wir sollten lieber zurück gehen!“
„Also wenn du nicht mitkommst, dann gehe ich alleine!“, sagte ich und sprang vom Baum. Dann drehte ich meinen Kopf nach oben zu Daniel und wartete darauf, dass er mitkam. Geschlagen seufzte er, sprang ebenfalls vom Baum und ging vor.
„Aber wundere dich nicht, wenn die Dorfbewohner doof gucken werden. Du läufst nämlich bei kalten Wintertemperaturen mit nichts als nur einem kurzen Kleid rum.“
Während ich die ersten Schritte in das Dorf setzte, tat ich Freudensprünge. „Hättest du keine so gute Selbstbeherrschung und keinen Dickkopf, dann hätte ich es dir niemals erlaubt“, hörte ich Daniel eher zu sich selber als zu mir sagen und ich grinste wieder. Leider hielt meine Freude nicht lange an, da mein Rachen anfing zu schmerzen, sobald die Gerüche mir ins Gesicht geschleudert wurden.
Schon am Waldrand war der Geruch des Blutes unwiderstehlich, aber hier unten, mitten im Dorf, da verbrannte mein Hals regelrecht, mein Körper. Was wird passieren, wenn ich einem Menschen direkt gegenüber stehe?, fragte ich mich selber und ich fing an etwas zu zittern.
„Sollen wir vielleicht doch lieber zurück gehen?“, fragte mich Daniel besorgt.
Entschlossen antwortete ich: „Nein“ und marschierte dickköpfig tiefer in das Dorf.
Daniel schüttelte ratlos seinen Kopf. „Pass aber auf“, warnte er mich, „die Leute dürfen nicht merken, dass du anders bist. Renne nicht, zerstöre nichts und das Wichtigste: bringe niemanden um! Und pass' darauf auf, dass deine Augen nicht rot werden!“
„Ja, Mami!“
Das war mir ja alles vorhin schon klar gewesen, aber fraglich war nur, ob ich das alles wirklich schaffen würde.
Als wir auf der Hauptstraße des Dorfes ankamen, sah ich, dass da bereits ein paar Stände da standen. Und das bei dieser Uhrzeit. Wenn ich schlafen könnte, würde ich jetzt garantiert noch im Bett liegen. Ich schüttelte den Kopf.
Je näher wir den Ständen kamen und somit den Menschen, umso heftiger wurden meine Schmerzen. Mein Körper stand regelrecht in Flammen. Daniel stand währenddessen ganz nah bei mir und hatte einen Arm um mich gelegt.
Ich versuchte an irgendetwas anderes zu denken als das köstliche Blut, aber es half mir nicht wirklich, dass ich das Herz jedes Einzelnen schlagen und das Blut in ihren Adern rauschen hörte. Selbst das Blut der Menschen in den Häusern konnte ich beinahe schmecken.
Ich lief mit Daniel an meiner Seite stur gerade aus weiter, die Stände zu vergessen versuchend.
Und denk daran: Menschen sind Lebewesen mit Gefühlen – du warst vor kurzem selber einer – denen du den Tod nicht bringen darfst, und die nicht deine Blutbeutel auf zwei Beinen sind.
Plötzlich wurde mein Blick auf einen Stand gelenkt, der einen besonders anziehenden Duft verströmte. Beinahe zu langsam für die menschlichen Verhältnisse, bewegte ich mich auf den Stand zu, ich wollte ja nicht auffällig werden. Ich spürte wie Daniel mich unauffällig versuchte wegzuziehen, aber ich lief stur und wie in Trance geradeaus weiter.
Als ich vor dem Stand stehen blieb, zog sich mein Körper aufgrund des Blutgeruches zusammen. Aber sobald mein Blick auf die Ware fiel, vergaß ich meine Schmerzen beinahe.
Schokolade! Die Auswahl war riesig. Von Dunkler Schokolade über Haselnussschokolade bis hin zur Weißen Schokolade mit Karamellstückchen!
„Möchten Sie mal probieren?“, fragte mich die Frau hinter der Theke und holte mich wieder zurück in die Realität.
Ich schaute hoch und der Frau in die Augen. Sofort nahm ich ihren unwiderstehlichen Geruch war und Gift sammelte sich in meinem Mund. Schnell drehte ich mich um und verbarg meine blutroten Augen hinter meinen Händen, damit sie sie nicht zu Gesicht bekam. Ich hielt die Luft an und versuchte nicht, die nach Menschenblut riechende Luft einzuatmen. Daniel strich mir währenddessen beruhigend über den Rücken.
Nach einigen Sekunden fühlte ich mich wieder einigermaßen gut, so dass ich mich wieder umdrehen konnte.
„Tut mir leid. Ich habe etwas ins Auge bekommen“, entschuldigte ich mich.
„Das macht doch nichts“, antwortete die Frau freundlich, jedoch schwang in ihrer Stimme auch etwas... Angst?
„Wie viel kostet das Kilo?“, fragte ich.
Sie guckte mich erstaunt an. „Also eine Tafel wiegt hundert Gramm und die kostet, je nach dem welche Sorte, um die zwei Euro.“
„Ich nehme zwei Kilo.“
Die Frau riss die Augen auf. „Welche Schokoladen wollen Sie denn genau?“, fragte sie zurückhaltend.
„Warten Sie bitte kurz!“, meldete sich Daniel zum ersten Mal zu Wort. Er zog mich am Arm etwas vom Stand weg und flüsterte: „Du weißt doch nicht einmal, ob ich Geld dabei habe!“
„Hast du denn Geld dabei?“, fragte ich.
Daniel verlagerte sein Gewicht vom einem Bein zum anderen. „Ja.“ Ich lachte. „Aber du sollst wissen, dass sich deine Geschmacksknospen verändert haben. Es wird dir nicht mehr so schmecken wie früher.“
„Das glaube ich kaum. Immerhin hat mich meine Nase hierher geführt.“ Und somit wandte ich mich wieder der Frau an dem Stand zu.
„Also, ich nehme zwei von denen...“ Während ich der Frau aufzählte, was ich haben wollte, stöhnte Daniel genervt auf und holte das Geld.
Überglücklich lief ich durch das Dorf mit meiner Schokolade, die man gezwungenermaßen in zwei Plastiktüten gepackt hatte, da ich es sonst nicht schaffen würde, zwanzig Tafeln Schokolade zu tragen.
„Freu' dich nicht zu früh!“, hatte Daniel gesagt. „Noch hast du die Schokolade nicht probiert.“
Aber daraufhin lachte ich wieder nur.
Dank der Schokolade fiel es mir jetzt leichter an etwas anderes zu denken als das Blut. Denn ich dachte jetzt an meine heilige Schoki, die ich endlich nach Monaten wieder essen konnte.
Kann ich als Vampir von Schokolade zunehmen?
Ich grinste und Daniel tat es mal wieder mit einem Kopfschütteln ab.
Als wir an den Rand des Dorfes kamen, verließen wir es und machten uns sofort wieder auf den Weg zur Burg, während die Sonne sich dem Horizont entgegenstreckte.
Ich lies mich erschöpft aufs Bett fallen. Endlich Pause!
Nachdem wir zurückgekehrt waren, hatten wir uns nämlich gleich wieder ans Training gemacht.
Diesmal lag der Schwerpunkt wieder bei Kampftechniken. Daniel meinte, ich machte mich ziemlich gut, auch wenn ich es ihm nicht glaubte. Bei einem ernsten Eins-gegen-Eins-Kampf hätte ich garantiert schlechte Chancen. Selbst wenn ich aussah und mich bewegte wie Spartacus.
Dafür war ich im Davonlaufen sehr gut. Was brauchte ich schon mehr? Ich lachte auf.
Es müsste jetzt ungefähr drei Uhr am Morgen sein, meinen Vampirkräften sei Dank, dass ich keine Uhr mehr brauchte. Also hatten wir mit Daniel kaum einen Tag trainiert. Im Vergleich zu den anderen Malen war das wirklich wenig.
Plötzlich nahm ich einem Geruch war, den ich nur zu gut kannte und mein Blick fiel auf die Schokolade neben meinem Bett. Ich brannte darauf, endlich die Schokolade zu probieren.
Hoffentlich würde sie nicht wirklich anders schmecken, wie ich sie in Erinnerung hatte. Denn es wäre der Horror, wenn Daniel Recht haben würde und ich statt mich mit Schokolade vollzufressen, Blut saugen würde.
Beinahe mit Lichtgeschwindigkeit sprang ich vom Bett, holte meine Schokolade und saß dann wieder auf meinem Bett. Zaghaft biss ich rein und brach mir mit den Zähnen ein kleines Stück ab. Ich kaute ein paar Mal darauf rum und schmeckte meine heißgeliebte Schokolade. Dann hielt ich inne.
„Wäh!“, schrie ich und versuchte den Geschmack aus meinem Mund zu spucken.
Plötzlich brach hinter mir jemand laut in Gelächter aus. Schnell wirbelte ich herum und sah Anthony sich hinter meinem Bett nicht mehr einkriegen.
Ich fing an, ihn zu beobachten. Ich liebte sein einfach Lachen und beobachtete ihn, wie er vor Lachen sich auf dem Boden kugelte. Wie konnte man nur so gut aussehen, während man vor Lachen beinahe verreckte?
Ich schüttelte schnell meinen Kopf. Was hatte ich immer für Gedanken? Argh!
„Seit wann bist du hier?“, fragte ich verwirrt und gleichzeitig peinlich berührt. Und das nicht nur, weil Anthony mich gerade bei einer peinlichen Situation gesehen hatte, sondern auch wegen meinen dummen Gedanken.
Anthony versuchte sich zu beruhigen und atmete ein Mal tief ein.
„Du warst wohl so erschöpft gewesen, dass du nicht gemerkt hast, wie ich, seit du reingekommen bist, in deinem Zimmer war!“ Er musste einen erneuten Lachanfall unterdrücken. „Ich habe eigentlich auf dich gewartet und wollte dich begrüßen, sobald du reinkommst. Aber als du mich nicht bemerkt hast, habe ich mich hinter deinem Bett versteckt. Komisch, dass du mich nicht ein mal gespürt hast.“ Er kicherte.
Ich legte meinen Kopf schräg. Und da bekam er auch schon den nächsten Lachanfall. „Und dann auch noch du mit deiner Schokolade!“
Es fing an in mir zu brodeln. Ohne Vorwarnung sprang ich auf ihn und machte ihn mit einem Griff bewegungslos.
„Lach mich nicht aus!“, knurrte ich bedrohlich.
„Oh oh! Das Kätzchen hat neue Griffe gelernt“, lachte Anthony. Ich drückte härter zu. Ein leises Zischen entwich ihm.
„Pass auf!“, stöhnte er. „Du kannst deine Kräfte noch nicht so gut einschätzen und du wirst mir noch den Arm abreißen, wenn du stärker zudrückst“, sagte Anthony mit zusammen gebissenen Zähnen. Es tat ihm wirklich weh.
„Vielleicht will ich das ja“, sagte ich. Ich knurrte noch ein Mal bedrohlich, ehe ich ihn losließ.
Er stützte sich an der Wand ab, um nicht noch umzufallen und lehnte sich dann an sie. Gleich darauf packte er seinen linken Arm, rieb ihn und verzog schmerzhaft sein schönes Gesicht.
Ich schaute ihn schuldig an.
„Tut mir Leid“, entschuldigten wir uns beide beinahe zeitgleich.
Ich zog meine Stirn in Falten. „Wofür entschuldigst du dich denn?“, fragte ich.
„Ich hätte dich nicht auslachen dürfen“, sagte Anthony mit einem Hundeblick, dem ich nicht widerstehen konnte. Das konnte keiner. „Normalerweise hättest du aber mitlachen sollen. Das hast du ja bisher immer getan. Irgendwie bist du heute so gereizt.“
„Nein, ich habe meine Tage nicht!“, antwortete ich gleich darauf wieder gereizt. Man hatte mich das früher immer wieder gefragt, da ich gerne auf alles frech antwortete. Diese Frage hing mir schon zum Hals hinaus.
„Das habe ich auch nicht vermutet.“ Anthony kam mir ganz nah und ich spürte seinen Atem auf meiner Stirn.
Verdammt, wieso vernebelte sich jetzt mein Verstand? Als ob er seinen Atem mir in den Schädel pustete und dadurch einen Nebel darin entstehen lies, der es mir nicht möglich machte, klar zu denken.
Plötzlich packte mich Anthony und fing an mich zu kitzeln. Ich schrie kurz auf. Dann packte ich ihn auch und warf ihn dabei aber auf den Boden.
„Verdammt! Du hast richtig was gelernt!“, stöhnte er während er auf dem Rücken liegend versuchte sich wieder aufzurichten. Aber ich setzte mich auf ihn drauf und machte ihn mal wieder bewegungsunfähig. Ich lachte böse auf.
„Das böse Lachen müsst ihr wohl auch gelernt haben“, grinste Anthony und warf mich auf die gegenüberliegende Wand.
Da ich nicht damit gerechnet hatte, konnte ich mich nicht dagegen wehren und krachte gegen die Steinwand. Allerdings stieß ich mich wieder sofort dagegen ab und sprang wieder auf Anthony. Der wich aber aus, packte mich von hinten und wollte mich genauso auf den Boden werfen so wie ich ihn. Ich aber drehte in seinen Armen einen Salto, schlug ihm meine Füße in sein Gesicht, stieß mich ab und sprang an die Decke. Gleich darauf sprang ich wieder auf den liegenden Anthony runter.
Kämpfend und lachend auf dem Boden, bemerkten wir gar nicht Clas, der in der Tür stand, zusammen mit ein paar anderen.
Bis er sich räusperte. Lachend drehten wir unsere Köpfe um.
„Na na na. Wir tun unserem Geburtstagskind doch nicht weh!“, sagte er tadelnd.
Es dauerte eine Weile bis es „Kling!“ machte. Ich drehte mich geschockt zu Anthony.
„Upps!“ Ich hätte es nicht besser ausdrücken können. Wie kann ich nur Anthonys 300. Geburtstag vergessen?
Anthony lächelte breit und schüttelte kaum merklich den Kopf, um mir zu signalisieren, ich sollte mir keinen Kopf darüber machen. Als ob das so einfach wäre!
„Ich bin wirklich beeindruckt, wie gut du schon kämpfen kannst“, sagte Clas mit glitzernden Augen und lenkte somit alle Aufmerksamkeit auf sich. „Daniel hat das wirklich gut gemacht. Und wie schnell du gelernt hast!“
Ich nickte verlegen mit meinem Kopf und lächelte. Doch dass ich wirklich Anthonys Geburtstag vergessen hatte, regte mich immer noch tierisch auf.
„Daniel hat mir auch erzählt, dass ihr im Dorf wart“, sprach er. „Wir reden darüber aber später. Zuerst gehen wir feiern!“
Ich zog verwundert meine Augenbrauen hoch. „Feiern?“
„Ja, irgendwie muss Anthony seinen 300. Geburtstag doch verbringen!“, sagte Daniel, der sich aus der kleinen Gruppe hinter Clas löste und auf Anthony zukam, der sich gerade vom Boden aufgerichtet hatte.
Dann liefen Clas und die anderen Vampire wieder weg, ohne das ich wusste wohin und auch Daniel schob Anthony aus meinem Zimmer. Ich hörte nur noch kurz Somalas Stimme – so wie es aussah, war auch Somala hier gewesen – in der Ferne mir sagen: „Zieh dir was schönes an!“, bevor ich alleine und verwirrt in meinen Zimmer stehen gelassen wurde.
Wenigstens verstand ich jetzt, wieso mir Daniel beim Trainieren gesagt hatte, dass wir dieses Mal nicht lange weitermachen konnten und mir dann zugezwinkert hatte. Denn stattdessen würden wir feiern gehen. Und ich konnte mir vorstellen, wie hart Vampire feierten.
Verzweifelt suchte ich nach irgendeinem eleganten Kleid in meinem Kleiderschrank, das sich aber nicht finden lies. Ich würde jetzt am liebsten laut aufschreien.
Zum ersten Mal war ich unzufrieden mit meinen Kleidern. Was mich am meisten dabei nervte war tatsächlich, dass ich nur schwarze Kleider besaß. Alles eintönig, alles dunkel, alles düster. Und deswegen langweilig.
Mir kam sogar zwischenzeitig die Idee auf, eins der Kleider mit Blut zu übergießen, damit es nicht komplett schwarz war, sondern auch etwas Rotes hatte – auch wenn man es kaum sehen würde. Einen netten Nebeneffekt würde es auch geben: Das Kleid würde gut riechen.
Plötzlich hatte ich eine Blitzidee. Ich huschte schnell aus meinem Zimmer und rannte die endlosen Flure entlang und hüpfte die Treppen hoch. So leise wie möglich schob ich die 'Aufzugtüren' auf und lies sie wieder leise zuschließen. Kein normaler Mensch hätte es geschafft die Tür so leicht zu öffnen und wieder zu schließen.
Dann lief ich zu der Hintertür, öffnete sie und atmete den Geruch des Waldes ein.
Freiheit!, schoss mir durch den Kopf.
Ich war frei. Eigentlich hätte ich jetzt tun und lassen können, was ich wollte. Mein Leben leben und es genießen. Ohne Vorschriften. Ohne nervende Babysitter.
Dieser Gedanke fühlte sich zu gut an.
Ich schüttelte meinen Kopf, um wieder zu meinem Vorhaben zurückzukommen. So schnell wie möglich, ohne mich all zu lange aufzuhalten, lief ich, bis ich an den Waldrand kam. Ich holte ein Mal tief Luft, bevor ich sie anhielt und ins Dorf marschierte.
Es war stockdunkel, was auch kein Wunder war um vier Uhr morgens im Winter.
Schnell, ohne auf die schlafenden Bewohner zu achten, flitzte ich durch die Gassen bis ich zu einem Laden mit Abendkleidern kam. Ich lief zur Tür und drückte leise die Klinke runter.
Verdammt, verschlossen!
Ist doch kein Wunder, dass sie verschlossen ist. Wer schläft schon in einem Haus mit offenen Türen?, sagte mir mein Verstand. Und sogleich fühlte ich mich richtig dumm.
Ich schaute nach einer anderen Möglichkeit in das Haus zu kommen und lief ein paar Mal um es herum, bis ich es bemerkte. Hinter dem Haus war tatsächlich ein Fenster offen!
Schnell sprang ich ins zweite Stockwerk hoch und kletterte durch das Fenster ins Zimmer. Und stockte, als ich eine Person im Bett schlafen sah. Ein lebender Mensch, der nicht wusste, was gerade neben ihm passierte. Und was sogar bald mit ihr passieren könnte...
Ich durfte einfach nicht an diese Person denken. Sonst würde ich durchdrehen. Also versuchte ich an etwas Anderes zu denken. Denk an Anthonys Geburtstag! Denk dran!
Doch darauf konnte ich mich einfach nicht konzentrieren. Denn das laut pochende Herz und das warme, rauschende Blut nur wenige Meter neben mir machte mich wahnsinnig. Und allein wie sie da lag... So unschuldig und so... köstlich!
Mein Vampirinstikt wurde geweckt. Und ich könnte schwören, ich hatte gerade geknurrt.
Okay, Milana, beruhig' dich! Atme tief ein und aus!
Ich merkte zu spät, dass das ein Fehler gewesen war. Als ich den Atem angehalten hatte, war es schon schwer genug gewesen, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren allein aufgrund ihrer menschlichen Wärme, die sie ausstrahlte. Jetzt konnte ich sie riechen und mein Rachen begann höllisch zu brennen. Gebannt starrte ich auf das schlafende Mädchen auf dem Bett runter und lief mit langsamen Schritten auf sie zu. Mein Verstand hatte sich von allein komplett abgeschaltet. Ich hatte meinen Mund schon geöffnet und meine Fangzähne blitzten im Dunkeln auf. Ich schmeckte sie schon beinahe.
Sie bewegte sich im Schlaf. Ich zuckte zusammen und kam wieder zu Bewusstsein. Schnell lief ich die gegangenen Schritte wieder zurück und starrte sie an. Sie schien wieder fest zu schlafen.
Entsetzt über mich selbst, schlug ich mir die Hände vors Gesicht und rannte aus dem Zimmer.
So schnell wie möglich machte ich mich jetzt daran, runter zu kommen, mir ein passendes Kleid mitzunehmen und dann endlich zu verschwinden. Ich wollte so schnell wie möglich hier weg. Denn das durfte nicht wieder passieren. Und erst recht nicht das, was ich vorgehabt hatte.
Unten angekommen, zitterte ich noch immer. Einmal vom Hunger und aber vor allem wegen dieser Situation, in die ich mich gebracht hatte. Beinahe hätte ich sie umgebracht...
Nachdem ich mich soweit beruhigt hatte, dass mein Zittern aufgehört hatte, machte ich mich schon auf die Suche nach einem Kleid. Ich ging durch die Reihe an Kleider, die in dem kleinen Laden unter einer Wohnung zu bieten waren. Es war zwar keine sehr große Auswahl, sie sahen aber trotzdem nicht schlecht aus. Trotzdem wollte mir irgendwie keins gefallen und keins passen. Ich lief in die nächste Ecke mit einem Stapel von Kleider, daneben welche die auf einem Bügel aufgehängt waren. Auch dort gefiel mir nichts.
Enttäuscht setzte ich mich in ein Arbeitszimmer mit Nähzeug und setzte mich auf den Tisch. Es war ja klar gewesen, dass mir keins gefallen würde. So war ich nun mal, wenn es um Klamotten ging, war es mir lieber ich trug meine alten Sachen, anstatt die, die mir nicht vollkommen gefielen. Und bis ich so etwas gefunden hatte, dauerte es ewig.
All meine Bemühungen hier her zu kommen waren umsonst gewesen. Ich stöhnte und wandte meinen Blick zum Fenster.
Und da fiel mein Blick auf ein blutrotes knielanges Kleid, dass an einem Stuhl neben mir hing. Es gefiel mir sofort – allein wegen der Farbe – und ich nahm es in meine Hände. Der Stoff war weich und geschmeidig.
Vorsichtig hielt ich es mir vor den Körper und schaute mich in einem Ganzkörperspiegel an. Es war perfekt! Als ob es extra für mich geschneidert wurde. Auf meinen Wunsch und sogar auf meine Größe.
Ohne lange nachzudenken rannte ich mit dem Kleid in meinen Armen wieder aus dem Haus, indem ich einfach nur ein Fenster öffnete und raus sprang. Darüber, dass sich die Menschen über ein verschwundenes Kleid und ein nicht ganz verschlossenes Fenster wundern würden, machte ich mir keine Sorgen mehr.
Es war meins. Das Kleid war ab sofort meins und ich würde es behalten und nie wieder hergeben.
Auf den Weg wieder in die Burg fiel mir ein, dass ich jetzt hätte frei sein können. Ich war ein freier Mensch... Nein, ein freier Vampir. Mich hielt niemand auf und ich hatte eine große Zukunft vor mir. Ich könnte jetzt weglaufen und nach einiger Zeit zur meiner Familie zurückkehren.
Jedoch hatte irgendwie in dem Moment ich kein Bedürfnis dazu, auch wenn ich meine Familie zu sehr vermisste. Es war, als ob ich sie sowieso bald wiedersehen würde, aber mich jetzt auf einer spannenden und langen Reise befand.
Ich überlegte woran das liegen könnte. An Anthony? Nein, dass konnte ich nicht glauben, auch wenn es schmerzte, wenn ich daran dachte ihn zu verlassen. Also vielleicht doch? Aber nein!
Egal, auch wenn, ich darf ihn heute nicht verlassen, er hat zu viel für mich getan! Vor allem nicht an seinem Geburtstag!, dachte ich und hüpfte bereits die Flure zurück in mein Zimmer.
Machte ich einen Fehler?
Ich betrachtete mich vor dem Spiegel. Das schöne rote Kleid betonte echt gut meine Kurven und lies mich trotzdem noch schlank aussehen. Vor allem die Farbe gefiel mir. Blutrot. Endlich mal etwas anderes als schwarz.
Meine Haare hatte ich so gelassen wie sie waren. Ich fand, es sah richtig schön aus, wenn ich zu dem Kleid mit langen gelockten Haaren hinging. Jetzt stellte sich nur noch die Frage, wo ich hin sollte.
Ich lief schlussendlich einfach zum Saal. Da waren ja immer alle großen Treffen gewesen. Glaubte ich, so lange war ich hier auch nicht, um das so genau zu wissen. Und dann hörte ich auf der Hälfte des Wege dorthin viele Stimmen daraus kommen, also musste ich wohl dahin.
Dort trat ich dann ein. Beinahe augenblicklich wurde es mucksmäuschenstill. Nur ein paar Stimmen hörte ich noch, bevor auch sie verstummten.
Viele Vampiraugen starrten mich scharf an. Wirklich viele. Hier waren fast hundert Vampire, die mich alle geschockt anstarrten.
Lächelnd und selbstbewusst lief ich tiefer in den Raum hinein, während alle Blicke auf mir und meinem roten Kleid hafteten und sie wild anfingen zu murmeln.
„Milana“, rief Clas, der sich von der Menge löste und auf mich zu lief. Augenblicklich wurden wieder alle Gespräche beendet.
„Plaudert ruhig weiter!“, rief Clas der Menge zu, die sich dann wieder ihren Gesprächen zuwandte, aber trotzdem mit gespitzten Ohren darauf warteten, was Clas mir zu sagen hatte.
„Milana, Schätzchen, woher hast du dieses Kleid?“, fragte mich Clas ruhig, aber sichtlich wütend. Sein Blick wanderte über mich.
Und da war es schon wieder. Dieses Schätzchen. Wieso nannte Clas mich immer so?
Ich zuckte mit den Schultern. Hatte er ein Problem mit meinem Kleid? „Ich habe es mir aus dem Dorf geholt.“
„Und wieso?“, fragte er weiter drängend.
„Ich hatte kein passendes Kleid in meinem Kleiderschrank, da habe ich es mir geholt.“ Irgendwie machte es mir langsam Spaß, ihn so zu nerven. Erinnerte mich an früher, als ich die anderen Schüler immer zur Weißglut gebracht hatte.
„Das hättest du mir sagen sollen, wir hätten dir problemlos ein anderes geholt, eins das dir garantiert gefallen hätte!“, sagte er etwas herrisch.
„Ein schwarzes, nicht wahr?“, gab ich etwas genervt zurück.
„Natürlich, wieso denn nicht“, fragte er mit einem gespielten Lächeln.
„Weil es mir persönlich so...“ – ich zeigte mit meinen Händen auf mein Kleid – „...am besten gefällt!“
„Du sollst aber wissen, dass die Farbe Schwarz sehr unauffällig ist. Es ist besser, wenn wir unter den Menschen nicht auffallen.“
Ich zog meine Augenbrauen hoch. „Unauffällig sind 'ne Jeans, ein normales T-Shirt und Sneakers.“
Clas schürzte die Lippen. „Schätzchen, du sollst wissen, dass schwarze Kleidung unser, wie soll ich sagen, unser Markenzeichen ist. Das Markenzeichen vom Herrscher und...“
„... seinen Dienern? Nein danke, ich trag doch lieber Farben!“
Clas Augen wurden noch schwärzer als sie es bereits schon waren – wenn das überhaupt noch ging. Er starrte mich lange an, ehe er tief durch den Mund einatmete und dann die Luft durch die Nase wieder raus blies. Da erinnerte er mich ein bisschen an einen wütenden Stier.
„Heute kannst du so bleiben. Aber in Zukunft erwarte ich von dir, dass du dich wieder angemessen anziehst.“ Damit ging er. Die Gespräche wurden wieder lauter fortgesetzt. Auch wenn etwas zu laut.
Ich hörte genauer hin.
„Also, bei der könnten die auch mit der Erziehung etwas strenger sein!“, hörte ich eine Frau irgendwo hinter mir. „Das Kind ist völlig verzogen!“
Ich schürzte wütend die Lippen. Fast hätte ich mich umgedreht und ihr meine Meinung gesagt. Dass das mit Verzogensein nichts zu hatte, sondern dass das eine ganz normale Reaktion von jedem mit Modebewusstsein sei.
Doch dann hörte ich wie Anthony von der Seite auf mich zu kam. Bei mir angekommen, wollte ich ihn gerade gratulieren, als er fast aufschrie: „Spinnst du?!“
Ich zog irritiert die Augenbrauen zusammen. „Was? Wieso?“
„Als ob du Clas in der Vergangenheit nicht oft genug genervt hast! Was sollte das?“, fragte er aufgebracht.
„Ich wette, du hast wie jeder andere das Gespräch mitgehört und weist, wieso ich das Kleid anhabe“, erwiderte ich.
„Ja, habe ich“, sagte Anthony sichtlich sauer.
Sofort bekam ich ein schlechtes Gewissen. Er feierte seinen dreihundertsten Geburtstag und ich musste ihm alles versauen, indem ich alle aufregte.
„Vergessen wir es!“, sagte ich und umarmte ihn. „Alles Gute zum Geburtstag!“
Anthony war erst noch ein bisschen angespannt, entspannte sich dann aber auch wieder und strich mir über den Rücken. „Danke.“
Ich löste mich aus der Umarmung. „Dreihundert Jahre, was? Wo bleibt denn dein Rollstuhl?“, fragte ich neckisch.
Anthony zog seine Stirn kraus.
„Ja ja, und deine ersten Falten bekommst du auch schon auf deiner Stirn!“
Wir beide lachten auf.
Plötzlich ging die Tür auf und alle verließen lachend – und irgendwie auch über mich lästernd – den Saal.
„Wieso gehen denn plötzlich alle? Habe ich das Beste schon verpasst und alles ist schon zu Ende?“, fragte ich.
„Nein.“ Anthony lachte. „Die gehen alle feiern. Hier wollten wir uns nur alle treffen. Jetzt gehen wir in einen richtig großen Raum, wo wir die Sau rauslassen!“ Es klang witzig, wie er das sagte und ich kicherte.
Zusammen mit Daniel gingen wir den altbewährten Weg hinaus. Die beiden Jungs verstanden sich richtig gut, wie beste Freunde. Ich grinste, als ich die beiden herumalbern sah.
Draußen warteten dann viele Limousinen. Meine Augenbrauen schossen in die Höhe.
„Wer bezahlt das alles eigentlich?“, fragte ich schockiert. Die beiden grinsten aber nur und schoben mich in eine davon.
In der Limousine sah es viel besser aus, als ich es je in Filmen gesehen hab, viel mehr Ausstattung gab es hier drinnen und es war viel luxuriöser. Da Getränkehalter mit teurem Champagner, dort eine überdimensionale Soundanlage, hier weich gepolsterte Sitze und überall Lichter. Verdammt, ich fühlte mich hier richtig fehl am Platz! Zu neu war hier alles für mich. Und zu teuer.
„Wohin geht es denn hin?“, fragte ich und drehte mich zu Daniel, der direkt neben mir saß.
„In eine riesige Partyhalle mit viel Blut und Alkohol!“, antwortete Daniel lachend.
Ich runzelte die Stirn. „Hat Alkohol denn auf uns die gleiche Wirkung wie auf Menschen?“
„Ja schon, nur wir werden nicht so schnell betrunken und wir können von zu vielem Alkohol auch nicht sterben.“ Er lachte laut auf und brüllte dann, als er die Champagnerflasche mit einem lauten „Plopp!“ öffnete: „Wir können so viel trinken wie wir wollen!“
Ich musste lachen. Sie unterschieden sich nicht von normalen, menschlichen Säufern. Also war dieses Leben doch nicht so ganz anders, wie ich es mir vorgestellt hatte.
Daniel war nun so richtig in Partystimmung und auch Anthony strahlte vor Freude über seinen dreihundertsten Geburtstag.
Wir fuhren noch relativ lange, obwohl wir nicht gerade langsam fuhren, ehe die Limousine anhielt. Davor hatten wir schon den Champagner probiert. Ich muss sagen, er schmeckte nicht schlecht.
Hoffentlich mutiere ich nicht zu einer Alkoholikerin!
Anthony und Daniel stiegen als erstes aus und hielten mir die Türe auf. Beim Aussteigen entwich mir der Atem.
„Wow!“
Daniel hatte nicht übertrieben. Die Halle, in der wir Anthonys Geburtstag feiern wollten, war wirklich riesig. Um nicht zu sagen, gewaltig. Hier würde garantiert Hunderte genug Platz finden.
Bereits mehrere Gäste warteten schon draußen auf Anthony und ich spürte, dass noch viel mehr im Gebäude waren und alles noch schnell zurecht legten. Obwohl es nicht mein Geburtstag war und nicht ich ihn heute feiern würde, spürte ich die Vorfreude in mir prickeln.
Ich drehte mich glücklich zu Anthony. Und auf einmal stöckelte eine aufgetakelte Tussi auf Anthony zu. Als sie mich neben ihm sah und dann auch noch das blutrote Kleid an mir, guckte sie verwirrt und irgendwie enttäuscht, lies sich aber nicht beirren.
„Happy Birthday!“, quietschte sie so laut, dass ich glaubte, es klingelte in meinen Ohren. Sie umarmte Anthony, der sie sofort in ihre Arme schloss.
Sogleich überfiel mich das Gefühl von Wut und Eifersucht.
Wieso umarmt er diese Tusse? Ich bin die einzige, die er umarmen soll!
Ich ballte meine Fäuste und war kurz davor zu knurren. Es zu unterdrücken fiel mir schwerer als meinen Durst vor einem Menschen zu unterdrücken.
Endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, die ich kaum aushalten konnte, fiel sie von ihm ab. Ich war mir sicher, die hatte ihn mit Absicht so lange umarmt, nur um mich zu provozieren.
„Wer ist denn deine neue Freundin da? Ich habe sie noch nie gesehen. Ist sie neu dabei?“, fragte sie neugierig und sah mich abschätzend an.
„Milana, darf ich dir vorstellen? Das ist Lissy!“
Nur Anthonys wegen schüttelte ich Lissys Hand. Denn sie gefiel mir nicht. Ganz und gar nicht. Trotzdem sagte ich: „Freut mich!“, um nicht unhöflich zu wirken.
Sie lächelte, aber es wirkte eher wie eine Grimasse, da sie es scheinbar gar nicht freute, mich kennen zu lernen.
Anthony beobachtete das Geschehen kritisch und presste seine Lippen aufeinander. Er merkte, dass wir uns nicht so gut verstanden.
Ich fühlte mich sofort miserabel. Mal wieder tat ich etwas, dass ihm die Laune verdarb. Wieso konnte ich mich nicht einfach mit seiner komischen Freundin anfreunden und sie ehrlich anlächeln, damit er wenigstens dieses Problem nicht hatte?
Wieso wohl? Sie ist eine verdammte Tusse, die es auch nicht besser macht als ich! Sie versucht nicht mal, nett zu schauen!
Trotzdem konnte ich es besser machen. Meine nächsten Gedanken kreisten schon darum, wie ich mich vor ihm kniete und mich entschuldigte, aber Lissy kam mir zuvor. Sie nahm Anthonys Hand und zog ihn zum Gebäude. Außerdem waren bereits auch andere zu Anthony gekommen, um ihm zu gratulieren und liefen nun mit ihm zu dem riesigen Gebäude.
Baff blieb ich dort stehen, wo ich war.
Sie hatte ihn wirklich an die Hand genommen und mit sich mitgezogen.
„Die Feier wird so was von unglaublich! Die wird selbst in den nächsten 300 Jahren niemand vergessen! Wir...“, fing Lissy an. Ich giftete sie währenddessen mit meinen Blicken an, sie merkte aber scheinbar nichts.
„Na na na!“, rief Daniel erschrocken. „Verrat' ihm doch nicht alles!“
Lissy kicherte kindisch, wie es nur solche Tussen konnten, und drehte sich im Gehen nochmal zu mir um, um mir ein gehässiges Grinsen zu schenken. Sie hatte Anthony und sie wollte ihn nur für sich. Und sie würde ihn auf keinen Fall wieder loslassen, nur um ihn mit mir alleine zu lassen.
Ich ballte meine Fäuste. Sorry, Schätzchen, aber da hast du dich mit der Falschen angelegt! Ich muss dich leider enttäuschen, aber du kannst dieses Spiel nicht gewinnen!
Denn gegen meine Starrköpfigkeit kam wirklich niemand an.
Vorerst würde ich ihr ihren Spaß lassen, aber dann würde ich kommen. Und dann konnte sie sich auf etwas gefasst machen!
Als Anthony das Gebäude betrat, fingen alle an zu jubeln und „Happy Birthday!“ zu rufen. Anthony war natürlich vollkommen begeistert und umarmte gleich alle. Wahrscheinlich hatte er bereits alle Sorgen vergessen und freute sich, alle wieder zu treffen. Zwar kannte ich keinen der Vampire, die auf ihn zu strömten und ihn umarmten, aber es machte ihn sichtlich glücklich, alle zu sehen.
Ich lief gleich zur Seite, weil ich zum Einen nicht stören wollte und zum Anderen nicht wollte, dass man mich zwischen den Mengen zerdrückte. Konnte auch nur schlecht für die anderen ausgehen.
Ich staunte als ich mich umsah. Von Innen sah das Gebäude viel größer aus als von Außen. Und die Gestaltung und Dekoration beeindruckte mich nur noch mehr. Trotz des Faktes, dass Gestaltung an einen Partyraum erinnerte, war trotzdem alles schlicht und edel gehalten. Es entsprach alles genau meinen Vorstellungen einer perfekten Raumgestaltung. Ich musste heute noch unbedingt mit den Organisatoren und Dekoratoren der Party reden. Jemand der den gleichen Geschmack hatte wie ich, konnte auch nur sympathisch sein.
Ich schaute wieder zu Anthony. Sein Lächeln in seinem Gesicht zauberte automatisch auch mir ein breites Lächeln und gleichzeitig durchfuhr mich ein heftiges Glücksgefühl. Und das nur weil er lächelte. Irgendetwas stimmte nicht mit mir. Zeit um zum Psychiater zu gehen.
Direkt an seiner rechten Seite sah ich Lissy, die sich an seinen Arm krallte. Sie schmiegte sich an ihn und begrüßte mit ihm die Gäste.
Das war doch widerlich! Wie sie ihm nicht von der Seite wich und so tat, als wären sie zusammen.
Ich knurrte leise. Schlampe!
Doch was wäre, wenn sie wirklich zusammen waren? Ihr Verhalten wies schon darauf hin. Einfach jede ihrer Bewegungen und ihre verliebte und anhängliche Art. Meine Stimmung änderte sich schlagartig.
Aber hätte Anthony es mir dann nicht gesagt? Das hätte er doch erwähnen müssen! Die beiden konnten einfach nicht zusammen sein, da er mich doch geküsst hatte!
Allerdings konnte das sehr wohl sein. Vielleicht war er einfach nur ein Playboy, der nur machte, was er wollte?
Nein, das konnte einfach nicht der Anthony sein, den ich kannte. Mein Anthony war ganz anders!
Ich konnte einfach nicht anders, als mir darüber den Kopf zu zerbrechen. Denn in diesem Moment schien es mir, als ob mein gesamtes Leben davon abhing.
Schlussendlich – es waren mehrere Minuten vergangen und Anthony hatte bereits alle begrüßt – entschied ich mich, ihn später danach zu fragen, aber bis dahin würde ich mich amüsieren und Spaß haben. Mit vielen traurigen Gedanken, die ich nicht ausschließen konnte.
Das nächste Mal musste mich mein Leben unbedingt vorwarnen, wenn ich mich verlieben sollte. Auf so viel Stress sollte man vorbereitet sein.
Es wurde an dem Tag gar nicht mehr langweilig. Ständig machten wir irgendwas. Auch Clas hatte seinen Spaß am Feiern. Nur Marx war wie immer irgendwie komplett daneben drauf.
Zur Feier des Tages veranstalteten die Vampire ein Trinkspiel – und zwar gleich am Anfang.
Auch wenn wir genug Alkohol hatten, machten sie das Trinkspiel mit Blut, denn davon hatten sie nur noch mehr.
Anthony musste natürlich mitmachen und ein paar enge Freunde und andere, die ich alle noch nie gesehen hatte, machten auch mit. Zwar gewann Anthony nicht, aber es war sehr knapp für ihn gewesen.
Als er danach blutverschmiert auf mich zu lief und nicht zu Lissy, fing ich laut an zu lachen und konnte mich lange nicht mehr einkriegen. Wie konnte ich auch jemals mit dem Lachen aufhören, wenn ich ihren enttäuschten und wütenden Gesichtsausdruck dabei gesehen hatte? So wie es aussah, gewann ich diese Schlacht, bevor ich überhaupt zu kämpfen begonnen hatte.
Anthony dachte, ich lachte ihn über sein Aussehen aus, was ich zum Teil auch tat und das war auch gut so. Denn ich wollte ihn nicht enttäuschen. Vor allem heute nicht.
Trotzig antwortete er nach meinem Lachflash: „Ich wünschte du hättest mitgemacht, denn dann hätte ich dich nämlich so was von ausgelacht!“
Darauf antwortete sogleich Daniel mit: „Haha! Ja, und unser kleines hungriges Monster hätte mit Sicherheit gewonnen!«
„Weil das meiste bei ihr sowieso daneben gegangenen wäre!“ Anthony lachte laut los und hielt sich dabei den Bauch.
Ich schüttelte Augen verdrehend den Kopf. Doch dann musste ich doch grinsen.
Stimmte das etwa? Aß beziehungsweise trank ich immer so? So unwahrscheinlich war es aber auch nicht, denn als Mensch hatte ich auch nicht richtig essen können, immer ging irgendetwas daneben.
Daniel brach gleichzeitig mit Anthony in Lachen aus. Viele andere unterdrückten sich jedoch ein Lachen, pressten kichernd die Lippen aufeinander.
Um ehrlich zu sein: Ich hatte auch mitmachen wollen, allerdings wollte ich mein neues rotes Kleid nicht bekleckern. Und mich nicht zum Affen machen, denn sobald ich bei einem Wettstreit mitmachte, wurde ich zum Tier, einem Tier, das alles aufs Gewinnen setzte. Der Fakt, dass es hier auch noch um Blut ging, machte alles auch nicht besser.
Wenn ich schon von meinem neuen roten Kleid sprach. Ich war neben Anthony der Mittelpunkt der Party, da ich als einzige ein nicht schwarzes Kleidungsstück trug. Denn auch die anderen, die nicht zu Clas Truppe gehörten, trugen schwarz, wahrscheinlich um sich anzupassen oder weil sie es sonst auch so taten. Jedenfalls weil sie hobbylos waren.
Zwar gab es ein paar Mutige, die bunte Armbänder, Ketten, Ringe oder dünne bunte Streifen an der Kleidung hatten, aber niemand von denen war mindestens ein Gespräch wert.
Ganz im Gegensatz zu mir. Überall wo ich vorbeilief, fingen die Leute an zu tuscheln. Zwar war da meist nichts Nettes dabei oder irgendwas Perverses, aber ich hatte von allen Respekt bekommen, das sie mehr oder weniger zeigten, wenn auch nicht direkt. Und das merkte ich ganz einfach daran, weil ich schon immer Gespür dafür gehabt hatte, Leute zu durchschauen. Vielleicht gehörte das ja auch zu meinen Gaben? Ich lachte leise auf. Die Idee ist nicht schlecht, muss ich irgendwann mal unter die Probe stellen.
Der Tag wurde immer lustiger und das lag nicht nur am Alkohol, der hier reichlich verteilt wurde, obwohl es immer noch erst Vormittag war. Ja, auch ich hatte etwas getrunken, aber ich hütete mich davor, mehr zu trinken, denn es würde nicht nur peinlich für mich werden, wenn über die Tanzfläche torkeln würde. Es wäre auch sehr gefährlich für die Menschen in der Umgebung, wenn ein betrunkener, junger Vampir Amok laufen würde.
Ich nippte an meinem Cocktail – ein bisschen durfte ich doch trinken, ich war ja nicht einmal angetrunken – und hörte Marie zu, wie sie mir von der Organisation und Dekoration des Raumes erzählte. Sie hatte es ganz alleine einrichten lassen und ich war beeindruckt. Ihre schulterlangen braunen Lockenhaare wippten jedes Mal hoch und runter, sobald sie anfing zu lachen. Um ehrlich zu sein, fand ich sie echt hübsch mit ihren braunen Augen, der geraden Nase und den schmalen Lippen.
Wie ich vermutet hatte, war sie sympathisch, da sie den gleichen Geschmack besaß wie ich. Sehr sympathisch sogar. Zwar ging sie mir langsam mit ihrem Gelaber auf die Nerven, aber ich mochte sie zu sehr, um jetzt von ihr weg zu gehen oder ihr zu sagen, sie sollte einfach die Klappe halten.
Ich merkte, wie sich meine Gedanken im Laufe meines neuen Lebens irgendwie verändert hatten. Früher hatte ich nicht einmal den Gedanken gehabt, jemandem die Klappe zu schließen, jemandem den ich und der mich mochte. Jetzt kam mir der Gedanke viel zu schnell.
Ich schielte rüber zu Anthony, der gerade ein weiteres Spiel überstanden hatte.
In dem Spiel ging darum, sein Geburtstagsgeschenk zu suchen und das mit seiner Nase – nach einem Geschenk, das man irgendwo im Wald versteckt hatte. Und damit ihm das Suchen etwas leichter fiel, hatte man das Geschenk zuerst mit Parfüm voll gesprüht.
Abgesehen davon, dass die Hälfte der Gäste mitgekommen war, um die Überraschung zu sehen, war auch ich mitgekommen. Auch wenn er Lissy als Unterstützung hatte – die sich immer noch nicht von ihm lösen wollte wie hartnäckiger Sekundenkleber – war ich trotzdem mitgegangen, da ich Angst hatte, er würde sich Sorgen um mich machen, da ich mich von allem abschottete. Sehr wahrscheinlich war dieser Gedanke nicht, da er immerhin sehr beschäftigt mit den anderen Gästen war, aber ich erlaubte es mir, daran zu glauben.
Das Geschenk war ein neuer Porsche gewesen. Damit war er der Erste von Clas Truppe, abgesehen von Clas, Marx und Somala natürlich, der sein eigenes Auto besaß.
Anthony war völlig außer sich gewesen, als er im Waldboden einen nach Parfüm stinkenden Autoschlüssel fand. Ich hatte selten erlebt, wie er vor Freude fast explodierte und das hatte er in dem Moment. Vor Freude hätte er sogar am liebsten jemanden erdrückt. Ich hatte es am eigenen Leib erfahren. Die komischen Blicke, die man uns dabei zuwarf, als er mich energisch umarmte, auch.
Obwohl Anthony langsam sichtlich genug von ihr hatte, klammerte sich Lissy immer noch an ihn. Dann wird es mal langsam Zeit, dass der Kampf so richtig beginnt, dachte ich, verabschiedete mich schnell von Marie, die verwirrt aufblickte und lief auf die Beiden zu.
Genau in dem Moment lief ein Lied auf der DJ-Anlage, das Anthony sehr mochte. Er hatte es mir irgendwann einmal erzählt, dass es zu seinen Lieblingsliedern gehörte und nun nutzte ich es für meine Zwecke aus.
Ich schnappte ihn an dem Arm, an dem sich die brünette Tusse namens Lissy nicht festklammerte und zog ihn mit mir auf die mittlerweile volle Tanzfläche. Als ich zurück sah, sah ich in Lissys entsetztes Gesicht. Ich grinste fies.
Ja, so lässt es sich gut leben!
„Wieso grinst du denn so fies?“, fragte Anthony irritiert.
Ich seufzte lächelnd. Jungs hatten schon immer Probleme mit Blicken gehabt. Nie konnten sie die verständlichsten Blicke deuten! Was hier glücklicherweise zu meinem Vorteil war.
Als ich auf der Tanzfläche einen guten Platz fand, fing an zu tanzen, aber nicht ohne Anthonys Hand loszulassen.
„Komm schon!“, forderte ich ihn auf und schubste ihn leicht, damit er sich endlich etwas bewegte. „Was ist schon ein Geburtstag, ohne das man zu seinem Lieblingslied tanzt?“
Er lachte auf. „Wie viel hast du schon getrunken? Du solltest lieber deine Finger vom Alkohol lassen!“
Lachend schlug ich ihm auf den Arm. „Erstens: Ich bin höchstens angetrunken, wenn überhaupt! Und Zweitens: Ich hab viel weniger getrunken als du, also würde ich es eher dir empfehlen, die Finger vom Alkohol zu lassen!“ Ich versuchte ihn streng anzugucken, aber ich musste sogleich loslachen.
Plötzlich ergriff Anthony meine andere Hand und fing an mit mir zu tanzen. Es war ein schnelles Lied und es dauerte kurz bis ich mich seinem Rhythmus angepasst habe.
Irritiert blickte ich zu ihm auf, denn vor einigen Augenblicken sah es gar nicht so aus, als ob er tanzen wollte. Und ich hatte ihn übrigens den ganzen halben Tag nicht tanzen sehen.
„Was ist schon ein Geburtstag, ohne das man zu seinem Lieblingslied tanzt?“, wiederholte er meine Worte und ich musste lächeln.
Wir tanzten und lachten und ich fühlte mich so richtig wohl. Aber das lag nicht nur daran, dass wir unter scharfer Beobachtung von der eifersüchtigen Lissy. Sondern einfach nur an Anthony.
Ich lachte die ganze Zeit, bis das Lied zu Ende ging. Dann wurde ich schlagartig irgendwie etwas traurig, denn nun war dieses Lied vorbei. Trotzdem lachte ich noch mit ihm mit.
Sobald die letzten Töne von dem Lied erklangen, fing ein langsameres Lied an mit einem tiefen Bass im Hintergrund. Ich wusste, dass ich das Lied von irgendwoher kannte, aber mir fiel der Name nicht ein.
Ich schaute zum DJ. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass er es für uns beide eingelegt hatte und sein Blick sprach Bände.
Ein Lächeln stahl sich über mein Gesicht, als ich daran denken musste, dass ich mit Anthony jetzt tanzen würde. Und zwar richtig, nicht einfach so wie man es in einer Disko tat, sondern wir würden zusammen einen Paartanz tanzen. Von meinem Bauch breitete sich ein angenehmes Kribbeln über meinen gesamten Körper aus.
Anthony legte gerade eine Hand um meine Hüfte, als Lissy wütend herstöckelte. Mit einer Hand schubste sie mich von ihm weg, sodass ich auf meinen Hintern fiel, und nahm dann meine Position ein.
Ich war als allererstes schockiert über diese kuriose Situation. Doch die wandelte sich schnell in Wut um.
Was bist du nur für ein Miststück? Ich knurrte.
Sie hatte meinen perfekten Moment mit Anthony zerstört! Alles war in diesem Moment perfekt gewesen, wirklich alles! Zum ersten Mal hatte mein Gehirn für kurze Zeit akzeptiert, das ich unsterblich verliebt war – und dann kam Lissy!
Ich richtete mich schnell auf und riss Lissy von dem erstarrten Anthony weg, der gar nichts mehr verstehen konnte. Meine Hände hielten sie am Kragen ihres Kleides hoch, sodass ihre Füße in der Luft baumelten. Dann warf ich sie wütend meterweit von mir weg, ehe sie gegen einen großen Glastisch prallte, der sofort in der Mitte durch zerbarst. Ein lautes, klirrendes Geräusch ging durch den ganzen Saal.
Es war still geworden im Raum, selbst die Musik war abgestellt worden, aber das bemerkte ich nur nebensächlich.
Ich wünschte du könntest dir etwas brechen oder dich an dem Glas schneiden, du Missgeburt!
Ich zog meine Oberlippe hoch, damit sie meine Zähne sehen konnte. Scharf blitzten sie im Dämmerlicht des Partysaales auf.
In dem Moment schaltete ich von Mensch auf Raubtier. Mein Gehirn gehörte nicht mehr mir und konnte meinen Körper nicht mehr kontrollieren, in meinem Kopf saß nun die Ausgeburt eines Raubtiers, das mich steuerte.
Meine Beute!, knurrte mein Innerstes und ich schaute zu Anthony.
Feind! Mein Blick fiel auf Lissy. In meinen Augen spiegelte sich das Raubtier wieder, das ich zu diesem Zeitpunkt war.
Wieder starrten alle Augenpaare zu mir, aber das war ich mittlerweile gewöhnt. Auch wenn es diesmal zehnmal mehr Augenpaare waren. Ich knurrte wieder laut. Feinde!
Lissy richtete sich ruckartig aus dem Scherbenhaufen auf und wollte mir an die Gurgel gehen, als Clas warnend sagte: „Melissa.“
Das reichte wohl schon aus, um Lissy davon abzuhalten. Sie holte kurz Luft, dann nahmen ihre Augen wieder eine normale Augenfarbe an. Trotzdem konnte man in ihren Augen noch die Wut aufblitzen sehen.
Also, wenn sie schon so schnell aufgibt, dann würde ich mal sagen, ich habe gewonnen.
Halb Tier, halb Mensch lachte ich auf. Der Klang meines Lachens hörte sich seltsam an.
Aber diese Art von Sieg wollte mir nicht reichen. Nein, niemals. Ich wollte lieber noch ein bisschen kämpfen. Und sie dabei vielleicht ins Grab befördern.
Wieder lachte ich unmenschlich auf.
Clas, der nun mein Vorhaben zu bemerken schien, sagte nun auch meinen Namen, damit ich es sein lies. Aber ich lies nur belustigt die Luft aus meinem Mund pfeifen.
„Was? Du sagst meinen Namen und ich soll angepfiffen kommen? Willst du es dir etwa so einfach machen?“ Meine Stimme klang ganz anders, als ich sie in Erinnerung gehabt hatte. Das Tier in mir übernahm mir nun das Sprechen.
„Hör mir mal gut zu, denn ich habe es bereits schon ein Mal gesagt: Es soll dich nicht jeder behandeln wie einen Gott und ich werde es garantiert nicht tun. Und außerdem habe ich überhaupt keine Lust dir zu dienen für gar nichts!“
Anthony zog neben mir scharf die Luft ein, wie viel andere. Aber die meisten waren wohl viel zu geschockt, um überhaupt etwas zu tun, als mich regungslos anzustarren.
In Clas Gesicht regte sich kein Muskel, jedoch merkte ich wie er vor Wut leicht zitterte.
Marx beachtete mich wie immer mit seinem Blick, mit dem er mich am liebsten umbringen würde – aber nicht ohne mich vorher zu quälen. Somala schaute einfach nur wie eine überaus enttäuschte Mutter.
Aber das ging mir wortwörtlich am Arsch vorbei, denn ich war kein Mensch und hatte kein Gewissen. Ich war ein Tier.
Nachdem Clas ein paar Mal ein- und ausatmete und etwas ruhiger wurde, fasste er ein paar Worte. Doch kaum konnte er etwas sagen, da griff ich Lissy an. Sie war gar nicht darauf vorbereitet gewesen und fiel durch die Wucht zu Boden. Ich fing an, auf sie einzuschlagen und bereitete mich geistig darauf vor, ihr den Kopf vom Rumpf zu trennen.
Sofort warfen sich andere Vampire auf mich, um mich von ihr wegzuziehen, um mich davon abzuhalten, sie umzubringen. Aber Daniel und dem Training sei Dank waren sie kaum dass ich sie angefasst hatte schon von mir besiegt.
Zu schnell fielen sie auf den Boden. Viel zu schnell. Entweder waren sie zu schwach und untrainiert gewesen oder sie haben mich für gar nicht so stark gehalten. Oder Daniel hatte viel zu gute Tricks auf Lager, die er mir glücklicherweise beigebracht hatte.
So oder so, ich war die Stärkste und ich fühlte mich dadurch mächtig. Unbesiegbar. Das Gefühl von Stärke und Macht durchflutete mich und ich fühlte mich nochmal doppelt so stark.
Im völligen Rausch wollte ich mich wieder Lissy zuwenden, als jemand wirklich Großes und Starkes mich auf dem Boden warf. Ich fiel mit meinem Gesicht auf den Boden und stöhnte laut auf, als mein Gegner mit seinem Knie in meinen Rücken drückte, während er meine Arme in einer schmerzliche Position hielt. Gleichzeitig aber waren zwei Hände um meinen Kopf gelegt, bereit ihn mir abzureißen.
„Soll ich?“, fragte der tiefe Bass auf mir.
Ich versuchte mich etwas zu bewegen. Meine Hände oder meine Beine. Es war zwecklos. Das Gefühl der Stärke und Macht war gewichen. Stattdessen fühlte ich mich jetzt so wie immer. Schwach. Und hungrig.
Leicht drehte ich mein Gesicht zu Clas, insofern es mir die Hände erlaubten.
Clas nickte kaum merklich.
Scheiße!
Das war dann wohl mein Ende. Mein endgültiges Ende.
Ich hätte niemals gedacht, dass ich so schnell sterben würde. Im jungen Alter von 15 Jahren. Und als Vampir. Ich war ja eigentlich schon tot. Aber das würde jetzt das endgültige Aus für mich bedeuten. Für immer.
Ich hätte auch niemals gedacht, dass ich sterben würde aufgrund einer Prügelei auf einer Party. Ein verirrtes Lachen kam aus meiner Kehle. Ja, so konnte man es ja auch nennen. Nur eine Prügelei auf einer ganz normalen Party. So klang es menschlicher.
Das ich – ein kleines süßes Mädchen – auf diese Weise sterben würde, hätte wohl niemand gedacht. Weder meine Mitschüler, die mich von meiner frechen Seite gut kannten, noch die Lehrer, die in mir eine Musterschülerin sahen, noch die alten Omis, die nichts besseres zu tun hatten, als mir in die Wange zu kneifen. Meine Eltern würden natürlich nicht mal daran denken können. Ich war doch ihr kleines fünfzehnjähriges Baby.
Ja, es war mir schon immer klar gewesen, dass ich nicht ganz dicht war, aber jetzt hatte ich es endgültig allen bewiesen. Ich war eindeutig zu weit gegangen. Ich hatte den König der Vampire provoziert bis zum Gehtnichtmehr, wie es nur Selbstmörder taten. Und dass, obwohl ich schon durch mein des öfter auftretenden schlechten Verhaltens bei ihm verhasst war – von meiner Gabe, die ihn ja um so viel bereicherte, mal abgesehen.
Ich drehte meinen Kopf leicht und erblickte Anthony.
Ja, ich hätte abhauen können, wenn ich wollte, aber wegen ihm war ich geblieben. Ich brauchte mir nicht weiter einzureden, dass ich es nur wegen seines Geburtstags nicht tun wollte und weil ich ihn nicht enttäuschen wollte. Ich hätte jetzt vielleicht schon wieder zu Hause sein können, aber ich war trotzdem noch hier. Weil ich ihn nicht verlassen wollte und konnte. Weil ich ihn liebte.
Ich wollte, dass er an seinem dreihundertsten Geburtstag nicht traurig war, nur weil ich nicht mehr da wäre. Aber es wäre besser gewesen, wenn ich gar nicht erst gekommen wäre. Dann hätte ich ihm das Leid mit mir erspart.
Er hätte es so verdient, einen tollen Geburtstag zu feiern, aber ich hatte es ihm gleich mehrmals versaut. Und das Allerbeste kam dann eben auch noch zum Schluss.
Es tat mir wirklich so Leid für ihn, dass alles so kommen musste. An seinem sensationellem dreihundertsten Geburtstag. Aber es hatte immerhin einen klitzekleinen Vorteil, dass ich genau jetzt, genau so starb: Wäre ich heute morgen noch von der Burg gegangen und abgehauen, hätte er immer an das kleine Mädchen gedacht, das weggelaufen war und er würde mich irgendwann vergessen. So aber dachte er aber immer an die Verrückte, die seinen sensationellen dreihundertsten Geburtstag, an dem eigentlich alles perfekt laufen sollte, zerstört hatte. Nein, so würde er mich garantiert nie vergessen. Ich lächelte leicht.
Ich dachte an meine Familie. Nein, jetzt würden sie mich garantiert nie wieder sehen. Vielleicht aber doch, nach vielleicht fünfzig Jahren im Himmel?
Ach was, als ob ich je in den Himmel kommen würde.
Nach all dem, was ich getan hatte. Nach all den Menschen, deren Leben ich genommen hatte. Sie würden in den Himmel kommen. Ich aber würde dem Teufel Konkurrenz machen oder ihn so lange nerven, bis selbst er mich von da rauswerfen würde. Wo würde ich dann landen?
Es tut mir so Leid!, dachte ich und hoffte, alle, an die es kommen sollte, also meine Familie und auch Anthony, würden es irgendwie hören. Was Schwachsinn war. Aber Vampire hielt ich für bis vor drei Monaten auch für Schwachsinn.
Wie schnell sich das Leben verändern kann!, dachte ich noch, bevor ich einen starken Schmerz im Nacken verspürte, es reißen hörte und wusste, dass es aus mit mir war. Mein letzter Gedanke, bevor alles schwarz wurde.
Zuerst muss ich sagen: Danke fürs Lesen.
Zweitens:
Weil Bookrix immer länger braucht, die Kapitel zu laden, je mehr hinzu kommen, habe ich bei Kapitel 18 einen Schlussstrich (wegen der Erzählhandlung) gezogen und ein zweites Band angefangen, wo es mit den Kapiteln nun weitergeht.
Also wenn es dir gefallen hat und du unbedingt wissen willst, wie es mit Catalina beziehungsweise Milana weitergeht, hier der Link zum zweiten Band:
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Über ein ehrliches Feedback würde ich mich außerdem auch freuen ^-^
♥
Texte: © elyn, 2015. Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved.
Tag der Veröffentlichung: 27.10.2014
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