»Eden!«, schrie Mrs. Loid die Treppe hinauf. »Eden, verdammt! Steh auf!« Mit Mühe hievte sich das Mädchen mit den kastanienbraunen Haaren aus dem Bett. Schnell rieb sie sich den Schlaf aus den Augen und sammelte ihren kompletten Kleiderschrank vom Boden auf, sah sich schnell nach etwas um, das sie anziehen könnte. Eden hasste den Morgen. Sie hasste die Kopfschmerzen, sie hasste das Aufwachen, sie hasste es, überhaupt aus dem Bett zu steigen. Auf dem Flur machte sie an einem kleinen Wandspiegel halt, zupfte mit gerümpfter Nase in ihrem Haar herum, und lief schnurstracks zum Badezimmer weiter. »Oh, Gott, Amy!« fluchte sie aufgebracht. »Wie lange blockierst du das Bad schon?!« Aus dem Badezimmer ertönte spöttisches Gelächter und das Plätschern im Waschbecken. »Amy!« brüllte sie. »Komm raus!« Langsam schloss Eden die Augen und atmete tief durch. »Komm ... raus!«
Mit einem Mal öffnete sich die Tür. Ein halbnacktes Mädchen mit langem, lockigem Haar erschien hinter ihr. Willenlos bewegte sie sich vorwärts und landete ein paar Sekunden später erschöpft auf den Knien. Verwirrt sah das Mädchen sich um. Ihr Gesichtsausdruck verdüsterte sich, als sie sah, wie Eden die Türklinke schon in der Hand hielt und sie schelmisch angrinste. »Mom!« kreischte das blonde Mädchen wütend, »Eden hat schon wieder ihre Hexenkräfte benutzt um mich zu verarschen!«
Schon wieder zu spät, dachte sich Eden, als sie eine halbe Stunde später auf dem Weg zur Schule war. Ein mulmiges Gefühl stieg in ihr auf als der Umriss der Schule sich vor ihren Augen hochzog. Schnell zückte sie ihr Handy. 9 Uhr! Mr. Richards würde sie umbringen. Diesmal sicherlich! Hustend und keuchend stürmte sie in die Eingangshalle und an eine Masse aus Fünftklässlern vorbei, die fröhlich traschten und lachten. Wieso musste der Musikraum auch im obersten Stock sein? Ein paar Mal rempelte sie Schüler an, die zischend herumfuhren und ihr etwas unschönes nachriefen. Korridor 1, Korridor 2, Korridor 3 ... Ein Knall. Dann fiel sie zurück, landete heftig auf ihrem Hintern und spürte, wie Blut in ihre Wangen schoss. Bitte nicht, dachte sie, nicht am ersten Tag nach den Ferien. Als sie aufblickte, schaute sie in das verwirrte Gesicht eines Jungen, der im Gegensatz zu ihr noch auf beiden Beinen stand. Grinsend streckte er seine Hand zu ihr aus. Sie nahm sie dankend an und strich sich ein paar lockige Strähnen aus dem Gesicht. »Was für eine stürmische Begrüßung.« merkte der Junge an. Erst als sie stand merkte Eden, wie groß er war. Fast 2 Meter groß, vielleicht. Er trug Sneakers und ein altes Pink Floyd-Shirt. Sein Haar war kurz und dunkel, seine Augen kristallblau. Eden spürte, wie sie rot wurde und versuchte ihr Gesicht in ihrem Schal zu verstecken. »Ehm ... sorry.« stammelte sie nervös. Er nickte. »Da du schon mal hier bist ... Weißt du, wo Raum 204 ist? Ich bin neu.« fragte er. Erst jetzt bemerkte Eden, dass er eine Karte der Schule in der Hand hielt. »Ja, da geh ich auch gerade hin. Ist aber schon ziemlich spät.« sagte Eden und lächelte ihn unbeholfen an. Dann drehte sie sich um und begann in Richtung Treppenhaus zu stapfen.
»Vielen Dank.« sagte der Junge. »Übrigens, mein Name ist Adam.«
Eden schaute auf ihre Armbanduhr. Fast 2 Uhr. Erschöpft seufzte sie auf. Nur noch die Mittagspause und zwei weitere Stunden Philosophie bei Mr. Heatherfield, dann würde sie erlöst sein. Gelächter, Musik, Menschen, die sich um den Hals fielen und Menschen, die sich miteinander unterhielten. Und dann war da noch Eden, die ganz hinten in der Caféteria saß und lustlos in ihrem Kaffee rumrührte. Es war ihr schon immer schwergefallen, Freunde zu finden oder sich gar mit Menschen ihres Alters auszutauschen. Meist war es so, dass Eden irgendetwas tat, das sie verschreckte, oder plötzlich ihre Gedanken las und Dinge in den Menschen entdeckte, die sie lieber nicht gewusst hätte. Adam. Seit diesem Morgen erschien sein Gesicht immer wieder in ihren Gedanken. Das war kein Verliebtsein, eher eine Art Faszination. Ja, Eden mochte es nicht, sich zu verlieben. Sie vermied es fast. Das hieß nicht, dass sie nicht schon mal eine Beziehung gehabt hätte. Hatte sie schon, nur endete die Beziehung katastrophal. Ihr Freund damals hieß Kevin. Er war lange Zeit lang ihr Nachbar gewesen, und irgendwie sind sie dann schließlich zusammengekommen. Er war ein ziemlicher Nerd und roch immer nach Handcreme, und Eden mochte ihn noch nicht mal wirklich. Aber irgendwie dachte sie, dass es normal für ein Mädchen ihres Alters wäre, sich mal mit Jungen zu treffen. Sie hoffte jedenfalls, dass sie dadurch normal sein könnte. Stattdessen manipulierte sie den armen Typen Tag für Tag, nutzte ihn aus, um Dinge für sie zu erledigen. Kevin bekam das Ganze zwar nicht wirklich mit, trotzdem fühlte sich Eden letztendlich so schlecht, dass sie mit ihm Schluss machte, bevor es eskalierte.
Plötzlich fühlte sie eine Hand auf ihrer Schulter und fuhr erschrocken herum. Vor ihr stand ein Mädchen, doppelt so groß wie sie - sie hätte ein Model sein können - mit einem Tablett in der Hand und einem ziemlich genervten Gesichtsausdruck. Eden kannte sie irgendwo her. Ach ja, sie war im Jahrbuch das Mädchen mit dem schönsten Lächeln, das Mädchen mit den glänzensten Haaren und, ach - das bestgekleideste Mädchen! Emerald Rick. »Können wir hier sitzen? Du isst doch nichts, oder?« Eden schüttelte den Kopf und sprang auf um den Mädchen, die Emerald folgten, Platz zu machen. Emerald schaute ihr nach.
Nun blieb ihr nichts anderes übrig, als vor den Mädchentoiletten ihr Sandwich zu sich zu nehmen. Nun ja, immerhin war es dort nicht so laut und stickig, tröstete sie sich selbst. Zufrieden biss sie von ihrem Sandwich ab und steckte sich den Ohrstöpsel ihres iPods in die Ohren. Zu den leisen Klängen von Radiohead saß sie nun dort, im dunklen Flur, und verfolgte Lichtflecken an der Wand mit ihren Augen.
»Eden? So heißt du doch, oder?« Eden zuckte zusammen, als eine dunkle Stimme nach ihr fragte. Ein riesiger Typ stand vor ihr und musterte sie belustigt. »Oh, Adam.« bemerkte Eden und zog sich beide Ohrstöpsel aus den Ohren. »Hab dich gar nicht bemerkt.«
»Wieso bist du nicht bei den Anderen?« wollte er wissen. Sein Blick hing an ihrer Hand und dem Sandwich fest.
»Ich bin nicht gern unter Menschen.« gab sie zu und grinste unbeholfen. Er lächelte sie freundlich an und kniete sich zu ihr hin.
»Magst du es, allein zu sein?« Sie schüttelte den Kopf.
»Nicht unbedingt. Aber irgendwie fühlt es sich so an, als wäre ich dazu bestimmt.« witzelte sie, dann verschwand ihr selbstironisches Lächeln. Sie versuchte Adams Blicken auszuweichen. Einen Moment lang hockten sie so dort ohne etwas zu sagen, dann ließ sich Adam neben ihr nieder.
»Niemand ist dazu bestimmt, allein zu sein.«, sagte er. Dann griff er nach ihrem iPod.
»Cool, ich liebe Radiohead.«
»Eden ist verliebt! Eden ist verliiiiiebt!« flötete Amy, als die gesamte Familie Loid zusammen am Mittagstisch saß. Edens Vater, ein durchaus berühmter Polizist, verdrehte die Augen. »Bin ich nicht. Er ist nur ziemlich nett. Und wir gehen morgen ins Kino. Das ist alles.« stellte Eden klar und schob sich ein Stück Kuchen in den Mund. Mrs. Loid beobachtete ihre Tochter besorgt. »Eden, dir ist klar, dass das gefährlich sein kann, oder?« Eden ließ ihre Gabel sinken und schaute ihre Mutter verärgert an. »Mom, ich hatte 16 Jahre lang keinen richtigen Freund. Keine Bezugsperson, niemanden. Und du ... du machst dir Sorgen um so was?« Mrs. Loid seufzte und schüttelte den Kopf. »Nein, Schatz, das habe ich nicht gesagt, aber ...« Aufgebracht stand Eden auf und verließ das Zimmer. Ein Türknallen hallte von oben durch das ganze Haus.
»Gut gemacht, Mom.« sagte Amy.
»Ich muss einkaufen gehen. Was brauchen wir alles noch? Mehl ... Milch ...«
»Dieses verfluchte Arschloch! Lässt mich hier alleine sitzen ...«
»Wenn Mom nach hause kommt bin ich erledigt ... Shit! ... «
»Ich fühl mich so alleine heute. Ich wünschte einfach, ich hätte jemanden, der hier wäre, um meine Hand zu halten.«
Edens Kopf fühlte sich an, als wäre er kurz davor, zu zerplatzen. Immer wieder waren diese Stimmen. Die Gedanken von Menschen, die gerade an ihrem Haus vorbeigingen. Hört auf zu denken!, dachte sie. Hört auf! Schluchzend hielt sich Eden den Kopf und sank zu Boden.
»Eden ... Loid .. Eden .. Loid .. Loid«
Erschrocken riss Eden ihre Augen auf und lehnte sich aus dem Fenster. Jemand dachte an sie. Eine dunkle Männerstimme. Da, ein paar Meter weit von ihrem Haus entfernt, stand ein großer Mann, in schwarze Kleidung gehüllt, der immer wieder zu ihrem Fenster hinaufblickte.
»Schattenkind.«
»Sorry. Ich hab dich lange warten lassen.« entschuldigte Eden, als sie am nächsten Abend zusammen mit Adam über den Markt streifte. »Schon gut. Ich meine, wir haben zwar den Film verpasst, aber was soll's. Immerhin bist du jetzt da.« Er lächelte sie charmant and. Verlegen schaute Eden zur Seite. Auf einmal griff Adam nach ihrer Hand und zog sich hinter sich her. Ohne Eden Zeit zum Nachfragen zu lassen, sagte er schnell: »Eis!« Hinter einer Menge kleiner Marktstände war ein kleiner, schöner Eiswagen versteckt. Sofort ertönte die vertraute Melodie des Eiswagens. Damals war Eden gern mit ihrem Vater Eis essen gegangen. Sie hatte immer die Melodie mitgesummt, die er gerade gespielt hatte. Ein Grinsen erschien auf ihrem Lippen, als Adam stehenblieb und sie fragend anblickte. »Zitrone.« sagte sie schnell, und Adam verstand sofort. Der kleine Italiener hinter der Theke blickte die beiden verärgert an. »Tut mir leid, aber wir schließen.« Adam verzog das Gesicht. »Was, aber ...« »Ich sagte; wir schließen.« brummte der Italiener wieder. Enttäuscht trat Adam zurück und zog die Schultern hoch. »Na, dann ... Ich hatte mir nur gewünscht, dass ich dir zumindest ein kleines Eis hätte bieten können.« Eden schaute den Besitzer des Wagens an. Eine kleine Stimme in ihr sagte ihr, dass sie es sein lassen sollte. Es waren zu viele Menschen hier, und es würde auffallen. Aber das hier war ihre erste Verabredung mit Adam, und obwohl es nicht viel war, wollte sie zumindest ein Eis mit ihm essen. »Du gibst uns jetzt ein Eis.« sagte sie. Ihr Schädel brummte, ihre Augen waren auf die des Italieners gerichtet. Dieser schaute erst verwundert aus. Dann war sein Gesicht wie versteinert, eine emotionslose Fratze, die willig nickte und zwei Becher Eis auf die Theke stellte. Blitzschnell griff Eden sich die Becher, nahm Adam an die Hand und lief mit ihm zum Strand hinunter. »Was zur ... «, murmelte der Italiener. Als er sich umsah, waren die beiden schon verschwunden.
Der Mond spiegelte sich im Wasser des Meeres. Keuchend ließen sich die beiden in den Sand fallen. Adam lachte auf. »So was wie dich hab ich echt noch nie erlebt. Erst lässt du mich in der Hitze sitzen, dann entführst du mich, und ...« er verschluckte sich kurz und fing an füchterlich zu husten, was Eden zum Lachen brachte. Sie reichte ihm seinen Becher. Verblüfft schaute er sie an. »Wie hast du das denn geschafft?« »Weibliche Überredungskunst.« grinste sie und steckte sich einen Löffel voll Zitroneneis in den Mund. »Und, wie geht es jetzt weiter?« wollte Eden wissen. »In amerikanischen Teenieromanzen würden sich das Mädchen und der Junge jetzt küssen und sich schwören, für immer zusammen zu bleiben.« antwortete Adam sarkastisch. »Und dann stürzte ein Komet vom Himmel und begrab Julia und Romeo unter sich.« Ein Moment lang herrschte Schweigen. »Hab ich die Stimmung schon wieder ruiniert?« fragte sie. Ihre Wangen glühten. Adam schüttelte den Kopf. »Ich denke nur darüber nach, wie anders du bist und wie sehr mich das fasziniert.«
»Danke für den tollen Abend.« bedankte sich Eden auf dem Heimweg. »Danke für das tolle Eis.« sagte Adam. »Ich bin fast neidisch auf deine weibliche Überredungskunst.« Ein mulmiges Gefühl stieg in Eden auf. »Wenn du wüsstest, was die sonst noch so mit sich trägt, würdest du das nicht mehr sein.« Adam blieb abrupt stehen. Als Eden ihn fragend anblickte, sagte er zuerst nichts. Dann beugte er sich etwas zu ihr hinunter und flüsterte: »Jemand verfolgt uns.«
Tag der Veröffentlichung: 30.05.2013
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