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Das Wurmloch

Er stand an der Brüstung des großzügigen Balkons und genoss den sanften Wind, der ihm übers Gesicht strich und nach Sommer und Rosmarin roch, nahm einen Schluck von dem trockenen Roten, der nirgends so großartig war wie auf diesen gesegneten Inseln und ließ seinen Blick weit über das Umland schweifen.

 

Der Ferienclub war einer von der besseren Sorte. Weitab vom Trubel der billigen Touristen-Ghettos in den Hügeln gelegen, mit eigenem Bootsteg und gepflegtem Strand. Die weitläufige Anlage bot jeden erdenklichen Komfort und der Gedanke an Langeweile kam gar nicht auf. Wer ausspannen wollte, konnte die himmlische Ruhe in den verstreut liegenden Lofts genießen und wer es vorzog, sich die Nächte um die Ohren zu schlagen, kam im hauseigenen Disco-Bunker unter dem Zentralgebäude auch auf seine Kosten. Mehrere Tapas-Bars, Restaurants und eine gediegene Nacht-Bar rundeten das Angebot ab. Und wem das immer noch nicht reichte, konnte mit dem Leihwagen über die tadellos ausgebaute Zugangsstraße in die nahe gelegene Stadt fahren, um Lokalkolorit zu schnuppern. Ein mehr als zufriedenstellender Urlaub!

 

Er beugte sich über die Brüstung und sah seinen Sohn Johannes mit den anderen Kindern im Wasser herumtollen. Er war groß für sein Alter, athletisch und sonnengebräunt. Veronika hatte sich auf eine der hauseigenen Liegen gelegt, genoss den lichten Schatten eines Sonnenschirms und bekam gerade einen Drink gebracht. Versonnen betrachtete er ihre immer noch großartige Figur. Sie war schon immer eine sehr schöne Frau gewesen und hatte durch ihre zwei Schwangerschaften nichts von ihrem Liebreiz verloren. Ihre langen, blonden Haare hatten sich auf der Liege ausgebreitet wie flüssiges Gold.

 

Er war rundum zufrieden mit sich und der Welt. Alles, was er angefangen hatte, war ihm gelungen und hatte ihm Ansehen, Wohlstand und Glück gebracht. Nach dem Studium hatte er einige Jahre in einem angesehenen Labor gearbeitet, dort promoviert und gut verdient. Er hatte Veronika geheiratet und bald darauf war ihre Tochter Klara zur Welt gekommen. Als Johannes unterwegs war, hatte er von seiner unverhofften Erbschaft das Haus gekauft, das er über fünf Ecken spottbillig in einem schicken Vorort erstanden hatte. Schließlich hatte er sich mit einem eigenen Labor selbständig gemacht, das schon bald florierte und ausgezeichnete Gewinne abwarf. Auch das Consulting-Unternehmen für chemische Verfahrensfragen, das er bald darauf gründete, lief ausgezeichnet und mehrte sein Ansehen ebenso, wie seinen Wohlstand. Und jetzt war er mit seinen Lieben in diesem ausgezeichneten Club auf den Kanaren abgestiegen, wo sie ihre Ferien in vollen Zügen genossen. Sie waren im besten Alter, hatten mehr als genug Geld, interessante Aufgaben, keine Sorgen, waren alle gesund und glücklich – wer konnte denn mehr verlangen?

 

Er stellte sein leeres Glas auf die Spüle der Küchenzeile, zog sich Schuhe an und begab sich zum Pool. Dort orderte er an der Bar ein großes Glas Limonade und suchte sich ein schattiges Plätzchen, von dem aus er den Pool gut überblicken konnte. Der war gut besucht und er steuerte auf einen der kleinen Tische zu, die am Rande standen. An einem der Tische saß ein alter Mann mit gepflegter Garderobe, ein Glas Limonade und ein Buch neben sich. Als er seine suchenden Blicke wahrnahm, winkte er ihn heran und sagte: „Möchten Sie sich vielleicht zu mir setzen? Es ist ein wenig voll Heute.“

 

„Ja, gerne! Haben Sie vielen Dank“, nahm er das Angebot an und setzte sich. Sein Nachbar nahm das Buch zur Seite, damit er sein Glas abstellen konnte.

 

„Vielen Dank, sehr aufmerksam“, bedankte der sich artig und schaute neugierig auf den Einband. „Oh! Stephen Hawkings ´Universum in der Nussschale´. Und sowas lesen Sie im Urlaub?“, eröffnete er das Gespräch.

 

„Ja“, bestätigte der Alte. „Ich habe bis vor Kurzem Mikrobiologie in Hannover gelesen, aber bin eigentlich gelernter Chemiker. Physik und Kosmologie haben mich seit jeher fasziniert und jetzt habe ich endlich mal Zeit dafür.“

 

„Respekt!“, sagte er und nickte anerkennend mit dem Kopf. „Ich habe mich auch immer für Physik interessiert, hatte aber zu wenig Ahnung von Mathematik, um ein Studium zu wagen. Hawking finde ich hochinteressant, vor allem seine Hypothese der Wurmlöcher.“

 

„Ach, dann haben Sie das Buch auch gelesen?“

 

„Ja, vor einigen Jahren schon. Also, der Mörder ist ...“

 

„Werden Sie wohl den Schnabel halten!“, schalt das Alte spaßhaft und Beide mussten sie lachen.



Es war wie verhext! Gerade bei stupiden Arbeiten, wie Laub harken, überfielen ihn regelmäßig diese finsteren Gedanken. Klar – das Leben ist kein Pony-Hof und es läuft nie alles wie geplant. Aber bei ihm war wirklich ALLES schief gelaufen: der Job in seiner alten Heimatstadt, der Knall auf Fall zu Ende war, was ihn in ernste Schwierigkeiten gestürzt hatte. Veronika, die ihr Kind verloren und ihn grob und verletzend verlassen hatte. Seine Selbständigkeit, die trotz wiederholter, engagierter Anläufe letztlich total gescheitert war und ihm einen Trümmerhaufen hinterlassen hatte. Seine Erbschaft, die von seinem Anwalt total verdummbeutelt worden war, so dass er nur Kosten und Ärger davon gehabt hatte. Seine Ehe mit Anna, die wohl nicht zuletzt aufgrund seiner hartnäckigen Misserfolge gescheitert war, so dass er seine geliebten Kinder fast nie sehen konnte und zu allem Überfluss auch noch sein Auge, dass er vor einigen Jahren bei einem total blöden Laborunfall verloren hatte. Trotz aller Mühen hatte sich der Erfolg nun mal nicht eingestellt und er war auf der ganzen Linie gescheitert.

 

Schließlich hatte er Gelegenheitsjobs annehmen müssen und jetzt hatte ihn einer in diese Hotelanlage auf den Kanaren geführt. Das Klima war großartig und da er ohnehin mal wieder spanisch sprechen wollte, hatte er den Job angenommen. Die Anlage war energieautark und wurde nur mit Sonne, Wind und Biomasse versorgt. Da dies einmal sein Spezialgebiet gewesen war, nahm man ihn mit Kusshand, da er neben seiner Hausmeistertätigkeit die Anlagen instand halten konnte.

 

Heute musste er das Laub zusammen harken, das sich um den großzügigen Pool gesammelt hatte, damit es nicht schmuddelig aussah und die Leute womöglich ausrutschten. Auf dem Pool lag sein besonderes Augenmerk, obwohl er nicht genau wusste, wieso. Kurz vor der Saison hatte er einen ernsten Disput mit der Direktion in Kauf genommen und nach zähem Ringen durchgesetzt, dass man die Abflussöffnungen, die tief unter Wasser lagen, mit stabilen Gittern abdeckte, die verhinderten, dass jemand eingesaugt wurde und womöglich ertrank. Erst hatte man ihm sein Engagement sehr übel angerechnet, da die Edelstahlgitter nicht billig waren und zur Montage das Wasser kurz vor Saisonbeginn noch einmal komplett abgelassen werden musste, aber als ihnen ein angesehenes Reisejournal einen Preis für vorbildliche Sicherheit im Pool verlieh, hatte er doch die Anerkennung bekommen, auf die er gehofft hatte.

 

So verlief sein Leben in ruhigen Bahnen und obwohl er keines seiner Ziele erreicht hatte, konnte er sich eigentlich nicht beklagen. Zu seiner Ex-Frau hatte er zwar keinen Kontakt mehr und sich einer neuen Lebensgefährtin zuzuwenden hatte sich auch nie ergeben, aber wenigstens schrieben ihm seine Kinder regelmäßig E-Mails und hielten ihn über SKYPE auf dem Laufenden. Seine große Tochter Klara hatte mittlerweile erfolgreich promoviert, war mit einem erfolgreichen Jungunternehmer verheiratet und gerade dabei, ihr gemeinsames Haus einzurichten. Sein „kleiner“ Sohn Johannes, der ihn um halbe Haupteslänge überragte, hatte gerade sein Studium abgeschlossen und war mit seiner langjährigen Freundin zusammen gezogen. Er war direkt aus dem Studium von einem Head-Hunter für einen großen Technologiekonzern angeworben worden, für den er bionische Komponenten entwickelte. Kürzlich hatte er ihm mitgeteilt, dass sie bald ihr erstes Kind erwarteten und sich riesig darauf freuten!

 

Er bedauerte, dass er zum Wohlergehen seiner Kinder so wenig hatte beitragen können. Er musste die Familie früh verlassen und hätte sich weit mehr Kontakt gewünscht, als seine Ex zuließ. Wenigstens hatte er vorgehabt, ihnen regelmäßig Schecks zu schicken, aber da sein Einkommen einigermaßen überschaubar war, hatte auch das nicht geklappt. Aber die Beiden kamen im Leben auch ohne dies sehr gut klar und waren auf seine Unterstützung nicht angewiesen. Das versöhnt ihn etwas mit den Umständen, obwohl er weder stolz, noch froh dabei war.

 

Er holte die Schubkarre, in der sich bereits eine Menge Blätter befanden nach vorn und stellte sie im Windschatten einer Gebäudeecke ab, denn auf den „Inseln des ewigen Frühlings“, wie die Kanaren auch genannt wurden, ging immer ein leichter Wind, der das Klima so angenehm machte.

 

„Ist das so in Ordnung für Sie?“, fragte er den gepflegten, alten Mann, der nahe bei in seinem Sessel saß und ein Glas Limonade und ein Buch neben sich hatte. „Wenn ich es woanders hinstelle fliegt alles raus“, erklärte er.

 

„Es ist gut!“, beschied ihn der Alte. „Aber woher wussten Sie, dass ich Deutsch spreche?“

 

„Sie haben Stephen Hawkings Buch ´Das Universum in der Nussschale´ neben sich liegen“, antwortete er. „Ein starkes Indiz.“

 

Der Alte lächelte. „Sind Sie der Hausdetektiv, der gerade als Gärtner verkleidet ermittelt?“

 

„Nein, ich bin hier das Mädchen für Alles. Aber ich war irgendwann in einem anderen Leben mal Naturwissenschaftler.“

 

„Naturwissenschaftler?“, fragte der Alte interessiert nach. „Dann sind wir ja Kollegen! Ich habe bis vor Kurzem Mikrobiologie in Hannover gelesen, bin aber eigentlich gelernter Chemiker. Was haben Sie denn genau gemacht, wenn ich fragen darf?“

 

„Ich hatte mal ein Labor und habe Analytik gemacht und Biotreibstoffe entwickelt“, erklärte er leise.

 

Der Alte sah ihn an und vermied es taktvollerweise zu fragen, warum er hier jetzt Laub zusammen reche. Stattdessen sagte er: „Das ist ja hochinteressant! Im weitesten Sinne hatten Sie dabei ja auch mit Physik zu tun.“

 

„Ja, am Rande durchaus. Ich hätte gerne Physik studiert, aber ich war in Mathematik nicht gut genug und da hat es nur für Chemie und Biologie gereicht.“

 

„´NUR´ für Chemie und Biologie gereicht!´“, echote der Alte amüsiert. „Sie sind zu bescheiden! Das ist ja nichts, was man sich mal eben an einem Wochenende aneignet. Haben Sie den Hawking schon gelesen?“

 

„Ja“, bestätigte er, „hochinteressant! Vor allem seine Hypothese über die Wurmlöcher. Das macht Beamen ja schon überflüssig, bevor es überhaupt erfunden wurde.“

 

Der Alte lachte auf und sagte: „Ja, SO kann man es natürlich auch ausdrücken! Warum setzen Sie sich nicht einen Augenblick zu mir? Die Blätter liegen nachher auch noch da.“

 

„Gerne, aber ich möchte Sie keinesfalls inkommodieren“, wehrte er bescheiden ab.

 

„Aber ganz und gar nicht! Wenn es Ihre Zeit erlaubt, setzen Sie sich gern zu mir“, lud er ihn ein.

 

„Vielen Dank!“, sagte er und nahm auf dem anderen Stuhl Platz.



„Sie sagten, dass Sie Hawkings Konzept der Wurmlöcher interessant fänden?“, fragte der Alte.

 

„In der Tat!“, antwortete er. „Damit überträgt Hawkings im Grunde die Phänomene des Tunnelns und der spukhaften Fernwirkung auf kosmische Dimensionen. Hochelegant! Dabei stören mich nur zwei Sachen.“

 

„Nämlich?“, fragte der Alte.

 

„Erstens, dass es eine reine Hypothese ist, die er meiner Meinung nach nicht mit hinreichend plausiblen Gründe untermauert und zweitens, dass er das Konzept auf den rein räumlichen Aspekt unseres Universums beschränkt“, erläutere er.

 

Der alte Professor runzelte die Stirn und fragte dann: „Wie würden Sie es denn anders formulieren?“

 

„Naja - WENN es Wurmlöcher gibt, dann gibt es keinen Grund anzunehmen, dass Sie nur verschiedene Punkten in unserem Raum verbinden, sondern auch verschiedene Zeitabschnitte und parallele Universen.“

 

„Das Multiversum-Konzept hat mit Hawkings Wurmlochhypothese aber zunächst mal gar nichts zu tun“, merkte der Alte an.

 

„Eben!“, stimmte er zu. „Das Multiversum-Konzept geht auf Everetts ´Viele-Welten-Interpretation´ der Quantenmechanik zurück, mit der er quantenmechanische Phänomene erklärt hat. Mich wundert dabei, dass Hawking dieses Konzept so vollständig ignoriert hat.“

 

„Naja, das ist wohl das Privileg der Lehrstuhlinhaber für Mathematik in Cambridge“, witzelte der Alte.

 

„Wahrscheinlich!“, grinste er. „Wer in Newtons und Diracs Fußstapfen tritt, muss sich zu sowas wohl nicht erklären.“

 

„Bestimmt nicht“, stimmte ihm der Alte zu. „Zumal Everetts Multiversum-Theorie ja selbst nicht widerspruchsfrei ist.“

 

„So? Sie ist natürlich rein hypothetisch und ebenso unbewiesen, wie die Existenz der Wurmlöcher selbst, aber wo leidet sie denn an offenen Widersprüche?“, verwunderte er sich.

 

„Betrachten wir einmal ´Schrödingers Katze´ als DAS Beispiel der quantenmechanischen Superposition ...“, hub der Alte zu einer Erklärung an.

 

„Ach ja, das berühmte Beispiel des unbestimmten Übergangszustandes eines Quantenteilchens, übertragen auf unsere sinnlich wahrnehmbare Welt“, hakte er ein.

 

„Genau! Nach Schrödinger ist diese Katze solange sowohl tot, als auch lebendig, wie der Deckel der Kiste nicht gelüftet ist. Erst mit dem Öffnen der Kiste entscheidet sich die Natur sozusagen für den endgültiger Zustand der Katze“, fuhr der Alte fort.

 

„... oder - nach Everett - entscheidet sich unser Bewusstsein in dem Moment, in welchem Multiversum es aktuell existiert: in dem, wo die Katze lebt, oder in dem, wo sie um´s Leben kam“, ergänzte er den Gedankengang des Alten.

 

„Ja, richtig - und genau da wird es schwierig: wenn wir annehmen, dass es nur eine Kiste mit nur einer Katze gibt, die nur tot oder lebendig sein kann, kann sich das Universum an diesem Punkt nur in zwei Paralleluniversen aufspalten: in dem einen ist die Katze tot und im anderen lebt sie noch. Tatsächlich besteht das Universum aber aus unendlich vielen Elementen und die können jede Sekunde unendlich viele Zustände annehmen, weil das Universum bekanntlich hochkomplex ist. Demnach müsste es sich auch jede Sekunde in unendlich viele Multiversen aufspalten und das ist schon eine reichlich exotische Annahme“, führte der Alte aus. „Schauen Sie: die Stochastik lehrt uns, dass die Zahl der theoretischen Möglichkeiten errechnet werden kann aus der Zahl der Zustände als Basis mit der Zahl der Elemente, die diese Zustände annehmen können, im Exponenten. Das kennen wir ja aus der Digitaltechnik: die Zahl der Zustände ist zwei, eben Null oder Eins, und die Zahl der möglichen Kombinationen hängt von der Zahl der Bits, also der Menge der vorhandenen Elemente ab. Ein ´Wort´ mit 4 Elementen, also Bits, kann bekanntlich 2 hoch 4 oder 16 Zustände annehmen. Im Multiversum sind aber sowohl die Zahl der Zustände, als auch die der Elemente nicht nur gleich zwei, sondern unendlich. Damit entstünden in jedem Augenblick unendlich hoch unendlich viele Paralleluniversen und das ist wenig plausibel“, rechnete der Alte vor.

 

„Einspruch, Euer Ehren!“, wendete er ein.

 

„Was habe ich übersehen?“, fragte der Alte nach und runzelte freundlich die Stirn.

 

„Die Zahl der Möglichkeiten ist ja eben NICHT unendlich!“, behauptete er.

 

„Nicht? Warum denn nicht?“, erkundigte sich der Alte neugierig.

 

„Eben weil die Natur KEIN Kontinuum ist, das unendlich viele Zustände annehmen kann, sondern auf hinreichend kleinen Skalen überall gequantelt ist, wie wir heute wissen und das schränkt sowohl die Zahl der Elemente, als auch die der möglichen Zustände ein“, erklärte er seinen Gedanken

 

„Ahhhh, ja - interessanter Einwand! Das löst das Paradoxon in der Tat auf, weil jede Sekunde nicht unendlich, sondern ´nur´ sehr viele Paralleluniversen entstehen“, stimmte ihm der Alte zu, fragte dann aber gleich nach: „Müsste die Zeit demnach nicht ebenfalls gequantelt sein?“

 

„Ja, das halte ich durchaus für denkbar! Scheint ganz so, als ob sich der liebe Gott was dabei gedacht hat, als er die Natur quantelte!“, scherzte er.

 

„Ja - so könnte man es ausdrücken!“ stimmte ihm der Alte lachend zu und nahm einen Schluck Limonade. „Aber dabei kommt noch ein ganz anderes Problem auf uns zu: wo stecken denn diese trotzdem nicht eben wenigen Paralleluniversen, die jeden Augenblick entstehen? Ich habe jedenfalls noch keins gesehen.“

 

„Das ist in der Tat nicht unbedingt anschaulich, aber angesichts des Umstandes, dass unsere Welt zum allergrößten Teil aus leerem Raum besteht, wäre ja jede Menge Platz für allerlei Parallel-Universen“, versuchte er eine Antwort.

 

„Sie meinen jetzt die Erkenntnis, die wir seit Rutherfords berühmtem Experiment haben?“, fragte der Alte.

 

„Nicht nur“, entgegnete er. „Auch die Elementarteilchen haben sich als lange nicht so elementar oder kompakt herausgestellt, wie wir zunächst vermutet hatten - und die String-Theorie löst die Welt ja gänzlich in Oszillatoren auf, die im Grunde gar keine räumliche Ausdehnung haben.“

 

„Hm!“, gab sich der Alte skeptisch. „Aber selbst wenn es genug Platz für eine Unzahl von Parallel-Universen gibt, erklärt das noch nicht ansatzweise, warum wir sie dann nicht auch wahrnehmen können.“

 

„Offensichtlich geht die Wechselwirkung zwischen den Universen im Moment ihres ´Auseinanderweichens´ verloren, so dass wir sie nicht sehen, fühlen, schmecken oder tasten können. Aber es gibt eine Wirkung, die mit diesem ´Auseinanderweichen´ möglicherweise sehr elegant erklärt werden könnte“, fuhr er fort.

 

„So? Welche denn?“, fragte der Alte interessiert nach.

 

„Die Gravitation“, sagte er.

 

„Die Gravitation? Wie denn das?“

 

„Wir bezeichnen die Gravitation doch als ´Erdbeschleunigung´ oder genereller als ´Massenbeschleunigung´, ohne dass wir nun genau wüssten, wie sie eigentlich zustande kommt“, erklärte er. „In den Lehrbücher steht dazu nur, dass Massen im Gravitationsfeld anderer Massen eine Beschleunigung erfahren und dadurch Gewicht bekommen. Diese Beschleunigung können wir ganz gut berechnen, aber wie sie zustande kommt, weiß doch im Grunde kein Mensch zu sagen. Und die Abweichungen, die wir auf großen Skalen beobachten, können wir auch nicht erklären.“

 

„Sie heben offenbar auf die unerklärlichen Bewegungsmuster der Sterne in den äußeren Bereichen von Galaxien ab“, hakte der Alte ein.

 

„Ganz genau!“, bestätigte er. „Warum die Rotationskurven der Objekte in den Außenbereichen von Galaxien so deutlich vom theoretischen Verhalten abweichen, weiß doch niemand zu sagen. Außer dem etwas unbeholfenen Postulat einer ominösen ´Dunklen Materie´ hab ich dazu noch wenig Erhellendes gehört - und das ist auch bloß eine Hypothese.“

 

„Es gibt den Erklärungsansatz der entropischen Gravitation“, warf der Alte ein. „Dem Ansatz nach ist die Gravitation keine Wechselwirkung zwischen Massen, wie sie der klassische, newtonsche Ansatz erklärt, sondern entsteht aus dem Bestreben des Universums nach einem Maximum an Entropie.“

 

„Das ist doch mal ein interessanter Ansatz, der zumindest zeigt, dass die Gravitation noch immer nicht so gut verstanden ist, wie viele Leute glauben. Auch wenn der kryptische Begriff der Gravitation dabei mit dem nicht minder kryptischen Begriff der Entropie erklärt wird“, freute er sich.

 

„Was finden Sie denn an der Entropie kryptisch?“, fragte der Alte.

 

„Zum Beispiel, dass sie gar nicht klar definiert ist“, beklagte er sich.“Sie wird immer dann aus der Schublade gezogen, wenn irgendwas mit Arbeit, Temperatur und Druck partout nicht zu erklären ist. Im Grunde ist es ein reiner Korrektur-Term, mit dem in der Thermodynamik alles hemmungslos ´aufgefüllt´ wird, was fehlt.“

 

„Na, ganz so arg ist es nicht“, lächelte der Alte. „Der alte Boltzmann hat sich mit seinem statistischen Ansatz schon sehr ordentlich ins Zeug gelegt, um den Begriff der Entropie sauber zu fassen.“

 

„Ja, den Boltzmann habe ich auch immer bewundert!“, gab er unumwunden zu. “Dass es dadurch für mich nicht wesentlich anschaulicher wurde, wird Sie jetzt vermutlich nicht sehr überraschen ...“

 

„Und wie können wir das Phänomen der Gravitation jetzt mit Everetts Hypothese des Multiversums erklären?“, brachte es der Alte auf den Punkt.

 

„Ganz einfach:“, behauptete er, „indem wir annehmen, dass genau das passiert, was wir beobachten, nämlich, dass im Zuge des ´Auseinanderweichens´ ein Beschleunigungungsvorgang stattfindet, dem sich die Masse durch ihre Trägheit widersetzt, was wir als Gravitation wahrnehmen.“

 

„Aber das müssten wir doch noch leichter wahrnehmen können, als eine Aufspaltung der Multiversen!“, wendete der Alte ein. „Außerdem wäre in kürzester Zeit die Lichtgeschwindigkeit erreicht und spätestens dann wäre Schluss, wie uns Einstein lehrt.“

 

„Keineswegs“, widersprach er. „Da sich ALLES ausdehnt, wir also auch, würden wir keinerlei Bewegung feststellen können, da ja alle Proportionen unverändert blieben. Das gälte übrigens auch für die Lichtgeschwindigkeit, denn die bezieht sich nur auf Relativbewegungen einzelner Elemente zueinander. Da sich aber sozusagen der Raum selbst ausdehnt, treten gar keine Geschwindigkeiten im landläufigen Sinne auf.“

 

„Hmmmm ...“, brummte der Alte nachdenlich und nahm einen Schluck Limonade. „Ein geradezu verstörender Gedanke. Aber wie wären denn dann Massenunterschiede und Newtons berühmter, fallender Apfel zu erklären?“

 

„Die Kosmologen behaupten ja im Zusammenhang mit schwarzen Löchern, dass Gravitation Information verursacht - aber möglicherweise ist es genau umgekehrt und Information verursacht Gravitation. Jede Superposition liefert ja im Moment ihrer Auflösung Information. Je mehr Materie vorhanden ist, desto mehr Superpositionen entstehen und lösen sich jeden Augenblick auf, desto mehr Parallel-Universen entstehen und weichen auseinander, was wir als Gravitation wahrnehmen. Je mehr Materie, desto mehr Superositionen entstehen, desto mehr Superpositionen werden aufgelöst, desto mehr Information entsteht, desto mehr Gravitation“, führte er aus.

 

„Das könnte man ja auch als Zunahme der Entropie auffassen und so gesehen wäre es kein Widerspruch zum Ansatz der entropischen Gravitation. Aber was ist mit den Raumbereichen, die arm an Materie sind?“, fragte der Alte. „Die müssten doch von der behaupteten ´Parallel-Inflation´, wie ich dieses Postulat mal nennen will, ausgeschlossen sein und letztlich verschwinden, weil es dort keine oder kaum Superpositionen gibt, die sich auflösen könnten.“

 

„Jawohl! Genau das beobachten wir ja auch“, behauptete er kühn.

 

„Ähhh … wie bitte?“, verwunderte sich der Alte.

 

„Es verhält sich genau so, wie Sie sagten: der Raum zwischen zwei Massen verschwindet ...“, hub er an.

 

„... weil sich die zwei Massen durch die Gravitation aufeinander zu bewegen und irgendwann

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 17.09.2019
ISBN: 978-3-7487-1568-9

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Meinem verehrten Lehrer Hans Diekmann

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