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Alte Liebe

 

„Jetzt nehme ich Ihnen noch ein wenig Blut ab und sowie die Laborergebnisse vorliegen, wissen wir mehr.“

Veronikas Stimme war kühl und sachlich, ihre Handgriffe präzise und routiniert. Ruck-zuck hatte sie die Kanüle in seine Armvene eingestochen und zwei Vakutainer mit Blut gefüllt.

 

Er schaute sie wortlos von der Seite an. Sie sah immer noch gut aus, obwohl sie natürlich älter geworden war. Sie war nicht mehr ganz so schlank wie damals, vor zwanzig Jahren, aber das war ja auch nicht zu erwarten gewesen. Außerdem stand es ihr ausgezeichnet. Jedenfalls war sie keinesfalls so unförmig geworden wie ihre Mutter, nur ein wenig fraulicher als das junge Mädchen, das sie damals war. Auch trug sie die Haare jetzt völlig anders. Anstelle der langen, blonden Mähne hatte sie einen frechen, braunen Mecki-Putz und trug eine Brille. Ihre Kleidung war nicht extravagant, sondern überaus pragmatisch und bestand aus einer weißen Praxishose und einer bequemen Bluse. Von den aufgerüschten Kittelchen, die sie damals so geschätzt hatte, war sie wohl gottlob abgekommen. Mit Schaudern dachte er daran, wie er die ab und an für sie gebügelt hatte. Geblieben waren hingegen die beinahe unvermeidlichen, weißen „Birkennocks“, die sie damals schon trug. Obwohl sie es nicht zeigte, hatte sie bestimmt auch noch dieses unvergleichliche Lächeln, bei dem ihre wunderhübschen, grünen Augen immer so verschämt unter ihrem Pony hervorlugten. Auch ihre Gewohnheit, stets den Unterkiefer ein wenig vorzuschieben, hatte sie beibehalten, was ihr einen ausgesprochen entschlossenen, ja beinahe trotzigen Ausdruck verlieh.

 

Was sich ebenfalls überhaupt nicht verändert hatte, war ihr Duft. Er war seit jeher ein ausgesprochener Nasenmensch gewesen, was teilweise mit seinem Beruf als Chemiker zusammen hing und schon damals hatte ihn ihr Duft fasziniert. Er war überraschend ausgeprägt, ohne jedoch im Mindesten unangenehm oder gar vulgär zu sein, obwohl ihm etwas Wildes, Animalisches anhaftete. Er korrespondierte ausgezeichnet mit ihrem Chanel No. 5, das sie von zahlreichen Verehrern in abenteuerlichen Mengen geschenkt bekommen und immer abschätzig als „Eau de Möff“ verspottet hatte. Dieser Duft hatte noch lange in den leeren Schränken und Betten gehangen, nachdem sie seinerzeit ihre Sachen gepackt hatte und Knall-auf-Fall verschwunden war. Sooft er ihn darin noch wahrnahm, hätte er schreien mögen wie ein todwundes Tier. Und jetzt war dieser Duft plötzlich wieder da und jagte ihm erneut heiße Schauer über den Rücken. Erinnerungen stiegen in ihm auf, wunderschöne und abgrundtief traurige und er verfluchte die vielen Jahre, die er ohne sie verbringen musste.

Der Abschied war herzlich, aber sachlich. Sie hatte ihn nicht erkannt, was aber auch nicht verwunderlich war, denn auch er hatte sich seit damals stark verändert. Nicht nur, dass er natürlich ebenfalls zwanzig Jahre älter geworden war. Sein dunkler Bürstenhaarschnitt von damals war einem wild wuchernden, eisgrauen Pferdeschwanz gewichen, der imponierend lang, aber bereits ein wenig schütter war und ihm etwas Indianisches verlieh, das in einem seltsamen Gegensatz zu seiner teuren Garderobe aus dunklem Sakko, Bundfaltenhose und eleganten Schuhen stand. Damals waren eher Outdoor-Kleidung und derbe Schuhe sein Stil gewesen. Auch die Brille, die er damals ständig tragen musste, brauchte er schon lange nicht mehr. Vor allem aber trug er heute den Namen seiner Ex-Frau, während Veronika den ihren behalten hatte. Wahrscheinlich hatte sie nie geheiratet.

 

Im Parkhaus stieg er in seinen Wagen und fuhr durch den strömenden Regen in sein Hotel. Das Angebot zu einer abendlichen Sause mit seinem Geschäftspartner schlug er aus und nahm stattdessen ein leichtes, italienisches Abendessen im hauseigenen Restaurant zu sich, von dem er sich früh mit einer Flasche trockenem Rotwein auf sein Zimmer zurückzog. Zunächst duschte er ausgiebig, als wolle er die Erinnerung abspülen, aber das war natürlich aussichtslos. Selber Schuld! Warum hatte er sie denn aufgesucht, anstatt die alten Geschichten ruhen zu lassen? Er war doch nur auf Geschäftsreise, die ihn zufällig in die Stadt geführt hatte, in der sie praktizierte, wie er vor Zeiten einmal eher zufällig herausgefunden hatte. Ihm fehlte überhaupt nichts, und dass er müde war, lag schlicht an seiner hohen Arbeitsbelastung. Völliger Unsinn also, sich einen Termin bei einer Heilpraktikerin geben zu lassen. Er hatte sie einfach nur wiedersehen wollen.

Es war ein Fehler gewesen und jetzt umkreisten ihn seine Erinnerungen wie dunkle Schatten. Veronika hatte ihm die schönste Zeit seines Lebens beschert, aber auch seine schlimmste Wunde geschlagen. Sie war die Frau seines Lebens gewesen. Kaum, dass er sie kennengelernt hatte, hatte er seine Doktorandenstelle abgesagt und das Angebot eines Labors am Ort angenommen, weil er einfach nur mit ihr zusammenleben und eine Familie gründen wollte. Sie hatten sich nicht nur nachts, sondern auch tagsüber großartig verstanden. Sie schienen einfach füreinander geschaffen zu sein. Zwischen sie hatte kein Blatt Papier gepasst und schon bald konnte er sich ein Leben ohne sie einfach nicht mehr vorstellen.

 

Aber dann verlor sie das Kind, das sie von ihm trug und wäre durch einen beispiellosen Ärztepfusch um ein Haar gestorben. Während sie noch auf Leben und Tod im Krankenhaus lag, wurde er plötzlich arbeitslos und eines Tages behielt der Automat seine EC-Karte ein. Wenige Tage darauf fuhr sie zur Kur, um wieder auf die Beine zu kommen. Dort traf sie Horst und obwohl er zur Not ihr Vater hätte sein können, verliebte sie sich Hals über Kopf in ihn. Horst hatte einen gutbezahlten, sicheren Job und in seiner Ehe kriselte es gerade heftig. Kurze Zeit nach ihrer Rückkehr packte sie ihre Sachen und zog zu ihm. Als sie weg war hatte er das Gefühl, der beste Teil von ihm sei mit ihr fortgegangen und nur ein kläglicher Rest seiner Selbst zurückgeblieben. Tatsächlich war er danach nicht mehr der Selbe und brauchte Jahre, um darüber hinwegzukommen, aber ganz damit fertig geworden war er eigentlich nie. Noch heute träumte er gelegentlich von Veronika und wahrscheinlich war sogar seine Ehe daran gescheitert, dass er nie wieder den Mut gefunden hatte, sich gefühlsmäßig allzu weit aus der Deckung zu wagen.

 

Er hatte es sich, angetan mit dem hoteleigenen Bademantel, in dem schwarzledernen Stahlrohrsessel vor dem Fenster bequem gemacht, eine Kerze angezündet und den Wein aufgezogen. Der Wind peitschte den Regen gegen die Scheiben und in der Ferne zuckten Blitze über den Himmel. Er hatte nichts vergessen von ihrer viel zu kurzen, gemeinsamen Zeit. Die Erinnerung an ihre Küsse, ihre gemeinsamen Nächten mit dem außergewöhnlichen, ekstatischen Sex und der Zärtlichkeit des Beisammenseins danach war ihm absolut gegenwärtig. Ihr Kopf an seiner Schulter, während sie langsam wieder zu Atem kamen und ihre schweißnasse Haut trocknete. Ihre geflüsterten Zärtlichkeiten. Die Berührung ihrer Haut. Ihr Duft nach Liebe und nach sich selbst. Ihre gemeinsamen Waldspaziergänge, Hand in Hand, wie verliebte Teenager. Ihre Einkaufstouren für die gemeinsame Wohnung und die Schlepperei beim Umzug. Ihre morgendlichen Radfahrten zur Arbeit und die gemeinsamen Ausflüge in seinem uralten Vehikel von Auto.

Er versuchte sich auszumalen, wie es mit ihnen wohl weitergegangen wäre, wenn sie nicht das Weite gesucht hätte. Es wäre zweifellos schwer geworden, denn in seinem Heimat-Kaff hätte er so schnell keine neue Arbeit gefunden und ihr Gehalt als Arzthelferin war eher überschaubar. Kinder konnte sie nach der verpfuschten Behandlung keine mehr bekommen und bis seine Selbständigkeit, zu der er sich irgendwann durchgerungen hatte, nennenswerte Gewinne abwarf, gingen viele, viele Jahre ins Land.

 

Zähneknirschend musste er sich eingestehen, dass Horst ungleich mehr für sie getan hatte, als er es damals vermocht hätte. Offenbar hatte er ihr die Möglichkeit gegeben, auf dem zweiten Bildungsweg einen vernünftigen Schulabschluss nachzuholen, eine Ausbildung als Heilpraktikerin zu machen und erfolgreich eine Existenz zu gründen. Das war ohne jeden Zweifel gut so. Er hatte es immer als Schande empfunden, dass Veronika nur die Hauptschule absolviert hatte, denn sie war alles andere als dusselig und hätte problemlos das Abi geschafft, aber ihre Eltern waren der Ansicht, sie heirate ja ohnehin mal den berühmten Märchenprinzen.

 

Naja - so war es ja letztlich auch gekommen. Nur dass er dieser Prinz leider nicht gewesen war. An seiner Seite hätte sie viele Jahre ein eher tristes Leben mit vielen Einschränkungen führen müssen und sich schwerlich groß weiterentwickeln können. Und wenn sie Kinder hätten haben können, wäre er um eine Anstellung mit sicherem Einkommen schwerlich herumgekommen. Wahrscheinlich wäre er Lehrer geworden und hätte nicht die Firma aufbauen können, die heute so abenteuerliche Gewinne abwarf. Um für diese einen neuen Vertrag unter Dach und Fach zu bringen war er ja eigentlich hierher gekommen.

 

Finster schaute er in sein Glas, wo sich das Kerzenlicht glitzernd in der dunkelroten, kristallklaren Flüssigkeit brach. Es war schon gut so, wie es gekommen war. Nur leider nicht besonders angenehm. Aber irgendwann hatte er sich damit abgefunden und das Leben war weitergegangen. Irgendwann hatte er Anna kennengelernt und zwei wunderbare Kinder mit ihr gezeugt. Auch wenn es nicht die ganz große Liebe gewesen war, hatte es doch wenigstens so lange gehalten, bis die Kleinen aus dem Gröbsten heraus waren und eine sehr gute Ganztagsschule besuchten, die sie eines Tages mit dem Abitur verlassen würden. Er war in der Familie wenig präsent, aber sein geschäftlicher Erfolg versetzte ihn irgendwann in die Lage, wenigstens finanziell Einiges für seine Kinder tun zu können. Ja, keine Frage. Nüchtern betrachtet war es schon am besten so, wie es gekommen war. Nüchtern betrachtet. Ganz rational und objektiv beurteilt war es eigentlich optimal gelaufen.

 

Aber er bestand eben nicht bloß aus Kopf, obwohl er oft genug bewiesen hatte, dass dieser nicht sein schlechtestes Teil war. Er hatte maßgeblich sämtliche Methoden entwickelt, auf denen der Erfolg ihrer Firma gründete und über die heute die ganze Welt staunte. Und noch genug Anderes, das viel weniger bekannt, aber nicht minder genial war. Und Etliches hatte er noch in petto, das nicht weniger Aufsehen erregen würde, wenn es erstmal spruchreif wäre.

 

Aber er hatte nicht nur einen Kopf und ein Hirn, sondern auch ein Herz und einen Schwanz und Eier! Und genau die waren im Zuge der Entwicklung seines Lebens bei weitem zu wenig ausgelastet worden! Anna war eine gute Frau und hatte ihm zwei großartige Kinder geschenkt, die er abgöttisch liebte, aber eine innige Zweisamkeit, wie seinerzeit mit Veronika, hatte sich zwischen ihnen nie entwickelt. Und sinnlich war Anna leider auch nie gewesen. Nicht für zwei Pfennig. Jedenfalls nicht mit ihm. Einmal hatte sie sich eine Affäre mit ihrem Nachbarn erlaubt, mit dem sie wesentlich besser klargekommen war, aber mit ihm war es immer nur eine schiere Katastrophe gewesen. Hundert Prozent lustfreie Pflichtübungen, die er nach der Trennung nicht vermisst hatte.

 

Ärgerlich trank er aus und füllte das Glas erneut. Auf seiner Stirn war eine steile Falte erschienen und er schüttelte den Kopf darüber, auf was er die ganzen Jahre verzichtet hatte. Sein Leben hatte praktisch nur im Labor stattgefunden, viele Kilometer von seiner Familie entfernt. Zuhause war er stets fehl am Platze gewesen, hatte seine Kinder nur selten gesehen und nachts hatte ihn seine Frau im eiskalten, stockdunklen Schlafzimmer lieblos abgefertigt. Klar, heute konnte er sich Sex kaufen, soviel er wollte, aber mit Liebe hatte das auch nichts zu tun. Reine Triebabfuhr, besser als nichts, aber letztlich ein schwacher Trost. Nichts als ein erbärmliches Surrogat für ein erfülltes Sexualleben. Als hätte er nicht lange genug eine Frau beschlafen müssen, die nur die Beine breit machte, damit er die Rechnungen bezahlte und sehnsüchtig auf seinen Höhepunkt wartete, damit sie endlich ihre Ruhe hatte - erbärmlich! Er schüttelte den Kopf darüber, in welch krassem Gegensatz sein Privatleben zu seinen beruflichen Erfolgen stand.

 

Er atmete tief durch und starrte in sein Glas. Wie anders war das damals mit Veronika gewesen. Klar, letzten Endes war es auch ihr wohl hauptsächlich ums Geld gegangen, sonst hätte ihre Liebe wohl etwas länger gehalten als seine Kontodeckung, aber er konnte immer noch nicht glauben, dass sie sich so verstellt und in Wahrheit gar nichts für ihn empfunden hatte. Eher glaubte er, dass sich ihr Horst diese Frage stellen musste. Er konnte sich einfach nicht erklären, was die sinnliche Veronika an einem so alten Kerl wie Horst gefunden hatte, außer natürlich finanzielle Sicherheit. Aber dass sie über die Jahre in sexueller Hinsicht auch nur halbwegs auf ihre Kosten gekommen war, konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen!

 

Veronika, die mit einem beherzten Griff zwischen die Beine im Handumdrehen so nass wurde, dass sie nicht nur ihr Höschen, sondern auch jede Jeans völlig durchweichte. Wie oft hatte er sie auf diese Weise hochgebracht! Bevor sie noch irgendetwas dagegen tun konnte, war sie so erregt gewesen, dass sie zu keiner Gegenwehr mehr fähig war, hatte mit geschlossenen Augen und zurückgelegtem Kopf dagestanden und immer heftiger geatmet, bis die Knie zitternd unter ihr nachgaben. Und wenn er ihre Hose geöffnet und einen Finger in sie eingeführt hatte, war sie völlig willenlos geworden. Es war ein Kinderspiel gewesen, sie zum Höhepunkt zu bringen. Sie kam schnell und heftig und wenn er es darauf anlegte, in immer kürzeren Abständen und so oft hintereinander, dass sie irgendwann völlig entkräftet und schweißgebadet in eine Art Koma fiel.

 

Soweit war er aber natürlich nie gegangen, denn diese schöne, junge Frau nur mit den Fingern oder der Zunge zu verwöhnen war nichts dagegen gewesen, ihr nasses Höschen beiseite zu schieben, in ihre bebende Scheide einzudringen, sie mit kräftigen Stößen zu einem heftigen Höhepunkt zu bringen und seine Lust mit ihr gemeinsam zu genießen. Sex mit Veronika war ein unvergleichlicher Rausch gewesen und mit der Zeit immer noch großartiger geworden, weil sie sich immer besser kennenlernten und immer mehr Möglichkeiten fanden, den Anderen anzumachen, zum Wahnsinn zu treiben oder zum Höhepunkt zu bringen. Und sie waren jung gewesen. Ihre Körper waren voller Energie und Ausdauer und so war es keine Seltenheit, dass sie es fünfmal am Tage in den unmöglichsten Situationen getan hatten und abends im Bett trotzdem übereinander herfielen wie geile Tiere, bis sie völlig erschöpft in die Laken sanken. Und wenn die Luft dann irgendwann raus war, kuschelte sie ihren Kopf an seine Schulter, wo sie schließlich einschlief. Für diese Momente größter Vertrautheit und Nähe hätte er seine Seele verkauft! Das hatte ihm keine andere Frau je geben können.

 

Und dann war es vorbei gewesen. Er hatte sie an einen anderen Kerl verloren. Einen alten Sack, der vielleicht ein Herz, bestimmt aber eine Rolex aus Gold hatte und das war ihr nun mal wichtiger gewesen als seine Liebe. Naja, nüchtern betrachtet war das schon nachvollziehbar, aber dass sie durch diesen Schritt in ihrem Leben auf weniger hätte verzichten müssen als er, hielt er für eher unwahrscheinlich. Aber wie man sich bettet, so liegt man eben. Sie hatte ihre Prioritäten so und nicht anders gesetzt und er hoffte ehrlich, dass sie glücklich geworden war. Alles konnte sowieso keiner haben. Er hatte immerhin seine Kinder, obwohl die meist bei seiner Ex waren, und war nach etlichen vergeblichen Anläufen ein erfolgreicher Geschäftsmann geworden, hatte mehr als genug Geld und genoss hohes Ansehen. Aber Veronikas Weggang hatte in seinem Leben eine Leere hinterlassen, die seither in ihm nachhallte und durch niemanden und nichts je wieder ausgefüllt worden war.

 

Während er noch in sein Glas starrte, zwang er seine rotierenden Gedanken einen Moment innezuhalten. Was da in seine Erinnerung geflutet war, mochte ja alles gut und richtig sein, aber es gab da noch andere Aspekte, die er sich nicht so gerne eingestand. Er war nicht schuldlos am Scheitern ihrer Liebe gewesen. Veronika war zwar eine bemerkenswert sinnliche Frau und hatte oft genug selbst die Initiative ergriffen, aber meist hatte er den Anfang gemacht und war förmlich über sie hergefallen. Auch an ihrer Erkrankung war er nicht unschuldig gewesen. Nicht nur, dass das Kind, das sich leider in ihrem Eileiter eingenistet hatte, zweifellos von ihm stammte. An dem Abend, als sie aus dem Krankenhaus entlassen wurde, hatte er mit ihr geschlafen und es war keinesfalls sicher, dass der Keim, der ihr die Fruchtbarkeit genommen und sie beinahe umgebracht hätte, wirklich aus dem OP stammte und nicht von ihm. Eigentlich hatte er zu viel über Mikrobiologie gewusst, um einen solchen Fehler zu begehen! Obwohl der Punkt nie geklärt werden konnte hatte er es sich nie verziehen, sie diesem Risiko ausgesetzt zu haben.

 

Es wäre ihm im Traum nicht eingefallen, ihr in irgendeiner Form Gewalt anzutun, aber allzu oft hatte er sich ihre leichte Erregbarkeit zunutze gemacht und ihr keine Chance für ein Nein gelassen. Guter Sex ist eine feine Sache, aber was zu viel ist, ist zu viel und die Menge macht das Gift, wie man sagt. Er war immer froh über seine Potenz gewesen, aber vielleicht hatte er ihre Liebe schlicht totgevögelt. Und leben konnte man von noch so viel Lust und Liebe allein auch nicht und in dieser Hinsicht hatte er ihr nach seiner Kündigung nicht mehr allzu viel zu bieten gehabt. Zwar hatte sie ihre Arbeit und er war ein guter Hausmann, konnte gut kochen und hatte praktisch die ganze Küche selber gebaut, aber das war nicht das gewesen, was sie von ihm wollte. Tatsächlich hatte sie von ihm erwartet, was die meisten Frauen, trotz aller Forderungen nach Gleichberechtigung, von ihren Männern ganz selbstverständlich erwarten: finanziell versorgt zu werden, wie eh und je. Da hatte Veronika keine Ausnahme gemacht.

 

Und dann war da dieser Nachmittag gewesen, als er mit ihr erschöpft auf dem Bett lag, nachdem sie gerade ihre Liebe genossen hatten. Wie so häufig lag ihr Kopf auf seinem Arm, während sie langsam wieder zu Atem kamen. Da sie ihren Eisprung meist deutlich spüren konnte, war ihnen beiden klar, dass er sie höchstwahrscheinlich gerade geschwängert hatte. Dies war von ihnen beiden so gewollt und in völligem gegenseitigen Einverständnis geschehen. Aber obwohl er sich eigentlich nichts Besseres vorstellen konnte, als mit ihr eine Familie zu haben, war er nicht so glücklich, wie er es eigentlich hätte sein sollen. Dabei war ihm nicht klar, was ihm eigentlich fehlte. Er hatte einen interessanten, gutbezahlten Job mit Gelegenheit zur Promotion, eine wunderbare Frau, die er rasend liebte und mit der er in wenigen Tagen in die schöne, neue Wohnung umziehen würde, die sie gerade angemietet hatten. Hier würde ihr erstes Kind zur Welt kommen und sie eine richtige Familie sein.

 

Eigentlich hätte sein Glück also jedes vernünftige Maß übersteigen müssen, aber seltsamerweise schlichen sich gerade in diesem Moment diese saublöden Fragen in sein Hirn, ob es das jetzt gewesen sein sollte? Hatte er nicht eigentlich noch was Anderes vorgehabt? Was war denn jetzt damit? Das hatte damit zu tun, dass er mit Michael, seinem besten Freund und Studienkameraden vor Jahren einmal darüber gesprochen hatte, dass sie mit ihrer hervorragenden Ausbildung eigentlich mehr tun müssten, als bloß in irgendeinem Routinejob zu funktionieren. Eigentlich sollten sie doch ihren Teil dazu beitragen, sich den Herausforderungen zu stellen, denen sich die Welt in Zukunft gegenübersähe. Michael studierte damals Elektrotechnik, war längst promoviert und ein schlichtweg genialer Ingenieur. Er war in einer Firma angestellt und konstruierte dort phantastische Windkraftanlagen. Er hatte zweifellos die Welt verändert, und nicht zum Schlechteren! Er war seit vielen Jahren glücklich mit seiner Flamme aus Studienzeiten verheiratet und hatte zwei Kinder mit ihr.

 

Natürlich verpflichten einen solch verschrobene Weltverbesserungsideen eigentlich zu nichts - aber Michael hatte sein Vorhaben verwirklicht! Er selbst dagegen würde in Zukunft jeden Morgen zur Arbeit gehen und irgendwelche Abbautests veranstalten, die auch jeder andere machen konnte. Mit den Herausforderungen der Zukunft hatte das wenig zu tun. Und jetzt war er eine andere Verpflichtung eingegangen, der er sich nicht entziehen durfte. Dadurch war er sich aber selber untreu geworden und das nagte an ihm. Und obwohl er sich im gleichen Moment dafür schämte, zuckte der Wunsch durch seinen Kopf, dass jetzt doch nicht alles so käme, wie es vorgezeichnet schien.

 

Seltsamerweise war genau dieser Wunsch in Erfüllung gegangen. Ehe, Familie und Routinejob hatten sich praktisch über Nacht erledigt und er hatte sich nach etlichen Umwegen dem Gebiet der nachwachsenden Rohstoffe gewidmet, wobei er tatsächlich sein altes Vorhaben verwirklichen konnte. Aber der Preis für diesen Erfolg war hoch gewesen und nicht nur er hatte ihn zahlen müssen. Natürlich war es Unsinn anzunehmen, sein Wunsch sei ursächlich für die ganze Entwicklung gewesen, aber trotzdem hatte er manchmal ein schlechtes Gewissen. Dann fühlte er sich schuldig an seinem „Sternenkind“, das niemals das Licht der Welt erblickt hatte, schuldig an Veronika, die das von ihr so sehnlich erhoffte Leben niemals hatte führen können und schuldig an den anderen Menschen in seiner Umgebung, die sich mit dem zufriedengeben mussten, was nach dieser Sache noch von ihm übrig war.

 

Vor dem Fenster tobte ein Gewittersturm, als wolle die Welt noch in dieser Nacht untergehen. Und in ihm tobten seine Erinnerungen, weil seine Welt schon lange untergegangen war und er das Gefühl nicht los wurde, dies sei durch seinen unbedachten Wunsch geschehen. Er hätte es gut haben können und die Menschen, die damals um ihn waren, mit ihm. Aber wie sich herausgestellt hatte, war das nun mal nicht sein Weg gewesen, aus welchen Gründen auch immer. Er schaute von seinem Glas auf und aus dem Fenster, vor dem das Unwetter wütete.

 

Natürlich waren seine Schuldgefühle Quatsch. Kein vernünftiger Mensch konnte ernsthaft glauben, dass Wünsche allein die Realität verändern. Es sei denn, Sheldrakes Hypothese der morphogenetischen Felder würde sich doch noch eines Tages als wahr herausstellen. Er atmete tief durch und versuchte die Finsternis aus seinem Inneren zu verscheuchen. Es war einfach nur so gekommen, wie es gekommen war. Es war sein Weg gewesen und er hatte ihn gehen müssen. Letztlich hatte ihm der Erfolg ja auch Recht gegeben. Klar wäre ein Leben mit einem auskömmlichen Job, einer sinnlichen Frau und ein paar Kindern, die er auch öfter mal sah, etwas Wunderbares gewesen, aber auch nichts Außergewöhnliches und da er genau hierfür ein gewisses Faible hatte bezweifelte er, dass es ihn glücklicher gemacht hätte als das Leben, das er tatsächlich gelebt hatte. Wahrscheinlich säße er dann jetzt hier, weil er zu irgendeiner Lehrerfortbildung gefahren wäre, tränke seinen Wein und wäre unzufrieden mit sich, weil er in der Welt nicht viel bewegt hatte. Letztlich ging seine Unzufriedenheit also wohl weniger auf sein Leben zurück, als vielmehr auf seine fatale Unfähigkeit, überhaupt mal mit irgendwas zufrieden zu sein. Wahrscheinlich fehlte ihm einfach dieses bestimmte Gen dafür. Aber andererseits war seine Unzufriedenheit auch das gewesen, was ihn immer wieder dazu gebracht hatte neue Wege zu beschreiten, anstatt einfach nur auf den

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 10.03.2015
ISBN: 978-3-7368-8284-3

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