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Das Wurmloch

 

Er stand an der Brüstung des großzügigen Balkons und genoss den sanften Wind, der ihm übers Gesicht strich und nach Sommer und Rosmarin roch, nahm einen Schluck von dem trockenen Roten, der nirgends so großartig war wie auf diesen gesegneten Inseln und ließ seinen Blick weit über das Umland schweifen.

 

Der Ferienclub war einer von der besseren Sorte. Weitab vom Trubel der billigen Touristen-Ghettos in den Hügeln gelegen, mit eigenem Bootsteg und gepflegtem Strand. Die weitläufige Anlage bot jeden erdenklichen Komfort und der Gedanke an Langeweile kam gar nicht auf. Wer ausspannen wollte, konnte die himmlische Ruhe in den verstreut liegenden Lofts genießen und wer es vorzog, sich die Nächte um die Ohren zu schlagen, kam im hauseigenen Disco-Bunker unter dem Zentralgebäude auch auf seine Kosten. Mehrere Tapas-Bars, Restaurants und eine gediegene Nacht-Bar rundeten das Angebot ab. Und wem das immer noch nicht reichte, konnte mit dem Leihwagen über die tadellos ausgebaute Zugangsstraße in die nahe gelegene Stadt fahren, um Lokalkolorit zu schnuppern. Ein mehr als zufriedenstellender Urlaub!

 

Er beugte sich über die Brüstung und sah seinen Sohn Johannes mit den anderen Kindern im Wasser herumtollen. Er war groß für sein Alter, athletisch und sonnengebräunt. Veronika hatte sich auf eine der hauseigenen Liegen gelegt, genoss den lichten Schatten eines Sonnenschirms und bekam gerade einen Drink gebracht. Versonnen betrachtete er ihre immer noch großartige Figur. Sie war schon immer eine sehr schöne Frau gewesen und hatte durch ihre zwei Schwangerschaften nichts von ihrem Liebreiz verloren. Ihre langen, blonden Haare hatten sich auf der Liege ausgebreitet wie flüssiges Gold.

 

Er war rundum zufrieden mit sich und der Welt. Alles, was er angefangen hatte, war ihm gelungen und hatte ihm Ansehen, Wohlstand und Glück gebracht. Nach dem Studium hatte er einige Jahre in einem angesehenen Labor gearbeitet, dort promoviert und gut verdient. Er hatte Veronika geheiratet und bald darauf war ihre Tochter Klara zur Welt gekommen. Als Johannes unterwegs war, hatte er von seiner unverhofften Erbschaft das Haus gekauft, das er über fünf Ecken spottbillig in einem schicken Vorort erstanden hatte. Schließlich hatte er sich mit einem eigenen Labor selbständig gemacht, das schon bald florierte und ausgezeichnete Gewinne abwarf. Auch das Consulting-Unternehmen für chemische Verfahrensfragen, das er bald darauf gründete, lief ausgezeichnet und mehrte sein Ansehen ebenso, wie seinen Wohlstand. Und jetzt war er mit seinen Lieben in diesem ausgezeichneten Club auf den Kanaren abgestiegen, wo sie ihre Ferien in vollen Zügen genossen. Sie waren im besten Alter, hatten mehr als genug Geld, interessante Aufgaben, keine Sorgen, waren alle gesund und glücklich – wer konnte denn mehr verlangen?

 

Er stellte sein leeres Glas auf die Spüle der Küchenzeile, zog sich Schuhe an und begab sich zum Pool. Dort orderte er an der Bar ein großes Glas Limonade und suchte sich ein schattiges Plätzchen, von dem aus er den Pool gut überblicken konnte. Der war gut besucht und er steuerte auf einen der kleinen Tische zu, die am Rande standen. An einem der Tische saß ein alter Mann mit gepflegter Garderobe, ein Glas Limonade und ein Buch neben sich. Als er seine suchenden Blicke wahrnahm, winkte er ihn heran und sagte: „Möchten Sie sich vielleicht zu mir setzen? Es ist ein wenig voll Heute.“

 

„Ja, gerne! Haben Sie vielen Dank“, nahm er das Angebot an und setzte sich. Sein Nachbar nahm das Buch zur Seite, damit er sein Glas abstellen konnte.

 

„Vielen Dank, sehr aufmerksam“, bedankte der sich artig und schaute neugierig auf den Einband. „Oh! Stephen Hawkings ´Universum in der Nussschale´. Und sowas lesen Sie im Urlaub?“, eröffnete er das Gespräch.

 

„Ja“, bestätigte der Alte. „Ich habe bis vor Kurzem Mikrobiologie in Hannover gelesen, aber bin eigentlich gelernter Chemiker. Physik und Kosmologie haben mich seit jeher fasziniert und jetzt habe ich endlich mal Zeit dafür.“

 

„Respekt!“, sagte er und nickte anerkennend mit dem Kopf. „Ich habe mich auch immer für Physik interessiert, hatte aber zu wenig Ahnung von Mathematik, um ein Studium zu wagen. Hawking finde ich hochinteressant, vor allem seine Hypothese der Wurmlöcher.“

 

„Ach, dann haben Sie das Buch auch gelesen?“

 

„Ja, vor einigen Jahren schon. Also, der Mörder ist ...“

 

„Werden Sie wohl den Schnabel halten!“, schalt das Alte spaßhaft und Beide mussten sie lachen.

 

Es war wie verhext! Gerade bei stupiden Arbeiten, wie Laub harken, überfielen ihn regelmäßig diese finsteren Gedanken. Klar – das Leben ist kein Pony-Hof und es läuft nie alles wie geplant. Aber bei ihm war wirklich ALLES schief gelaufen: der Job in seiner alten Heimatstadt, der Knall auf Fall zu Ende war, was ihn in ernste Schwierigkeiten gestürzt hatte. Veronika, die ihr Kind verloren und ihn grob und verletzend verlassen hatte. Seine Selbständigkeit, die trotz wiederholter, engagierter Anläufe letztlich total gescheitert war und ihm einen Trümmerhaufen hinterlassen hatte. Seine Erbschaft, die von seinem Anwalt total verdummbeutelt worden war, so dass er nur Kosten und Ärger davon gehabt hatte. Seine Ehe mit Anna, die wohl nicht zuletzt aufgrund seiner hartnäckigen Misserfolge gescheitert war, so dass er seine geliebten Kinder fast nie sehen konnte und zu allem Überfluss auch noch sein Auge, dass er vor einigen Jahren bei einem total blöden Laborunfall verloren

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 11.11.2014
ISBN: 978-3-7368-5520-5

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Meinem verehrten Lehrer Hans Diekmann

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