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Kapitel 1

 

,,Dieses Gemälde kam vor 200 Jahren in den Besitz der Grafenfamilie. Es war ein Geschenk des Königs aus Lokia, unserem Nachbarland, welches ein besonderes Bündnis zu den Ainsworths pflegt und..."
Unsere Führerin setzt ihr Gerede noch fort, aber mir ist nicht danach ihr weiter zuzuhören, auch wenn ich das Gemälde wirklich schön finde. Es zeigt einen Fluss, umgeben von dichten Laubbäumen. Man sieht die leichten Wellen des Flusses und kann sich das leise, sachte Rauschen vorstellen. Am Rand steht ein sorgfältig verzierter Pavillon, darunter sitzen Mutter und Tochter in eleganten Kleidern und beugen sich mit einem Lächeln über ein aufgeschlagenes Buch. Wie fröhlich und ruhig das Bild wirkt. Wenn das Leben bloß genauso sein könnte. Genauso wie das Leben von Romanfiguren. Voller Abenteuer, Freude und neue Erlebnisse. Stattdessen ist es jeden Tag dasselbe. Oberflächliche Beziehungen, das allseits bekannte Fake-Lächeln bis man abends schließlich todmüde auf seinen Bett sinkt. Und schon ist ein Tag vergangen ohne, dass eine wirklich interessante Sache passiert wäre. Das beste an der letzten Woche war, als sich Herr Jacob, unser Geschichtslehrer sich mühelos vor der Klasse blamiert hat.
,,Nathanial? Wie würdest du in dieser Situation politisch vorgehen?" - fragte er. Was noch als normal angesehen werden könnte, wäre da nicht das kleine Problem, dass wir nicht einmal jemanden in der Klasse haben, dessen Namen man auch nur annähernd mit Nathanial verwechseln konnte. Er schaute zum Tisch von Frederick und Luca. Die beiden drehten ihre Köpfe verwirrt hin und her, weil sie nicht wussten wer gemeint sein könnte.
,,Nathanial ist heute krank." - meinte Luca schließlich und die ganze Klasse brach in schallendes Gelächter aus.
Herr Jacob runzelte nur die Augenbrauen und murmelte:
,,Ich könnte schwören, dass ich ihn heute schon gesehen habe..."
Währenddessen trug er Nathanial als fehlend in das Klassenbuch ein.
Es ist kein großes Erlebnis und nichts wahnsinnig Tolles, aber ich hatte schon länger nicht mehr so herzlich gelacht wie an dem Tag. Außerdem fand am selben Tag noch die Abstimmung für die Klassenfahrt statt. Zur Auswahl standen jetzt in Herbst nur Minigolf und eine Schlossbesichtigung, welches auch heute noch von einer Grafenfamilie bewohnt wird. Die meisten Mädchen aus der Klasse hoffen, dass sie hier dem Grafensohn begegnen würden und stimmten auch deshalb für die Schlossbesichtigung. Ich habe mich enthalten. Das sind nur Hoffnungen, die sowieso unerfüllt bleiben. Eine solche Sache passiert nur in Büchern. Wahrscheinlich bereuen die meisten schon ihre Wahl, weil die Führung an sich verdammt langweilig ist. Am liebsten würde ich alleine in aller Ruhe auf den mit weichen Teppichboden ausgelegten Fluren entlang schlendern und mir zu den einzelnen Bildern und Gegenständen Geschichten erfinden. Das Schloss an sich ist wunderschön.
Wir laufen weiter zum nächsten Gemälde und hören uns auch hier eine allzu ausführliche Geschichte dazu an, als ich plötzlich merke wie ein stechender Schmerz in meinen Kopf fährt und mir langsam schwindelig wird. Wahrscheinlich habe ich zu wenig getrunken. Meine Wasserflasche habe ich daheim vergessen und ehrlich gesagt ist das Verhältnis zu meinen Klassenkameraden nicht sehr gut. Deshalb kann ich auch niemanden bitten mir etwas von seinem Trinken zu geben.
Ich entschließe mich, mich kurz von der Führung zu verabschieden und flüsterte meiner Lehrerin zu, dass ich kurz auf die Toilette gehe, erstens um mein Kopf ein bisschen klar zubekommen, zweitens um mich am Wasserhahn zu bedienen. Meine Lehrerin nickt nur und ich versuche so unauffällig wie möglich in die Richtung zu verschwinden, wo ich mich erinnere eine Toilette gesehen zu haben. Es war zwei Fluren weiter entfernt die dritte Tür, wenn ich mich nicht täusche.
Natürlich schaffe ich es nicht unauffällig zu verschwinden und stolpere an der nächsten Türschwelle. Ich war mit den Gedanken schon im nächsten Flur und habe gar nicht vor meine Füße geschaut. Somit ernte ich noch Gelächter von meinen Klassenkameraden bevor ich mich ganz im nächsten Flur befinde. Inzwischen habe ich gelernt dem Gespött der anderen keine Beachtung zu schenken. Unbeirrt laufe ich schnellen Schrittes weiter und drücke die Türklinke der dritten Tür im zweiten Flur runter, wo die Toilette meiner Erinnerung sein muss. In meiner Eile habe ich mich leider auf mein Gedächtnis verlassen. Aus diesem Grund ist die Überraschung noch größer als ich plötzlich einen Jungen vor mir erblicke, der gerade dabei ist sich den T-Shirt über den Kopf zu ziehen. Ich schäme mich dafür, dass mein Blick zuerst auf seine Bauchmuskeln schweift, die übrigens sehr durchtrainiert aussehen. Also, die Situation ist dann Folgendes: Ich stehe im Tür eines Fremden und glotze auf sein Bauch. Das muss bei ihm sehr gut ankommen. Er sieht mich aus seinen grünen Augen verwundert an und zieht die Augenbrauen zusammen. Ich beneide ihn in diesem Moment sofort für seine Augenfarbe. Ich habe für meine Augen ein hässliches braun geerbt. Es ist nicht so, als fände ich braune Augen im Allgemeinen hässlich, aber meine sind es wirklich. Keine tiefen, dunklen Bambi Augen und auch kein nettes, helles haselnussbraun. Es ist etwas Unbeschreibliches dazwischen. Manche würden vielleicht jetzt denken, dass es doch sicher gut aussehen muss. Diejenigen kann ich guten Herzens versichern, dass dem nicht so ist. Aber zurück zu meinem jetzigen Problem, wenn man das so nennen kann. Der Junge lässt sein T-Shirt zurück auf seinen Körper gleiten und mustert mich.
,,Wie kommst du dazu, ohne zu klopfen in mein Zimmer zu kommen? Wo ist deine Zofenkleidung? Wetten, du bist neu hier." - schnaubt er genervt.
Wie bitte? Hat er mich gerade als Zofe bezeichnet? Sogar ein Igel würde erkennen, dass ich das nicht bin.
,,Wer bist du überhaupt?" - frage ich ihn.
,,Das weißt du nicht?" - weiten sich seine Augen.
,,Nein." - erwidere ich langsam auch in einem genervten Ton.
,,Wirklich nicht?"
,,Wie gesagt, ich habe keine Ahnung wer du bist."
,,Wie kann das sein?"
,,Wie kann es sein, dass du dir so sicher bist, dass ich wissen muss wer du bist?"
,,Hör auf mich zu duzen."
,,Du bist doch nicht viel älter als ich!"
,,Weißt du, dass du verdammt frech bist?"
,,Das kann dir doch egal sein. Ich wollte doch nur die Toilette suchen!"
Hier rauf kann er nichts mehr erwidern und sieht mich verdutzt an. Ich bin ihm während unserem kleinen Wortgefecht nähergetreten und sehe jetzt, wie wunderschön sein Gesicht aussieht. Er hat dunkelbraune Haare, die weder zu kurz noch besonders lang sind und ihm in das markante Gesicht fallen. Fast, als wäre er aus einem Roman entsprungen. Das Gesamtbild wird aber durch seinen Charakter komplett zerstört.
,,Wer bist du?" - fragt er mich nach langem Schweigen.
,,Ich heiße Ava und bin mit meiner Klasse hier. Und wer bist du?"
,,Ich bin Maxime Ainsworth."
,,Aha."
Und dann fällt mir der Groschen. Ainsworth. Der Name der Grafenfamilie, denen dieses Schloss gehört.
,,Bist du..."
,,Ja ich bin der jüngste Sohn der Familie Ainsworth."
,,Ah cool." - sage ich, weil mir echt nichts Besseres einfällt.
,,Willst du dich nicht vielleicht entschuldigen?"
,,Wofür?"
,,Dafür, dass du vorhin nicht angemessen mit mir geredet hast?"
,,Achso. Nein, möchte ich nicht. Ich habe nichts falsch gemacht. Du hast das Ganze angefangen."
Noch bevor er etwas erwidern könnte ertönen Schritte auf dem Gang.
,,Das ist sicherlich die Zofe. Sie darf dich hier nicht sehen. Es ist zu spät jetzt noch rauszugehen." - er blickt sich panisch im Raum um, bis sein Blick auf dem größten Schrank stehen bleibt, den ich je gesehen habe. Die Decke von seinem Zimmer ist sehr hoch und die Möbel, darunter das Bett, das Schreibtisch, die Kommode und der Nachttisch, sind im gleichen Design gestaltet.
,,Komm schnell!" - sagt er und deutet auf den Schrank.
,,Ich werde da nicht reingehen, wenn du das meinst."
Schon seit ich klein bin leide ich an Klaustrophobie und sträube mich davor mich in enge Räume zu begeben.
,,Doch das wirst du." - er ergreift mein Handgelenk und zerrt mich zum Schrank. Ich will mich losreißen, aber er ist viel stärker als ich.
,,Nein, bitte nicht!" - flehe ich ihn verzweifelt an, aber er schenkt mir keine Beachtung, schubst mich in den Schrank und schlägt die Schranktüren zu. Genau in diesem Moment höre ich, wie die Zofe das Zimmer betritt.

Kapitel 2

,,Junger Herr, darf ich fragen wieso Ihre Tür offensteht?" - höre ich gedämpft die Stimme der Zofe. Die Antwort bekomme ich nicht mehr mit. Die Stimmen scheinen plötzlich meilenweit weg zu sein. Ich bin alleine und ich weiß, dass ich die Tür nicht öffnen darf. Wieso eigentlich? Nur weil Maxime das gesagt hat? Es wäre doch maximal ein Problem für ihn, wenn man ein Mädchen in seinem Zimmer findet, ich bin schließlich nur aus Versehen in diese Schlamassel hineingeraten. Wie lange noch? Wie lange brauchen die? Was ist wenn er mich einfach vergisst, die Tür nicht öffnet und ich vergeblich darauf warte? Meine Brust zieht sich zusammen und mein Atem wird stockender. Ich befürchte zwischen all den Kleidern zu ersticken. Ich will hier raus! Mein Herz rast in einem Tempo, wie die Autos auf einer Autobahn. Wieso öffnet immer noch keiner? Es ist klar, dass ich Maxime sowieso egal bin, das hat man vorhin, als er mich ohne mein Flehen zu beachten in den Schrank gestoßen hat schon gesehen. Trotzdem möchte ich nicht, dass er mich in diesem Zustand sieht. Was würde er bloß von mir denken? Auf meiner Stirn bilden sich immer mehr Schweißperlen und die Dunkelheit wird immer erdrückender. Wenn ich hier nicht gleich rauskomme, drehe ich im wahrsten Sinne des Wortes durch. Die Panik überkommt mich immer heftiger. Dabei werden meine Gedanken immer wirrer und ein leichter Schwindel lässt mich gegen die hintere Schrankwand lehnen.
Das nächste was ich mitbekomme ist ein starker Lichtstrahl, der meine Augen dazu zwingt sich zusammenzukneifen. Ich torkele blind nach vorne und falle vor dem Schrank auf die Knie. 'Atmen. Ganz tief Durchatmen.', versuche ich mich zu beruhigen. Es ist vorbei. Ich bin draußen im großen, hohen Zimmer von Maxime.
,,Hey, ist alles in Ordnung?" - beugt sich der ''junge Herr'' zu mir runter.
,,Sieht es vielleicht danach aus?"
Ich lasse die Beschämtheit nicht in meiner Stimme mitklingen.
,,Ich wollte nur mal nett sein, ja?" - schnaubt Maxime.
,,Die Chance ist schon längst weg."
,,Ach ja? Weil ich derjenige war, der in ein fremdes Zimmer hereinspaziert ist, stimmt's?"
Langsam habe ich mich von meinem Schock erholt und rappele mich auf. Es gelingt mir erst beim zweiten Versuch ganz aufrecht zu stehen und das auch nur mit der Hilfe von Maxime, der mich am Ellbogen hochzieht.
,,Lass mich los." - zische ich ohne den geringsten Spuren von Dankbarkeit.
,,Ist ja gut. Und jetzt verschwinde."
,,Mache ich liebend gerne." - erwidere ich.
In dem Moment fällt mir ein, wieso ich eigentlich gekommen bin. Um mein Kopf freizubekommen und etwas zu trinken. Das mit Kopf freibekommen hat schon mal nicht geklappt.
,,Gib mir bitte etwas zu trinken." - seufze ich und sinke erschöpft in den nächstgelegen Sessel. Zum ersten Mal habe ich eine Möglichkeit mich richtig im Zimmer umzusehen. Der rechteckige Teppich im Mitte des Zimmers ist blau und sieht total flauschig aus. Die anderen Möbel sind alle aus dem gleichen Holz, wie ich vermute aus Mahagoni gemacht. Das Besondere an den Möbeln sind die Löwenköpfe. An allen Teilen sind welche angebracht. Wie viel Mühe und Arbeit es kosten muss, solche Einzelheiten zu schnitzen.
,,Hier dein Wasser." - hält mir Maxime genervt eine Tasse mit einer durchsichtigen Flüssigkeit hin.
,,Danke."
Ich nippe an meinem Glas. Es ist einfach himmlisch, wie das kalte Wasser über meine Zunge in mein Rachen gleitet und mein Durst stillt.
,,Wann hast du vor zu gehen?"
Maxime verschränkt die Arme vor seiner Brust und schaut mich mit zusammengezogen Augen an.
,,Jetzt. Es geht mir schon viel besser."
,,Toll. Dann kannst du endlich verschwinden."
,,Einen Moment noch. Jetzt bist du an der Reihe dich zu entschuldigen."
,,Was? Wieso?"
,,Weil du mich ohne irgendeine Vorwarnung in den Schrank gezwungen hast."
,,Das war eine Notlösung."
,,Eine Entschuldigung würde ich aber trotzdem verdienen."
,,Es ist nicht meine Schuld. Ich wusste schließlich nicht, dass du so reagieren würdest"
,,Weißt du was? Ist auch egal. Ich gehe." - empört springe ich zu der Tür und wäre schon beinahe dabei in den Flur hinauszurennen, als mich ein neuer Schwindelanfall überkommt und es vor meinen Augen schwarz wird.

,,Ich weiß selber nicht was sie bei mir gemacht hat, schließlich habe ich sie nicht zu mir eingeladen."
,,Trotzdem musst du zusehen, dass sie wieder zu sich kommt und die sie dann so schnell wie möglich wegschicken, damit Mom und Dad nichts davon mitbekommen."
,,Das ist mir klar."
Die Stimmen kommen nur leise bei mir an und ich versuche mit ganzer Kraft das Dröhnen in meinem Kopf zu unterdrücken. Was ist mit mir passiert? Wem gehören die Stimmen? Wo war ich nochmal? Wir waren auf dem Ausflug im Schloss... Ich hatte Kopfschmerzen bekommen und wollte aufs Klo... Was war aber danach? Angestrengt denke ich nach, als mir plötzlich alles wieder einfällt. Die falsche Tür, der Grafensohn und der Schrank. Oh mein Gott. Wie konnte mir das bloß alles passieren? Vorsichtig öffne ich die Augen und werde erst einmal von starkem Licht geblendet, bevor ich wieder sehen kann.
,,Sie ist wach."
,,Endlich. Ich dachte schon sie verschläft den ganzen Tag."
Ich rappele mich auf und merke, dass eine weiche Decke mich bis zu der Hüfte bedeckt.
,,Wie geht es dir?" - fragt mich der Junge neben Maxime.
Sie sehen sich sehr ähnlich, ich vermute mal, dass sie Geschwister sind.
,,Es ist alles in Ordnung. Wo sind die anderen?"
Ich schaue ihn an und richte meine Worte an ihm. Mit Maxime will ich nichts mehr zu tun haben, seine Aktion mit dem Schrank hat gereicht, damit ich kein Wort mehr mit ihm wechseln will. Auch jetzt steht er nur mit verschränkten Armen neben dem Bett und mustert mich mit einem unergründlichen Blick.
,,Welche anderen?" - fragt mich sein vermutlicher Bruder.
,,Meine Klasse, mit der ich hierhergekommen bin."
,,Wann war das?"
,,Heute morgen, wieso?"
,,Es ist fünf Uhr abends."
,,Was? Du veräppelst mich gerade nur oder? Bitte sag, dass es so ist." - flehe ich ihn panisch an.
Hat die Lehrerin nicht vielleicht die Klassenliste angeschaut damit ihr auffällt, dass ich irgendwie nicht da bin? Sie konnten doch nicht ohne mir losgefahren sein!
,,Tut mir Leid. Mir ist momentan nicht zum Spaßen zumute."
,,Nein, nein das kann nicht sein. Wie komme ich so nach Hause?"
,,Gerade gar nicht. Es tobt draußen schon seit Stunden ein großer Schneesturm. Öffentliche Verkehrsmittel sind lahmgelegt und es wird nicht empfohlen in den Auto zu steigen."
,,Verdammt. Ich brauche ein Telefon. Meine Eltern suchen mich bestimmt schon."
Wie konnte nur alles so schief laufen? Es sollte doch ein langweiliger Klassenausflug werden!
Der Telefonat mit meiner Mutter verläuft nicht sehr gut. Sie ist ganz und gar nicht erfreut darüber, dass ich sie erst jetzt anrufe und sie sich bisher Sorgen machen musste. Außerdem muss ich auch erfahren, dass Dad noch bis sehr spät arbeitet und Mom in diesem Wetter nicht mit dem Auto losfahren will.
,,Schatz. Morgen holen wir dich ab! Versprochen! Frag, ob du deinen Gastgebern" - hier bricht sie in einem Kichern aus - ,,keine Umstände bereitest und dort für eine Nacht bleiben darfst."
Wieso kommt es mir so vor als wäre Mom erfreut darüber, dass ich ausgerechnet bei einer Grafenfamilie gestrandet bin. Widerwillig halte ich den Hörer zu und wende mich an den Bruder von Maxime:
,,Dürfte ich die Nacht vielleicht hier verbringen? Meine Eltern können mich nicht abholen."
,,Wenn es keine andere Möglichkeit gibt werden wir dich wohl kaum auf die Straße setzten." - schenkt er mir ein schiefes Grinsen.
,,Mom? Es ist in Ordnung. Ich warte dann morgen auf euch bis dann." - seufze ich und lege den Hörer ab.
So habe ich mir diesen Ausflug niemals vorgestellt.

Kapitel 3

Ich folge einer Zofe den Flur entlang und betrachte die Löwenköpfe an den Wänden, die mir auch schon in Maximes Zimmer aufgefallen sind.
,,Entschuldigen Sie, sind die Löwenköpfe, die man hier im Schloss überall sieht von einer Bedeutung für die Grafenfamilie?" formuliere ich meine Frage so höflich wie möglich.
Die Zofe, eine Dame mittleren Alters mit braunen Haaren und einen strengen Dutt dreht sich zu mir um und lächelt mich mit einem belustigten Aufblitzen in ihren hellbraunen Augen an.
,,Sie haben bei der Führung nicht sehr aufmerksam zugehört, liege ich da richtig?" - kichert sie leise.
Ich finde sie sofort sympathisch.
,,Eh, ja das kann schon sein." - lächele ich verlegen zurück.
,,Kann ich verstehen, die sind wirklich stinkelangweilig. Wenn ich gerade in der Nähe putze höre ich oft etwas mir und ganz ehrlich, ich würde nicht gerne an der vollen Führung teilnehmen wollen."
Wir beide brechen in Gelächter aus und ich bin froh, dass wir uns gleich auf Anhieb so gut verstehen. Doch dieser Augenblick hält leider nicht lange.
,,Hast du nichts Besseres zu tun als auf dem Flur dein Kaffeekränzchen zu halten? Führe unseren Gast in ihr Zimmer und mach dich gefälligst daran mein Zimmer zu säubern! Nicht einmal das Bett ist gemacht!"
,,Ihr Zimmer gehört nicht zu meinem Teil, Herr..." - versucht die Zofe sich leise zu verteidigen.
,,Das kann mir doch völlig egal sein! Jetzt verzieh' dich aus meinem Blickfeld und leiste die Arbeit für die du bezahlt wirst!" - dröhnt die Stimme des Mannes, der plötzlich neben uns erschienen ist an mein Ohr. Er ist keine angenehme Erscheinung, wenn ich das so sagen kann. Sein ohne Grund wutentzerrtes Gesicht, die ungekämmten Haare und die schrägen, gelben Zähne lassen ihn eher wie ein Penner aussehen, als einen Adligen, wie es sich von seiner Kleidung vermuten lässt. Der dicke Bauch und der unordentliche Bart machen das auch nicht viel besser. Wahrscheinlich würde man in seinem Bart alles mögliche von Essensresten und anderen ekligen Zeugs finden, wenn man danach suchen würde. Ich denke aber, dass kein Mensch sich das jetzt zumuten würde. Die Zofe verbeugt sich ohne ein Wort. Sie deutet mir mit der Hand, damit ich ihr folge und geht weiter. Ich werfe noch einen Seitenblick auf den Mann, der genau wie Maxime meistens, mit verschränkten Armen neben uns steht und mit einer unbeschreiblichen Bosheit beobachtet wie wir davongehen. Sobald wir außer Hörweite sind frage ich die Zofe:
,,Wer war denn dieser alte Drecksack?"
,,Sagen Sie sowas nicht, hier haben sogar die Wände Ohren. Es war der Bruder des Grafen."
,,Wieso hat er nicht auch den Titel eines Grafen wenn er wirklich der Bruder ist?"
,,Weil seine Eltern ihm das in seinen jungen Jahren höchstpersönlich entzogen haben. Man sagt sie hätten ihm gesagt, er sei nicht würdig ein Graf zu sein, und das angeblich vor einer ganzen Schar von Zuschauern."
,,Wie kommt es dann, dass er hier lebt?"
,,Der Graf ist ein guter Mensch. Er hätte niemals seinen Bruder weggeschickt und dieser zeigt keine Anstalten von sich selbst aus zu gehen."
Den Weg bis zum Gästezimmer verbringen wir in nachdenklichem Schweigen.
,,Ihr Zimmer. Bitte machen Sie es sich bequem. Wenn es Ihnen an etwas mangelt müssen sie am Telefon die Nummer 18 betätigen und ich komme zu Ihnen hoch. Bis dann." - verabschiedet sie sich.
,,Danke! Vielen Dank für alles!" - rufe ich ihr nach und sie lächelt mich beim Umdrehen noch kurz an.

Etwa eine Stunde später klopft es an meiner Tür. Ich lege auf dem riesigen Bett, umrahmt von zwei goldenen Baldachimvorhängen auf einem weichen Bettbezug und starre an die hohe Decke. Das Gästezimmer hier ist beinahe größer als unsere Wohnung. Es ist so ähnlich ausgestattet wie Maximes Zimmer, wenn auch nicht ganz so elegant. Die Löwenköpfe sind auch hier auf allen Möbeln vorhanden.
,,Herein!" - rufe ich erfreut in dem Glauben, dass die nette Zofe von vorhin wiederkommt. Ich setze mich auf dem Bett auf und lächele fröhlich meinem Besucher entgegen. Nur schade, dass das Lächeln sehr schnell von meinem Gesicht entweicht, als ich sehe wer wirklich in der Tür steht.
,,Eh... Hi Maxime." - sage ich wenig erfreut.
Er verdreht die Augen. Vermutlich ist er mit meiner Begrüßung nicht zufrieden.
,,Bist du vielleicht falsch hier?"
Wieso sollte Maxime auch an meiner Tür klopfen?
,,Ist das eine ernst gemeinte Frage. Ich lebe hier. Ich verirre mich hier nicht und öffne auch nicht die falsche Tür, wie einige andere."
,,Haha, sehr lustig..."
,,Wie auch immer. Meine Eltern wollen, dass du ihre volle Gastfreundschaft auskostest und beim Abendessen erscheinst."
,,Oh cool, ich bin sowieso schon voll hungrig, was gibt's heute Abend?"
,,Ich habe noch nicht fertig gesprochen. Du kannst natürlich auch die Möglichkeit ablehnen und hier im Zimmer essen. Dazu würde ich dich raten."
,,Also sagst du ich soll nicht hingehen?"
,,Genau das versuche ich dir einzutrichtern."
,,Gut, dann gehe ich auf jeden Fall zum Abendessen. - treffe ich die Entscheidung, die sich später aber als die schlechteste meines Lebens herausstellt.

Nachdem Maxime gegangen ist, kommt eine Zofe, die ich noch nicht kenne, wieder.
,,Fräulein, ich habe Ihnen eine angemessene Bekleidung für das Abendessen vorbereitet. Bitte kleiden Sie sich ein, ich komme in fünf Minuten wieder um ihre Haare zu machen."
Sie legt ein hellblaues Kleid auf mein Bett, verbeugt sich und geht.
Ich habe sogar vergessen, mich zu bedanken und bin nur dazu im Stande das Kleid anzustarren. Ich habe noch nie etwas so elegantes getragen. Bei mir dominiert größtenteils der Jeans und T-Shirt Stil. Vorsichtig berühre ich das Kleid und nehme es in die Hände. Es fühlt sich weich an. Schnell werde ich meinen anderen Kleidungsstücken los und ziehe mir das Kleid über. Es ist ein sehr angenehmes Gefühl, wie es mit seinem leichten Stoff bis zu meiner Hüfte eng anliegt und dann in leichten Wellen zu Boden fällt. Mit meinen Augen suche ich den Raum nach einem Spiegel ab, als es plötzlich wieder an der Tür klopft und ich die Zofe reinkommen lasse.
Die nächsten paar Minuten vergehen damit, dass ich meine Füße versuche in die Schuhe zu zwängen, die sie mir mitgebracht hat während sie daran arbeitet den Heuhaufen auf meinen Kopf zu bändigen.
Nachdem sie fertig ist führt sie mich zum Schrank und öffnet die linke Schranktür. An der Innenseite ist ein großer Spiegel angebracht, aus dem mich eine ganz andere Ava anschaut. Das Kleid ist wie für mich gemacht und die Zofe hat auch meine Haare fantastisch hinbekommen. Sie sind in einem hohen Dutt zusammengebunden, nur vorne fallen zwei gelockte Strähnen neben meinem Gesicht hinab. Auch eine leichte Schminke hat sie mir aufgetragen, weshalb mein Gesicht komplett verändert wirkt.
,,Sind Sie zufrieden, Fräulein?"
,,Ja, absolut... Es ist wunderbar geworden, ich danke Ihnen."

Eine Viertelstunde später laufe ich hinter der Zofe einen langen Gang entlang, bis wir an einer großen Tür ankommen. Sie öffnet die Tür und eine Stimme aus dem großen Saal, wie man es sofort erkennen kann, ruft:
,,Komm rein."
Es ist Maximes Stimme, der wohl gemerkt haben muss, dass ich nur unwohl in den prächtigen Saal eintreten will.
Ich mache ein paar Schritte nach vorne, die Zofe steht neben mir. Es ist ein sehr komisches Gefühl an solchen Orten zu sein, wo ich eigentlich nicht hingehöre. Ich fühle mich wie ein Eindringling. Aber ich werde Maxime beweisen, dass ich es durchziehe.
,,Bleib lieber draußen." - lässt mich eine weibliche Stimme in der Bewegung innehalten. Ich spüre förmlich, wie die Luft im Raum um uns herum einfriert. Es setzt sich eine drückende Stille auf uns.
,,Habe ich dir nicht gesagt, dass du reinkommen sollst?" - bricht Maxime ohne Vorwarnung die Stille und ich erinnere mich wieder daran wie man atmet. Noch einmal an diesem Tag nehme ich meinen ganzen Mut zusammen und laufe zum langen Esstisch. Am Tisch sitzen zwei Herren mittleren Jahres, von denen ich den bösen Onkel wiedererkenne. Der andere ist vermutlich der Graf. Am anderen Tischhälfte sitzen zwei Mädchen, etwa in meinem Alter, des Weiteren noch Maxime und sein großer Bruder.
,,Herzlich willkommen bei uns. Bitte nimm Platz." - sagt der Mann, den ich als den Grafen einordne freundlich zu mir. Sein Blick aus den dunkelbraunen Augen ist warm. Ich lächele und bewege mich auf den einzigen freien Stuhl zu. Gerade als ich mich schon hinsetzen will, kommt ein männlicher Diener und zieht mir den Stuhl weg. Ich falle auf den Boden und keuche auf. Mein Rücken! Das tat mir gar nicht gut. Alle am Tisch lachen, manche belustigt, wie zum Beispiel der Graf, andere schadenfroh, vor allem die zwei Mädchen, die ich bisher noch nicht kennengelernt habe.
Ich rappele mich auf und schaue den Diener fassungslos an:
,,Wieso haben Sie das getan?"
,,Entschuldigen Sie, Fräulein ich wollte Ihnen nur den Stuhl richten." - stottert der alte Mann.
,,Oh... Wenn das so ist. Tut mir leid."
Die Gruppe am Tisch bricht erneut in Gelächter aus.
Diesmal gelingt es mir aber endlich Platz zu nehmen. Meinen Kopf halte ich gesenkt, weil ich kein Blickkontakt zu der Grafenfamilie haben will. Schließlich werde ich doch gezwungen, meinen Kopf zu heben.
,,Wie gefällt es dir im Palast?" - spricht mich der Graf in seiner sanften Stimme an. Er hat einen kleinen Schnurrbart und kurze Haare, die sein Gesamterscheinungsbild noch besser machen.
,,Es ist wirklich toll hier eure..." - stoppe ich mitten im Satz. Wie spricht man einen Grafen nun eigentlich an?
,,Hoheit?" - wage ich einen Versuch mit dem ersten Titel der mir einfällt. War wohl ein Fehler. Das Gelächter am Tisch ist wieder hörbar und ich würde am liebsten im Boden versinken? Wieso erfindet nicht endlich jemand diesen von vielen ersehnten Loch, der einen verschluckt, wenn es nötig ist?
,,Erlaucht." - flüstert mir Maximes Bruder zu, der neben mir sitzt.
,,Eure Erlaucht." - verbessere ich mich schnell und hoffe sehnlichst, dass sich das Gelächter bald legt.
,,Die Vorspeise wird serviert." - verkündet einer der Diener. Mehrere Zofen treten aus einer anderen Tür mit einer Vielzahl von Tabletts ein. Bald ist der Tisch voll mit verschiedenen Gerichten. Und das soll bloß die Vorspeise sein? Nichts für ungut, aber nicht einmal neun Personen kriegen das fertig. Außerdem ist es nicht gut Essen wegzuschmeißen.
,,Guten Appetit." - sagt der Graf, der anscheinend das Gespräch am Tisch führt. Die anderen flüstern sich dasselbe zu, mich eingeschlossen.
Nach dieser Minute Ruhe, wo die Speisen serviert wurden ergibt euch mein nächstes Problem. Für meinen Geschmack ist neben dem Teller zu viel Besteck platziert. Ich greife nach einer mittelgroßen Gabel. Gleich daraufhin muss ich merken, wie das eine Mädchen mich grimmig anschaut.
,,Hat man dir nicht beigebracht, welches Besteck du für die Vorspeise zu nutzen hast?" - stellt sie mir die Frage, und alle starren auf die Gabel in meiner Hand, als ob sie plötzlich so interessant wäre.
,,Nein, nicht wirklich. Bei mir zu Hause gibt es normalerweise nur eine Gabel, eine besonders große Auswahl habe ich nicht."
,,Entschuldige für die Frage, aber sind deine Eltern aus einem anderen Land?"
,,Bitte was?"
,,Das Besteck."
,,Was ist damit?"
,,Ich habe noch nie jemanden getroffen, der es nicht nutzen kann."
Verlegen schüttele ich den Kopf und erwidere:
,,Ich kann es doch nutzen."
,,Aber nicht richtig. Langsam frage ich mich wirklich wo man herkommen muss, um solch alltägliche Dinge nicht zu beherrschen. Nicht einmal deine Haltung am Tisch stimmt."
,,Ich komme aus einer normalen Familie und da ist es halt üblich, dass es nicht so eine zahlreiche Auswahl an Besteck gibt."
,,Deine Eltern müssen wirklich keine gute Bildung bekommen haben. Du benimmst dich lächerlich."
Tränen treten mir in die Augen und ich springe vom Tisch auf. Ich ertrage noch selbst beleidigt zu werden, aber niemand soll ein Wort gegen meine lieben Eltern erheben.
,,Ich bin lächerlich? Wahrscheinlich weißt du genauso wenig von meinem Leben wie ich von deinem. Der Unterschied ist bloß, dass ich mich nicht auf das Niveau einer verwöhnten Tusse begebe und so tue, als wüsste ich alles!" - schreie ich.
,,Dein Verhalten ist unangemessen! Bleib ruhig." - erhebt plötzlich Maxime seine Stimme und das gibt mir den letzten Hieb. Ich stürme heulend aus dem Saal.

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Tag der Veröffentlichung: 07.01.2016

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