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Leseprobe

SIEBEN, ACHT ... BLUTIG IST DIE WINTERNACHT

TICK, TOCK … TOT.

BUCH 3

ANDREA REINHARDT

 

 

 

 

 

 

Für meine Leser:innen

…ohne die es Andrea Reinhardt nicht gäbe.

24. DEZEMBER 2006

Ich saß in meinem Zimmer und sog den Geruch der frischgebackenen Plätzchen ein. Es erinnerte mich an den letzten Schultag, weil meine Lieblingslehrerin Frau Rommert den Schülern Kekse mitgebracht hatte. Und bei dem Gedanken an diesen Tag musste ich fast weinen. Alle Kinder freuten sich auf die Ferien, ich aber wäre gern bei meiner Lehrerin in der Schule, anstatt bei Papa. Sie behandelte mich seit Mamas Tod immer gut. Manchmal nahm sie mich in den Arm und sagte, dass es in Ordnung sei, wenn ich weinen musste.

Bei Papa war das nicht so. Der schimpfte mich aus und nannte mich ›Heulsuse‹ oder ›Waschlappen‹.

Weihnachten mit Frau Rommert wäre so viel schöner. Ich würde lieber mit ihr lachen, statt bei Papa zu sein, der immer voller Wut war.

Das Fest letztes Jahr war grausam gewesen. Papa hatte nach Mamas Tod eine neue Frau gefunden und sie wenige Tage vor Heiligabend mitgebracht. Aber diese Frau war am vierundzwanzigsten Zwölften gestorben, nachdem Papa sehr böse auf sie geworden war.

Mich schüttelte es, denn ich konnte ihre Schreie noch immer hören. Sie waren so schrill und schmerzerfüllt gewesen, dass sie meine Seele zerbrochen hatten und ich sie nie wieder vergessen konnte. Sie verfolgten mich jede Nacht.

Mama und diese Frau waren an einem Heiligen Abend in unserem Haus gestorben, deshalb hatte ich Angst vor Weihnachten. Am liebsten hätte ich das Frau Rommert erzählt, aber das durfte ich nicht, weil Papa mich sonst in der Luft zerfetzen würde.

Ein neuer Duft nach Zimt und Teig strömte in mein Zimmer, und mir lief das Wasser im Mund zusammen.

Vorsichtig schlich ich in die Küche und hoffte, dass ich ein wenig von dem rohen Teig probieren durfte. Mama hatte es mir immer erlaubt. Ich mochte den am liebsten, wenn er noch nicht gebacken war. Ich brauchte auch nicht die ganzen bunten Streusel darauf.

Aufgeregt beobachtete ich Mara, die Papa in diesem Jahr geholt hatte. Sie stand an der Arbeitsplatte und rührte in einer großen Schüssel. Auf dem Tisch lag ein Backblech, auf dem die ausgestochenen Plätzchen in Herz- und Sternform nebeneinander aufgereiht waren.

»Hallo Mara«, flüsterte ich, weil ich etwas Angst hatte, wie die Frau war. Ich hatte noch nicht so viel mit ihr gesprochen, weil sie erst zwei Tage bei uns war und ich die meiste Zeit im Zimmer bleiben musste.

Sie schaute mich an, ihre Augen waren rot. Hatte sie etwa geweint? »Du sollst mich nicht Mara nennen. Du weißt, dass dein Vater dann sauer wird.«

Ich senkte beschämt den Kopf. »Entschuldigung.«

Ich wollte sie nicht ›Mama‹ rufen, denn sie war nicht meine Mutter. Aber Papa zwang mich dazu. Er wollte unbedingt, dass wir endlich wieder eine glückliche Familie wurden.

Mara streichelte mir über den Kopf. »Ich verstehe, dass es für dich nicht so einfach ist. Das ist es für mich auch nicht. Aber wir wollen deinen Vater nicht wütend machen, oder?«

Schnell schüttelte ich den Kopf, dabei tropfte eine Träne auf den Boden. Mara hatte ein blaues Auge vom Vortag, als sie versucht hatte, Papa zu verlassen, und er sie in seiner Rage verprügelt hatte. Nein, ich wollte auf gar keinen Fall meinen Vater verärgern.

In diesem Moment verspürte ich den Drang, mich in ihre Arme zu schmiegen und darin zu verstecken, so wie bei Frau Rommert. Mara wirkte auch so nett, und ein bisschen sah sie sogar wie meine Lehrerin aus.

»Möchtest du von dem Teig probieren?«, fragte sie mich und wischte mir die Tränen vom Gesicht.

Ich grinste. »Oh ja, bei Mama durfte ich das auch immer.«

»Sie ist jetzt nicht mehr deine Mutter«, dröhnte die tiefe Stimme meines Vaters hinter mir. Sie lag wie eine Drohung über mir.

Ich zuckte zusammen. Starrte Mara entsetzt an, die ihre Augen aufgerissen hatte.

»Er weiß das«, sagte sie hastig.

Ich griff nach ihrer Hand und stellte mich ein Stück hinter sie.

Mara zitterte und drückte ihre Hand so fest zu, dass ich das Gefühl hatte, sie würde meine Knochen brechen.

»Anstatt hier herumzulungern, solltest du fertig werden. Ich verlange Punkt achtzehn Uhr mein verdientes Festmahl. Heute Kassler mit Sauerkraut, einmal gebraten und einmal gekocht. Dazu Kartoffelbrei. Morgen eine Pute, gefüllt mit einer Hackfleisch-Maronen-Mischung, Klöße und Rotkohl. Und am zweiten Feiertag möchte ich Roastbeef mit Remoulade und Bratkartoffeln.«

»Aber ich habe kein Roastbeef, du hast mir keins mitgebracht.«

Mein Vater schaute Mara mit diesem Blick an, der mich sehr nervös machte. Ich wusste, dass nicht mehr viel fehlte, bis er ausrasten würde. »Muss ich mich um alles kümmern? Ich schufte den ganzen Tag da draußen, halte unseren Garten sauber, ernte Gemüse, und du sollst mir bloß mein Essen kochen und auf das Balg aufpassen.«

Mara schluchzte.

»Ich bin nicht freiwillig hier«, plärrte sie plötzlich los.

Ich hielt die Luft an, starrte meinen Vater an. Bitte, bitte nicht.

Dieser machte einen Satz auf Mara zu, stellte sich ganz nah an sie heran. Seine Halsschlagader war hervorgetreten. »Du bist jetzt meine Frau und seine Mutter.« Er zeigte auf mich. »Und du machst, was ich dir sage. Ich will am zweiten Feiertag Roastbeef. Hast du das verstanden?«

»Wo soll ich das denn holen? Dann musst du mich zum Einkaufen fahren lassen.«

Papa lachte laut auf. »Na klar, damit du postwendend zur Polizei rennst und mich verrätst.«

»Dann kann ich es dir nicht zubereiten.«

Papa schnaufte, sein Brustkorb hob sich ganz doll. Dann packte seine große Hand Maras Hals.

»Aufhören, Papa!«, schrie ich entsetzt.

»Halt deinen vorlauten Mund«, erwiderte er mir. Dann drückte er Mara gegen die Wand.

Sie ruderte mit den Armen, ihr Gesicht war knallrot.

»Bitte, Papa, lass das. Ich habe Angst«, flüsterte ich, weil ich mich nicht traute, lauter zu sprechen.

Mein Vater holte aus und schlug Mara gegen das Gesicht. Einmal, zweimal, dreimal.

Mara schrie, flehte um Hilfe, und Blut lief aus ihrer Nase.

Papa ignorierte ihr Flehen und riss sie mit den Haaren hinter sich her. »Ich will eine ordentliche Familie, nicht so eine ungehorsame Tussi, wie du es bist. Als ich dich hergeholt habe, habe ich dir das genau gesagt. Wie kann man nur so dumm sein?«

»Es tut mir leid, ich muss das erst noch üben. Ich gewöhne mich daran.« Mara weinte.

Ich hatte Mitleid mit ihr, aber ich wusste nicht, wie ich ihr helfen konnte. Ich war doch erst acht und nicht stark genug, gegen meinen Papa zu kämpfen.

Wieder ertönten ihre Schreie, sie hörten sich genauso grausam an wie vor einem Jahr bei Ilona. Voller Schmerz und Panik.

Papa schubste sie in den Flur und trat mit seinen dicken, schwarzen Stiefeln auf sie ein.

Mara krümmte sich zusammen und legte ihre Arme über ihren Kopf. »Bitte hör auf. Ich werde ab sofort gehorchen und alles zu deiner Zufriedenheit erledigen.«

»Das ist zu spät. Ich habe nicht ewig Zeit, bis du kapiert hast, was eine gute Mutter, Hausfrau und Köchin ausmacht.« Mein Vater griff nach den langen schwarzen Haaren und schleifte Mara über die Holzdielen zur Tür, die in den kalten und gruseligen Keller führte.

Auf dem Weg dorthin starrte er mir in die Augen. Seine funkelten vor blankem Hass.

»Geh in dein Zimmer!«, forderte er mich auf, und ich gehorchte.

Ich warf noch einen Blick auf Mara, deren Körper zitterte. Sie weinte und flehte, versuchte sich aus dem Griff meines Vaters zu retten, doch ich wusste, wenn sie erst in diesem Keller landete, würde ich sie nie wiedersehen.

»Bitte hol Hilfe«, wisperte Mara und schaute mich dabei intensiv an.

Vater riss sie in den Keller und knallte die Tür hinter sich zu.

Ich stand da wie erstarrt, konnte mich nicht bewegen. Ich hörte die schrillen, verzweifelten Schreie der Frau, die nur wenige Tage meine Mama gewesen war. Dann war Stille.

Mit Tränen in den Augen eilte ich in mein Zimmer, kauerte mich auf das Bett. Mich fröstelte es, und es erklangen diese schonungslosen Stimmen, als würden die kalten Wände mit mir sprechen.

Du hast wieder nur zugeschaut.

Du hast sie töten lassen.

Du bist ein Mörder.

Das laute Knallen der metallenen Kellertür ließ mich aufschrecken. Ich hörte die dumpfen Schritte meines Vaters, das leise Klopfen an meiner Tür. Dann trat er herein.

Sein weißer Pullover war blutbespritzt. Er setzte sich neben mich und streichelte mir mit der blutbeschmierten Hand über die Wange, dann über das Haar. Ich spürte die klebrige Flüssigkeit auf meiner Haut, es fühlte sich an, als brannte sie darauf.

»Es tut mir leid, mein Sohn, aber du hast deine dritte Mutter verloren. Bete für sie, damit sie ihren Frieden findet.« Dann erhob er sich und ging zur Tür. »Weihnachten fällt aus«, sagte er trocken und verließ das Zimmer.

Damit konnte er mich nicht traurig machen, denn ich hasste Weihnachten. So sehr, dass es von mir aus nie wieder stattfinden musste.

Ich schaute in den Spiegel, der vor mir am Kleiderschrank angebracht war, und sah das dunkelrote Blut an meiner Wange. Maras Blut. Es juckte heftig, ich wollte es abwischen, doch ich konnte es nicht. Dann erschien sie. Ihre Augen baumelten aus den Höhlen, ihre Haut hing in Fetzen nach unten, ich konnte auf das Fleisch und die Knochen sehen. Schnell schlug ich mir die Hände vors Gesicht. »Es tut mir leid.«

Ich musste eingeschlafen sein, denn es war schon dunkel, als das stürmische Klingeln mich aufschreckte. Ich rannte zum Fenster und stieß mir dabei den Zeh am Schreibtisch, verkniff mir aber das Aufbrüllen, damit mich mein Vater nicht hörte.

Vorsichtig linste ich hinaus.

Vor dem Eingang stand wieder dieser dunkle Transporter, der schon letztes Weihnachten da gewesen war. Immer wenn Papa eine Frau getötet hatte, kam derjenige.

Ich schlich zu meiner Zimmertür, öffnete sie leise und lauschte. Im Wohnzimmer unterhielten sich zwei Männer. Eine Stimme war die meines Vaters, die andere kannte ich nicht. Auf Zehenspitzen ging ich über den Flur und stellte mich neben die Wohnzimmertür.

»Ich habe keine Lust mehr, dir ständig den Arsch zu retten«, sagte der Fremde. »Was stimmt nicht mir dir? Muss das wirklich immer so eskalieren?«

»Sie hat mir kein Roastbeef machen wollen«, antwortete mein Vater.

»Das ist aber kein Grund, sie so niederzumetzeln. Sie hat es sich nicht ausgesucht, hier zu sein.«

»Sie hat mir das Weihnachtsfest versaut. Das ist das dritte Mal in Folge, dass ich meinem Sohn kein vernünftiges bieten kann.«

Ich wusste, dass ich meinem Vater egal war, also nahm ich ihm seine Worte nicht ab. Vielmehr fragte ich mich, wer dieser Mann war, der sogar von den toten Frauen wusste.

»Es ist das letzte Mal, dass ich dir helfe. Wenn du jedes Mal so etwas hinterlässt, mache ich das nicht mehr. Hast du mich verstanden?«

Mein Vater antwortete nicht. Ich schaute auf die dicke Metalltür des Kellers. Was hatte mein Vater Mara angetan? Keine Ahnung, warum es mich zu der Tür zog, aber ich steuerte darauf zu, gewillt, sie zu sehen, ihr die Hand zu halten.

Die Schritte, die plötzlich auf mich zukamen, brachten mich wieder zu Verstand.

Schnell rannte ich zurück in mein Zimmer, schmiss mich aufs Bett und versteckte mich unter der Decke. Mein Herzschlag ging kräftig, und ich schluckte meine Übelkeit hinunter.

Dann hörte ich, wie die Kellertür geöffnet wurde.

Erleichtert atmete ich aus, offensichtlich hatten die beiden mich nicht bemerkt.

Ich verhielt mich ruhig und lauschte in die Dunkelheit. Im Hof ging das Licht des Bewegungsmelders an. Es polterte, der fremde Mann fluchte, dann hörte ich eine Autotür.

Ich rannte zum Fenster und beobachtete, wie die beiden etwas Schweres in den Transporter hievten. Es war in einer Decke eingewickelt. Ich ahnte, dass es Mara war.

Traurig legte ich mich zurück ins Bett. Ich dachte an Maras Mama, sie hatte mir von ihr erzählt. Bestimmt saß sie zu Hause und weinte, weil sie Mara so vermisste. Mir kamen die Tränen bei dem Gedanken, dass die Mutter noch nicht einmal wusste, dass ihre geliebte Tochter tot war.

Mir drängte sich der Wunsch in den Kopf, den Angehörigen Bescheid zu geben, aber ich musste mir gut überlegen, wie ich das anstellen konnte, ohne mich zu verraten. Denn würde es Papa herausfinden, würde er mich wahrscheinlich totprügeln.

23. DEZEMBER 2022

»Das darf doch nicht wahr sein!«, schimpfte Selina lautlos, als sie die vierte Nacht in Folge mit brummenden Kopfschmerzen aufwachte. Einen Moment blieb sie liegen, massierte sich die Schläfen, in der Hoffnung, dass sie den üblen Schmerz abwehren konnte und nicht aufstehen musste, um sich eine Tablette zu holen.

Der Gedanke daran, dass an diesem Tage auch noch ihre Schwiegerfamilie über Weihnachten kommen wollte, besserte die Quälerei nicht wirklich. Sie liebte ihren Mann, aber seine Familie war eine einzige Katastrophe. Sein flatterhafter Bruder, der jedes Jahr eine andere Frau präsentierte und einfach nur laut war, bereitete ihr schon Kopfschmerzen, vor allem, wenn sie an den Streit dachte. Selinas Schwiegereltern aber brachten sie zur Eskalation. Am liebsten würde sie Weihnachten ausfallen lassen, obwohl sie das Fest an sich so sehr liebte.

Es erinnerte sie an ihre glückliche Kindheit. Sie hatte immer mit ihren Eltern und Großeltern zusammen gefeiert, selbst als sie schon ausgezogen war, wollte sie die Tage mit ihrer Familie verbringen. Sie hatten gesungen, zusammen gekocht und Glühwein getrunken. Selina hatte immer das Schmücken übernommen, denn sie liebte es, die Wohnung in dem warmen Funkeln der Lichterketten erstrahlen zu lassen. Und genau dieses Gefühl der Liebe und des Glücks wollte sie auch ihren Kindern vermitteln. Was aber mit ihrer Schwiegerfamilie nicht so einfach war.

›Oh, Kind, du könntest den Wischmopp ruhig ein wenig öfter schwingen‹, hörte sie ihre Schwiegermutter wettern.

Dabei putzte sie immer wie eine Verrückte, wenn sie wusste, dass Arnos Eltern zu Besuch kamen.

Das leichte Schnarchen ihres Mannes neben ihr machte sie aggressiv, deshalb entschied sie, doch eine Schmerztablette zu nehmen und zusätzlich auch etwas zum Einschlafen. Ohne ausreichend Schlaf würde sie ihre Verwandtschaft nicht ertragen.

Barfuß schlich sie die Treppe hinunter, damit keines ihrer Kinder wach werden würde.

Beide waren schon so aufgeregt, dass sie seit zwei Wochen nicht mehr richtig schliefen. Denn sie hofften bei jedem Treppenknarzen oder Türenquietschen, dass sie den Weihnachtsmann endlich sehen konnten. Selina hatte dann tagsüber Mühe, die Kinder bei Laune zu halten, wenn sie vor Müdigkeit stritten und quengelten.

In der Küche schaltete sie die kleine Leuchte unter dem Schrank an. Dann kramte sie den Tablettenkorb aus dem Medizinschränkchen und holte sich eine Aspirin und eine Betadorm heraus.

Das leise Klirren von Glas ließ sie zusammenfahren. Wo war das hergekommen? Reglos verharrte sie in der Küche und lauschte. Doch es passierte nichts.

Selina schob das auf ihre Müdigkeit und warf sich die Aspirin ein, damit sie schnell zum Schlafen kam. Dann ging auf einmal das Licht der Küchenlampe aus.

Eine Gänsehaut überfiel sie, weil sie sich einbildete, dass sie im Augenwinkel einen Schatten durch den Flur hatte huschen sehen.

Sie versuchte die Lampe wieder einzuschalten, doch es ging nicht.

Hastig drehte sie sich um und starrte in die dunkle Diele. So ein Blödsinn, wie will ich bitte in der Dunkelheit einen Schatten erkennen? Aber ich gehe auf keinen Fall nachts in den Keller. Arno kann sich morgen um den Strom kümmern.

Sie holte tief Luft, schluckte die Schlaftablette und schaltete die Handytaschenlampe an, die den Weg in den Flur beleuchtete. Kaum war sie an der Treppe angekommen, bildete sie sich ein, Stimmen zu hören. Meine Güte, was stimmt nicht mit dir?

Obwohl sie sich einredete, dass alles bloß ihrer Fantasie entsprang, schlug ihr Herz bis zum Halse, und das Blut rauschte in ihren Ohren. Sie spürte genau, dass jemand im Haus war, und an Geister glaubte sie nicht. Schritt für Schritt lief sie die Treppe hoch, darauf bedacht, dass nichts knarzte. Kurz hatte sie überlegt, das Licht auszuschalten, doch mit Sicherheit würde sie die Stufen übersehen und der Länge nach auf die Nase fallen. Deshalb wartete sie damit, bis sie oben war, und machte es dann aus.

An der Wand tastete sie sich zur Zimmertür ihrer beiden Mädchen und lauschte. Es war nichts zu hören. Die Dunkelheit umhüllte sie wie ein Schleier. Sie wollte die Tür leise öffnen, um im Zimmer zu horchen, da lief es ihr eiskalt den Rücken hinunter. Die Tür stand offen, und das war ganz sicher nicht so gewesen, als sie nach unten gelaufen war. Sie schloss sie immer, damit ihre Töchter nicht hörten, wenn sie nachts herumgeisterte. Ihr Herz hämmerte wild in ihrer Brust. Krampfhaft versuchte sie, ihren schnellen Atem unter Kontrolle zu bekommen. Ihre Hände zitterten, als sie die Tür aufschob.

Sie lief in das Zimmer und machte die Taschenlampe am Handy wieder an. Ihre Mädchen lagen in ihren Betten und regten sich nicht. Selina ging näher zu Ariane, ihrer älteren Tochter, und strahlte sie an, so, dass das Licht nicht ihr Gesicht blendete. Die Kleine hatte sich die Decke über den Kopf gezogen. Schon eine Sekunde später riss Selina die Augen auf.

Auf der Bettdecke hatte sich ein großer roter Fleck ausgebreitet.

Selina rannte zum Lichtschalter, drückte darauf, doch es blieb dunkel. Sie versuchte es immer wieder, hastete in den Flur, um es dort zu probieren, aber das funktionierte ebenso wenig. Ihr fiel ein, dass auch in der Küche die Lampe ausgegangen war.

Sie strahlte mit dem Handy ins Zimmer.

Keine ihrer beiden Töchter rührte sich.

Sie riss Arianes Bettdecke herunter und ließ einen markerschütternden Schrei hinaus. Das dünne, zierliche Mädchen war blutbeschmiert. Blut sickerte aus der klaffenden Wunde am Hals.

Selina schrie auf, rief nach ihrem Mann, rüttelte an Ariane, die sich nicht mehr regte. Dann stürzte sie sich auf das Bett ihrer jüngeren Tochter, riss die Bettdecke weg. Auch Virginia lag reglos und blutbeschmiert im Bett, auch ihr war die Kehle aufgeschlitzt worden.

»Arno!«, brüllte Selina noch einmal. Sie schluckte schwer, und in ihrem Verstand formten sich wilde Vermutungen, die sie in Panik versetzten. Oder war es ein Albtraum? Hatte sie sich nach der Schlaftablette hingelegt?

Weinend nahm sie Virginia in ihre Arme, drückte das kleine vierjährige Mädchen an ihre Brust. »Wach auf, mein Schatz. Es ist Weihnachten. Komm schon.«

Doch Virginia lag schlaff in ihren Armen. Das lange schwarze Haar klebte in dem Blut am Hals.

Selina schrie erneut und wollte nicht verstehen, warum ihr Mann sie nicht hörte. Schnell legte sie ihre Tochter ab, rannte zu Arianes Bett, in dem sie ihr Handy liegen gelassen hatte.

Während sie ins Schlafzimmer eilte, um Arno zu wecken, wählte sie den Notruf.

»Rettungsleitstelle, guten Tag. Wie kann ich Ihnen helfen?«

Selina hörte die Worte, aber der Anblick im Schlafzimmer ließ sie erstarren.

Auch wenn das Licht der Handytaschenlampe nur schwach war, erkannte sie, dass Arno ebenso blutüberströmt im Bett lag. Seine Augen waren weit aufgerissen, er gurgelte komisch, es sah aus, als wollte er etwas sagen. Aus seinem Blick sprach die pure Panik.

»Arno«, flüsterte Selina, kaum mehr in der Lage zu atmen.

»Hallo? Hören Sie mich?«, rief die Frauenstimme am Telefon. »Liegt bei Ihnen ein Notfall vor?«

Gerade als Selina um Hilfe schreien wollte, schlug ihr jemand das Handy aus der Hand. Ihre Haut kribbelte vor Panik, sie traute sich nicht, sich zu bewegen.

Sie konnte in der Dunkelheit nichts sehen, spürte aber, dass jemand vor ihr stand. Sie schlug um sich und knallte mit der Hand gegen etwas Hartes.

»Scheiße«, brüllte eine Männerstimme.

»Was ist?« Es war eine andere Stimme, die etwas höher geklungen hatte.

Selina horchte auf. Sie waren zu zweit? Oder waren es noch mehr? Was hatten sie vor? Hatte sie die eine Stimme nicht schon mal gehört?

»Die dumme Kuh hat mir das Nachtsichtgerät von der Nase gehauen. Halt sie fest!«

»Was wollt ihr von mir?«, schrie Selina. Sie drehte sich um, damit sie fliehen konnte, doch weil sie nichts sehen konnte, krachte sie gegen die Tür.

»Schön hiergeblieben«, sagte die tiefe Männerstimme. »Wir wollen Weihnachten feiern.« Er packte sie an den Armen.

»Lassen Sie mich los.« Selina wand sich, doch der Mann hatte sie fest im Griff. Er zerrte sie aus dem Zimmer, die Treppen hinunter. Sie ließ sich fallen, damit sie schwerer wurde. Es brachte nichts. Der Mann zog sie wie eine Gummipuppe mit Leichtigkeit hinter sich her. Jede einzelne Treppenstufe spürte sie in ihren Rippen, wenn sie auf ihnen hinunterrutschte. Doch der Schmerz war nichts im Vergleich zu dem grausamen Bild, das sie gerade gesehen hatte. Ihre Töchter und ihr Mann.

»Du könntest mir ruhig ein wenig helfen, du Idiot. Die ist schwer.«

Der andere antwortete nicht.

Der Mann zog sie am Boden entlang. Irgendwann hievte er sie auf einen Stuhl und band ihr die Arme fest.

Es war so dunkel, dass Selina noch immer gar nichts erkannte. »Wir haben oben den Safe, dort können Sie sich den Schmuck nehmen. Er ist viel wert. Bitte, lassen Sie mich in Ruhe.«

»Wir wollen kein Geld«, sagte der Mann. Seine Stimme war tief und fest. Irgendwie schwang ein heftiger Zorn in ihr.

»Wollen wir nicht lieber gehen?«, fragte der zweite Mann, der offenbar genau neben dem anderen stand. Seine Stimme klang etwas unsicherer.

»Halt deinen Mund, wir waren uns einig. Wir müssen das tun«, sagte der andere streng.

»Bitte, ich flehe Sie an. Lassen Sie mich meine Kinder retten.«

»Die sind tot. Und du wirst es auch gleich sein. Oh heilige Nacht, nur Kummer hast du gebracht. Ein Lichtlein brennt, ihre Zeit, die rennt. Das Christkind schenkt ihr seinen Segen, wird sie zur Ruhe jetzt bald legen.«

Selina runzelte die Stirn. Was war das für ein gestörter Mensch? Und warum nur wollte er sie und ihre Familie töten?

»Was haben wir Ihnen getan?«, fragte sie mit zittriger Stimme.

Niemand antwortete darauf.

Plötzlich spürte sie etwas an ihrem Hals.

»Bitte beeile dich«, sagte die unsichere Stimme. »Sie sollte gar nicht wach sein.«

»Nerv mich nicht. So macht es doch viel mehr Spaß. Sie bekommt alles mit und wird ihr letztes Weihnachten, das sie so sehr liebt, in vollen Zügen genießen können.«

Beide standen unmittelbar vor Selina. Zumindest klang es so, als ob die Stimmen dort waren.

Die Kälte, die nachts in der Wohnung herrschte, schien sich in ihrem Inneren auszubreiten. Eine Welle der Hilflosigkeit brach über sie herein. Tränen traten ihr in die Augen. Sie sah die leblosen Körper ihrer Familie vor sich, das ganze Blut und diese riesige Wunde am Hals ihrer Töchter. Bei Ariane hatte es fast so ausgesehen, als hätten die Schweine sie enthauptet. Aber warum nur?

Der Druck auf ihre Kehle wurde stärker.

»Sie hat dieses Glück nicht verdient. Weihnachten ist ein schreckliches Fest. Wer es mag, der kann nur von Dämonen besessen sein«, sagte der Mann. Er stand nun genau hinter ihr. Vermutlich hielt er ihr das Messer an den Hals.

Der andere erwiderte nichts.

Plötzlich spürte sie seine Lippen an ihrem Ohr.

»Das Fest der Liebe zerstörte sie«, flüsterte er, was ihr Gänsehaut bereitete.

Dann ging alles ganz schnell.

Ein kurzer Schmerz jagte über ihren Hals, zuerst spürte sie nichts. Doch sie konnte sich nicht mehr bewegen, keinen Laut mehr herausbringen. Bis schließlich der unbändige Schmerz zurückkehrte.

Ihr Atem stockte, als sie erkannte, dass ihre Zeit abgelaufen war. Die Kälte wandelte sich in eine schmerzhafte Hitze. Es war ruhig, niemand sagte etwas. Ihr Atem wurde flach und unregelmäßig.

Die Stille wurde von einem leisen Wispern durchbrochen. Selina bemerkte, dass die röchelnden Geräusche ihrer Kehle entwichen. Ihre Arme glitten nach unten, der Kopf sank nach vorn.

Sie spürte, wie ihr Leben langsam aus ihr wich, und schloss die Augen. Gleich würde sie wieder bei ihren Kindern sein.

23. DEZEMBER 2022

Romy kam die Treppe hinuntergeeilt. Ihre langen Haare flatterten wild umher. Sie lebte seit zwei Monaten mit im Haus, wodurch sich Mathias wieder wohler fühlte, denn seine geliebte Frau Sara hatte nach ihrem Tod eine so große Lücke hinterlassen, dass es manchmal kaum zu ertragen war.

Zwar verband Romy und Mathias keine Liebesgeschichte, sie waren nur Kollegen und Freunde, aber für seine Kinder war es ein Segen, dass wieder eine Frau im Haus das Kommando übernahm.

»Mathias, träumst du?«, fragte Romy.

Er bemerkte, wie er sie angestarrt haben musste. »Sorry, du erinnerst mich nur an Sara. Die war morgens auch schon immer so aktiv und munter.«

Romys Lächeln erstarb. »Wenn es dir zu viel wird …«

Mathias hob die Hand. »Das war so nicht gemeint. Ich bin glücklich, dass du dich oben im Haus eingenistet hast, von mir aus bleib hier für immer. Mia und Julian lieben dich, und mein Haushalt freut sich auch.«

Sie schmunzelte. »Danke, dass ich hier wohnen darf. Ich habe entschieden, Paul das Haus zu überlassen. Ich suche mir etwas Eigenes, dorthin kann ich nicht mehr zurück. Ich würde immer die Bilder sehen, wie er sich mit anderen Frauen in unserem Bett vergnügt hat.«

»Das kann ich gut nachempfinden. Bleib so lange, wie du willst. Ich finde es gut, und du hast die ganze obere Etage für dich allein.«

Romy klatschte in die Hände. »Vielen Dank. Und nun mache ich das Frühstück, und du weckst die Kinder.«

»Einverstanden.« Mathias erhob sich und lief zu Mia ins Kinderzimmer.

Seine fünfjährige Tochter saß am Schreibtisch, den sie erst vor wenigen Tagen bekommen hatte.

»Guten Morgen, mein Schatz.« Er küsste sie auf den Kopf. »Du bist schon wach?«

»Ja, ich male Weihnachtsbilder für Oma und Opa, Romy, Julian, dich und …« Sie senkte den Blick. »Und für Mamas Grab.«

»Das wird Mama freuen, sie hat all deine Bilder immer sehr geliebt.«

Mia drehte sich um und sah ihn mit Tränen in den Augen an. »Glaubst du das wirklich?«

»Aber natürlich. Komm mit, ich zeige dir etwas.« Er griff nach der kühlen Hand seiner Tochter und führte sie ins Wohnzimmer. Dann holte er Saras Ordner heraus. Aus Glitzerbuchstaben klebte ›MIA‹ darauf. »Das war Mamas Erinnerungsbuch. Sie hat all deine Zeichnungen und Basteleien darin aufgehoben. Sogar Blumen, die du ihr aus dem Garten gepflückt hast, hat sie getrocknet, gepresst und dort hineingepackt.« Er öffnete den Ordner und blätterte ihn durch. »Und hier hat sie immer mit Datum aufgeschrieben, wann du welches Wort gelernt hast zu sprechen.«

Mia lächelte. »Das ist so schön.«

Mathias streichelte ihr über das Haar. »Sie hat alles geliebt, was du ihr geschenkt hast. Sie war so stolz, dass sie deine Mama sein darf. Und sie wird dich immer lieben.«

Wieder verfinsterte sich Mias Gesicht. »Aber nun ist sie tot, und sie kann das alles gar nicht mehr ansehen.«

»Doch, das kann sie. Denn vorsichtshalber hat sie sich alles in ihrem Herzen abgespeichert, damit sie es immer bei sich tragen kann.« Mathias nahm Mia in seine Arme. Es zerriss ihn fast, sie so leiden zu sehen. »Ich werde das weitermachen und deine Sachen hier reinpacken. Ich schwöre, Mama wird alles vom Himmel aus beobachten.«

»Schwörst du das so ganz doll?«

»Das tue ich. Sie ist immer bei dir, auch wenn du sie nicht sehen kannst, du spürst sie. Du musst es nur zulassen.«

»Das mache ich.« Mia löste sich aus seiner Umarmung. »Können wir später auf den Friedhof, damit ich ihr das Bild dorthin bringen kann?«

»Heute muss ich leider arbeiten, aber morgen ist Weihnachten, da gehen wir ans Grab. Und weißt du was? Wir laden Mama auf ein wunderschönes Winterpicknick ein. Was sagst du dazu?«

Mia sah ihn erstaunt an. »Ehrlich?«

»Ja, wir nehmen Weihnachtsplätzchen mit, Kinderglühwein und Mamas Lieblingsessen.«

»Rührei mit Toast.« Mias Augen strahlten.

»Ganz genau. Und Weihnachtsmusik. Dann setzen wir uns zu ihr und feiern zusammen.«

»Ich will auch«, ertönte die verschlafene Stimme seines Sohnes. Julian tapste barfuß und mit seinem Teddy unter dem Arm auf Mathias zu.

»Natürlich bist du dabei. Wie wäre es, wenn du nachher bei Oma auch ein Bild für Mama malst?«

Julian nickte und schmiegte sich an ihn. Er rieb sich die Augen.

»Frühstück ist fertig«, rief Romy aus der Küche.

Mia stand auf. »Ich habe schon einen Bärenhunger.«

Sie rannte aus dem Wohnzimmer.

Einen Augenblick später saßen die beiden am Tisch und aßen Pancakes mit Obst. Dazu hatte Romy ihnen einen heißen Kakao gemacht.

»Danke, dass du dich so lieb um ihr Wohl kümmerst.«

»Sie sollen ja nicht ständig verbrannte Pfannkuchen bekommen.« Romy zwinkerte ihm zu. »Für dich einen Kaffee?«

»Gerne. Meine Schwiegermutter kommt auch gleich, dann können wir los.«

Romy seufzte. »Warum arbeiten eigentlich wir wieder an Weihnachten?«

Mathias grinste. »Weil wir die Besten sind. Außerdem kehrt heute Norman zurück, da wollen wir doch dabei sein.«

Er setzte sich zu seinen Kindern und stibitzte sich ein Stück Mandarine von Mias Teller.

»Hey Papa. Hol dir dein eigenes Frühstück.« Sie kicherte fröhlich, und Julian stimmte ein.

Er war froh, dass der kleine Anflug Traurigkeit bei Mia wieder vergessen war. Er konnte es nicht ertragen, wenn sie sich so quälte. Innerlich war er selbst gebrochen, denn das erste Weihnachten ohne Sara würde schlimm für ihn sein. Das Fest war für sie alle immer besonders gewesen. Sara hatte gesungen, die leckersten Mahle zubereitet und war jedes Mal glücklich gewesen, mit ihrer Familie zusammen zu sein. Sie würde so sehr fehlen. Er konnte nur hoffen, dass der Dienst an Weihnachten ruhig verlief, damit er wenigstens für die Kinder da sein konnte.

23. DEZEMBER 2022

Lili saß vor ihrem Puppenhaus, und Anja konnte endlich ein wenig die Kleider zusammenlegen. In den letzten Tagen war ihre Pflegetochter anstrengend gewesen. Sie hatte nur geweint, sich gegen alles gewehrt. Anja hatte nicht mehr ein noch aus gewusst, sie durch nichts beruhigen können und war so froh gewesen, dass sie einen Termin bei Dr. Schrader bekommen hatte. Das war keine Selbstverständlichkeit einen Tag vor Weihnachten.

Während sie die Hosen faltete, beobachtete sie Lili, die an diesem Tag erstaunlich entspannt war. Seit zwei Jahren lebte sie nun bei ihr und ihrem Mann, nachdem sie aus ihrer Familie herausgenommen worden war. Ihre Eltern waren drogenabhängig, und die Kleine war völlig verwahrlost gewesen, als sie zu ihnen kam. Sie sprach nicht mit Menschen, nur mit ihren Puppen. Deshalb war es sehr schwer für Anja, zu ihr durchzudringen. Auch wenn der Umgang mit dem siebenjährigen Mädchen nicht einfach war, so bereute sie nicht, dass sie bei ihnen lebte.

Anja und Dirk konnten keine eigenen Kinder bekommen, darum nahmen sie seit vielen Jahren Pflegekinder bei sich auf, denen sie ein besseres Leben ermöglichen wollten als das, was sie zuvor gehabt hatten. Bei ihnen hatten bereits acht Kinder gelebt, sieben davon waren schon aus dem Haus, mittlerweile erwachsen. Nur noch Lili wurde durch sie betreut. Ihr letzter Pflegesohn, der acht Jahre bei ihnen gelebt hatte, kam regelmäßig vorbei. Er und Lili verstanden sich super. Auch wenn sie nie ein Wort miteinander gewechselt hatten, hatte man das Gefühl, sie wussten, was der andere dachte.

Am Morgen hatte er sie auch besucht, wahrscheinlich war das der Grund, warum sie nun so friedlich war. Er hatte eine beruhigende Wirkung auf sie. Seit er gegangen war, spielte sie mit ihrem Puppenhaus und schien zufrieden.

»Schatz, wir müssen bald los. Dr. Schrader möchte dich heute noch einmal sehen.«

Lili spielte weiter.

Auch wenn es sich anfühlte, als ignorierte die Kleine Anja, so wusste sie, dass Lili ganz aufmerksam zugehört hatte. »Du kannst ihm dann mit den Puppen zeigen, was dich in der letzten Zeit so beschäftigt hat.«

Wieder reagierte Lili nicht auf sie. Stattdessen zog sie ihre Puppe aus, bemalte sie am Brustkorb mit einem roten Stift und setzte sie auf einen Stuhl.

Anja übermannte Gänsehaut. Was sollte das bedeuten? Lili zu fragen würde nichts bringen, deshalb entschied sie, es Dr. Schrader zu erzählen. Er war der Fachmann und fand immer einen Weg, zu ihr durchzudringen. Sie erhob sich seufzend und küsste Lili auf den Kopf. »Ich habe dich lieb und bin sehr froh, dass du bei uns bist. Ich werde alles dafür tun, dass du bald glücklich sein wirst.«

Einen kurzen Moment schaute Lili auf, sah Anja direkt in die Augen.

In diesem winzigen Moment hatte Anja die Hoffnung, sie würde endlich etwas sagen, doch Lili drehte sich wieder zu ihren Puppen. Anja war verzweifelt, sie wusste nicht, wie sie es schaffen sollte, dass das kleine Mädchen sich bei ihnen wohlfühlte.

Sie zuckte zusammen, als Dirk plötzlich hinter ihr auftauchte. »Alles in Ordnung?«

Anja lief zu ihm, drückte ihn aus dem Zimmer, damit sie ungestört mit ihm reden konnte. »Ich habe das Gefühl, dass sie einen inneren Kampf mit sich führt.« Sie erzählte ihm von der Puppe. »Es sah aus, als hätte sie die mit Blut bemalt.«

Dirk sah sie aus glänzenden Augen an. Es hatte etwas von Faszination.

»Oh Dirk, bitte. Hör auf, dich wie so ein Psychologe zu benehmen. Ich finde es abstoßend, dass du dich immer so extrem auf die schrecklichen Schicksale der Kinder stürzt. Kannst du nicht ein normaler Vater sein?«

»Ich bin ein normaler Vater. Sollten mir die Sachen am Arsch vorbeigehen? Es trifft mich mitten ins Herz, wenn ich sie leiden sehe. Ich weiß gar nicht, was gerade dein Problem ist.«

Anja betrachtete ihren Mann eindringlich. »Natürlich sollst du für sie da sein, doch ich habe manchmal den Eindruck, dass du dich nur für das interessierst, was sie durchgemacht haben. Aber zum Psychologen bist du noch nie mit den Kindern gegangen.«

Dirk schaute sie stirnrunzelnd an. »Ich finde, dass du maßlos übertreibst. Ich interessiere mich doch nur für ihre Gesundheit.«

Weil sich Dirk schon etwas pikiert anhörte, entschied Anja, nicht weiter darauf herumzureiten. »Ich mache mir Sorgen um Lili«, lenkte sie das Thema deshalb zurück zu ihrer Pflegetochter. »Manchmal verzweifle ich, weil ich seit zwei Jahren keinen Draht zu ihr finde. Ich würde sie so gern einmal umarmen, ihr zeigen, dass sie bei uns sicher ist.«

»Sie hat viel durchgemacht, vielleicht braucht sie noch Zeit. Vielleicht ist das Ganze aber auch eine Nummer zu hoch für uns. Wir können nicht alle Kinder retten.«

»Was willst du damit sagen?« Anja verschränkte die Arme, weil es sie fröstelte.

Dirk zuckte mit den Schultern. »Vielleicht sind wir eben nicht die richtige Familie für sie. Wir sind nicht mehr die Jüngsten. Ich werde in ein paar Wochen siebenundvierzig, du bist vierundvierzig. Wir haben gar nicht mehr die Geduld wie früher mit solchen Situationen.«

In Anja wallte Wut auf. »Das ist doch Blödsinn, das sagst du nur, weil du beleidigt bist. Henry hatte so eine schlimme Kindheit, und der hat es auch bei uns geschafft.«

»Deshalb braucht er jetzt mit vierundzwanzig Jahren immer noch einen Psychologen.«

»Er wird ewig zu Dr. Schrader müssen, Dirk. Seine Kindheit ist gerade einmal wenige Jahre her. Denkst du, dass das Trauma einfach so verschwindet?«, schimpfte Anja. »Eben haben deine Augen noch fasziniert geleuchtet, als ich dir von der Puppe erzählt habe, und jetzt willst du behaupten, Lili ist hier falsch?«

Dirk winkte ab und ging wortlos durch den Flur zum Wohnzimmer.

Kopfschüttelnd lief sie zu Lili ins Zimmer zurück.

»Wir müssen es machen«, sagte diese gerade mit einer tiefen Stimme und hielt dabei eine männliche Puppe in der Hand. Sie hatte sie direkt vor der Puppe hingestellt, die mit der roten Farbe angemalt war.

»Schatz, wir müssen langsam aufbrechen. Zieh dich bitte an.« Anja wartete geduldig, bis Lili die Puppen an ihren Platz geräumt hatte. »Möchtest du die Puppe mit der Farbe mitnehmen? Du könntest bei Dr. Schrader weiterspielen.«

Lili sah sie kurz an und nickte schließlich. Sie packte die Puppe in ihren kleinen rosafarbenen Lilifee-Rucksack und lief an Anja vorbei in den Flur. Sie setzte sich auf den Boden, zog ihre Winterstiefel an sowie ihre Daunenjacke. Dann stellte sie sich an die Tür und starrte auf die Fliesen.

Anja zerriss es fast das Herz, dieses kleine dürre Mädchen, deren Haut blass schimmerte, so zu erleben. Sie hatte sie noch nie lächeln gesehen. Was nur hatten ihre Eltern ihr angetan?

Anja schlüpfte in ihre Boots, warf sich den Mantel über und nahm Lili an die Hand. »Dirk, wir fahren zu Dr. Schrader. Wir bringen auf dem Weg etwas zu essen mit.«

Dirk antwortete nicht, wahrscheinlich schmollte er in seinem Büro, in das er sich gern zurückzog.

Anja lächelte Lili an und verließ mit ihr das Haus. Auch wenn es sich irgendwie nicht richtig anfühlte, denn sie liebte es, Pflegemutter zu sein, dachte sie darüber nach, kein weiteres Kind mehr mit Dirk aufzunehmen. Ihre Ehe war schon lange am Ende. Sie stritten nur noch und waren sich oft uneinig, außerdem blieb die meiste Arbeit an ihr hängen. Er verkrümelte sich oft in sein Büro, wo er sie am liebsten nicht sehen mochte, deshalb ging sie auch nur selten zu ihm rein. Und sie hatte mit dem Haushalt und den Launen ihrer Pflegetochter zu kämpfen.

Lili zerrte plötzlich an ihrem Arm. Ein lautes Hupen des vorbeifahrenden Autos versetzte ihr einen Schrecken. Sie war so in Gedanken verloren gewesen, dass sie gar nicht bemerkt hatte, wie sie die Straße überqueren wollte.

Lili sah sie mit weit aufgerissenen Augen an.

»Entschuldige, ich habe etwas geträumt. Das sollte man wirklich nicht tun. Du hast mir gerade das Leben gerettet.«

Noch mit Herzrasen schaute Anja nach links und rechts und ging dann mit Lili über die Straße zu ihrem Auto.

23. DEZEMBER 2007

Im Flur war es eiskalt, deshalb fror ich in meinem dünnen Schlafanzug. Meine Füße schmerzten schon, weil die Kälte sich von den Treppen in meinen Körper sog. Ich sollte nicht dort sitzen, doch ich konnte meine Neugier einfach nicht unterdrücken, als ich die Stimmen im Wohnzimmer gehört hatte. Leise und vorsichtig schlich ich mich weiter die Treppe hinunter, stellte mich an die Wohnzimmertür und lauschte. Die Stimmen waren tief und bedrohlich. Es schienen mehrere Männer zu sein.

»Bist du sicher, dass der Kleine schläft?«, fragte einer.

»Ja, der Bengel hört auf mich«, erwiderte der Vater. »Wenn ich sage, er soll im Zimmer bleiben, tut er das. Würde er nicht hören, hätte ich doch längst die Polizei im Haus gehabt, oder? Er geht zur Schule, dort hat er noch nie verraten, was hier abgeht, weil er weiß, dass ihm Schlimmes blüht. Warum taucht ihr mitten in der Nacht hier auf?«

Es antwortete niemand.

Ich hatte schon Angst, jemand würde kontrollieren, ob sie wirklich allein waren. Meinen Teddybären hatte ich fest unter den Arm geklemmt, irgendwie fühlte ich mich damit sicherer, auch wenn ein Kuscheltier nichts machen konnte, falls ich erwischt werden würde. Mein Herz schlug laut in meiner Brust. Ich wusste, dass ich mich mit dem Lauschen in Gefahr brachte, aber ich konnte nicht widerstehen, ich musste wissen, was da vor

Impressum

Verlag: Zeilenfluss

Texte: Andrea Reinhardt
Cover: MT-Design
Korrektorat: Dr. Andreas Fischer
Satz: Zeilenfluss
Tag der Veröffentlichung: 19.09.2023
ISBN: 978-3-96714-391-1

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