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Leseprobe

NEUN, ZEHN … ICH WILL DICH STERBEN SEH’N

THRILLER

ANDREA REINHARDT

Für den Thriller hat mir die Autorin Sieghild Krieter ein paar wunderschöne Zeilen geschrieben, die so perfekt in die Geschichte gepasst haben. Ich bin für diese Begegnung sehr dankbar, denn sie zeigt, wie wundervoll Zufälle sein können.

Bei der Suche nach einem Titel für meinen damaligen Thriller „Schweigende Seele“ bin ich auf Sieghild gestoßen, die ein wunderschönes Gedicht über Schweigende Seelen verfasst hatte. Ich bat um Erlaubnis, den Titel zu nehmen, und schenkte ihr zum Dank das Buch. Seitdem bekomme ich immer mal wieder E-Mails, in denen sie meine Geschichten lobt und mir hin und wieder ein paar verfasste Zeilen schenkt, die ich liebe. So auch während des Schreibprozesses zu diesem Thriller. Ich war ganz hin und weg, denn sie triggerten mich und brachten mich auf eine Idee. Ich bat die Autorin, mir das Gedicht noch etwas zu verlängern, was sie auch getan hat. Ich kann nur jedem empfehlen, einmal bei ihr vorbeizuschauen, es sind einfach wunderschöne Texte.

http://sieghildsgedankenreise.blogspot.com/

Ich danke Ihnen von Herzen, liebe Sieghild Krieter und bin über unsere Begegnung sehr froh!

Splitter, Spuren einer Nacht …

In nächtlicher Stille, ein einsamer Schrei.

Es brach in der Mitte ein Satz entzwei.

Spiegelglassplitter zerschnitten das Wort.

Tausende Scherben an einem Ort

fallende Splitter mit nur einem Hieb.

Es tobte die Nacht – die ihr nur noch blieb.

Sie lauschte dem Winde, ihrem Atem, dem Fluch.

Ein eisiger Luftzug – eine Welle sie trug.

Die Spiegelglassplitter zerschnitten sie kalt.

Eiskalt die Hände, ein Schatten macht Halt …

Für Jessica Prager, Carmen Heiser und Kai Heinken.

»Das innere Kind weiß den Weg.«

Peter Horten

SEPTEMBER 2020

Marion lief mit einem mulmigen Gefühl durch die Bubenheimer Fleche in Lützel. Es war mittlerweile so spät, dass nur noch der Halbmond dem Himmel etwas Licht spendete. Die Straßenlaternen warfen spärlich Beleuchtung auf den Weg ab, doch was sich hinter den Sträuchern und Bäumen versteckte, konnte sie nicht sehen.

Die Schnelligkeit ihrer Schritte nahm mit der aufsteigenden Angst zu. Eben noch war sie voller Adrenalin und Glückshormone, sodass sie gar nicht richtig überlegt und den Weg durch den dunklen Park gewählt hatte. Seit Jahren war sie nicht mehr so unvernünftig, nachdem sie von dieser Männergruppe überfallen worden war. Sie mied immer Wege, die ihr nicht geheuer vorkamen oder auf denen Gefahren lauern könnten.

Doch nun hastete sie durch die schwarze Nacht, hörte ihren schnellen Atem, ihr rasendes Herz und das Knirschen der Kieselsteine. Bildete sie es sich nur ein, dass das zermalmende Geräusch der Steinchen nicht nur von ihr kam? Ruckartig hielt sie an und drehte sich um, sah in die tiefe Dunkelheit und erwartete, dass jemand aus ihr heraussprang, sie an der Kehle packte und zudrückte. Natürlich bleibst du dann stehen und präsentierst dich dem Triebtäter gänzlich. Wie die Opfer in Filmen, die ein Geräusch hören und nach dem Eindringling Ausschau halten, um ihm direkt in die Arme zu laufen.

Nichts geschah. Auch das Knirschen war weg. Einzig ihr stoßender Atem war zu hören. Über Marions Rücken krabbelte ein eiskalter Schauer. Obwohl sie im Park auf der Rasenfläche kaum etwas erkennen konnte, drehte sie sich einmal im Kreis und lief dann weiter. Ganz ruhig, es ist nur deine Angst, die dir diesen Horror einredet. Hier ist niemand.

Marion versuchte sich alles Mögliche einzureden, um sich zu beruhigen, doch es funktionierte nicht. Ihr Herz schlug gegen ihre Brust, als wollte es sich befreien. Sie umschlang ihren Oberkörper und lief noch schneller.

Dann hörte sie wieder das Knirschen der Steine hinter sich und war sich sicher, dass es nicht von ihr kam.

»Verschwinde, du Dreckschwein«, plärrte sie in die Nacht. Wie konnte sie nur so dumm sein, durch den Park zu laufen? Hektisch kramte sie in ihrer Handtasche, griff nach dem Schlüsselbund und nahm den längsten Schlüssel davon zwischen ihren Zeige- und Mittelfinger. Gewillt, ihn in die Augen desjenigen zu rammen, der es wagte, sie anzugreifen.

Erneut lauschte sie in die Stille. Das Rauschen ihres Blutes übertönte jegliches Geräusch. Doch sie spürte es in ihrem Rücken. Etwas Machtvolles und Böses.

Marion dachte an Edwin, der die Frauen immer ermutigte, in schwierigen Situationen, die ihnen Angst oder Wut bereiteten, ihr inneres Kind zu fragen, was es tun würde. Fast musste sie lachen. Ihres würde vor lauter Panik schreien, weinen und in die Hose pinkeln. Seine Idee war nicht schlecht und hatte ihr das eine oder andere Mal auch geholfen, nicht zu verzweifeln. Aber was war in solch einer Notsituation? Was sollte sie machen? Sich auf den Boden setzen und nach ihrer Mutter schreien? Den Angreifer anspucken, treten? Gott, hör auf damit. Bis jetzt hat dich gar keiner angegriffen. Sie entschied, sich zusammenzureißen und schnurstracks nach Hause zu laufen.

Marion fuhr zusammen und fasste sich an die Brust, als das Piepen ihres Handys durch die Nacht schrillte. Meine Güte, bist du bescheuert.

Sie holte das Smartphone aus ihrer Jackentasche und ärgerte sich, dass sie nicht gleich darauf gekommen war. Sie hätte jemanden anrufen sollen. Es gab doch diese Heimwegtelefonanbieter, mit denen man telefonieren konnte, wenn man sich unwohl fühlte. Sie sah auf das Display. Die Nachricht war von ihrem Sohn.

›Mama, wo bist du?‹

Schnell tippte sie auf den grünen Hörer. David nahm nach dem ersten Klingeln ab.

»Wo bist du denn? Ich mache mir schon Sorgen.«

»Ich bin auf dem Heimweg, es ist etwas später geworden.«

»Warst du etwa wieder bei ihm?«, fragte ihr Sohn, und seine Stimme hatte dabei angewidert geklungen.

»David, er tut mir gut. Ohne ihn würde ich mich heute noch im Zimmer verkriechen.«

Ihr Sohn wusste, dass er aus einer Vergewaltigung stammte. Marion war offen mit ihm umgegangen, sobald er in einem Alter gewesen war, in dem er es verstehen konnte. Seitdem war er ihr Beschützer und ließ sie ungern alleine losgehen. »Ich finde es nicht gut, er nutzt dich doch nur aus.«

»Das ist Unsinn, Schatz. Die Selbsthilfegruppe hilft mir. Ich kann mich mit den anderen Frauen austauschen. Die haben alle grausame Dinge überlebt und verstehen mich am besten.«

»Hast du dich mal gefragt, ob die auch manchmal länger bleiben?«

Marion runzelte die Stirn, und zeitgleich glühten ihre Wangen. »Was meinst du damit?«

»Du bleibst oft länger als die anderen, warum?«, fragte David vorwurfsvoll.

»Weil er manchmal auch Einzelgespräche führt«, log sie.

»Aha«, erwiderte ihr Sohn. »Wo bist du jetzt?«

»Ich gehe gerade an der Bubenheimer Fleche vorbei und bin gleich am Friedhof. Ich beeile mich.«

»Ich komme dir entgegen, du solltest dort nicht allein laufen.«

Marion war froh, dass er das vorhatte. Denn sie hatte noch ein ganzes Stück vor sich.

»Aber das musst du nicht«, sagte sie trotzdem.

»Ich geh jetzt los.« Ihr Sohn legte auf.

Marion lief weiter Richtung Ausgang. Der Anruf hatte sie von ihrer Angst etwas abgelenkt, sie fühlte sich wohler und war zuversichtlich, unbeschadet nach Hause zu kommen. Die ganzen Geräusche waren nur der Fantasie entsprungen, die ihr ihre Angst eingeredet hatte. Zudem würde ihr Sohn gleich bei ihr sein, dann wäre alles gut.

Mit dem Gedanken an Edwin steuerte sie die letzten Meter an. Gleich würde sie auf die Andernacher Straße gelangen. Und wenn sie erst über den Bahnsteig drüber war, würde sie sich besser fühlen, denn dort war es gut beleuchtet, und es standen Häuser.

Ihre sich selbst mutmachenden Worte beruhigten sie nicht lange, denn sie vernahm schon kurz danach ein neues Geräusch. Dieses Mal glaubte sie, jemanden atmen zu hören. Fast stöhnend, so als würde derjenige Schmerzen beim Laufen haben. Ruckartig drehte sie sich um, sah aber niemanden. Als sie weiterging, stand plötzlich eine dunkle Gestalt mit etwas Abstand vor ihr. Sie kniff die Augen zusammen, um die Person erkennen zu können, doch sie sah nichts außer dem Umriss.

»David, bist du das?«, rief sie ins Schwarze. Ihr Herz raste, das Blut rauschte in ihren Ohren.

Sie bekam keine Antwort. Stattdessen näherten sich ihr die Schritte unaufhaltsam. Schwer und donnernd.

Marion kehrte um und rannte los. Zurück in die Bubenheimer Fleche. Überlegte, sich hinter einem Baum im Lützeler Volkspark zu verstecken. Dort standen so viele davon, dass der Mann, von dem sie glaubte, dass es einer war, sie lange suchen müsste. Da sie überhaupt nicht klar denken konnte, wählte sie kurzerhand den Weg über die Rasenfläche. Hastete über den unebenen Boden, hinein in den Wald. Hinter einer breiten Tanne, die von weiteren buschigen Sträuchern umgeben war, hockte sich Marion hin und schloss die Augen. Bitte, lieber Gott, hilf mir. Ein leises Schluchzen entwich ihrer Kehle. Schnell presste sie ihre Hände auf den Mund, damit sie ihr Atmen unterdrücken konnte.

Es war ein grausames Gefühl. Ihr Herz überschlug sich, sie glaubte fast, es würde ihr Versteck verraten, so laut schlug es.

Und dann schnitten die Rufe ihres Sohnes durch die Nacht: »Mama?«

Sie klangen noch weit entfernt. Zitternd hockte sie in dem Busch, verzweifelt, weil sie nicht wusste, was sie tun sollte. Auf sich aufmerksam machen? Doch dann würde es auch der andere hören, der viel näher an ihr dran war. Sie lauschte und vernahm schleichende Bewegungen durch die Blätter.

Weinend schüttelte sie den Kopf und betete. Ich bin hier, David.

»Mama, wo bist du?«, schrie er erneut.

Sie könnte schier durchdrehen, sich das Herz aus der Brust reißen, weil es so dagegendrückte.

»Verdammt, Mama, nun antworte mir!« Die Stimme hatte voller Sorgen geklungen, doch was Marion mehr beunruhigte, war, dass sie sich von ihr entfernte.

Nein, nein, nein, bitte nicht. Marion musste sich schnell entscheiden und wählte, ihm zu antworten und dann wegzurennen, um sich woanders zu verstecken. Doch in dem Moment, als sie diesen Entschluss gefasst hatte, strahlte ein Licht an ihren Schuhen vorbei. Sie zog die Beine weiter an ihren Körper heran, umklammerte sie mit ihren Armen und hielt die Luft an.

Äste knackten unter seinen Schuhen, Laub raschelte, und sein Atem kam immer näher.

Marion presste die Augen zu und betete. Er wird dich nicht sehen.

Doch er würde, denn plötzlich verstummten die Schritte. Es war still. Trotz der raschelnden Baumkronen, die durch den Wind angestoßen wurden. Trotz des tiefen Atems dieser Gestalt genau vor ihr war es so still, dass es unerträglich war.

Sie öffnete ihre Augen einen Spalt und sah auf ein Paar schwarze Stiefel. Schuhe, die sie kannte, angestrahlt von dem schwachen Licht der Taschenlampe.

Wie erstarrt sah sie nach oben. Sie konnte das Gesicht nicht erkennen, weil die Taschenlampe sie blendete.

Nun hatte sie nichts mehr zu verlieren und konnte nur noch hoffen, dass David sie hören würde. Sie rechtzeitig finden würde, um sie zu befreien.

»Hil…«

Der Schlag traf sie gegen die Schläfe, so heftig, dass das Wort noch im Hals erstickte und sie umfiel. Ehe sie sich versah, stand der massive Stiefel auf ihrem Kehlkopf, drückte so fest darauf, dass es ihr unmöglich war, zu schreien und zu atmen.

Sie umklammerte den Stiefel, versuchte, sich unter dem Gewicht zu winden. Schlug gegen das Schienbein, doch er ließ sich nicht beeindrucken.

Marion stöhnte, röchelte. Der Schmerz auf ihrer Kehle war kaum auszuhalten. Sie hatte das Gefühl, ihre Augen quollen aus ihrem Gesicht. In ihrem Kopf kribbelte es.

»In nächtlicher Stille, ein einsamer Schrei«, sagte er.

Sie schloss die Augen, weil sie spürte, wie das Leben aus ihr wich.

Das Letzte, das sie sah, war sie. Marion als kleines freches sechsjähriges Mädchen, so breit grinsend, dass sich die riesige Zahnlücke freilegte. Dieses Lächeln strahlte pure Glückseligkeit, Fröhlichkeit und Liebe aus. Da war ihre Seele noch frei und heile gewesen, doch seit Jahren war sie gebrochen.

Und an diesem Tage würde auch ihr Körper sterben.

Stille, Dunkelheit und Ruhe.

2003

Seine Mutter wirbelte gut gelaunt durch das Wohnzimmer. Sie breitete die Arme aus, drehte sich im Kreis und hüpfte jubelnd in die Luft. »Schau dir das an. Jetzt werden wir hier zusammen wohnen, Ed.«

Ed lächelte. Aber er konnte sich nicht richtig freuen. Eigentlich hatte es ihm bei Magda gut gefallen. Dort hatte er ein großes Spielzimmer gehabt, ein Rennautobett, und auch in der ersten Klasse mit seiner Lehrerin hatte er sich gut gefühlt. Er war traurig, dass er nicht mehr hingehen durfte.

Seine Mutter hockte sich zu ihm hinunter und streichelte über seine Wange. »Ich weiß, es ist nicht groß und anders, als du es gewohnt bist. Aber endlich können wir zusammen sein. Ich habe sechs lange Jahre dafür gekämpft.«

In ihren Augen sammelten sich Tränen.

Ed nickte. Er wollte sie nicht verletzen. Er liebte sie ja auch. Aber trotzdem fühlte er sich nicht wohl. Im Grunde kannte er sie gar nicht richtig, denn er hatte sie nur einmal die Woche für ein paar Stunden gesehen.

»Judith, brauchen Sie noch etwas?«, fragte die Frau vom Jugendamt, die Ed einfach aus Magdas Haus geholt hatte.

Seine Mutter schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich habe eingekauft, die Waschmaschine wird heute geliefert, Eds Bett ist fertig. Ich habe alles so gemacht, wie Sie es gesagt haben.«

Die Frau lächelte Ed an. »Deine Mutter hat wirklich hart gearbeitet, damit du mit ihr hier wohnen darfst. Ich freue mich sehr, dass es endlich so weit ist.«

Ed nickte wieder, auch wenn er immer noch nicht so recht mit seiner Mutter zusammenleben wollte. »Darf ich Magda besuchen?«

»Natürlich, sie würde sich sicher freuen.« Die Frau streichelte ihm über den Kopf. »Nun geh dir dein Zimmer ansehen. Ich bespreche noch kurz etwas mit deiner Mutter, und dann geh ich. Wir sehen uns nächste Woche.«

Ed schüttelte der Frau die Hand und lief aus dem Wohnzimmer. Sein Zimmer interessierte ihn gar nicht, weil all seine Spielsachen bei Magda geblieben waren. Bald würde ein anderes Kind damit spielen, um das sich seine Pflegemutter kümmerte, und das machte ihn sehr traurig. Nur den Kuschelhasen hatte er mitgenommen, der ihn immer an die schöne Zeit erinnern würde. Er stellte sich neben die Tür, um zu lauschen, was die beiden zu besprechen hatten. Vielleicht würde es sich seine Mutter doch nochmal überlegen und ihn zurück zu Magda bringen.

»Okay, Judith«, sagte die Jugendamtsmitarbeiterin. »Sie haben das alles wirklich gut in den Griff bekommen. Wichtig ist, dass Ihr Sohn regelmäßig Essen bekommt, dass es hier sauber ist und dass er jeden Morgen pünktlich zur Schule geht. Das heißt, Sie müssen das mit Ihrem Job als Küchenhilfe alles gut vereinbaren können, oder eben jemanden für die Betreuung Ihres Sohnes haben.«

»Machen Sie sich keine Sorgen, ich werde das hinbekommen. Mit meiner Chefin ist alles abgesprochen. Ich beginne morgens, sobald Ed in der Schule ist, und hole ihn vierzehn Uhr aus dem Hort ab. Ich liebe ihn, und er wird niemals darunter leiden, was mir widerfahren ist.«

»Es ist keine leichte Aufgabe, ein Kind zu erziehen. Sie waren selbst noch eins, als Sie ihn bekommen haben. Jetzt sind Sie gerade zwanzig Jahre alt. Jugendliche in Ihrem Alter gehen feiern, lieben ihre Freiheiten, während Sie ein Schulkind betreuen. Unterschätzen Sie das bitte nicht. Und melden Sie sich jederzeit, wenn Sie merken, dass es nicht funktioniert. Wir müssen immer im Interesse des Kindes entscheiden.«

Eds Mutter hustete. »Ich habe ihn sechs Jahre nicht gehabt, weil ich mir das nicht zugetraut habe. Aber ich habe mir alles gut überlegt, jede Schulung mitgemacht, die Sie mir empfohlen haben, und Sie sehen es selbst. Ich wohne seit zwei Jahren alleine, es ist sauber. Ich habe einen Job und werde die beste Mutter sein, die es gibt.«

Einen Moment war es still.

Ed wollte schon schnell ins Zimmer laufen, weil er dachte, die Frau ging, doch dann seufzte diese laut.

»Ich wünsche es mir sehr für Sie. Überlegen Sie sich trotzdem noch einmal, ob Sie Ihre Mutter nicht doch um Unterstützung bitten.«

»Sie möchte nichts mit mir zu tun haben, solange ich nicht verrate, wer Eds Vater ist.«

Ed wurde hellhörig und beugte sie leicht nach vorne, um die zwei noch besser zu verstehen.

»Warum wollen Sie es nicht sagen? Es wäre doch zu Ihrem Vorteil. Er müsste Unterhalt für den Jungen bezahlen.«

»Ich komme gut allein zurecht und möchte ihn nicht in unserem Leben haben.«

»In Ordnung, Judith. Melden Sie sich, sobald ich Ihnen helfen kann. Ich komme nächsten Mittwoch wieder, um nach Ed zu schauen.«

Schnell eilte Ed um die Kurve in das Zimmer, das von nun an seins sein sollte. Er setzte sich auf das Holzbett, das dabei quietschte. Sein Bettbezug war gelb, die Farbe mochte er gar nicht. Außerdem war da keine Feuerwehr drauf.

Es klopfte an der Tür. Seine Mutter lehnte sich an den Türrahmen. »Wie findest du dein Zimmer?«

Ed schluckte.

»Es ist ganz schön«, log er.

»Es werden immer mehr Spielsachen dazukommen, das verspreche ich. Mama hat einen Job, und bald kann ich mir viel leisten.« Sie setzte sich neben ihn auf das Bett und legte ihren Arm über seine Schultern. »Ich bin so glücklich, dass ich mich endlich um dich kümmern kann. Als Erstes koche ich dir dein Lieblingsessen. Das waren doch Spaghetti mit Tomatensoße, nicht wahr?«

Ed nickte und sagte ihr nicht, dass er eigentlich Kartoffelbrei und Fischstäbchen mehr mochte.

»Schau nicht so traurig. Es wird dir hier gutgehen. Es hat einen Vorteil, dass ich noch so jung bin. Ich verstehe dich viel besser.«

Ed rang sich ein Lächeln ab.

Seine Mutter stand auf und lief zur Tür. »Ich koche jetzt, danach packen wir deine Sachen aus. Und heute Nachmittag gehen wir ein großes Eis essen.«

Lächelnd verließ sie das Zimmer.

Er fühlte sich schlecht, dass er so mies gelaunt war, deshalb entschied Ed, seiner Mama eine Chance zu geben. Sie hatte ihm vor einer Weile erklärt, dass sie nichts dafür konnte. Das Jugendamt hatte beschlossen, dass er in einer Pflegefamilie leben sollte. Sie war selbst noch minderjährig gewesen, als sie Ed geboren hatte, und ihre Eltern wollten sie nicht unterstützen. Sie hatte auch zugegeben, dass sie viele Fehler gemacht hatte.

Als der Duft von gebratenen Zwiebeln in sein Zimmer zog, lief er zur Küche. Er linste hinein. Seine Mutter stand am Herd und rührte in einer Pfanne. Dabei wischte sie sich mit dem Arm immer wieder über die Augen.

Ed wurde traurig. Hatte er sie zum Weinen gebracht? Ein bisschen schämte er sich. Zögerlich lief er auf sie zu und umfasste ihren Körper, schmiegte sich fest an sie. Ihr Bauch zitterte vom Schluchzen.

»Es tut mir leid, Mama. Ich wollte dich nicht traurig machen.«

Sie hockte sich zu ihm hinunter. »Das hast du nicht. Ich kann dich doch sehr gut verstehen.«

»Aber du weinst. Und man weint, wenn man traurig ist oder man Schmerzen hat.«

Sie stellte sich hin, rührte noch einmal in der Pfanne und zeigte dann auf einen Stuhl an dem kleinen Holztisch. »Setz dich.«

Ed gehorchte.

Seine Mutter nahm auf dem anderen Stuhl Platz. »Ich weine, weil ich genau spüren kann, wie es in dir aussieht.« Sie tippte mit dem Zeigefinger auf seine Brust. »Und deshalb bin ich traurig, weil ich nicht möchte, dass du dich mit so einem schlechten Gefühl herumschlagen musst.«

Ed verstand nicht, was seine Mutter damit meinte. »Woher weißt du, was ich fühle?«

Er schämte sich, denn wenn sie es wirklich wusste, dann würden ihr seine Gedanken sicher wehtun, denn sie waren nicht lieb. Er senkte den Kopf und spielte an seinem Pullover herum.

Seine Mutter erhob sich, rührte noch einmal in der Pfanne und warf die geschnittenen Würstchen hinein.

Das Brutzelgeräusch und der Duft kamen Ed bekannt vor. So war es auch bei Magda, bei der er immer zugeschaut hatte, wenn sie gekocht hatte.

Sie legte die Spaghetti in das kochende Wasser und kam wieder zu ihm. »Das kann ich natürlich nicht genau wissen, aber ich kenne das Gefühl. Ich kannte mal jemanden, der mich etwas ganz Wichtiges gelehrt hat. Als es mir nicht gutging, weil ich Schreckliches erfahren habe, wusste ich nicht, wie ich damit umgehen sollte. Ich war erst zwölf Jahre alt. Und eigentlich sollte ich spielen, Freunde treffen und Spaß haben. Aber ich war wie eine Erwachsene, gefangen im Körper eines Kindes. Kannst du mir folgen?«

Ed überlegte und stellte sich seine Mutter im Körper eines Kindes vor. Schließlich nickte er.

»Ich wollte also eigentlich gern Kind sein, fühlte mich aber nicht so, weil ich schon sehr viel Verantwortung hatte und auf mich allein gestellt war. Dabei habe ich einige Fehler gemacht.«

Ed glaubte zu verstehen, was sie ihm sagen wollte. »Und was hast du gelernt, damit es dir besser ging?«

»Dieser Jemand hat zu mir gesagt, dass ich mein inneres Ich mit mir sprechen lassen soll. Mein Kind in mir, nicht die vernünftige Judith. Das hat mir geholfen, und ich mache es heute noch manchmal. Mit dir wird das aber noch viel einfacher, denn du kannst für mich als Kind sprechen.«

Was seine Mutter da redete, verstand Ed überhaupt nicht und runzelte die Stirn.

»Du sprichst einfach für die kleine Judith. Wenn es mir nicht gutgeht, setzen wir uns so hier hin, und du kannst mir sagen, was ich tun soll, damit ich mich wohler fühle. Manchmal denken Erwachsene zu kompliziert, und Kinder haben eine ganz einfache Lösung. So kannst du mir helfen, die Dinge einfacher zu sehen, und es wird mit uns gut klappen.«

Er nickte, auch wenn er noch immer nicht richtig begriffen hatte. Aber er hatte auch keine Lust mehr, darüber zu sprechen. Sein Wunsch, zurück zu Magda zu gehen, war immer noch da.

»Gib uns ein paar Tage Zeit. Dann wirst du dich auch hier wohlfühlen.«

Ed schluckte und leckte sich die salzige Träne von der Lippe. »Ich möchte nicht, dass du traurig bist. Ich hab dich auch lieb, Mama, ich schwöre das. Ich fühle mich nur komisch hier.«

Sie nahm ihn in ihre Arme und drückte ihn ganz fest an sich. »Das weiß ich, und ich liebe dich. Ich werde alles tun, damit du glücklich wirst.«

Ed schloss die Augen, sog den Duft ihres Shampoos ein, das nach Apfel roch. Er spürte die Wärme, die von ihr auf ihn überging, und zum ersten Mal konnte er lächeln.

»Ich mache jetzt das Essen fertig, ehe es anbrennt.« Sie ging an den Herd. »Geh dir schon mal die Hände waschen.«

Ed lief aus der Küche. Sein Gefühl war plötzlich besser. Seine Mutter wusste, wie er sich fühlte, trotzdem war sie nicht sauer. An der Tür drehte er sich noch einmal zu ihr um und sah, wie sie hektisch in ihrer Tasche kramte. Sie holte eine Packung heraus und schluckte dann etwas. Es sah aus wie die Tabletten, die er mal hatte nehmen müssen, als er krank gewesen war.

War seine Mutter etwa krank?

»Mama?«, flüsterte Ed.

Doch sie reagierte nicht. Sie tupfte sich mit dem Geschirrhandtuch die Stirn, setzte sich auf den Stuhl und schluchzte. Ihr Weinen hinterließ einen stechenden Schmerz in Eds Brust. Wie versteinert stand er an der Tür und beobachtete die zitternden Hände, die wackelnden Beine und den bebenden Oberkörper. Ein schlechtes Gewissen überfiel ihn. War es seine Schuld gewesen? Weil er so mies gelaunt war?

Der Duft von angebranntem Essen und Qualm verbreitete sich in der Küche. Doch Eds Mutter saß einfach nur auf dem Stuhl und starrte in die Luft.

SEPTEMBER 2020

Ronja lief die Straße hinunter. Ihr Gang war zügig, denn sie war spät dran. Irgendwie fühlte sie sich seit Tagen müde und leer. Das Aufstehen fiel ihr schwer, der Kontakt mit anderen ebenso. Sie hatte sich verloren, obwohl ihr die Selbstfindungsgruppe bei Edwin wirklich guttat. Es gab aber immer wieder diese Phasen, die sie zurückwarfen.

Edwin hatte ein gutes Händchen für all die gebrochenen Seelen, die in der Gruppe nach ihrem neuen Ich suchten. Egal, was die Ursache bei einem war, er hatte immer die passende Lösung. Am Ende ging Ronja zufrieden aus dem Zimmer heraus und nahm sich jedes Mal aufs Neue vor, ihr Leben umzukrempeln.

Leider hielt es nie lang an. Kaum hatte sie eine Nacht geschlafen, schon wachte sie am nächsten Morgen mit tierisch schlechter Laune auf und war zu träge, um irgendetwas Sinnvolles zu tun.

›Du solltest dir einen vernünftigen Job suchen‹, hielt ihr ihre Mutter permanent vor. ›Wenn du nur zu Hause herumlungerst und dich langweilst, spielt die Psyche nun mal verrückt.‹

Ronja verdrehte bei dem Gedanken an ihre Mutter die Augen. Um die zu vergessen, richtete sie ihr Augenmerk auf ihre Umgebung.

›Ihr müsst alles um euch herum aufnehmen, beobachtet jedes Detail, nutzt eure Sinne, die Gott euch geschenkt hat. Saugt die frische Luft und den Duft der Pflanzen auf. Betrachtet die prächtigen Farben der Natur, lauscht den melodischen Alltagsgeräuschen, schmeckt den Regentropfen, der euch von der Stirn auf die Lippen tropft, spürt den Wind, der leicht über eure Haut streichelt.‹ Wenn Edwin das sagte, fühlte Ronja die gewaltigen Emotionen, weil sie sich alles genau vorstellen konnte. Doch wenn sie alleine durch die Straßen ging, nahm sie es nicht wahr.

Ich versuche es noch einmal. Sie hatte den Weg durch den Volkspark in Koblenz-Lützel gewählt, um die volle Vielfalt der Natur in sich aufzunehmen. Das Einzige aber, was sie spürte, war ihre Gereiztheit wegen der plärrenden Kinder auf dem Spielplatz. Kein frischer Duft, kein Wind auf der Haut, keine prächtigen Farben. Alles schien ihr grau in grau, und am Wegrand zum Petersberg beobachtete sie ein streitendes Pärchen, das so laut brüllte, dass ganz Lützel sie hörte. Warum taten sich Menschen so etwas an?

Als sie an Edwins stattlichem Haus am Petersberg ankam, atmete sie erleichtert aus, dass es nun ruhig um sie herum war.

Neben dem Eingang fegte der junge Kerl gerade den Weg zum Garten, von dem Ronja nur träumen konnte. Sie liebte dieses Anwesen, das fast als ein Park durchgehen könnte, so riesig war es.

»Guten Tag«, sagte der muskulöse junge Mann und lächelte freundlich. Er war Edwins Angestellter für Garten und Haus. Jedes Mädchen würde sabbern, wenn es ihn sah, er war der Inbegriff von Schönheit.

Ronja jedoch empfand nichts bei dem Anblick, denn sie mochte nur einen einzigen Mann auf dieser Welt. Alle anderen waren für sie Monster.

Sie grüßte zurück und klingelte.

Edwin öffnete ihr und lächelte sie sanft an, aber es wirkte irgendwie gequält. »Hallo Ronja, schön, dass du heute wieder dabei bist.«

In seinem weißen bodenlangen Kleid sah er aus wie Gott. Nur passte sein Äußeres nicht so recht dazu.

Wenn Ronja an Gott dachte, hatte sie einen alten Mann vor sich, der lange weiße Haare und einen gleichfarbigen wallenden Bart hatte. Edwin aber hatte kräftiges, schwarzes Haar, ein markantes Kinn und wunderschöne blaue Augen.

Er legte ihr eine Hand auf die Schulter und sah sie mit diesem Strahlen an, in dem sie versank.

Seine Wärme floss durch sie hindurch. Er war der einzige Mann, bei dem sie eine Berührung zuließ. Er war der einzige Mann, dem sie vertraute. Er war der einzige Mann, der ihr ein geborgenes Gefühl schenkte.

Ronja lächelte. »Nur hier fühle ich mich wohl, deshalb werde ich immer wiederkommen.« Sie zeigte nach hinten in den Garten. »Obwohl ich mich dort noch besser fühlen würde.«

Edwin schaute aus der Tür. Er grüßte seinen Bediensteten mit einem Wink. »Ohne seinen grünen Daumen würde das so nicht aussehen.«

»Danke für das Kompliment«, rief der Gärtner grinsend.

Edwin sah zu Ronja. »Ich freue mich, wenn es dir hier gutgeht, aber wir wollen doch auch erreichen, dass du dich überall da draußen so wohlfühlst.« Seine Hand schwenkte einmal über das riesige Anwesen.

Ronja trat ins Haus.

Edwin lief vor.

Sie folgte dem Duft der Räucherstäbchen, die nach Lavendel und Zitrone rochen. Als sie das Zimmer betrat, lächelten die anderen Frauen sie zwar an, doch dieses Lächeln transportierte Traurigkeit.

Sybille, die schon sehr lange an der Selbstfindungsgruppe teilnahm, hatte Tränen in den Augen.

Ronja, der die Atmosphäre Sorgen bereitete, lief zu ihr und nahm ihre Hand. »Ist alles in Ordnung?«

Dumme Frage, dann würde sie wohl nicht weinen.

Sybille schluchzte. »Hast du es denn nicht gesehen?«

Ronja runzelte die Stirn. »Was meinst du?«

Edwin kam auf Sybille zu, stellte sich hinter sie und legte seine Hände auf ihre Schultern. »Beruhige dich. Ich werde ein paar Worte dazu sagen.« Er schaute Ronja an, immer noch das warme Lächeln auf den Lippen. »In den Nachrichten sprach man gestern von einem dramatischen Mord hier in Lützel. Dabei hat es sich um Marion gehandelt.«

In Ronja schnürte sich ein dickes Seil ums Herz und zog es zusammen. Hektisch sah sie in die drei anderen Gesichter, und erst da fiel ihr auf, dass Marion fehlte.

»Gütiger, das ist unmöglich.« Auch ihr schossen sofort Tränen in die Augen. »Sie war doch gestern noch hier. Bist du dir sicher, Edwin?« Sie starrte ihn an, wünschte sich so sehr, dass er ihre Frage mit Nein beantworten würde.

»Ja, ich bin sicher«, antwortete er.

Marion war im letzten Jahr eine gute Freundin für Ronja geworden. Obwohl die beiden einen Altersunterschied von über zwanzig Jahren hatten, verstanden sie sich blendend. Marion war wie eine liebevolle Mutter für sie und Ronja die Tochter, die Marion gerne gehabt hätte. Beide trafen sich auch außerhalb dieses Selbsthilfezimmers und gaben sich nach ihren schrecklichen Erlebnissen gegenseitig Halt.

»Aber was genau macht dich sicher? Hast du sie gesehen?«, fragte Ronja mit brüchiger Stimme.

»Die Polizei war hier. Sie hat mich befragt, weil Marion kurz vor ihrem Tod hier gewesen ist. Ihr Sohn hat das bei der Polizei ausgesagt. Wir alle haben sie als Letzte gesehen.«

Ronja beugte sich vornüber und erbrach sich. In ihr zogen sich die Eingeweide zusammen.

»Das ist meine Schuld«, krächzte sie und versuchte zu atmen.

Edwin reichte ihr ein Taschentuch und hockte sich neben ihren Stuhl. »Das ist doch Unsinn. Warum solltest du dafür verantwortlich sein?«

»Ich wollte auf sie warten, weil sie ja noch eine Weile bei dir war, um ein Einzelgespräch zu führen. Eigentlich war geplant, dass wir zusammen durch den Volkspark zurücklaufen, aber als sie nach einer Dreiviertelstunde immer noch nicht kam, bin ich gegangen. Ich war so müde. Wenn ich gewartet hätte, dann wäre sie nicht alleine gelaufen und …«

»Stopp, Ronja. Tu dir das bitte nicht an. Marion war noch lange bei mir, weil es ihr nicht gutging. Wenn, dann hätte ich sie bringen müssen.« Edwin schluckte kräftig. Sein sonst so strahlendes Lächeln, das immer von Herzen kam, wirkte kurz gespielt. Aber er fasste sich wieder schnell. »Wir wissen nicht genau, was passiert ist, deshalb weißt du auch nicht, ob du es hättest verhindern können.«

»Vielleicht wärt ihr jetzt beide tot«, sagte Gabi, die nur sehr selten den Mund aufmachte. Ihre Worte bohrten sich tief in Ronjas Magengrube und verursachten Panik.

»Das stimmt«, erwiderte Sybille und schluchzte erneut.

Edwin ging zum Fenster und schaute hinaus.

Eine Weile herrschte eine gespenstige Stille in dem Raum. Für Ronja war sie kaum zu ertragen, denn sie erinnerte sie an ihre Zeit in dem Keller. Dort, wo sie eine Woche lang das Opfer eines sadistischen Schweins gewesen war, das sich immer und immer wieder an ihr vergangen hatte. Die Zeiten, in denen sie allein gewesen war, hatten genau dieselbe Totenstille.

»Ich denke, dass wir in Anbetracht der grausamen Situation heute keine Stunde machen, sondern eher gemeinsam trauern«, sagte Edwin und durchbrach endlich das Schweigen. »Gestern hatten wir über unser kindliches Ich gesprochen. Wir können es fragen, was es in solch einer Situation getan hätte.«

Gabi schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, ob uns das helfen wird. Wir sind keine Kinder mehr. Wir haben Schreckliches durchlebt, das können wir nicht mehr aus unserem Leben streichen.«

»Wir können aber unsere kranke Seele mit der gesunden unseres kindlichen Ichs vereinen und von ihr lernen, die Dinge wieder mit dem Mut und der Naivität eines Kindes zu sehen. Sie wird uns helfen.« Edwin setzte sich wieder auf seinen Stuhl und schaute jeder der Teilnehmerinnen für einen Moment intensiv in die Augen.

Gabi zuckte mit den Schultern.

Ronja hatte das Gefühl, dass sie die Einzige in der Gruppe war, die sich nicht so recht auf die Heilung von Edwin einlassen konnte. Warum Gabi trotzdem teilnahm, konnte sie sich nicht erklären. Es war ihr aber auch egal.

Konzentriert versuchte Ronja sich mit ihrem innerlichen Kind zu unterhalten, doch ihre Gedanken glitten immer wieder zu Marion. Bilder ihrer Leiche tauchten vor ihrem inneren Auge auf. Die fahle Haut, die blauen Lippen, die eingesunkenen Augen und die spitze Nase. Was war mit ihr geschehen? Wer hätte einen Grund gehabt, eine verängstigte Frau zu töten? War es ihr Ex-Mann? War er aus dem Gefängnis gekommen und hatte sie abgefangen?

Ronja zuckte zusammen, als Edwin an ihrer Schulter rüttelte. Er sah sie eindringlich an.

»Du konzentrierst dich gar nicht«, sagte er sanft.

»Ich kann nicht, ich sehe sie immer vor mir.« Erneut sammelten sich Tränen in Ronjas Augen. »Sie war mir wichtig.«

Im Zimmer entstand wieder betretenes Schweigen.

Dann räusperte sich Gabi. »Edwin, hast du denn gar nichts mitbekommen? Sie war doch bei dir.«

Sie betrachtete ihn aus neugierigen Augen.

»Was soll ich denn mitbekommen haben? Wir haben gesprochen, ich habe mich ihrer Sorgen angenommen, und dann ist sie gegangen. Ich habe nicht geschaut, wohin.« Edwin kratzte sich mehrfach über die Stirn. Seine Hände zitterten leicht.

Ronja beobachtete seine Reaktion stumm. Sicher war er sehr aufgebracht, denn auch er schien sich selbst vorzuwerfen, Marion allein gehen gelassen zu haben.

Edwin rieb sich die Hände. »Ich glaube, es macht heute keinen Sinn mehr. Hören wir auf und machen nächste Woche weiter.« Er lief wieder zum Fenster und starrte hinaus. »Noch eins, damit ihr vorbereitet seid. Ich musste der Polizei sagen, wer gestern ebenfalls hier war. Vermutlich werden sie sich bei euch melden.«

Gabi brummte leise und verließ den Raum.

Ronja erhob sich träge von dem Stuhl und wischte sich die Augen trocken. Sie wollte gar nicht nach Hause gehen. Obwohl sie sonst ihre Einsamkeit schätzte, sich in ihr einigeln konnte, versteckt vor jeglicher Gefahr, so fühlte sie sich an diesem Tag nicht wohl, alleine zu sein. Sie wusste, dass Marion ihr in den Gedanken schwirren würde, dass sie sich die schlimmsten Bilder ausmalen würde und sie nicht mehr anrufen konnte, wenn es ihr schlecht ging. Voller Trauer schleppte sie sich zur Tür und atmete erleichtert aus, als Edwin ihren Namen rief. Sie drehte sich zu ihm. »Ja?«

»Bleib noch einen Moment hier, ich möchte dich so nicht gehen lassen. Du bist in keiner guten Verfassung.«

Ronja nickte, herzte Sybille und setzte sich wieder auf den Stuhl.

Edwin verabschiedete die restlichen Frauen und winkte Ronja dann zu sich. »Lass uns oben ins Haus gehen. Ich mache uns einen Drink.«

Ronja lächelte. Normalerweise durfte niemand in seine privaten Räumlichkeiten, doch Ronja hatte er schon oft mitgenommen. Darauf war sie stolz, denn sie glaubte, für Edwin etwas Besonderes zu sein. Sie spürte die Bindung zwischen ihnen. Er war der einzige Mann, den sie an sich heranließ.

Beide stiegen die schmale Wendeltreppe nach oben, die in den pompösen Wohnbereich führte. Obwohl sie schon ein paarmal dort gewesen war, faszinierte sie der Einrichtungsstil immer wieder aufs Neue. Die weiß-goldenen Möbel sahen aus, als wären sie uralt und stammten von einem Kaiser. Während ihre Schränke mit Plunder vollgestellt waren, bevorzugte Edwin nur wenig Dekoration. Ronja lief auf das weiße Sofa zu und setzte sich. Es war weich und schmiegte sich um ihren Körper.

»Ich fühle mich hier so wohl.« Sie strich über die flauschige Decke, die auf einer Sofaseite akkurat zusammengefaltet war.

Edwin lächelte und holte eine Flasche Martini aus der Bar, schenkte ihn in zwei mit Eis befüllte Gläser ein und gab etwas Tonic dazu. Dann reichte er Ronja ein Glas und setzte sich zu ihr. Er nahm ihre Hand. »Marions Tod ist nicht deine Schuld. Das darfst du dir nicht einreden.«

»Ich weiß, aber das ist nicht einfach. Ich habe so lange gewartet, ich hätte es bis zum Schluss durchziehen sollen.«

»Ich verstehe, dass du dich so fühlst. Ich habe sie auch alleine gehen lassen. Aber nur der Täter, der sie getötet hat, ist schuld daran.«

Ronja nickte und nippte etwas von ihrem Martini Tonic. Das Aroma verbreitete sich in ihrem Mund, und es lief ihr warm die Kehle hinunter. »Warum war sie so lange bei dir?«

Edwin schluckte. »Du weißt, dass die privaten Gespräche nicht für andere gedacht sind. Ich erzähle unsere auch nicht weiter.«

»War sie auch mit dir hier oben?«

Einige Augenblicke sah Edwin Ronja an, ohne etwas zu sagen, dann schüttelte er den Kopf. »Lass uns von dir reden. Du musst es deinem inneren Kind geben, damit es dich befreit. Ruf die kleine Ronja.«

Ronja trank noch einen großen Schluck, stellte das Glas auf den massiven Designglastisch ab und richtete sich kerzengerade auf. Dann legte sie ihre schwitzigen Hände auf ihrer Jeans ab und atmete tief ein und aus. Sie schloss die Augen.

Edwin berührte ihre Schulter.

Gänsehaut lief ihr über den Rücken. Sie genoss das wärmende Gefühl seiner Hand.

»Du bist Ronja Schwerin, du bist jetzt vierunddreißig Jahre alt. Aber nun gehst du zurück. Ronja mit sieben Jahren sitzt vor dir.«

Ronja sah ihr kindliches Ich vor sich. Die Kleine blickte sie aus den braunen Augen an. Ihre dicken schwarzen Haare waren an der Seite zu zwei Flechtzöpfen zusammengebunden. Sie grinste und offenbarte so ihre Zahnlücke. Das herzhafte Lächeln dieses Mädchens löste in Ronja ein Glücksgefühl aus. Schon lange hatte sie nicht mehr so empfunden.

»Geht es der kleinen Ronja gut?«, fragte Edwin. Seine Hand lag noch immer auf ihr.

Ronja nickte. »Sie ist fröhlich. Spürt keine Trauer, keine Angst und keine Wut.«

»Überlege dir, was du mit ihr besprechen möchtest. Vielleicht sagt sie dir, was sie jetzt tun würde.«

Ronja entspannte ihre Schultern, die sie die ganze Zeit unbewusst nach oben gezogen hatte. Ihre Muskeln lockerten sich, und sie begann, sich mit ihrem inneren Kind zu unterhalten.

Nach einer Weile aber wurde sie unkonzentriert. Sie wusste nicht, warum, aber durch ihre Eingeweide strömte Unruhe. Ihr Herz schlug schneller. Sie öffnete die Augen und konnte sich das Kribbeln sofort erklären. Es bot sich ihr genau das Bild, das sie sich gewünscht hatte.

Edwin saß neben ihr, nackt, und starrte sie mit einem verschmitzten Grinsen an.

SEPTEMBER 2022

»Mama, könntest du mir später ein paar Notizbücher mitbringen, wenn du nach Hause kommst?« Juttas Tochter blinzelte sie an und faltete die Hände vor ihrem Gesicht.

»Du bist sechzehn Jahre alt, meinst du nicht, du könntest sie dir selbst besorgen?« Jutta lächelte, weil sie ihr die Dinger sowieso mitbringen würde. Sie konnte ihr keinen Wunsch abschlagen. Und das wusste Stella auch.

»Ich habe heute aber keine Lust, nach draußen zu gehen. Bitte sei so lieb. Ich übernehme dafür das Kochen.«

Seufzend zog sich Jutta die Sneakers an. »Wenn ich in deinem Alter so faul gewesen wäre …«

»Dann hätte dir Oma Beine gemacht. Ich weiß, Mama. Du bist nicht Oma.« Ihre Tochter kam auf sie zu und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange. »Aber du bist die beste Mama auf der Welt.«

Jutta verließ lächelnd das Haus, das ihre beiden Teenagertöchter mit so viel Leben füllten. Noch vor einem Monat hätte sie sich nicht ausmalen können, je wieder so glücklich zu sein. Lange hatten die Erinnerungen an den Vater der beiden sie vom Leben abgehalten. Aber nun ging sie zur Selbsthilfegruppe, und das half ihr, mit dem Grauen fertigzuwerden.

Sie setzte sich ins Auto und betrachtete das kleine Einfamilienhaus, das ihre Eltern ihr und Rainer damals geschenkt hatten, nachdem sie mit neunzehn Jahren das zweite Mal schwanger geworden war. Vor Kurzem hatte sie es noch niederbrennen wollen, so schmerzhaft waren die Erinnerungen. Doch nun liebte sie es und blickte zuversichtlich in die Zukunft.

Das Rascheln auf dem Hintersitz ließ Jutta erstarren. Ihr Herz setzte aus, als plötzlich der Kopf einer Person im Rückwärtsspiegel auftauchte. Sie erschrak so heftig, dass sie sich auf die Zunge biss.

»Was starrst du denn unser Haus so an?«, fragte Katja.

»Bist du verrückt geworden, mich so zu erschrecken? Warum versteckst du dich in meinem Auto?« Jutta fasste sich ans Herz, das so wild pochte, dass es sich anfühlte, als sprang es gegen den Brustkorb.

»Sorry, Mama, ich wollte nur einen Streich spielen. Kannst du mich bei Dani vorbeifahren?« Ihre vierzehnjährige Tochter setzte eine entschuldigende Miene auf. Sie sah aus wie ihr Vater, dessen schmeichelhaftes Lächeln Jutta auch immer umgestimmt hatte. Gott sei Dank hatte Katja aber nicht seinen abartigen Charakter geerbt.

»Mach das nie wieder! Und es heißt ›bitte‹.« Jutta atmete noch einmal tief durch. Ihr Ärger verflog schnell, denn sie dachte daran, dass Katja vor vier Jahren fast gestorben war, nachdem ihr alkoholabhängiger Vater sie die Treppen hinuntergetreten hatte. Als ihre Tochter nach einer Woche aus dem Koma erwacht war, hatte sich Jutta geschworen, dass sie nie wieder genervt sein würde, wenn ihre beiden Mädels etwas anstellten. »Weiß Danis Mutter von deinem Besuch?«

»Natürlich.« Katja grinste und kletterte von hinten auf den Beifahrersitz. Sie nahm Juttas Hand. »Ich finde es schön, dass du in letzter Zeit so glücklich bist. Das Lächeln steht dir.«

Jutta strich ihrer Tochter über das Haar. »Danke. Es hat sich für uns alles zum Guten gewendet, darüber bin ich einfach nur froh. Wir können unser Leben einfach genießen, ohne Angst.«

Sie startete den Wagen und fuhr los.

In der Andernacher Straße hielt sie an.

Katja umarmte Jutta. »Ich bin um zwanzig Uhr wieder zu Hause. Danis Vater wird mich heimbringen.«

»Wenn nicht, rufst du mich bitte an. Du läufst nicht alleine durch den Volkspark oder den Friedhof.« Jutta hatte noch immer diese schrecklichen Verbrechen von 2020 im Kopf, bei denen zwei Frauen ermordet worden waren. Zwar hatten sie den Täter erwischt, aber es hatte Spuren hinterlassen. Sie wollte nicht, dass ihre Töchter auch einmal in solch eine Lage kamen, schließlich hatten sie alle genug durchgemacht.

»Versprochen, Mami, bis heute Abend.«

Katja stieg aus und hüpfte auf den Eingang des Hauses zu, in dem ihre Freundin wohnte. Als sie darin verschwunden war, fuhr Jutta weiter, um noch rechtzeitig zur Gruppe zu stoßen.

Sie erinnerte sich gerade noch früh genug, dass sie in den Finkenweg musste, ehe sie falsch abbog. Als am Morgen die Nachricht gekommen war, dass sich die Selbsthilfegruppe woanders treffen würde, hatte sie sich erst gewundert, doch schlussendlich war es ganz egal. Es half ihr, über ihre Vergangenheit mit Gleichgesinnten zu reden, und seitdem ging es ihr gut.

Jutta parkte das Auto an der Seite In der Rothenlänge, schaltete das Handy aus und legte es in das Handschuhfach. Es war nicht gern gesehen, wenn sie es dabeihatten. Nichts und niemand sollte stören, die Teilnehmer mussten sich einzig auf die Gruppe konzentrieren.

Sie stieg aus und eilte über den Meisenweg in den Finkenweg. Das Haus war das letzte der Straße, Jutta musste noch ein gutes Stück hinlaufen, was ihr Zuspätkommen noch verschlimmerte. Als sie davor stand, klingelte sie.

Ihr öffnete einen Augenblick später Tamara, eine Teilnehmerin, mit der sich Jutta gut verstand.

»Hey, gerade noch rechtzeitig.« Jutta wischte sich den Schweiß von der Stirn und wollte Tamara umarmen, als sie deren rote Augen wahrnahm. »Alles okay?«

Tamara nickte zögerlich. Sie sah Jutta kaum an. »Komm rein.«

Jutta trat in das Haus, das irgendwie muffig roch. Der Flur war schäbig, die Tapeten lösten sich von den Wänden, und das Geländer wirkte instabil. »Meine Güte, das ist aber heruntergekommen. Hier sollen wir uns wohlfühlen? Was denkt sich Edwin dabei?« Sie drehte sich einmal im Kreis und sah dann Tamara an, deren Augen noch feuchter waren. »Hey, was hast du denn?«

Diese reagierte nicht und schloss die Tür.

Plötzlich sah Jutta in den Lauf einer Waffe.

»Was soll das?« Sie starrte eine vermummte Person an, die sich hinter der Tür versteckt hatte und auf sie zielte. Es war nichts zu erkennen, außer den blauen Augen, und selbst die nur halb.

»Keine Fragen, geh da rein.« Der vermummte Mann fuchtelte mit der Pistole vor Jutta herum und zeigte in ein Zimmer.

Irgendwie kam ihr die Stimme bekannt vor. Doch unter der dicken Stoffmaske hörte sie sich dumpf an, sie konnte nicht erraten, von wem sie war.

Tamara war bereits in den Raum gelaufen.

Kurz suchte Jutta nach Möglichkeiten, wie sie den Täter überwältigen könnte. In Anbetracht der Waffe sah sie aber keine Chance. Deshalb folgte sie Tamara in den Raum.

Das Zimmer sah aus wie ein heruntergekommenes Wohnzimmer. In einer Ecke stand ein schwarzes Ledersofa, aus dem schon der Schaumstoff quoll. Die weißen Tapeten und Gardinen waren vergilbt, und auf den wenigen schwarzen Möbeln lag eine dicke Staubschicht, die Jutta sofort in der Nase kitzelte. An der einen Wand hing ein riesengroßes Porträt von Edwin, auf dem er das charmante und beruhigende Lächeln zeigte, das gleichermaßen aus seinen blauen Augen strahlte. Jutta war schon bei der ersten Begegnung davon fasziniert gewesen.

In der Mitte des Zimmers war ein Stuhlkreis aufgebaut. Tamara und Franziska saßen jeweils auf einem Stuhl und schluchzten.

»Was soll dieser Mist hier, Edwin?«, fragte Jutta, die sich sicher war, dass er dahintersteckte. »Soll das wieder so ein neuer Ansatz sein, damit wir unsere Ängste überwinden? Konfrontationstherapie, oder was? Sorry, aber das geht zu weit. Das ist kein Spaß. Du weißt, was wir erlebt haben.«

»Bitte setz dich hin«, flüsterte Franziska. »Das hier ist Ernst.«

Jutta betrachtete geschockt die blutende Nase und das Veilchen unter dem linken Auge ihrer Mitteilnehmerin. »Hat dir Edwin das angetan?«

Franziska senkte den Blick.

In dem Moment, als sich Jutta umdrehen wollte, packte der Mann sie am Arm und riss sie zu einem Stuhl. Er drückte sie runter und verdrehte dabei so heftig ihren Arm, dass es knackste.

Impressum

Verlag: Zeilenfluss

Texte: Andrea Reinhardt
Cover: MT-Design
Korrektorat: Sabrina Undank, Dr. Andreas Fischer
Satz: Zeilenfluss
Tag der Veröffentlichung: 08.03.2023
ISBN: 978-3-96714-294-5

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